Skip to main content

Full text of "Die Weltbühne 28-1 1932"

See other formats


Die 

Wcllbuhne 

Oer  SchaubuhnrXIsniSalir 

Ubchenschriff  fur  ft>Mh  Rims*  Wris&afl 

Be£rimdetvon  Siegfried  Jacobsoim 

Vnler  MifarbeiivonKurlTucholskjr 
geleiiei  vonCwdv.Ossieizky 


28.  Tahrgang 
Erstes  Halbjahr 

19   3   2 


I 


VcitatderWetfbdhi* 

ChAriotfenburg'Kairfsfoisse  152 


/i 


i 


Register  der  ,Weltbuhne* 

XXVIIL  Jahrgang  (1932),  1.  Band 


Autorenregister 


17 

37 

38 

148 


78 
79 
110 
117 
147 
148 
347 


Anonyme   Beitrage: 

Notyerordnung    1669      .  1 

Auslandsdeutsche       .     ,  1 

Marcellus  in  Form  .     .  1 

Liebe  Weltbuhne!  1     38  4 

5  188    6  228     7  268  8    307 

10  387  11  424  12  .461  13  498 

16  608  18  687  20  760  21  797 

22  838  23  871  24  910  26  987 

Antworten  1     39    2     80  3     111 

4  149     5  189     6  229  7    269 

8  308  9  349  10  388  11  425 

12  462  13  499  14  537  15  577 

16  609  17  647  18  688  19  724 

20  761  21  798  22  839  23  872 

24  911  25  949  26  988 

Menagerie  ......  2 

Wahre   Geschichte     .     .  2 

Peinliche    Einladung      .  3 

Hitler  und   Schleicher   .  4 

Auswurf        ...     .     .  4 

Priesters    Geheimnis      .  4 

Bildung      4   148     5  187  9 

10    386 

Das    kleinere    Ubel    .     .  4     148 

Freundliches    Angebot   .  4     148 

'  Kollegen        5     158 

Ein  Gesuch 5     187 

Die  vorsichtigen  Auver- 

gnaten       .....  5     187 
Nette   Zustande  in   Mo- 

abit        6    228 

Schieflen  mit   Seek  .     .  7     267 
Hohere     ethische   Ruck- 

sichten   .  • 7     268 

Aus  einer  Nummer   des 

,,Angriffs'        ,     .     .     .  8     301 

Der   Osaf 8    306 

Nachgeburt        .     .     .     .  8     306 

Nahrungssorgen          .     .  9    344 
Wirtschaftsfuhrerklug- 

heit 9     347 

Wo  ist  das  zu  lesen?    .  10     364 
Strafen?            Fiirsorge- 

erziehung?      ....  10     386 
Immer   legal      .     .     .     .  10     387 
Der    Soldate,    der    Sol- 
date  11     423 


Goethe  und  ...  11  423 
Wat  ein  richtiger  Essai 

is  — 

Das  Chef  bureau  .  ,  . 
Zur  Hebung  des  Standes 

Dekret 

AUzu  schlicht  .  .  . 
„Sturm  auf  ■  Essen"   vor 

der  hochsten  Instanz 
Das  verbietet  keiner!  . 
Horspiel  in  Naturfarben 
Briining  seiner  Zeit  vor- 

aus 

Preisfrage 

Das  Trinkgeld  .  .  . 
Deutsch  fur  Deutsche  . 
Das    wahre    budapester 

Madchen  ..... 
Vertraulich,         generell 

und       staatspolitische 

Griinde 

Alraune  auf  Kundenfang 
Der     Gipfel     der     Ver- 

zweiflung 

Falls     die     Reichswehr 

nichts    dagegen   hat    . 

Diskretion 

Sittliche  Autarkie  oder: 

Wir   machen   uns   un- 

sern  Dreck  alleene!  . 
Furst  und    Kollege 
Was  es   alles  gibt 
Da  gehort   sie   hin 
Welch  tiefe  Tragik 
Berufsstolz    .      .     . 
Der  Druckfehler    . 
Gut  ausgesucht 
Auch        das       Zentrum 

spielt    um    seine  Exi- 

stenz 

Der   Untertan   .... 
Sorgen   1932      .... 
Was  es   alles  gibt     .     . 
Unser   kluger  Setzer 
Nackttanz    in   Essen 
Rabatt    von   oben      .     . 

Besonders 

Die  gute  alte  Zeit     .     . 


13  498 

11  424 

12  461 
12  461 
12  461 

12  461 

13  480 
13  498 
13  498 

13  498 

14  536 

14  536 

15  57Q 

15  574 


15  575 

15  576 

15  576 

16  593 
16  606 


16  607 

16  608 

16  608 

17  646 

17  646 

18  687 
20  759 
20  760 


21  775 

21  796 

22  838 

22  838 

23  870 

24  909 
24  910 

24  910 

25  936 


II 


Wochenschau  des  Ruck- 

schritts       26    981 

Wochenschau  des  Fort- 

schritts  .  .  .  .  .  26  981 
Em     michterner     Beur- 

teiler 26    987 

Die  Krone  der  Referen- 

zen        26    987" 

Wann  jubelt         der 

Deutsche?       .     .    .     .    26    987 
Ruhe,  der  Konig  regiertl     26    987 
Abel,   Walter:   Mandschu- 

rei 1        6. 

Ackermann,  Werner: 

Rechte     der    Buhnen- 

autoren 7    250 

Alsberg,  Max:  Eingabe  an 

den      Herrn      Reichs- 

juistizminister  .     .    20    736 

Apfel,  Alfred:  Causa  finita       1       11 
Arendt,   Werner:   Aus  al- 

ten   Papieren      ...     21     794 
Arnheim,  Rudolf:     Ronny 

mit   Vor-   und    Nach- 

wort       .......      1       33 

Betrubliche  Filme      .     .       2      99 
Dec    fr  anzosische    Film      4     1 35 
Paukerfilme       ....       5     185 

Die       Anmafiung      der 

Sinne 6    21 1 

.  Josef      von      Sternberg 

kabelt 9    336 

Der      Rundfunk      sucht 

seine  Form  ....  10  374 
Film  vom  Fernamt  .  12  458 
Petzet,    Kuhle    Wampe, 

Albers 13    486 

Entthronung    des     Wil- 

lens        ......     14     516 

Zensur  ohne  Hemmung  14  530 
Rund  um  den  Funk  ,  15  555 
Die  sogenannte  Freiheit  16  594 
Zwei  wichtige  Filme  .  16  605 
Orientalisjches  ...  17  641 
Offener  Brief,  leicht  an- 

geheitert 18     672 

Vom      Schlechten     zum 

Guten   .      .....     19    718 

Funkliteratur    .      ...     22     819 

Theater      ohne      Biihne    23     861 

24     899 
Das    rote    Schwanzchen    25    938 
Kurze     Sittengeschichte    26    971 
Asiaticus:    In    den    Blut- 

spuren      der      Koku-- 

honsha        22     810 

Balabannof,  Angelica: 

Mussolini      und      der 

Tod 6    200 


Balazs,  Bela:  Die  Furcht 
der         Intellektuellen 
vor    dem   Sozialismus      3      93 
4  131     5  166    6  207 
Bargenhusen,   Jan:   Schip- 

pen  tut  not  ...  24  885 
Basch,    Victor:    Die   fran- 

zosischen  Wahlen  .  20  728 
Bauer,    Hans:    Guter  Zu- 

spruch 2       79 

Paragraphen   und    Titel    25    945 
Behnet  Adolf:  Das  Kron- 

prinzenpalais  in  Oslo      1       2t2 
Warum  grade   Breslau?       3     106 
Noch  eimnal  Oslo     .    ,     10    365 
Behrendt,    Ernst:     Steige- 

rung       2      79 

Bismarck :     Zu    Ende    ge- 

sagt        ......      6    228 

Zu    dieser    Regierung    .    24     903 
Bocklin,  F.  R.  und  Citron, 
Bernhardt      Bauspar- 
kassen   ......      2      68 

Borne,  Ludwig:  Zu  dieser 

Reaktion 10    381 

Braune,    Rudolf:     Blutige 

Konjunktur  .  ,  .  .  14  506 
Brentano,  Bernard  v.:  Po- 

lizei       8     283 

Buckler,  Johannes:  Hitler 

in  Paris  .....  3  90 
Whitechapel  in  China  .  11  418 
Die  Saar  ..  17  629  18  657 
Der  ewige  Jude  am  Ziel    22     833 

Castonier,      Elisabeth     v.: 

„ —        aber        etwas 

fehlt  — '  ....  8  303 
Citron,   Bernbard:     Berlin 

und   Prag       ....  1  27 

John  Maynard  ...  3  101 
Die    Komodianten    vom 

13.   Juli 4  113 

Wirtschaftsprozesse  .     .  5  154 

Drei    Milliarden   Defizit  7  259 

Das  Reich  als  Bankier  9  338 
Industrianisierung 

durch    Inflation   -  ,    .  10  379 

Donau-Plan  ....  11  412 
Internationale      Soziali- 

sierung       .....  13  490 

Max    Frankel    ....  14  526 

A rbeitsbeschaf f ung  .  .  15  564 
Kreuger,              Morgan, 

Rockefeller    ....  16  600 

Kommt    eine   Inflation?  18  678 

Staatshilfe     verpflichtet  19  721 

Arbeitsdienstpflicht        .  20  751 

Die  Pramienanleihe  .     .  21  790 

Die    Autarkisten        .    .  22  829 

Pg.   Generaldirektor       .  23  870 


Ill 


Preufiens  Abschied   von 

Weimar 24     902 

Die        Opfer        miissen 

opfern        .....     25    916 
Die     Hintergriinde      des 

Flick-Geschafts       .     ,     26     977 
und     Bocklin,        F.     R, 

(s.  Bocklin) 
■  Colepepper,    W,:     Schnei- 

der-Creusot         .     .     ,       7     240 
Die    Verschworung     der 

deutsch-franzosischen 

Rechten  .  .  9  316  10  358 
Conring,     Hermann:      An 

Herrn  Professor 

Wagemann,    den    Er- 

finder       des       Wage- 

mann-Plans    ....       5     181 

Deutsch,         Hans:         Die 

jiingste  Partei  .  .  14  504 
Dominique,     Pierre:      Die 

spanische  Revolution  7  242 
Douglas,    Melchior:    Mond 

und    Maschinen       .     .     10     387 

Eggebrecht,    Axel:    Indien 

im   Roman      ....       1       31 
Wer  weiter   Hest,     wird 

erschossen!  .   ..'    *■       2       51 

Ein  Sturmwind  von 
Jamaika  .  .  .  .  . 
Konfektion  .... 
Die  letzten  Heroen  .  . 
Heilitfe  Ordnung?  .  . 
Ehrlich,    Peter:    Lafit    Pa- 

dagogen  sprechen! 

Ekert-Rothholz,         Alice: 

Schaufenster        .     .     . 

Eros  im  Dritten  Reich  . 

*    Erinnerungen  (mit 

Randbemerkung) 

Kurze     Sittengeschichte 

Elbogen,    Paul:    Was   der 

Nazi    nicht    darl .... 

Murillo  und  die  Folgen 

Lex   Cohn      

Fischer,     Ernst:      Oester- 

reich    vor     dem   Biir- 

gerkrieg 1         8 

Flesch       (Rom),       Hans: 

Offener      Brief       um 

Nietzsche  ....  4  125 
Florentin:  Ein  Vorschlag  23  869 
Fontane,    Theodor :    Wenn 

Hitler  lesen  konnte  .  26  963 
Frei,   Bruno:     Der   Unter- 

gang     des   Judentums       1    t  14 

Peykar 15    545 

Waldhof-Templin       .     .    24    888 


17 
19 
20 
25 

643 
717 
756 
946 

16 

606 

1 
8 

21 
300 

23 
26 

867 
974 

13 

18 
25 

493 
685 
948 

Friedell,    Egon    und    Pol- 
gar,     Alfred      (siehe 
Polgar) 

Fuchs,  Herbert:  Vier 
Jahre  ohne  Sitten- 
polizei        

Gattamelata :      LandstraBe 

mil   Stubenluft  .     .     . 

Religiose    Streiter      .     . 

Gehrke,   M.  M.:     Die    ju- 

liche  Arbeiterin  ,  . 
Georg,  Manfred:  Derbeste 

judische  Witz  .  .  . 
Gerlach,    Hellmut   v.:    Er- 

lebnis       mit      Arthur 

v.  Gwinner  *  .  .  . 
Reichsrichterliches 

Deutsch 

Tardieu   und   Bruning   . 

Briand       

Ehrfurcht  vor  der  Ver- 

gangenheit  .... 
PreuBen     wird     Unord- 

nungszelle  .  .  *  " . 
Richter     erzahlen    Mar- 

chen 

Herr  Bruning!  .  .  , 
Abschaffung  der  Reichs- 

wehr 

Briinings  Passionsreise 
Herr  von  Papen  .  , 
Duell  Hitler-Schleicher 
Hindenburgs  Holzweg  . 
Deutschland  am 

1.  August  .  ,  .  .  . 
Gerstorff,  K.  L.:  Gewerk- 

schaftlicher  und  poli- 

tischer  Streik  .  .  . 
Heilmann  sucht  Zeugen 
Die      nachste      Notver- 

ordnung      

Das      gefahrliche      Ge- 

schenk        

Krisen-Querschnitt  .  . 
PreuBenwahlen    —    und 

was  dann?  .... 
Vor  der  PreuBenwahl . 
KrisenkongreB  .  .  . 
Die  Zahlen  vom 

24.    April 

Immer  neuer  Abbau  . 
Die        Schliisselstellung 

der    KPD 

Der    okonomische    Hin- 

tergrund 

Front    gegen    den    Ar- 

beitsdienst  .... 
Glenk,   Hans:    Die    wahre 

Internationale  .  .  , 
Der   Laie   wundert   sich 


1  18 

9  346 

12  460 

14  533 

9  348 


1  30 

6  226 

7  236 
11  391 

14  531 

17  611 


£ 

711 
732 

21 
22 
23 
24 
25 

763 

803 
841 

913 

26 

951 

2 
3 

44 
87 

8 

274 

11 
12 

393 

454 

13 
16 
17 

468 
603 
615 

18 
19 

652 
715 

21 

767 

23 

848 

25 

939 

5 

7 

183 
266 

IV 


Ein  weiser  und  gerech- 

ter    Richter    .     . '  .     . 

Sufi     ists     und      ehren- 

voll .     . 

Goldschmidt,    Alfons: 

Richter    Lynch       -     . 
Die  Diktatur  in  Peru  . 

Goll,   Iwan:   James   Joyce 

Goethe,  Johann  Wolf- 
gang v.:  Zu  diesen 
Mill  tars     ,       .... 

GroBmann,  Kurt:  Berliner 
Polizeigefangnisse 

Gumbel,  £.  J.:  Moskau 
1932     11  400     14  513 

Giinther,  Herbert:  Baju- 
varia 

Hasenclever,    Walter : 

Kulissen  -  .  ■  .  .  .  . 
Kauser,  Kaspar:  Kleine 
Nachrichten  .  .  .  . 
Colloquium  in  utero 
Die  armen  Luder  .  - 
Wenn  man  vielleicht  . .  , 
Moment   beim   Lesen 

Expertise 

Hitter    und    Goethe 
Viermal   Eichhornchen  . 
Heilig,     Bruno:     Die    zu- 
dringliche  Vergangen- 

heit         

Bravo,   Pragl      .... 
Hildebrand,    Rudolf :    De- 
pression   in    USA 
Religion    in   USA      .     . 
Hiller,    Kurt:    Der    Presi- 
dent         

Notizen  zu  Andre  Gide 
Im  Namen  Goethes    .     . 

Vorwort 

Sind    wir    Marxisten?    . 
Hinteracker,    Friedrich: 

Rliviera-Pleite        .     .     . 

Hirschlaff,  Ernst:  Herauf- 

setzung      des      Wahl- 

alters?        

Hollaender,  Friedrich:  Ca- 
baret       

Hdhne,    Ernst    M. :    Friih- 

ling    1932       .... 

Huelsenbeck,  Richard:  Die 

mandschurische      Re- 

publik        

Ihering,  Herbert:  Der  ber- 

liner  Theaterkrach     . 

Die    neue   Inquisition    . 

Jacob,  Heinrich  Eduard: 
Der  Kampfer  Arthur 
Schnitzler       .... 


24 

905 

26 

986 

17 

20 

6 

639 
755 
216 

12 

456 

2 

74 

16 

591 

17 

645 

24    894 


11 

411 

12 

453 

13 

495 

14 

532 

15 

573 

17 

633 

20 

751 

23 

864 

16 

586 

26 

982 

11 

403 

26 

960 

6 

194 

10 

370 

12 

457 

21 

771 

26 

957 

12  442 

15  569 

5  169 

21  797 

12  438 


22    817 
25    935 


15    572 


Jacobsohn,  Edith:    C.  v.  O.     20     744 
Joesten,  Joachim:  Ich  bin 

Pazifist 25    933 

Kahle,    H.  G.:     Funk     in 

Fesseln 13    483 

Kallai,  Ernst:  Truppe  1931        1      34 
Zweimal  Bauen  im  Film      4     146 
Triibsinnbilder       ...      8    291 
Kaminski,    Hanns-Erich: 

Lausanne  ....  3  83 
Monarch  Hindenburg  ,  8  278 
Woftir  — ?  ....  10  354 
Vormarsch    der    West- 

kalmucken  ....  12  431 
Eamon  de  Valera  .  .  14  508 
Die  Besiegten  ...  15  539 
Stresemanns    Vermacht- 

nis      .......     17    618 

Deutschlands    Freiheits- 

kampf        19     711 

Militardiktatur       ...     20     725 
Die    Geburt   des    Aben- 

teuers 22     801 

Bruning 23     844 

Nur   keine   Schwache!    .     24    873 
Die    Vierunddreifiigste  .     26    954 
Karsch,       Walther:       Ge- 

schichte  in  Bildern  .  2  75 
Vormarsch  ins  XX.  Jahr- 

hundert  .....  6  205 
Zwischen  den  Fronten  8  304 
Die   Verfolgung    der  Li- 

teratur    in   der    Deut- 

schen  Republik  .  .  13  474 
Pflug,  der  Unschuldige  15  570 
Zum  Thema  Buchkritik  19  720 
Flucht    aus  der    Dreck- 

linie        22     836 

Jan  Erik   Strafier      .     .     24    905 
Kastner,  Erich:  Der  Kum- 

merer 3     105 

Friseur    beim    Plaudern      4     141 
Kleine    Replik       ...       6     218 
Der  Esel   und   die  Aut- 
arkic           .      7     267 

Sie  bildeten  ein  Kollek- 

tiv 14     524 

Nahe  Waldfriedhof  .     .     15     554. 
Junger     Mann,    5    Uhr 

morgens  .....  17  .  638 
Die  Amusierdame  stoBt 

Beschek* 19    723 

Der  Handstand  auf  der 

Loreley 20    753 

Brief    aus    Paris,    anno 

1935       ......    21     795 

Bilanz   per  Zufall      .    .    25    943 
Ken,    Paul:    Von   Mozart 

bis       Friedrich       den 

Grofien 13    497 


Kofflcr,    Dosio:    Ufa    und 

Autoren 13     496 

Kolmar,  Alfred:  Rustungs- 

Hausse        6     199 

Ivar  Kreuger  .  ...  12  435 
Kraszna-Krausz:  Film  als 

Kunst 12     447 

Film-Autarkie  .  .  .  ,  21  786 
KrauB,  Hans:  Die  Prugel- 

padagogen  ....  23  851 
Kuh,  Anton:  Der  Leopard  6  222 
Vaterchen  richtet,  Toch- 

terchen  tanzt  ...  9  334 
Kunkel,  Johann:  Autarkol  8  297 
Kurzweg,     Hans:     Geister 

am    Schlanitzsee    .     .     23     868 

Lendzian,    Marianne:    So- 

zialabbau 14     534 

Lenin,  N.:  Zur  Lage  .  .  21  771 
Leonhard,    Rudolf:   Kurel- 

las  Mussolini-Buch  ,  2  49 
Lewinsohn        (Morus), 

Richard:      Die      Welt 

aus  den  Fugen  .  ,  21  780 
Lichtenberg,   Georg     Chri- 

stoph;  Wissenschaft  ,  8  296 
Aphorismen  .  .  .  .  26  966 
Linden,    Hermann:    Spiel- 

klubs 10     384 

Lubrany,    Elis:    Hitler    in 

Jerusalem  ,  ...  22  835 
Luther,  Martin:  Zu  dieser 

Regierung       ....     24     903 

Mamroth:  Ein  unverstand- 

Hches  Urteil  ...  20  740 
Mann,       Thomas:        Kein 

Rechtsspruch  ,  .  .  20  741 
Marai,  Alexander:  Warum 

lohnt    es    sich    zu    le- 

ben? 23     855 

Marcuse,  Julian:  Aus  dem 

bayrischen        Polizei- 

kabinett 8     302 

Matthias,    Lisa:    Viel    zu 

viel    und    viel    zu  we- 

nig  Larm 3     107 

Dann  schon  lieber  Poli- 

tik!         13     494 

May,   Karl:    Ins   Deutsche 

iibersetzt  .  ....  24  910 
Mehring,  Walter:  Welsche 

Tucke 5     182 

Grauenvolle       Zustande 

in    Afrika       ....       7     247 

Pg.  Goethe 8    285 

Portrat    nach  der  Natur       9     329 

.    Ich    zeige    an!    .      .     .     ,     11     416 

Wunder   der   Statistik   .     14     512 


Fnihlingsheil!  .... 
Das  Wahlresultat  .  . 
Tugend     in     zwei    Ver- 

sionen 

Serajewo  gefallig?     .     . 

Kulturrettung  E.  V.  .     . 

Menczer,    Bela:    Hegel 

Michel,       Erna:       Friseur 

antwortet   Kastner 

Spezialisierung  des 

Rundfunks      .... 

Milton,    John:    Zu    dieser 

Zensur        

Muck,  Hein:    Al    Capones 

Marchenerzahler     .     . 

Miihsam,  Erich:    Felseneck 

Lenin  und  die   „Schein- 

Raterepublik"    .      .     . 

Wehe    den   Gerichteten! 

Natonek,  Hans:  Der  blu- 
tigel  Dilettant     .     .    . 

Neumann,  Erich  Peter ; 
Die  schlesische  Reak- 
tion 

Olden,      Rudolf:       Schutz 

den    Militarmarschen ! 

Pogede    .      

Sire,  geben  Sie   Gedan- 

kenfreiheit!    .... 
Die   „bedrohte  Provinz" 
Ostpreufien-„Hilf  e"  ? 
Ossietzky,    Carl    v.:     Der 

Fall  Franz  Hollerling 
Eiserne   Front        .     . 
Um    Hindenburg 
Lytton   Strachey   .     . 
Das    Hindenburg- Syndi- 

kat 

Der  Staatenlose  .  . 
Gedanken     eines     Zivi- 

listen 

Was  ware,  wenn  .  . . 
Gang  eins  .... 
Duesterbergs         dustere 

Rolle 

Wer  hat  gesiegt?  , 
Gang  zwei  .  ,  . 
Das    Ende    der    Presse- 

freiheit  .... 
Alba  im  Schlafrock 
Der  Fall  Remarque 
Das  Verbot  der  SA 
Dank  vom  Hause  Hin- 
J  denburg  .... 
.  Ein  runder  Tisch  wartet 
Rechenschaft  .  .  . 
Die  aktuelle  Aufgabe 


15 
18 

568 
655 

19 

21 

22 

5 

714 
782 
832 
159 

6 

218 

26 

969 

8 

277 

24 
7 

908 
263 

18 
25 

681 
925 

9 

342 

21 

793 

13 
17 

469 
626 

20 
24 
25 

747 
881 
920 

1 
2 
3 
4 

1 

41 

81 

142 

5 
6 

151 
221 

7 
8 
9 

231 
271 
311 

10 
11 
12 

351 
389 
427 

13 
14 
15 
16 

463 
501 
548 
579 

17 
18 
19 
21 

613 
649 
689 
766 

VI 


Panter,  Peter:  Der  Floh  .  i  26 

Cyniker?        3  100 

Schnipsel  4   140  10  377  13  488 

14  521   17  637  21  784  25  937 

Auf  dem   Nachttisch      .  5  177 

9    330 

Michel   Simon   ....  6  225 

Otto  Reutter     ....  7  254 

Kolossal    beruhmt      .11  418 
Zu     einem     sechzigsten 

Geburtstag      ....  15  569 

Zum    Gedenken    ...  16  599 

Zwecks    Lachung   ...  18  683 

Praktisch       .....  19  717 

„Ktolissen" 24  891 

Lichtenberg        ....  26  964 
Pohl,  Gerhart:  Kampf  um 

Kolbenau            ...  4  130 
Polgar,      Alfred:        Allez 

hopp! '.  2  76 

Die   Mutter        ....  4  138 

Timon        5  174 

Othello 6  219 

Zwei  Hauptmann-Abende  8  293 

Im    Schiller-Theater       .  10  382 
Literarhistorisches      zur 

Szene    „Goethe"      .     .  18  675 
Das     Ziinglein     an     der 

Wage 18  682 

Drehorgel       .     .     .  *  .     .  19  713 
Ossietzky  geht   ins    Ge- 

fangnis        20  742 

Die  letzte  Konferenz     .  22  822 

23    859 

Ein  Vorschlag  ....  23  869 

Exakter    Nachweis    .      .  26  985 
und       Friedell,      Egon: 

Goethe   , 15  557 

Pomeranus,  Lorenz:   Brest 

oder   Mein   Vaterland 

ist    Pilsudski      ...  4  122 
Prugel,    Alfred:  Menschen 

kleiner    Stadte        .     .  14  536 
Alte     Frau     wird      ins 

Krankenhaus  gebracht  25  948 

Quidde,  Ludwig:    Die    be- 

leidigte    Reichswehr    .  10  362 

Quietus:   Hitlers  Finanzen  16  583 

Reger,   Erik:    Die   Schuld- 
frage     der    Rationali- 

sierung        11  407 

Reimann,  Hans:   Zurich     .  2  64 

Ein    Orchester       ...  9  345 
Das                zugepinselte 

Sprichwort    .      ...  22  837 
Reiner,   K.    L.:    Hitler   er- 

obert  Rumanien      .     .  1  30 
Japanische  Kriegsrepor- 

tage        7  264 


Rilke,   R.  M.:   Ein  Brief  .  1  25 

Ringelnatz,  Joachim : 

Stille  StraBe      ...  7  253 

Roda,  Roda:  Erregte  Szene  8  307 

Fragment 11  424 

Berlin   und    Paraguay   .  13  496 

Der      Ordnungsliebende  14  536 
Roda      Rodas      Selbst- 

gesprach 16  604 

Anekdote 17  646 

Heimkehr 20  760 

Sander,   Martin  Christian: 

Deutsch    sein,      heiBt 

eine    Sache 16    606 

Securius:  Abriistungs- 

Konferenz  ....  4  118 
Simon,   Herbert  Veit:   Ju- 

gendschutz  und  Film- 

zensur        24     907  , 

Skala,     Jan:     Ostmarken- 

ProzeB        9     326 

Suitbert,    John:    Die    Ur- 

sache 23     847 

Scheffler,        Karl:        Das 

Schaufenster  ...  24  896 
Scher,  Peter:  Ecco!  .  .  1  37 
Schiller,  Norbert:  Tu  felxx 

Austria  .....  1  36 
Schnog,  Karl:  „Die  neuen 

Herren" 6     228 

Frau  Winifred  Wagner  8  307 
Schwerdtlein,  Marthe:  Die 

Sonne   tont    .      ...     14     525 

Storch,   Nikolaus:    Agrari- 

sches       Hexeneinmal- 

eins 22     834 

Stocker,    Helene:    Kriegs- 

rakete      „im     Dienste 

der  Menschheit"  .  .  2  47 
Stossinger,       Felix:       Die 

Bibliophilen   ....     11     419 

67,6:5,21       22     806 

Strobel,      Heinrich:      Mil- 

haud  komponiert  Wer- 

fel ,  .       5     172 

Talmud:    SPD       13    482 

Tarn,   Thomas:   Die  Krise 

wachst        .....      6     191 
Die     Weltkrise      nimmt 

weiter    zu       ....     20     745 
Zerschlagung  des  Tarif- 

rechts?       24     878 

Ein    sozialistisches   Ak- 
tionsprogramm   ...    26    983 
Tergit,  Gabriele:   Wilhelm 
der    Dritte     erscheint 
in   Moabit      ....      4    145 
Die    Geschaftsordnung .      8    305 


VII 


Kampf  urn  Kitsch     .    ,      9    344 
Alltaglichkeit    in    Moa- 

bit 10    383 

Moritz    Rosenthal      .     .     12    450 

Brolat       14    522 

Der  Richter    Kefiner      ,     15     562 
Expertendammerung       .     16     596 

Felscnecke 18    684 

Sklareks,  die  sympathi- 

schen    Menschen    .    .    20    757 

Soelling 21     788 

Pastor   Cremer      ...     22    827 
Ob   Jud    oder   Christ ...    26     975 
Tetens,     T.     H.:      System 

Reemtsraa       ....       5     155 
Reemtsma    kauft   ...     13    472 
Tiger,      Theobald:       Lied 

von   der  Gleichgiiltig- 

keit        1       29 

Europa 2       73 

Zoologie 3      92 

Na   also    — !      ....      6     220 
Dreh     dich     hin,     dreh 

dich     her     —    kleine 

Wetterfahne        ...      7     239 
Recht    mufi   Recht    blei- 

ben!       8    273 

.  §§§§      .......      9    341 

Der  breite    Riicken   .     .     10     357 
Wie  mans   macht ...      .     11     415 

Der    Zerstreute      ...     12     449 
Beschlagnahmefreies 

Gedicht 

Singt   eener   uffn  Hof  . 
Die    Herren    Eltern 
Altes    Lied    1T94 
Wenn   eena   doot   is 
Heute  zwischen    gestern 

und    morgen       .     .     . 

Wenn  eena  jeborn  wird 

Toller,      Ernst:      Mensch- 

liche       Komodie       in 

Genf 

Das    neue  Spanien    , 

17  622   18  667   20  749 

Rede  in  Budapest     .     . 

Trotzki,      Leo:      Diktatur 

Bruning 


13 

492 

14 

529 

16 

590 

18 

680 

21 

792 

22 

831 

24 

904 

11 

396 

15 

550 

25 

929 

23 

853 

9    319 


Tucholsky,  Kurt:  Avis  an 

meinen  Verleger     .     .  9  345 

General-Quittung       .    .  20  734 

VoB,     Margarete:     „Opti- 

mismus" 1  38 

Wendung       5  188 

Walter,    Arnold:    Friede- 

maun  Bach  ....  6  226 
Kurt    Weill:    Die   Burg- 

schaft          17  634 

Die      Deutsche    Musik- 

buhne 20  758 

Walter,  Hilde:  Wir  Juden 

mitten  drin  ...  8  280 
Die  Damen  wollen  auch 

dabei  sein  .  ...  .  11  421 
Braungelbes        Arbeits- 

recht 18  663 

Dingeldeys  Fufiballelf  25  94tf 
Wels,     Grete:      Ich     weifi 

einen  Mann  ...  12  460 
Wolfenstein,  Alfred:     Ro- 

sig    .......     .  2  78 

Wolfradt,    Willi:     In    die 

Luft  schieBen?  .  .  8  301 
Wrobel,    Ignaz:     Fraulein 

Nietzsche        ....  2  54 

Strafvollzug        ....  3  107 

Historisches       ....  4  144 

Pfiff   im   Orgelklang      .  5  164 

Brief  meines   Vaters      .  6  204 

Friedrich  mitn  Mythos  7  262 
Die     deutschen     Klein- 

stadter       8  289 

Privat        9  342 

111 10  382 

Achtung!        12  457 

Der   Hellseher  ....  15  541 

Krieg   gleich   Mord   .     .  16  588 

Rohm i,  17  641 

Freier      Funk!       Freier 

Film! 18  660 

Liebe  Schweizl      .     .     .19  712 

Redakteure       .     22    813  23  856 

Zweig,      Arnold:      Kleine 

Orestie       3  96 


Abbau,  Imraer  neuer  — . 
Abenteuers,     Die     Gcburt 

des    — 

„ —  aber  etwas  fehlt — " 
Abriistungs-Konf  erenz 

Achtung! 

Afrikay   Grauenvolle    Zu- 

stande  in  —  ... 
Agrarisches        Hexenein- 

maleins 

Aktuelle,  Die  —  Aufgabe 
Alba  im  Schlafrock  .  . 
Albers,       Petzet,       Kuhle 

Wampe,  —     ,     .     ,     . 

Allez    hopp 

Alltaglichkeit  in  Moabit 
Alraune       auf       Kunden- 

fang  

Altes  Lied  1794  .  .  . 
Anekdote  ,  '  .  ,  ,  ,  , 
„Angriffs\        Aus       einer 

Nummer    des    — 
Animierdame,       Die       — 

stofit    Bescbeid       .     , 

ApHorismen 

April,      Die     Zahlen    vom 

24,    — 

„Arbeiter-Kalender,     IUu- 

strierter  — "  ,  ,  . 
— in,  Die  jugendliche  —  . 
Arbeitsbeschaffung  ,  , 
Arbeitsdienst,  Front  gegen 

den    —. 

— pflicht 

Arbeitsrecht,        Braungel- 

bes    — 

Arland,  Marcel  —  .  .  . 
Arnheim,  Rudolf  —  .  . 
— ,  Antwort  an  Rudolf  — 
Aufgabe,    die    aktuelle    — 

„Aufstand"        

Auslandsdeutsche  .  .  . 
Austria,   Tu  felix  — 

Auswurf        

Autafkie,    Der    Esel    und 

die    — 

— ,    Sittliche  —  oder:  Wir 

machen    uns      unsern 

Dreck    alleene!        .     . 

— ,    Film — 

Autarkisten,   Die  —      .     , 

Autarkol 

Autoren,  Ufa  und  —  .  . 
Auverganten,  Die  vorsich- 

tigen    — 

Bach,  Friedemann  —  .     . 


S; 

ichn 

agister 

19 

715 

Bajuvaria 

17 

645 

Bankier,  Das  Reich  als  — 

9 

338 

22 

801 

Barcelona     .     .     .    .,     .     . 

18 

670 

8 

303 

Bargenhusen,   Antwort   an 

4 

118 

Jan    — 

25 

939 

12 

457 

Barthel,    Max   —      .     .     . 

9 

346 

Basse,  Wilfried  —   ... 

4 

146 

7 

247 

Bauen,     Zweimal    —     im 

Film 

4 

146 

22 

834 

Bauer,   Jan  —      .... 

9 

326 

21 

766 

Bausparkassen      .... 

2 

68 

14 

501 

Bayrischen        Polizeikabi- 

nett,  Aus  dem  —  — <  . 

8 

302 

13 

486 

MBedrohte    Provinz",    Die 

2 

76 

—  —     , 

24 

881 

10 

383 

Berlin,  „Hallo,  Hallo,  hier 

spricht  — "     .... 

12 

458 

15 

576 

—  und   Paraguay      .     .     . 

13 

496 

18 

680 

—  und    Prag 

1 

27 

17 

646 

— er  Polizeigefangnis    .     . 

2 

74 

— er  Theaterkrach,  Der  — 

22 

817 

8 

301 

Berufsstolz        

18 

687 

Beriihmt,  Kolossal  —  .     . 

11 

418 

19 

723 

Beschlagnahmefreies     Ge- 

26 

966 

dicht 

13 

492 

Besiegten,  Die  —     ... 

15 

539 

18 

652 

Besonders 

24 

910 

Beton,    ,VMann    im   — " 

23 

861 

2 

51 

Bibliophilen,  Die  —     ,     . 

11 

419 

14 

533 

Bilanz  per  Zufall      .     .     . 

25 

943 

15 

564 

Bilbo,  Jack  —     .... 

24 

908 

Bildung  4  148  5  187  9  347 

10 

386 

25 

939 

Bing,    Max   —      .     ,     .     . 

15 

565 

20 

754 

Borchardt,    Rudolf    —       . 

5 

178 

Brahmanisches   Theater     . 

17 

643 

18 

663 

Braun,   Alfred  —     ... 

15 

556 

25 

946 

Braungelbes     Arbeitsrecht 

18 

663 

12 

447 

Brecht,    Bert  —       4     138 

13 

486 

26 

969 

24    899 

21 

766 

Breite    Riicken,    Der 

10 

357 

9 

330 

Breslau,  Warum  grade  — ? 

3 

106 

1 

37 

Brest   oder    Mein    Vater- 

1 

36 

land   ist   Pilsudski 

4 

122 

4 

147 

Briand      , 

11 

391 

Brief,  Ein  — 

1 

25 

7 

267 

Brolat 

14 

522 

Bruckner,  Ferdinand  —  . 

5 

174 

Btiining        

23 

844 

16 

607 

— ,    Diktatur  —   .     .     .     . 

9 

319 

21 

786 

— ,    Herr    — !       .... 

20 

732 

22 

829 

— t    Tardieu    und    —    .     . 

7 

236 

8 

297 

—  seiner  Zeit  voraus  .     . 

13 

498 

13 

496 

— s    Passionsreise    .      .     . 

22 

803 

Buchkritik,  Zum  Thema  — 

19 

720 

5 

187 

Budapest,  Rede  in  —  .     . 
— er,  Das  wahre  —  Mad- 

23 

853 

6 

327 

chen       .     ...     .     . 

15 

574 

IX 


Biihnc,  Theater  ohne  —  .  23  &61 

24   899 

— nautoren,  Rechte  der  —  7  250 
Biirgschaft,     Kurt     Weill: 

Die    — 17  634 

Byzanz 9  311 

Cabaret 5  169 

Capoues,  Al  —  Marchen- 

erzahler 24  908 

Causa  finita 1  11 

Chefbureau,  Das  —      .     .  12  461 

China,    Whitechapel    in—  11  418 

Christ,    Ob  Jud  oder  —  . . .  26  975 

Clair,  Rene  —     .     .     .     .  4  135 

Cohen,  Moritz  Abraham  —  11  418 

Cohn,    Lex    —      ....  25  948 

Colloquium   in   utero    .      .  12  453 

Cremer,    Pastor   —       .     .  22  827 

Cyniker? 3  100 

Da  gehort  sie  hin  ...  17  646 
Daraen,     Die    —    wolleri 

auch   dabei   sein     .     .  11  421 

Danziger       19  711 

Das    verbietet    keiner!       .  13  492 

Defizit,  Drei  Milliarden —  7  259 

Dekret .  12  461 

Deutsch,        Reichsrichter- 

liches  — 6  226 

—  fur   Deutsche      ...  15  570 

—  sein,  heiBt         eine 

Sache 16  606 

— Franzosischen  Rechten, 

Die         Verschworung 

der .9    316  10  358 

— e,  Deutsch    fur   —    .      .  15  570 

— e,  Wann  jubelt  der  —  ?  26  987 

— e,  Ins   —  iibersetzt   .     .  24  910 

—en  Kleinstadter,  Die  —  8  289 

—land    am    1.    August      .  26  951 

— lands    Freiheitskampf    .  19  710 

Diktatur    Briining    ...  9  319 

Dilettant,    Der   blutige    —  9  342 

Dingeldeys    FuBballelf      ,  25  944 

Diskretion         .....  16  606 

Donau-Plan     * 11  412 

Dormandi,    Laszlo    —  2  75 

Doblin,   Alfred  —    3     93  4  131 

5    166     6    207 
Dreck,    Sittliche   Autarkie 

oder:      Wir      machen 

uns  unsern  —  alleene  16  607 

— linie,  Flucht  aus  der  —  22  836 

Drehorgel 19  713 

Dritten  Reich,  Eros   im —  8  300 

Druckfehler,    Der    —    .  ".  20  759 

Dudow,  S.  Th.  —     .     .     .  13  486 

Duvivier,  Julien  —  .  .  12  458 
Duesterbergs            diistere 

Rolle 10  351 


Ebert,   Carl   —     .     .     .     . 

Ecco!   

,Echo  de  Paris',  Henri  de 

Kerillis  vom 

Ehemann,   Trost  fur  den. — 
Ehrenburg,   II j  a  —  .    , 
Ehrenvoll,    Sufi    ists    und 

Ehrfurcht    vor    der    Ver 

gangenheit      .     .     . 
Eichhornchen,   Viermal  — 

111        

Eins,   Gang  —      ... 
Eiserne    Front       .     .     . 
Eisler,  Hanns  —      4    138 
Eltern,   Die   Herren  — 
Ende,   Zu  —  gesagt 
Endlose       Strafie,   .    „Die 


Engels,  Erich  —  ... 

Erinnerungen  (mit  Rand- 
bemerkung)    .     .     . 

Eros   im  Dritten  Reich 

Escorial,  El  — ,  das 
Mausoleum  der  Ko- 
nige        .     .     .    .     . 

Esel,  Per  —  und  die  Aut- 
arkie       

Essai,    Wat    ein    richtiger 


Essen,   Nackttanz   in  — 

— ,  „Sturm  auf  — ' 
vor  der  hochsten  In- 
stanz      .... 

Ethische  Rucksichten, 
Hohere . 

Europa    ..... 

Exakter    Nachweis    . 

Expertendammerung 

Expertise      .... 


17 

634 

1 

37 

9 

316 

11 

415 

5 

177 

26 

986 

14 

531 

23 

864 

10 

382 

9 

311 

2 

41 

13 

486 

16 

590 

6 

228 

10 

382 

16 

605 

23 

867 

8 

300 

25 

930 

7 

267 

11 

424 

24 

909 

13    480 


Felsenecke  .  -  7  263 
Fernamt,  Film  vom  —  . 
Film,  Der  franzosische — 
— ,  Freier  Funk !  Freier — ! 
— ,    Zweimal  Bauen  im  — 

—  als    Kunst      .    .     . 

—  vom    Fernamt    . 
— Autarkie    .... 
— e,   Betriibliche   — 
— e,   Zwei   wichtige  — 
— zensur,        Jugendschutz 

und    —       .... 
Flesch,  Antwort  an  Hans 

—    (Rom)       .    .    . 
Flick-Geschafts,     Hinter 

grunde    des    — 
Floh,    Der    —       .    ,     . 
Flucht    aus    tder    Dreck- 

linie       

Forster,  E.  M.  —     .     . 


7 

268 

2 

73 

26 

985 

16 

5% 

17 

633 

18 

684 

12 

458 

4 

135 

18 

660 

4 

146 

12 

447 

12 

458 

21 

786 

2 

59 

16 

605 

24 

907 

5 

164 

26 

977 

1 

26 

22 

836 

1 

31 

Fragment 

Frankreich,  Hitler  und  — 
Franzen-Hellersberg, 

Edith    —       .     .     .     . 
Franzosische  Film, 

Der .     .     .     , 

— en,    Die    Verschworung 

der   deutsch- —   Rech- 

ten        .     .     .     9     316 
— en,  Die  —  Wahlen  . 
Frankel,   Max  — i      .     . 
Freier   Funk!  —  Film! 
Freiheit,  Die  sogenannte — 
— ,  „Es  lebe  die  — !"  , 
— skampf,   Deutschlands 
Freud,   Odysseus  — 
Freundliches    Angebot 
Fried,    Ferdinand    —   . 
Friedrich      den      GroBen 

Von  Mozart  bis 


—  mitn    Mythos       .     . 
Friseur    antwortet    Kast- 

ner    .      .     .     ,     .     . 

—  beim  Plaudern     .     * 
Front,      „Wehrlos     hinter 

der  — "  .  .  .  . 
— en,  Zwischen  den  — 
Frtihling    1932       .     .     . 

— sheil! 

Fugen,  Die  Welt  aus  den 


Funk,   Rund   um   den   — ■ 
— ,.     Freier     — I        Freier 

Film! 

—  in  Fesseln  .... 
— literatur  .  .... 
5     Uhr    morgens,     Junger 

Mann    —   —   —    . 
Fursprgeerziehung,     Stra 

fen?    — ?        ... 
Furst    und    Kollege 


Sire, 


Gang    eins 

—    zwei        .     . 

Gedankenfreiheit, 

geben  Sie  — 
Gedenken,    Zum 
Gefahrliche  Geschenk 

Das 

Gefangnis,  Ossietzky  geht 

ins    — 
Geister    am    Schlanitzsee 
Gelb,   Adhemar  —  . 
Generaldirektor,   Pg.   - 
General- Quittung 
Generalswirtschaft   . 
Generell,    Vertraulich,    — 

und      staatspolitische 

Griinde       ,     .     .     .     . 


11  424 

10  358 

14  533 

4  135 


10  358 

20  728 

14  526 

18  660 
16  594 

4  135 

19  710 

3  98 

4  148 
22  829 


13  497 

7  262 

6  218 

4  141 

2  75 

8  304 
21  797 
15  568 

21  780 

15  555 

18  660 

13  483 

22  819 

17  638 

10  366 

16  608 

9  311 
12  427 

20  747 

16  599 

11  393 

20  742 

23  868 

14  516 
23  870 
20  734 

19  701 


15  575 


Genf,  Menschliche  Komo* 

die    in  —      ....  11  3% 

Gerichteten,  Wehe  den—!  25  925 

Geschaftsordnung,   Die  —  8  305 

Geschichte,    Wahre   —      .2  79 

—  in  Bildern  ....  2  75 
Gestern,    Heute    zwischen 

—    undMorgen       .     -  22  831 

Gesuch,    Ein    —       ...  5  187 

Gide,  Notizen  zu  Andre  —  10  370 
Gleichgultigkeit,  Das  Lied 

von  der  —  ...  1  29 
Gogh,    Der    Van —    Pro- 

zefl        16  596 

Goldstein,    Kurt   —      .     .  14  516 

Goethe 15  557 

— f  Hitler  und  —  .  .  20  751 
— ,    Literarhistorisches  zur 

Szene    „— *'    ....  18  675 

—  Pg.   - 8  285 

—  und  . .  .  11  423  13  498 
— s,  Im  Namen  —  -  .  .  12  457 
Graff,  Siegmund  —  .  .  10  382 
Graener,  Paul  —  ...  6  227 
Grohmann,  Walter  —  .  22  819 
Gronostay,    Walter   —      .  10  374 

23    861 
Grosz-Prozefi,      Der     Ge- 
orge— 1  11 

Groener        14  501 

Gut  ausgesucht     ....  20  760 

Gute,  Die—,  alte  Zeit  .  25  936 
— n,  Vom  Schlechten  zum 

— 19  718 

Gwinner,      Erlebnis      mit 

Arthur  v.   —      .     .     .  1  30 

Handstand,      Der   —   auf 

der    Loreley       ...  20  753 

Hanussen,  Erik  Jan  —     .  24  905 

Hasenclever,  Walter  —  .  24  891 
Hauptmannabende,     Zwei 

— 8  293 

Hauser,   Heinrich  —     .     .  5  185 

Hanel,   Walter  —   .     .     .  24  899 

Hegel        5  159 

Heilmann   sucht  Zeugen   .  3  87 

Heimkehr 20  760 

Heller,  Otto  —     .     .    .     .  1  14 

..Hell's    angel"      ....  3  107 

Hellseher,  Der  —     ...  15  541 

Henschel,   Fuhrmann  —  .  8  293 

Henschke,    Gerhart   —      .  23  861 

Herbers,   Hein  —     ...  16  588 

Heroen,   Die   letzten  —   .  20  756 

Herren,  „Die  neuen  — "  .  6  228 
Heute     zwischen    Gestern 

und   Morgen      ...  22  831 

Hiller,  Kurt  —  3  93  5  166  6  207 

Hilpert,   Heinz  —     .     .     .  5  174 


XI 


Hindenburg,     Dank     vom 

Hause   —       ... 

17 

613 

— (   Monarch  —  ... 

8 

278 

—    Um   —      .     .     .     . 

3 

81 

— Syndikat,  Das  —     . 

5 

151 

— s    Holzweg    .... 

25 

913 

Hintergrund,    Der    okono- 

mische   —      ... 

23 

848 

Hintze,   Carl   Ernst  — 

10 

382 

Hirsch,    Felix   —      .     . 

6 

221 

Historisches       .... 

.      4 

144 

Hitler    erobert    Rumanier 

i      .1 

30 

—  in   Jerusalem       .     . 

.    22 

835 

—  in    Paris       .... 

.       3 

90 

—  und    Frankreich 

.     10 

358 

—  und  Goethe     .     .     . 

.     20 

751 

—  und    Schleicher   . 

4 

117 

— ,    Duell    — Schleicher 

.    24 

875 

— ,    Wenn  —  lesen   konnt< 

;    26 

%3 

— s  Finanzen    .... 

.     16 

583 

Hochheimer,    Wolfgang  — 

-    14 

516 

Hollaender,    Friedrich   — 

2 

76 

Houben,  H.  H.  —     .     . 

.     13 

463 

Hollering,        Der         Fal 

I 

Franz   —   .    . 

1 

1 

Horspiel  in  Naturfarben 

.     13 

498 

Hughes,  Richard   —     . 

.     17 

643 

Husson,     „Le    Rosier     d< 

^ 

Madame   — "      .     . 

.     19 

714 

Hussong,    Friedrich   — 

7 

262 

Ich    zeige    an!       ....     11     416 

Indien  im  Roman     ...       1       31 

Industriesanierung     durch 

Inflation   .      ....     10    379 

Inflation,      Industriesanie- 
rung durch  —     ...     10     379 

— ,  Kommt  eine  — ?     .     .     18    678 

Inquisition,  Die  neue  —  .     25     935 

Intellektuellen,  Die  Furcht 
der   —  vor    dem   So- 
zialismus  3  93    4  131       5     166 
6    207 

Intelligenz    in    Miinchen   .     17    645 

Internationale,   Die  wahre 

— 5     183 

—   Sozialisierung      ...     13    490 

Jamaika,    Ein    Sturmwind 

von   — 17  643 

Japanische     Kriegsrepor- 

tage       7  264 

Jarcho,  Gregor  —  ...  15  555 
Jazzband,   „Funf  von  der 

— " 16  605 

Jerez,  das  Mausoleum  der 

Kognaks 25  931 

Jerusalem*  Hitler  in  — ■  .  22  835 

JeBner,   Leopold  —      .     .  6  219 

Jolowicz,  E.  —    ....  22  819 

Joyce,   James   —      ...  6  216 


Jud,  Ob  —  oder  Christ ...  26  975 

— e,   Der   ewige  — amZiel  22  833 

—en,  Wir  —  mitten  drin  8  280 
— entums,    Der   Untergang 

des  —  ..;...  1  14 
Jugendliche        Arbeiterin, 

Die ....  14  533 

Jugeridschutz    und    Film- 

zensur 24  907 

Juli,      Die     Komodianten 

vom  13.  —  ...  .  4  113 
Junger  Mann,  5  Uhr  mor- 

gens       17  638 

Junggesellen,     Trost     fur 

den  — 11  415 

Just,  A.  W.  —  ...  5  179 
Justizminister,        Eingabe 

an  den  Herrn  —  .  .  20  736 
Jiidische   Witz,   Der  beste 

9  348 

Kahl,  FriedrichWilhelm  —  6  220 
Kastner,       Friseur      ant- 

wortet    —      ....  6  218 

Kent,  Victoria  —  ...  18  667 
Kerillis,   Henri  de  — vom 

,Echo   de   Paris'      .     .  9  316 

Kefiner 9  334 

— ,   Der   Richter   —      .     .  15  562 

Keun,  Irmgard  —     .     .     .  5  180 

Keynes,  John  Maynard  —  3  101 
Kids  ton,    „Das    Schick  sal 

des   Commanders   — "  15  556 

Kitsch,    Kampf    um   —     .  9  344 

Kleine    Nachrichten      .     .  11  411 

— r  Stadte,  Menschen 14  536 

—re  Ubel,  Das .  4  148 

Kleinstadter,      Die      deut- 

schen  — 8  289 

Knoth       19  711 

Koffler,  Dosio  —  .  .  .  9  331 
Kokuhonsha,  In  den  Blut- 

spuren    der   —       .     .  22  810 

Kolb,  Richard  —     ...  22  819 

Kolbenau,   Kampf    um   —  4  130 

Kollege,    Furst   und   —    .  16  608 

— n       5  158 

Kollektiv,      Sie      bildeten 

ein    —       14  524 

Komodianten,  Die  —  vom 

13.   Juli 4  113 

Komodie,  Menschliche  — 

in  Genf 11  396 

Konfektion        19  717 

Konferenz,    Die   letzte  -  22  822 

23    859 

Konjunktur,  Blutige  —  .  14  506 
Konig,   Ruhe,   der   —   re- 

giert! 26  987 

KPD,    Die    Schlusselstel- 

lting    der   —      ...  21  767 


XII 


Krankenhaus,  Alte  Frau 
wird   ins   —   gebracht 

K  reiser 

Kreuger,   Ivar  —     .     . 

— ,     Morgan,     Rockefeller 

Krieg,  Herr,  wo  waren  Sie 
im ?     .     .     . 

—    gleich    Mord       .     . 

— srakete  „im  Dienste  der 
Menschheit"        .     . 

— srepoHage,     Japanische 


Krise,  Die  —  wachst  . 
— nkongreft  .... 
— n-Querschnitt  ... 
Krone,   Die   —   der  Refe 

renzen   

Kronprinzenpalais,  Das  — 

in  Oslo  .... 
Kuh,  Anton  —  ... 
„Kuhle    Wampe"       .     . 

,   Petzet, ,  Albers 

Kulissen        


Kulturrettung  E.  V.      . 
Kurellas     Mussolini-Buch 
Kummerer,    Der    — 

Lachung,  Zwecks  —  . 
Lage,  Zur  —  ... 
Laie,  Der  —  wundert  sich 
LandstraBe  mit  Stubcnluft 
Lausanne  .  ,  .  .  , 
Larm,    Viel     zu   viel     und 

viel    zu   wenig   — 
Leben,    Warum    lohnt    es 

sich    zu    — ? 
Legal,   Immer   —      .     , 
Lenin    und     die    „Schein 

Raterepublik"    . 
Leopard,    Der  —      .     , 
Lesen,    Moment    beim    — 
Letzte   Konferenz,  Die  — 

—      .     .     .       22    822 
Lichtenberg       ..... 
Lindtberg,    Leopold  — 
Literarhistorisches  zur 

Szene  „Goethe"  .  . 
Literatur,    Die   Verfolgung 

der    —   in    der   Deut- 

schen  Republik  .  . 
Londres,  Albert  —  .  . 
Loreley,     Der    Handstand 

auf    der   —   .... 
Lothar,  Rudolph  —      .     . 
Luder,    Die   armen   — 
Luft,     In    die  —  schiefien? 
Lynch,    Richter    —       .     . 

Mandschurei 

Mandschurische   Republik, 
Die .... 


25 

948 

19 

692 

12 

435 

16 

600 

9 

313 

16 

588 

2 

47 

7 

264 

6 

191 

17 

615 

12 

454 

26 

987 

1 

22 

5 

197 

14 

530 

13 

486 

24 

894 

24 

891 

22 

832 

2 

49 

3 

105 

18 

683 

23 

771 

7 

266 

9 

346 

3 

83 

3 

107 

23 

855 

10 

387 

18 

681 

6 

222 

15 

573 

23 

859 

26 

964 

10 

382 

18  675 


13  474 

22  833 

20  753 

6  226 

13  495 

,8  301 

17  639 


12    438 


Mann,    Heinrich   —      .     •  6  194 

Mann,  Ich  weiB  einen  —  12  460 

Mannheim,   Karl   —      .     .  4  131 

Marai,    Sandor   —   .    .    -  2  75 

Marcellus   in   Form      .     .  1  38 

Martin,  Karl   Heinz  —     .  8  293 

Marxisten,    Sind    wir   — ?  26  957 

Maschinen,  Mond  und  —  10  387 

Matthias,    Leo    —    ...  17  641 

Mausefalle,    „Die   — "    .    .  1  34 

..Maximilian"        ....  5  172 

Maynard,    John    —      .     .  3  101 

„Madchen   in    Uniform"    .  19  714 

Meltzer,    Frit j  of   —      .     .  22  834 

Menagerie         2  78 

Mendelssohn,  Felix  M.  —  15  556 

Menschen    kleiner    Stadte  14  536 
Menschliche    Komodie    in 

Genf 11  3% 

Milhaud  komponiert  Wer- 

fel 5  172 

Militardiktatur      ....  20  725 
Militarmarschen,       Schutz 

den  — ! 13  469 

Militars,   Zu  diesen  —     .  12  456 
Moabit,           Alltaglichkeit 

in    — 10  383 

— ,    Nette  Zustande  in  —  6  228 
— ,    Wilhelm    der    Dritte 

erscheint    in   —      .     .  4  145 

Mond  und  Maschinen  .     .  10  387 
Monte  Christo,  „Die  Gra- 

fin  von   —  — "      •     •  18  672 

Moral .  11  415 

Mord*  Krieg   gleich  —     .  16  588 
Morgan,       Kreuger,       — , 

Rockefeller    ....  16  600 
Morgen,    Heute    zwischen 

Gestern  und  —     .     .  22  831 

Moskau  1932         11     400  14  513 

16    591 
Mozart,  Yon  —  bis  Fried- 
rich    den    GroBen     ,.  13  497 
Murillo  und  die  Folgen  .  18  685 
Musikbiihne,  Die  Deutsche 

— 20  756 

Mussolini  und  der   Tod   .  6  220 

. — Buch,   Kurellas  —  .     .  2  49 

Muth,  Karl  —     .     .     .     .  10  382 

Mutter,  Die  —     ...     -  4  138 

Munchen,  Intelligenz  in  —  17  645 

Mythos,  Friedrich  mitn —  7  262 

Na  also  —!,....  6  220 

Nachgeburt        8  306 

Nachrichten,    Kleine   —    .  11  411 

Nachttisch,     Auf  dem  — ,  5  177 

9    330 

Nackttanz   in  Essen      .     .  24  909 

Nahrungssorgen    ....  9  344 

Nanosh 6  222 


XIII 


Natonek,  Hans  —    .    . 
Natur,   Portrat  nach  der 
— farben,  Horspiel  in  —    . 
Nazi,    Was    der   —   nicht 

dart 

Neher,  Caspar  —  .  . 
1*9312,  Friihling  —  .  . 
— ,  Sorgen  —  .  .  ,  , 
Nietzsche,  Fraulein  — 
— ,     Friedrich  —      2     54 

5    164 
— ,  Offener  Brief  um  - 
Notverordnung,  Die 

nachste  —  ... 
—  1669  .  .  .  .  . 
Niichterner,  Ein  —  Beur 

teiler 


0.,  C.  v.  —     ...    . 

Odysseus    Freud       *     * 

Offener  Brief,  leicht  an- 
geheitert    .      .     .     . 

Opfer,  Die  —  mtissen  op- 
fern        

Oppenheimer,   Franz   — 

„Optimismus"        ... 

Orchester,  Ein  —     .     . 

Otdnung,    Heilige   — ? 

— sliebende,  Der  — 

Orestie,   Kleine  —  .     . 

Orgelklang,   Pf if f   im  — 

Orientalisches        .     .     . 

Osaf,    Der    —       .     .     . 

Oslo,  Das  Kronprinzen- 
palais   in  —  .     .     . 

— ,   Noch   einmal  —     . 

Ossietzky,   Fiir   Carl  v. — 

—  geht  ins   Gefangnis 

Ostmarken-ProzeB    . 

OstpreuBen-„Hilfe"?    . 

Othello 

Ottwalt,  Ernst  —     5    178 

Okonomischd  Hintergrund, 
Der ... 

Osterreich  vor  dem  Bur 
gerkrieg      .... 


Papen,    Herr    von   —    . 
Papieren,  Aus  alten  — 


Paragraphen  und  Titel 
Paraguay,  Berlin  und  — 
Paris,    Henri    de    KerilHs 

vom  .Echo  de  — ' 
— t    Brief    aus    — ,    anno 

1935  ..... 
Partei,  Die  jiingste  — 
Paukerfilme  .  ... 
Pazifist,  Ich  bin  —  , 
Padagogen,         Lafit 

sprechenl   .     .     .     . 


8 

304 

9 

329 

13 

498 

13 

493 

17 

634 

21 

797 

22 

838 

2 

54 

4 

125 

4 

125 

8 

274 

1 

17 

26 

987 

20 

744 

3 

98 

18 

672 

25 

916 

9 

332 

1 

38 

9 

345 

25 

946 

14 

536 

3 

96 

5 

164 

17 

641 

8 

306 

1 

22 

10 

365 

20 

734 

20 

742 

9 

326 

25 

920 

6 

219 

13 

486 

23     848 


23 

841 

21 

794 

9 

341 

25 

945 

13 

496 

9 

316 

21 

795 

14 

504 

5 

185 

25 

933 

16    606 


Peinliche   Einladung      .     -  3  110 

Peru,  Die  Diktatur  in  —  20  755 
Petzet,      Kuhle      Wampe, 

Albers 13  466 

Peykar 15  545 

Pfiff  im  Orgelklang  .  5  164 
Pflug,     Oberstudiendirek- 

tor  — 14  531 

— ,   der  Unschuldige     .     .  15  570 

Pg.   Generaldirektor      .     .  23  870 

—  Goethe 8  285 

Pilsudski,  Brest  oder  Mein 

Vaterland   ist  —   .     .  4  122 

Podach,  E.  F.  —     .     .     .  2  54 

Pogede 17  626 

Pohl,  Gerhart  —  .  .  .  6  205 
Politik,    Dann    schon    lie- 

ber   —  1 13  494 

Polizei 8  283 

— ;gefangnis,  Berliner  —  .  2  74 
— kabinett,  Aus  dem  bay- 

rischen   —      ....  8  302 

Ponten,   Josef  —      ...  8  28/9 

Portrat  nach  der   Natur  .  9  329 

Prag,   Berlin   und   —   .     .  1  27 

— ,    Bravo   —N    ....  26  982 

Praktisch 19  717 

Pramienanleihe,  Die  —     .  21  790 

President,  Der  —     .     .     .  6  194 

Preisfrage 14  536 

Pressefreiheit,     Das  Ende 

der    — 13  463 

PreuBen  wird  Unordnungs- 

zelle 17  611 

— s  Abschied  von  Weimar  24  902 

— wahl,  Vor  der  —  .  .  16  603 
— wahlen     —     und     was 

dann? 13  468 

Priester,   Hanns   E.   —      .  4  113 

— s   Geheimnis      ....  4  148 

Privat       9  342 

Prophet,  Der  —  ...  17  645 
Provinz,    Die    „bedrohteM 

— " 24  881 

Priigel padagogen,  Die  —  .  23  851 
Pylades  rettet  den  Freund 

nicht 3  97 

Rabatt  von  oben  ...  24  910 
Rationalisierung,            Die 

Schuldfrage  der  —  .  11  407 
Raterepublik,    Lenin    und 

die  „Schein — "  .  .  18  681 
Reaktion,        Die       schle- 

sische    —       ....  21  793 

— ,  Zu  dieser  —  ....  10  381 

Rechenschaft 19  689 

Recht  mufi  Recht  bleiben!  8  273 

Redakteure    .     .     22     813  23  856 

Reemtsma,   System  —      .  5  115 

—  kauft 13  472 


XIV 


Referenzen,      Die      Krone 

der    — 26  987 

Regierung,    Zu    dieser    —  24  903 

Reich,  Das  —  als  Bankier  9  338 

— srichterliches  Deutsch  .  6  2.26 
— swehr,           Abschaffung 

der  — 21  763 

— swehr,  Die  beleidigte —  10  362 
— swehr,      Falls      die     — 

nichts   dagegen  hat     .  16  593 

Reinhardt,    Max   —      .     .  8  294 

Religion   in   USA      ...  26  960 

Religiose  Streiter      ,     .     .  12  460 

Remarque,    Der    Fall    — .  15  548 

Replik,  Kleine  —     ...  6  218 

Reutter,  Otto  —  ...  7  254 
Richter,    Ein    weiser    und 

gerechter    —       ...  24  905 

—  erzahlen  Marchen     .     .  19  711 

Riviera-Pleite  ....  12  442 
Rockefeller,            Kreuger, 

Morgan,  —    ,     ...  16  600 

Roda,  Roda  —  ....  15  569 
— s,      Roda      —      Selbst- 

gesprach 16  604 

Ronny      mil      Vor-      und 

Nachwort  ....  1  33 
Rosenthal,  Moritz  —  .  .  12  450 
Rosier,  „Le  —  de  Ma- 
dame   Husson"        .     ,  19  714 

Rosig        2  78 

Rote     Schwanzchen,     Das 

25  938 

Rowohlt,    Brief    an    Ernst 

9  345 

Rohm  \  \  .'  .'  \  .'  ."  17  641 
Rumanien,       Hitler        er- 

obert    — 1  30 

Runder   Tisch,   Ein  —  — 

wartet 18  649 

Rundfunk,    Der    —    sucht 

seine  Form     ....  10  375 

— s,  Spezialisierung  des  —  26  969 
Ruckschritts,            Wochen- 

schau   des  —     ...  26  981 

Riistungshausse     ....  6  199 

SA,   Das  Verbot  der  —  .  16  579 

Saar,   Die  —      .     17    629  18  657 

SAP    .  -    .     , 14  504 

Sechzigsten,  Zu   einem  — 

Geburtstag      ....  15  569 

Seraj  ewo   gefallig?    ...  21  782 

Setzer,   Unser  kluger  —  .  23  870 

Sevilla .  18  668 

Shakespeare,    William    —  6  219 

67,6:5,21 22  806 

Sieburg,   Friedrich  —  .     .  2  75 

1794,,  Altes  Lied  —     .     .  18  680 

Sieger,    Der    — "       ...  13  487 

Simon,   Michel   —   ...  6  225 


Singt  eener  uffn  Hoof  .  14  529 
Sinne,      Die       Anmafiung 

der.  — 6    211 

Sittengeschichte,  Kurze  —    26    971 

26    974 
Sittenpoiizei,    Vier    Jahre 

ohne  -— 1       18 

Sittliche    Autarkic     oder: 

Wir   machen   uns   un- 

sern  Dreck  alleene  .  16  607 
Sitzen,  Ich  muB  — !  .  .  19  869 
Sklareks,     die    sympathi- 

schen  Menschen  .  .  20  757 
Soldate,      Der      — ,      der 

— 11     423 

Sombart,  Werner  —  .  22  829 
Sonne,  Die  —  tont  .  .  14  525 
— nuntergang,'  Vor  —  .  8  294 
Sorge,    Reinhold   —      .     .     10    382 

Sorgen   1932 22     838 

Sozialabbau 14    534 

Sozialisierung,        Interna- 
tionale  —      ....     13    490 
Sozialismus,    Die    Furcht 

der         Intellektuellen 

vor   dem  —        3    93       4     131 

5    166     6    207 
Sozialistisches,  Ein  —  Ak- 

tionsprogramm    ...     26     983 

Soelling        21     788 

Spanien,   Das  neue  —      .     15    550 

17     622        18     667        20    749 

25  929 
Spanische,     Die     —    Re- 
volution       7     242 

SPD 13    482 

Spielklubs 10    384 

Sprichwort,        Das        zu- 

gepinselte  — *  .  .  22  837 
Sufi  ists  und  ehrenvoll ...  26  986 
Szene,  Erregte  —     ...       8     307 


„Schanghai-ExpreB"      .     . 

Schaufenster 

—    Das  — 

Schiefien  mit  Seele  .  . 
Schiller-Theater,  Im  —  . 
Schippen  tut  not  .  .  . 
Schlanitzsee,    Geister     am 


Schlechten,  Vom  —  zum 
Guten « 

Schleicher,  Duell  Hitler — 

— ,    Hitler   und   —   ... 

Schlesische  Reaktion, 

Die .... 

Schlicht,  AHzu  —     ... 

Schneider-Creusot     .     .     . 

Schnipsel  4  140  10  377 
14  521   17  637  21  784 


16 

605 

1 

21 

24 

896 

7 

267 

10 

382 

24 

885 

23 

868 

19 

718 

24 

875 

4 

117 

21 

793 

12 

461 

7 

240 

13 

488 

25 

937 

XV 


Schnitzler,    Der    Kampfer 

Arthur  —  ... 
Schnog,  Karl  —  .  ,  . 
Schuller,  Gustav  —  . 
Schwache,  Nur  keine  - 
Schweiz,    Liebe   — ! 

Staatcnlose,  Der  —     . 
Staatshilfe    verpflichtet 
Staatspolitische      Griinde, 
Vertraulich,     generell 

und ,     ,     .     , 

Standes,       Zur       Hebung 

des  — 

Statistik,  Wundcr  der  — 
Stadte,     Menschen      klei 


Graf 


15 

572 

10 

374 

24 

899 

24 

873 

19 

712 

6 

221 

19 

721 

ner  —   ... 

Steigerung    .     .     . 
Stemmle,  R.  A.  — 
Stenbock-Fermor, 

A.  — 

Sternberg,  Josef  —   2    62 
— ,    Josef  von  —  kabelt 
Stiedry,   Fritz  —      .     . 
Stoffregen,  Goetz  Otto  — 
Strachey,   Lytton   —     , 
Strafen?  Fiirsorge- 

erziehung?      .     ,     , 
Strafvollzug       .... 
StraBe,   „Die   endlose  — ' 
— ,   Stille  —     .     .     ,     . 
Strafier,   Jan  Erik  —  .     . 
Streik,  Gewerkschaftlicher 

und  politischer  —  .  . 
Stresemanns  Vermachtnis 
„Sturm     auf    Essen"     vor 

der;  hochsten  Instanz 
— wind,    Ein    —    von  Ja- 

maika 

Tardieu  und  Briining  .  . 
Tarifrechts,     Zerschlagung 

des   — ?      

Tater,  Der  — 

Testament,  Kleines  —  .     . 

Thalmanri 

Theater,  Brahmanisches  — 
—  ohne  Buhne  23  861 
— krach,  Der  berliner  —  . 
Ihielecke,  Kalistros  —  . 
Thormann,   Werner  — 

Timon , 

Titel,  Paragraphen  und  — 

Toledo 

Tochterchen,        Vaterchen 

richtet,  —  tanzt  .  . 
Tragik,  Welch  tiefe  —  . 
Trinkgeld,  Das  —    ... 

Truppe  1931     

Triibsinnbilder  .... 
Tugend  in  zwei  Versionen 
Turk,    Werner   —     ... 


15  575 

12  461 

14  512 

14  536 

2  79 
23  861 

9  330 

16  605 
9  336 

17  634 
9  330 
4  142 

10  386 

3  107 


10 

382 

7 

263 

24 

905 

2 

44 

17 

618 

13 

480 

17 

643 

7 

236 

24 

878 

3 

96 

19 

708 

9 

314 

17 

643 

24 

899 

22 

817 

3 

% 

13 

469 

5 

174 

25 

945 

25 

929 

9 

334 

17 

646 

14 

536 

1 

34 

8 

291 

19 

714 

19 

717 

Ufa  und  Autoren  .  .  . 
Ungarische  Antwort  .  , 
Unordnungszelle,   Preufien 

wird   — 

Untertan,  Der  —  ... 
Ursache,  Die  —  .  .  .  . 
USA,  Depression  in  —  . 
— ,  Religion  in  —  .  .  . 
Utero,  Colloquium  in  —  , 
t)berzeugung  —  oder  was 

sonst? 


13 

496 

23 

855 

17 

611 

21 

7% 

23 

847 

11 

403 

26 

960 

12 

453 

19    696 


Valentin,  Karl  —  ...  18  683 
Valera,  Eamon  de  —  ,  .  14  508 
Vaters,  Brief  meines  —  .  6  204 
Vaterchen  richtet,  Toch- 
terchen tanzt  ...  9  334 
Verfolgung,    Die    —     der 

Literatur  in  der  Deut- 

schen  Republik  .  .  13  474 
Vergangenheit,      Die      zu- 

dringliche    —    ...  16  586 

— ,   Ehrfurcht   vor   der  —  14  531 

Vergin,  Fedor  —  ....  9  331 
Verleger,     Avis    an    mei- 

nen  — 9  345 

Vertraulich,    generell   und 

staatspolitische 

Griinde 15  575 

Verzweiflung,    Der    Gipfel 

der  — 15  576 

Vierunddreifiigste,   Die  —  26  954 

Vincent,  Ernst  —  ...  26  964 
Vormarsch  ins  XX,   Jahr- 

hundert 6  205 

Vorschlag,   Ein   —   ...  23  868 

Wacker         16  596 

Wage,    Das    Ziinglein    an 

der   —        18  682 

Wagemann,  Ernst  —  .  .  22  829 
— ,  An  Herrn  Professor  — , 

den   Erfinder  des  — 

Plans 5  181 

Wagner,  Frau  Winifred  —  8  307 
Wahlalters,              Herauf- 

setzung    des    —  ?    .     .  15  569 

Wahlresultat,    Das    —      .  18  655 

Waldfriedhof,   Nahe  —    .  15  554 

Waidhof-Templin      ...  24  888 

Wallner,   Franz  —  ...  22  819 

Was  es  alles  gibt    16    608  22  838 

—     ware,  wenn 8  271 

Wafimann,   Hans  —     .     .  16  599 

Watson,  John  B.  —  .  .  14  516 
„Wehrlos        hinter        der 

Front"        2  75 

Weill,  Kurt  — .  Die  Burg-  * 

schaft     ......  17  634 

Weimar,     Preufiens     Ab- 

schied  von  —    ...  24  002 


XVl 


Weisenborn,     Gtinther    — 
Wcific       Sterben,       „Das 


Welsche  Tiickc     .     .     .     . 
Welt,     Die    —    aus     den 

Fugen    ,     .    ...    ^  _.,__. 
— krise,      Die    —     nimmt 

wciter    zu       .     .     .     . 
„ — stadt     in     den   Flegel- 

jahren"       .    ,     .     t 

Wendung 

Wenn  eena   jeborn  wird 

—  —   doot   is     ... 

—  man    vielleicht .  .  . 
Wer   hat   gesiegt?     .     . 
Wer  weiter  liest,  wird  er 

schossen!  ... 
Werfel,  Franz  —  .  .  . 
— f    Milhaud     komponiert 


Westkalmiicken,  Vor- 

marsch  der  —  ,     . 

Wetterfahne,  Dreh  dich 
hin,  dreh  dich  her  — 
kleine   —   — !     .     . 

Whitechapel  in  China  . 

Wie  mans  macht ... 

Wilhelm     der    Dritte    er 
scheint  in  Moabit 

Willens,   Entthronung   des 


Winge,   Hans   —  . 


23  861 

15  555 

5  182 

.21  780 

20  745 

5  185 

5  188 

24  904 

21  792 
14  532 

11  389 

2  51 

3  93 

5  172 

12  431 


7  239 

11  418 

11  415 

4  145 

14  516 

13  469 


Wirtschaftsfuhrerklugheit  9  347 

Wirtschaftsprozesse       .     <  5  134 

Wissenschaft 8  296 

Witz,  Der    beste    jiidische 

— 9  348 

Wo  ist  das  zu  lesen?  .     .  10  364 

Wofiir  ~-l 10  354 

Wolfenstein,       Brief       an 

Alfred   —      ....  1  25 

Wrobel,   Brief  anlgnaz—  4  125 

Wunder  der  Statistik  .     .  14  512 

Wiirzburger,  Karl  —    .     .  22  819 

Wiisten,   Johannes  —  .    .  9  333 

„X    27" 2  62 


„York" 


2       59 


Zensur,    Zu    dieser    —      .  8  277 

—  ohne  Hemmung    ...  14  530 
Zentrum,     Auch     das    — 

dpielt    um    seine    Exi- 

stenz 21  775 

Zerstreute,  Der  —  .     ,     .  12  449 

Zimraermann,    Otto    —      .24  899 
Zivilisten,             Gedanken 

eines    —    .....  7  231 

Zoologie        3  .    92 

Zuspruch,   Guter  —      .     .  2  79 
Ziinglein,   Das   —   an   der 

Wage     ......  18  682 

Zurich 2  64, 

Zwei,   Gang  —     ....  12  427 


XXVHI.  Jabrganjr  5.  Ja«mar  1932  Nummer  1 

Der  Fall  Franz  Hollering  von  can  v.  ossietzky 

]VA  ittc  Dezember  ist  der  Chefredakteur  der  ,B.  Z.  am  Mit- 
*  tag',  Doktor  Franz  Hollering,  plotzlich  seines  Postens 
enthoben  worden.  Der  Fall  ist  in  alien  deutschen  Redaktio- 
nen  leidenschaftlich  erortert  worden,  trotzdem  hat,  von  rechts- 
radikalen  und  sozialistischen  Blattern  abgesehen,  nirgendwo 
eine  Notiz  dariiber  gestanden.  Denn  die  Presse  schreibt  be- 
kanntlich  nicht  iiber  sich  selbst.  Hollering  gait,  wie  kaum 
ein  Zweiter,  fur  die  Leitung  eines  gToBen  Boulevardblattes 
qualifiziert,  dessen  entscheidender  Dienst  sich  in  einer  un- 
geheuer  aufreibenden  und  spannenden  Vormittagsstunde  zu- 
sammendrangt.  Als  Chef  der  ,B.  Z.'  hat  Hollering  eine  schnelle 
und  elegante  Hand  bewiesen,  er  hat  ein  in  .gutem  Sinne  ak- 
tuelles  Blatt  gemacht.  Weshalb  also  diese  iiberraschende 
VerstoBung? 

Hollering  hat  'bei  Miinzenberg  angeiangen.  Daran  hat  bis 
vor  einiger  Zeit  niemand  AnstoB  genommen.  Im  Gegenteil. 
Als  Hollering  in  das  Haus  Ullstein  geholt  wurde,  zunachst  in 
den  Biihnenr verlag,  da  brauchte  man  einen  Verbindungsmann 
nach  links,  der  Beziehungen  zur  jungen  Literatur  hatte,  denn 
damals  kokettierte  man  noch  mit  dem  Kulturradikalismus.  In- 
zwischen  ist  die  Schwenkung  erfolgt,  inzwischen  sind  auch, 
vor  etwa  vierzehn  Tag  en,  die  Richtlinien  des  Vorstandes  an 
alle  Redaktionen  des  Hauses  ergangen,  in  denen  der  neue 
reaktionare  Kurs  festgelegt  wurde.  Hetite  ist  man  eifrigst 
bemiiht,  alle  Spuren  einer  republikanischen  und  kulturradika- 
len  Vergangenheit  zu  verwischen.  Heute  riskiert  man  lieber 
langweilig  zu  sein,  als  den  AnstoB  der  regierenden  oder  mor- 
gen  vielleicht  regierenden  .  Machte  zu  erregen.  Vor  einiger 
Zeit  hat  hier  Heinz  Pol  seinen  Abgang  von  der  Redaktion  der 
,VoB'  geschildert.  Der  Fall  Hollering  bedeutet  in  dem  Ab- 
stieg  eines  groBen  liberal-demokratiscnen  Zeitungshauses  eine 
weitere  traurige  Etappe.  UHsteins  Abmarsch  zur  gelben 
Presse  hat  begonnen. 

Es  ist  nach  Holierings  Absetzung  sofort  offentlich  be- 
hauptet  worden,  den  AnlaB  dazu  habe  eine  Beschwerde  des 
Reichswehrministeriums  beim  Verlag  gegeben,  weil  ihm  die 
grofiaufgemachte  Meldung  iiber  Hitlers  Luftflotte  nicht  in  den 
Kram  gepaBt  habe.  Der  Verlag  Ullstein  hat  sofort  heftig  de- 
mentiert,  und  wir  wollens  hinnehmen,  denn  so  grob  durfte  sich 
das  wohl  nicht  abgespielt  haben.  Es  ist  auch  kaum  anzu- 
nehmen,  daB  ein  Herr  aus  dem  RWM  mit  Helm  und  Schlepp- 
sabel  beim  Verlag  erschienen  ware,  um  dort  Groeners  Grava- 
mina yorzubringen,  Solche  Faden  werden  feiner  gesponnen. 
Es  ist  nicht  unbekannt,  daB  man  in  der  Wilhelm-StraBe  von 
dem  linksradikalen  Chef  der  ,B.  Z.\  der  das  Blatt  moglichst 
unabhangig  halten  wollte,  nicht  entziickt  war.  Diese  Stim- 
mungen  mussen  sich  alimahlich  auf  den  Verlag  tibertragen 
haben. 
1  1 


Im  vergangenen  Sommer  wurde  die  ,B,  Z.\  wie  hier  im 
einzclnen  nicht  rekapituliert  werden  soil,  von  dem  „Reichs- 
pressechef '  Zcchlin  mit  einer  sogenannten  Zwangsauflage  be- 
dacht,  die  zwar  von  den  Ullsteinblattern  einmiitig  zuriick- 
gewiesen  wurde,  bei  den  Verlagsspitzen  jedoch  die  Stellung 
des  Chefredakteurs  der  ,6,  Z.*  nicht  gefestigt  zu  haben  scheint, 
und  weiter  wurde  ihm  auch  die  ausfuhrliche  Berichtersiattung 
und  entschlossene  Parteinahme  im  Weltbuhnen-ProzeB  unan- 
genehm  vermerkt,  Der  Verlag  Ullstein  kann  iiber  Groeners 
angebliche  Intervention  gut  Dementis  loslassen.  Nicht 
dementieren  kann  er  dagegen,  daB  Hollering  nach  dem  Er- 
scheinen  jener  Nummer  der  ,B,  Z/,  in  der  die  Nachricht  iiber 
Hitlers  Luftstreitkrafte  enthalten  war,  von  seiner  Ablosung 
unterrichtet  wurde.  Der  Verlag  hatte  iibrigens  in  sein  De- 
menti ein  viel  triftigeres  Argument  hineinbacken  konnen.  In 
berliner  Zeitungskreisen  weiB  man  namlich  recht  gut,  daB 
schon  eine  Woche  vor  der  Abberufung  Hollerings  ein  her- 
vorragender  Mitar.beiter  der  tVoB',  Herr^  Doktor  Reinhold, 
von  Herin  Staatssekretar  Piinder  gesprachsweise  erfahren 
hatte,  daB  die  ,B.  Z.'  jetzt  endlich  einen  andern  Chef  bekomme 
und  zwar  gleich  wen.  Herr  Reinhold  war  dariiber  auBerst 
bestiirzt,  denn  niemand,  und  Hollering  zu  allerletzt,  wuBte  da- 
von,  Aber  ein  hoher  Beamter  war  schon  eine  Woche  vor 
dem  Krach  unterrichtet.  So  war  also  die  Neubesetzung  der 
Chefredaktion  in  der  ,B,  Z/  schon  eine  im  Stillen  beschlossene 
Sache,  und,  ob  mit  oder  ohne  Intervention  aus  der  Bendler- 
StraBe,  —  der  Verlag  f and  die  Verof f entlichung  iiber  Hitlers 
Luftmarine  als  den  zum  Bruch  geeigneten  AnlaB.  Und  am 
17,  Dez ember  schreibt  das  Zentralorgkn  der  Nazis  so  trium- 
phierend,  als  hatte  es  selbst  eine  Schlacht  gewonnen:  „RWM 
gegen  Wehrverrater  im  Hause  Ullstein . , .  Wenn  sich  das 
RWM  mit  Recht  endlich  geg«n  den  fortgesetzten  Landesver- 
rat  der  berliner  Asphaltliteraten  zur  Wehr  setzt,  so  ist  das 
nur  zu  begriiBen/1  Kein  Verniinftiger  bezweifelt,  daB  UU- 
steins  Dementi  wenigstens  in  formaler  Hinsicht  wasserdicht 
ist,  Aber  vor  dem  nationalsozialistischen  Jubel  dariiber  ist 
nur  zu  fragen:  Wer  freut  sich  dariiber?  Cui  bono? 

Man  muB  hier  allerdings,  um  die  Abneigung  des  Verlags 
gegen  militarpolitische  Themen  ganz  zu  verstehen,  etwas  Wich- 
tiges  einflechten:  es  schweben  namlich  noch  zwei  Landesver- 
ratsverlahren  gegen  Ullsteinredakteure.  Wenn  diese  Verfah- 
ren  auch  kaum  jemals  zu  Prozessen  gedeihen  werden,  so  ge- 
niigen  sie  doch,  um  eine  Zeitung  unter  Druck  zu  halten.  Und 
damit  kommen  wir  zu  einer  besonders  heitern  Methode,  Blatter 
mit  unbequemen  kritischen  Anfallen  zu  terrorisieren,  Man 
macht  wegen  irgendwelcher  Bagatellen  einfach  eine  Anzeige, 
die  hangt  dann  wie  ein  spitzes  Messer  iiber  dem  Haupt  der 
Redaktion,  Sie  wird,  wenn  sie  wieder  was  gegen  die  Reichs- 
wehr  hat,  sich  die  Sache  beim  nachsten  Mai  iiberlegen.  Das 
RWM  versteht  nun  zwar  nicht  die  Bohne  von  der  Presse, 
dennoch  manches  von  der  Psyche  der  deutschen  Zeitungsver- 
lage.  Die  Mehrzahi  unsrer  Zeitungsverleger  ahnt  nicht,  was 
fur  eine  Macht  sie  reprasentiert.  Bei  einem  Konflikt  zwischen 
ihren  Redakteuren  und   einer  Behorde,   und  namentlich  einer 


militarischen,  siegt  ihre  Servilitat,  und  der  Skalp  dcs  Redak- 
teurs  wird  still  verhandelt.  Liebcr  Gott,  man  muB  Beziehun- 
gen  zu  hohern  Stcllen  aufrechterhalten!  AuBerdem  wiinscht 
man  sich  ein  reputierliches  Blatt,  und  Landesverrat  hort  sich 
wirklich  nicht  schon  an,  und  nachdem  im  Weltbuhnen-ProzeB 
nun  sogar  wegen  Spionage  verdonnert  wurde,  wird  man  kiinf- 
tighin  alle  Militarkritik  liebcr  ganz  beiseite  lassen,  Nicht  an 
das  allzu  prunkvolle  Haus  in  der  TiergartenstraBe,  an  das 
Reichsgericht  in  Leipzig  gehort  die  goldene  Inschrift:  Der 
Deutschen  Presse. 

Der  Verlag  Ullstein  mag  dementieren,  daB  Hollering  dem 
schaumenden  Acheron  in  der  Bendler-StraBe  geopfert  worden 
sei.  Nicht  dementieren  kann  er  die  zunehmende  Laschheit 
alter  seiner  Blatter.  Nicht  dementieren  kann  er  die  Tendenz, 
die  in  der  Wahl  von  Hollerings  Nachfolger  liegt,  der  dem 
Staatssekretar  Piinder  schon  acht  Tage  vor  dem  Krach  be- 
kannt  war.  Das  ist  Herr  Fritz  Stein,  Vertreter  des  hambur- 
ger Fremdenblatts*  in  Berlin,  der  Sohn  des  alten  Irenaus  von 
der  .Frankfurter  Zeitung*.  Ein  Journalist,  der  weder  schreiben 
kann  noch  durch  Reporterbegabung  oder  Einfalle  glanzt.  Eine 
Couloirexistenz,  ein  Pimperl  Wichtig,  das  immer  dort  Posto 
faBt,  wo  sich  zwei  Minister  unterhalten.  Eine  gefallige  Schall- 
platte  der  Wilhelm-StraBe,  ohne  Kenntnisse,  Meinungen,  Ober- 
zeugung.  Ein  Mann  der  Beziehungen,  von  der  Gunst  von  Mini- 
stern,    Staatssekretaren   und   Pressedirigenten   getragen. 

Zugegeben,  daB  grade  die  Lage  der  liberal-demokrati- 
schen  Presse  in  dieser  Zeit  recht  prekar  ist.  Wirtschaftlichen 
Liberalismus  gibt  es  nicht  mehr,  eine  burgerliche  Linkspartei 
gibt  es  nicht  mehr,  die  alte  Leserschicht  stirbt  aus  oder  prole- 
tarisiert.  Die  Zeitungsverleger  starren  fasciniert  auf  die  Er- 
folge  der  riiden,  schlecht  gemachten  rechtsradikalen  Gassen- 
journale  mit  ihren  kreischendenSchlagzeilen,  das  hat  vielen  von 
ihnen  grundlich  den  Kopf  verdreht,  und  sie  mochten  jetzt 
auch  so  etwas  Ahnliches  haben.  Bei  Ullsteins  heiBt  das  Ideal: 
ein  ,V6lkischer  Beobachter1  mit  der  Genehmigung  des  Rabbi- 
nats,  von  Briining  ebenso  geschatzt  wie  von  Braun  und  auch 
von  den  Kommunisten  gern  auf  der  StraBe  gekauft;  ein  Bastard 
von  Goebbels  und'  der  Tante  VoB,  Da  sich  dieses  bizarre 
Verlagsideal  nicht  leicht  verwirklichen  laBt,  behilft  man  sich 
einstweilen  mit  einem  reichlich  chimarischen  ,,innern  GJeich- 
gewicht";  man  dampft,  man  retuschiert,  man  untersagt  der 
,VoB*  etwa  den  Gebrauch  des  Wortes  „Nazi",  urn  die  Leute 
„nicht  unniitz  zu  reizen".  Und  bei  dieser  Taktik  werden  die 
Blatter  immer  langweiliger  und  ein  immer  schlechteres  Ge- 
schaft.  Denn  so  racht  sich  dieser  Zitterkurs.  Die  ,Morgen- 
post',  die  friiher  immerhin  einigen  politischen  Nutzen  brachte, 
sinkt  unter  dem  Druck  von  oben  in  hoffnungslose  Vernulpung. 
In  der  tVossischen  Zeitung*,  die  mit  Bernhardt  Ausscheiden 
aufgehort  hat,  ein  international  beachtetes  Blatt  zvl  sein,  lauft 
Herr  Elbau  schusslig  herum  und  kampft  radikale  Anwand- 
lungen  von  Koliegen  mit  dem  geflugelten  Wort  nieder:  t1Aber, 
meine  Herren,  wir  sind  doch  kein  jiidisches  Blatt!"  Die  ,B.  Z* 
hat  mit  Hollering  Haltung  und  Farbigkeit  verloren,  und  das 
.Tempo*  soil  nach  einem  Geriicht,   das  wir  nicht  kontrollieren 


konnen,  ganz  eingezogen  werden,  MiBerfolge  iiiberall,  klat- 
schende  Ohrfeigen,  die  die  Wirklichkeit  konfus  gewordenen 
Kaufleuten  verabfolgt,  die  sich  einbilden,  daB  Charakterlosig- 
keit  allein  schon  Pressesiege  gewahrleistet.  Die  kommuni- 
stischen  und  nationalsozialistischen  Blatter  triumphieren  uad 
driicken  die  Auflagen  der  Ullsteinblatter  standig  herunter,  und 
auBcrhalb  Berlins  beweist  der  pazif istische  und  republika- 
nische  ,Dortmunder  Generalanzeiger',  daB  auch  fur  ein  hand- 
festes  biirgerliches  Demokratenblatt  die  Zeit  noch  nicht  vor- 
iiber  ist,  wenn  es  nur  den  Mut  der  Oberzeugung  hat-  Denn 
der  Zeitungsleser  von  heute  will  vor  allem  Klarheit  und  Pra- 
zision  und  nicht  Drumherumreden,  keine  Halbheiten  sondern 
ganze  Tatsachen.  Vor  allem  aber  nicht  dieses  perfide  Schie- 
len  nach  der  andern  Seite  der  Barrikade,  wie  es  den  Ullstein- 
blattern  von  ihrem  Verlag  anerzogen  wird. 

Welch  eine  Instinktlosigkeit,  farblos  und  schlecht  getarnt 
durch  eine  iiberpolitisierte  Zeit  schliipfen  zu  wollen!  Nicht 
einmal  vor  ihren  klaglichen  Abschliissen  fuhlen  diese  angeb- 
Iichen  Fachleute  der  offentlichen  Meinung,  aus  welchen  Griin- 
den   sie   ins  Hintertreffen   kommen. 

Dabei  verfiigt  das  Haus  Ullstein  iiiber  eine  Reihe  der  vor- 
ziiglichsten  redaktionellen  Potenzen,  mit  denen  sich  schon 
aktuelle,  auf  die  Zeit  lebendig  reagierende  Blatter  machen 
lieBen.  Aber  alles  ist  iiberorganisiert,  verschachtelt,  der  Man- 
gel an  Initiative  verschanzt  sich  hinter  einer  hochst  selbst- 
bewuEten  Direktorial-Hierarchie.  Es  gibt  einen  Aufsichts- 
ratf  in  dem  ist  ausschlieBlich  die  Familie  Ullstein  vertreten, 
und'  es  gibt  einen  Vorstand,  in  dem  sind  alle  Sparten  des  Hau- 
ses  vertreten  —  mit  Ausnahme  der  Redaktionen.  Die  haben 
nicht  mitzureden,  fiber  die  wird  einfach  verfiigt,  die  dtirfen 
aufhellende  Bemerkungen  schreiben  (iber  die  Pariastellung  des 
geistigen  Arbeiters  in  RuBland. 

Oberall  in  der  burgerlichen  Presse  versinkt  heute  der  alte 
Zustand,  daB  der  Verleger,  der  Herr  der  Produktionsmittel, 
im  Rahmen  weitgehaltener  politischer  Direktiven  den  Redak- 
teuren  die  Meinungsfreiheit  und  individuelle  Betatigung  ge- 
wahrt.  Es  geht  hart  auf  hart.  Kann  ein  kapitalistischer  Unter- 
nehmer  in  seinem  Namen  antikapitalistische  Politik  machen 
lassen?  In  manchen  alten  Zeitungshausern  wird  dieser  unver- 
meidliche  Prozefl  durch  eine  gediegene  Tradition,  durch  er- 
erbte  Achtung  vor  geistigen  Leistungen  wattiert;  aber  aufzu- 
halten  ist  er  nicht.  Reguli«rt  werden  kann  dieser  ProzeB  nur 
durch  die  Intelligenz  des  Verlegers,  der  begreift,  daB  Redak- 
teure,  die  standig  gezwungen  sind,  wider  ihre  bessere  t  Ober- 
zeugung zu  arbeiten,  naturgemaB  ein  mattes,  verdrieBliches 
Blatt  machen  miissen.  Diese  Erleuchtung  fehlt  dem  Verlag 
Ullstein  ganz  und  gar,  er  ist  in  diesem  groBen  Hause  das  ein- 
zige,  was  nicht  auf  der  Hohe  ist. 

Der  Familienkonflikt  mit  seinen  romantischen  Episoden 
ist  beendet.  Die  feindlichen  Verwandten,  die  sich  gestern  noch 
am  liebsten  abdolchen  wollten  und  mit  ihren  Redakteuren 
einen  muntern  Partisanenkrieg  gegeneinander  fiihrten,  kleben 
wieder  test  und  treu  zusammen,  Der  alte  Doktor  Franz  Ull- 
stein ist  als  miider  Mann  zuriickgekehrt,  er  hat  zwar  seine 
4 


Prozcsse  gewonnen,  seine  Schlachten,  aber  nicht  den  Krieg, 
Er  hat  an  den  Zustanden,  wie  sie  sich  wahrend  des  Interre- 
gums  der  jiingeren  Herren  entwickelten,  nichts  geandert  und  wird 
daran  nichts  andern.  Der  eigentliche  Sieger,  der  eigentliche 
Herr  des  Hauses,  heiBt  heute  Heinz  Ullstein.  Damit  ist  die 
dritte  Generation  endlich  ans  Ruder  gelangt,  der  es  von  Gott 
in  die  Wiege  gelegt  worden  ist,  das  zu  verpuffen,  was  die  Va- 
ter  miihsam  gesammelt  haben.  Das  ist  der  alte  Kreislauf.  So  ist 
es  bei  alien  Dynastien,  bei  denen  des  Geldes  nicht  anders 
als  bei  denen  des  Blutes.  Am  Ende  steht  der  ewige  Infant, 
der  blasierte  junge  Mann,  ohne  Achtung  vor  Menschen,  Ideen, 
Arbeit,  Leistung.  Immer  halb  interessiert,  halb  gelangweilt, 
innerlich  beteiligt  nur  an  subalternem  Theaterklatsch.  Nur 
durch  die  Art,  wie  Heinz  Ullstein  sich  wahrend  des  Familien- 
zanks  unauffallig  an  das  zentrale  Schaltwerk  heranintrigierte, 
um  schlieBlich  dort  zu  verbleiben,  hat  er  bewiesen,  daB  doch 
etwas  von    ererbtem  kapitalistischem  Machttrieb  in  ihm    steckt. 

Wenn  ich  diese  Interna  eines  groBen  Zeitungshauses  hier 
darzulegen  versuche,  so  handelt  es  sich  fiir  mich  nicht  um  Franz 
und  Heinz,  sie  mogen  sich  lieben  oder  die  Augen  auskratzen, 
mir  ists  gleich,  und  auch  nioht  um  ein  Plaidoyer  fiir  Holle- 
ring, Diese  personlichen  Dinge  dienen  nur  zur  Deutlich- 
machung  der  ungeheuern  Schwierigkeiten,  in  denen  sich  die 
deutsche  Linkspresse  befindet.  So  drohend  der  diistere  En- 
gel  der  Staatszensur  im  Hintergrund  wacht,  noch  groBer  ist 
die  Gefahr,  daB  eingeschiichterte  oder  willfahrige  Verleger 
von  sich  aus  die  Arbeit  der  Zensur  vorwegnehmen  und  WahY- 
heiten  unterdriicken,  die  d'en  herrschenden  Gewalten  von  heute 
oder  morgen  unbequem  sein  konnen.  Die  Zeitungsherren  wol- 
len,  wie  das  nur  natiirlich  ist,  die  Konjunktur,  den  Boom,  aber 
dann  miissen  sie  auch  etwaige  harte  politische  Konsequenzen 
tragen.  Es  geht  nicht  an,  dafi  sie  die  Fahne,  die  sie  in  fried- 
lichen  Zeiten  hochgehalten  und  ihren  Lesern  vorangetragen 
haben,  wenn  die  Luft  dick  wird,  in  der  Garderobe  abgeben,  um 
den  Heldenkeller  zu  beziehen  und  dann  ganz  ruhig  zu-  erklaren: 
Eigentlich  sind  wir  doch  ein  rein  geschaftliches  Unternehmen, 
undi  Politik  geht  uns  praktisch  nichts  an!  —  wahrend  oiberhalb 
der  betonierten  Unterstande  jene  Oberzeugungen,  die  von  der 
desertierten  Presse  erst  richtig  veribreitet  worden  sind,  mit  Kar- 
tatschen  behandelt  werden.  Kein  verniinf tiger  Mensch  wird 
seiner  Zeitung  deswegen  die  Freundschaft  kiindigen,  weil  sie 
einmal  danebenhaut,  weil  sie,  im  Berufsjargon  gesprochen, 
einmal  schief  liegt,  aber  verlangen  kann  und  muB  er  von  ihr, 
dafl  sie  in  der  Stunde  der  Gefahr  richtig  steht. 

Man  wird  mir  vieileicht  entgegenhalten:  Warum  so  viel 
Aufwand  um  Hollering?  Ist  es  nicht  gleichgiiltig,  wer  Chef 
eines  politisch  kaum  verpflichteten  Baulevardhlattes  ist?  Dar- 
aufhabe  ich  zu  erwidern:  niemand,  der  nicht  der  Presse  be- 
ruflich  verbunden  ist,  kann  die  Tragweite  des  Falles  Hollering 
beurteilen.  Was  in  den  groBen  berliner  Blattern  geschieht, 
wird  richtunggebend  fiir  die  ganze  Provinz.  Jeder  Redakteur 
eines  annoch  republikanischen  biirgerlichen  Blattes  wird 
sich  danach  fragen,  ob  er  es  noch  in  Zukunft  wird  wagen 
diirfen,   cine  Nachricht  zu  bringen,  die  Hitler  unangenehm  ist 


und  vielleicht  sogar  ein  Stirnrunzeln  hoher  militarischer  Stel- 
len  hervorruft.  Der  Verleger  aber  wird  sich  sagen:  Aha, 
wenn  die  in  Berlin  schon  so  vorsichtig  sind,  warum  soil  ich 
mir  Lause  in  den  Pelz  setzen?  Und  wenn  wieder  einmal  ein 
Dokument  a  la  Boxheim  gefunden  oder  ein  neues  Waffen- 
arsenal  der  Fascisten  entdeckt  werden  sollte,  dann  werden 
die  Blatter  zu  zahlen  sein,  die  davon  {iberhaupt  Notiz  nehmen 
werden.  Das  sind  die  unerhort  weitreichenden  Folgen  des 
Falles  Hollering,  und  deshalb  ist  das  Verhalten  des  Hauses 
Ullstein  in  dieser  Sache  mehr  als  ein  Irrtum  deroutierter  Ge- 
schaftsleute.  Es  ist  die  skandaloseste  Kapitulation  vor  dem 
Nationalsozialismus,  die  bisher  zu  verzeichnen  war.  Es  ist 
ein  Verbrechen  an  der  deutschen  Pressefreiheit,  mitten  in 
ihrer  schwersten  Krise. 

MandsChlirei  von  Walter  Abel 

F\  er  Volkerbund  wurde  gegriindet,  um  Kriege  zu  verhiiten. 
-  Japan  ftihrt  Krieg  gegen  China.  Was  macht  der  Volker- 
bund?    Schallplatten. 

Das  Communique  Nr.  222  sieht  „auch  im  Hinblick  auf  die 
geistige  und  kiinstlerische  Annaherung  der  Volker"  bereits  die 
Ausarbeitung  eines  Austauschsystems  von  ,,nationalen  Phono- 
teken"  vor.  Nicht  auf  Platten  aufgenommen  werden  die  Ge- 
sprache  der  Volkerbundler  selbst.  Bei  einem  Five  o'clock  der 
Eingeweihten  wahrend  der  Ratstagung  zur,L6sung  des  japanisch- 
cHinesischen  Konf  likts  sagte  Briand  treuherzig  zu  Lord 
Reading:  lfWas  konnen  wir  schon  von  diesen  Leuten  und  die- 
sen  Dingen  wissen?  .  . ." 

Tatsachlich  wuBten  die  Herren  Ratsmitglieder  vom  Fernen 
Osten  sehr  wenig,  aber  waren  sie  dazu  inGenf?  Der  Krieg,  auf 
Genfisch:  „die  kriegerische  Handiung",  war  eine  glanzende 
Gelegentieit,  der  leichtglaubigen  Welt  eine  Posse  dritter  Giite 
vorzuspielen.  Drummond  hatte  die  Regie,  Briand  sang  die 
Koloraturen,  der  Imperiali$mus  der  GroBmachte  saB  ver- 
schleiert  in  den  Logen  und  klatschte  Beifall.  Die  Vertreter 
der  kleinen  Staaten  am  Ratstisch  sonnten  sich  im  Licht  der 
Weltgeschichte  und  spielten  stumm  die  Vorsehung.  Herr 
Drummond,  der  „lebenslanglicheM  Generaldirektor,  Zensor  und 
Ratgeber  des  Volkerbundes,  sichtlich  bewundernd,  wie  ihm  der 
Denkmalssockel  der  historischen  Figur  unter  den  FiiBen 
wuchs,  begriiBte  den  Krieg  als  willkommene  Ouvertiire  zur 
Abriistungskonferenz,  die  ihm  die  Gloriole  des  Weltfriedens- 
engels  einbringen  wtirde.  Er  versprach  den  Chinesen  goldene 
Berge  und  warnte  sie,  den  Artikel  16  des  Volkerbundspaktes 
in  Anspruch  zu  nehmen. 

Wer  Krieg  anfangt,  wird  diplomatisch  und  wirtschaftlich 
von  alien  VoLkerbundsstaaten  boykottiert,  notigenfalls  mili- 
tarisch  zurechtgewiesen.  HeiBt  es  im  Artikel  16,  aber  der 
allerseits  verbindliche  cher  Sir  Eric  Drummond  glaubte  wohl 
sel'bst  nie  daran.  Kleinen  Staaten,  wenn  sie  nicht  parieren, 
kann  man  ja  mal  ubers   Maul  fahren,  aber  Japan . . . 

Was  wollte  Drummond?  Er  muBte  vor  der  Abriistungs- 
konferenz den  japanisch-chinesischen  Konflikt  erledigen.  Er 
6 


frisierte  also  im  Sinne  des  Artikels  11  den  Fall  einer  „Kriegs- 
drohung"  auf,  glaubte,  mit  einer  Verschiebung  des  Krieges 
eine  Heldentat  zu  vollbringen,  und  gewann  Briand  als  Vorsan- 
ger.  Dem  iiber  den  Umfang  und  die  Tiefe  des  Konflikts  restlos 
unorientierten  Briand  hatte  er  eingered'et,  hier  ware  die  Ge- 
legenheit,  sich  als  Friedensstifter  im  groBten  Stil  zu  produ- 
zieren.  Laval  ging  damals  nach  Amerika,  Briand  machte  sich 
iiber  die  magern  Resultate  dieser  Reise  keine  Illusionen.  Nun 
glaubte  auch  er,  aus  dem  Schatten/winkel,  in  den  Laval  ihn  ge- 
drangt  hatte,  heraustreten  zu  konnen:  wieder  ein  groBer  Mamit 
der  Asien  befried'et,  den  Volkerbund  auf  ungekannte  Hohe  ge- 
hoben  und  den  Weg  zur  Abrustung  geebnet  hat. 

Man  gab  sich  mit  dem  Problem  nicht  viel  ab,  man  hiitete 
sich  vor  scharfen  Worten,  geschweige  denn  vor  Taten,  man 
verhandelte,  man  deklamierte,  man  tuschelte.  Die  Japanischen 
Generale  wollten  das  Spiel  aber  nicht  mitmachen.  Um  Drum- 
mond  gef allig  zu  sein,  dem  jede,  nach  innen  noch  so  faule,  nach 
aufien'  aber  rasche  und  imponierende  Losung  recht  war,  hatten 
sie  ihre  Truppen  aus  der  Mandschurei  fur  eine  Zeit  lang  zu- 
riickziehen  miissen.  Das  paBte  nun  ganz  und  gar  nicht  in  ihrem 
Kram.  Als  die  ganze  Eeredsamkeit  Briands,  als  die  ju- 
ristische  Sophistik  Drummonds  und  Cecils  im  Echo  des  fernen 
Kanonendonners  unterging  und  aus  einem  Konflikt  zwischen 
den  beiden  asiatischen  Staaten  ein  unheilvoller  Konflikt  zwi- 
schen dem  Volkerbund  und'  Japan  wurde,  machte  man  sich  die 
Methode  des  Mannes  zu  eigen,  der  ,,es  regnet"  ruft,  wenn  ihm 
ins  Gesicht  gespuckt  wird.  Auf  China  kam  es  dann  nicht 
mehr  an,  der  Volkerbund  muBte  eben  vor  allem  sein  eignes 
,, Gesicht  wahren". 

Wahrend  sich  die  Machte  am  Ratstisch  mit  hohlen  Wor- 
ten uberboten  und  die  Japaner  China  kaltbliitig  ohne  Narkose 
operierten,  studierten  die  englischen  und  franzosischen  Mi- 
nisterialrate  aufmerksam  ihre  Geheimvertrage  mit  Japan.  Es 
ist  nur  in  der  europaischen  Presse  ein  Geheimnis,  daB  es  Ge- 
heimvertrage zwischen  England  und  Japan  und  zwischen 
Frankreich  und  Japan  gibt:  man  hat  Japan  die  Ausbreitung 
in  der  Mandschurei  zugestanden,  falls  die  englischen  und  fran- 
zosischen Interessen  nicht  tangiert  werden.  (Die  merkwiirdige 
Haltung  der  U.S.S.R.  ist  ebenfalls  durch  einen  Geheimvertrag 
mit  Japan  geklart.  Der  russische  Imperialismus  in  der  Mon- 
golei  und^Nord-Mandschufei  ist  ein  Kapitel  fiir  sich.)  Solange 
diese  Geheimvertrage  bestehen,  bleibt  China  eine  Kolonie,  von 
der  sich  Japan  nach  Belieben  die  besten  Stucke  nehmen  kann. 
Es  bleibt  den  Chinesen  iiberlassen,  sich  gegen  Japan  zu  weh- 
ren.   Gegen  die  Geheimvertrage  sind  sie  wehrlos. 

Geheimvertrage  sind  laut  Volkerbundpakt  null  und  nich- 
tig.  Geheimvertrage  sind  offiziell  nicht  moglich,  sie  ermog- 
lichen  nur  Kriege.  Diese  Kriegsursache  aus  der  Welt  zu 
schaffen  oder  sie  nur  anzuprangern,  sieht  Herr  Drummond 
keine  Veranlassung;  der  Lebenslangliche  hatte  auch  keinen 
Mut  dazu'.     Briand  und  Cecil  auch  nicht 

Aus  Mappen  der  Geheimdiplomatie  blinkt  Licht  auf  die 
abgeblendete  Szenerie  der  genier  Posse.  Dieses  Licht  aber 
ist  blutig. 

7 


Oesterreich  vor  dem  Burgerkrieg  EmstTischer 

F\er  Heimwchrputsch  des  Walter  Pfrimer  war  ein  Fiasko. 
^  Trotzdem  ist  die  Heimwehr,  die  bereits  als  erledigt  gait, 
nach  dem  13.  September  in  den  alpenlandischen  Landern  sehr 
gewachsen;  sie  wird  nun,  da  die  Zwolf  aus  der  Steiermark  die 
Hochverrater  einstimmig  freigesprochen  haben,  abermals  wach- 
sen.  Sie  wird  das  Bediirf nis  Hihlen,  in  kurzer  Zeit  loszu- 
schlagen.  Warum  auch  nicht?  Die  Leute  haben  zu  ihrem 
Staunen  wahrgenommen,  daB  sie  bei  solchem  Spiel  nur  ge- 
winnen  konnen;  was  immer  geschieht,  jede  Aktion  ist  Pro- 
paganda, wennnur  uberhaupt  etwas  geschieht.  Sie  haben  fer- 
ner  wahrgenommen,  daft  die  Staatsgewalt  teils  mit  ihnen  pak- 
tiert,  teils  den  Erfolg  abwartet,  keinesfalls  aber  gegen  sie  von 
der  Waffe  Geb ranch  macht  Sie  haben  wahrgenommen,  daB 
die  Arbeiterschaft  ihnen  nirg end's  mit  Handgranaten  und  Ma- 
schinengewehren  entgegentritt,  daB  es  kein  groBes  Risiko  ist, 
in  Oesterreich  zu  putschen.  Sie  haben  schliefilich  wahrgenom- 
men, daB  die  Justiz  ihnen  kein  Haar  kriimmt,  daB  man  unge- 
straft  gegen  die  Republik  marschieren  darf.  Warum  <also  nicht 
das  Unternehmen  wiederholenf  warum  also  nicht,  diesmal 
besser  vorbereitet  und  ibesser  organisiert,  einen  zweiten  Heim- 
wehrputsch  wagen? 

Jedermann  in  Oesterreich  rechnet  mit  diesem  zweiten 
Putsch,  niemand  zweifelt  daran,  daB  er  nicht  ein  lo kales  Er- 
eignis  der  Steiermark  sein,  sondern  ganz  Oesterreich  in  den 
Wirbel  hineinreiBen  wirdl  Aber  dieser  zweite  Putsch  ist  mehr 
als  ein  felativ  unblutiges  Abenteuer,  dieser  zweite  Putsch  ist 
der  Burgerkrieg.  Die  Sozialdemokraten  haben  angekundigt, 
daB  sich  die  Arbeiterschaft  mit  alien  Mitt  ein  zur  Wehr  setzen 
wird;  das  ist  diesmal  nicht  eine  parlamentarische  Redensart, 
das  ist  unbedingte  Entschlossenheii  Diesmal  wird  es  weniger 
auf  zentrale  Weisungen  als  auf  personliche  Initiative  ankom- 
men;  und  aui  die  Initiative  der  Arbeiter  in  den  Industrie- 
gebieten  kann  man  sich  verlassen.  Der  HaB  ist  iibergroB  ge- 
worden,  die  Erkenntnis,  daB  in  Oesterreich  nur  die  Selibsthilfe 
gegen  den  Fascismus  schiitzt,  hat  den  HaB  zu  klarer  Aktivitat 
entflammt.  So  miBlich  es  ist,  zu  prophezeien,  eines  kann  man 
heute  mit  aller  Sicherheit  voraussagen:  wenn  die  Heimwehr 
losschlagt,  werden  Heimwehrschlosser  in  die  Luft  fliegen, 
Heimwehrgehofte  brennen,  an  hundert  Orten  Handgranaten 
und  Maschinengewehre  losgehn.  Mit  der  osterreichischen  „Ge- 
miitlichkeitie  ist  es  zu  Ende,  Oesterreich  steht  vor  einer  radi- 
kalen  Entscheidung.  Und  so  sehr  Optimismiis  verfehlt  ware, 
so  sehr  Pessimismus  geboten  ist;  diese  Entscheidung  wird  nicht 
der  Fascismus  sein. 

Der  PfrimerprozeB  in  Graz  war  das  Signal  vor  der  Ka- 
tastrophe.  Nicht,  daB  die  Hochverrater  freigesprochen,  wur- 
den,  eigentlich  haben  das  alle  erwartet,  sondern  die  ganze 
Regie  des  Prozesses  war  ausschlaggebend,  Es  ist  also  nicht 
der  Freispruch  an  sich,  der  die  Entladung  der  Atmosphare  un- 
vermeidlich  macht,  sondern  die  Konstatierung,  daB  ein  Land 
nicht  mehr  der  Republik  Oesterreich  angehort,  daB  es  toricht 
ware,  die  Steiermark  heute  noch  fur  ein  Gebilde  der  Demo- 
8 


kratie  zu  halten.  Die  Steiermark  ist  ein  fascistisches  Land; 
in  diesem  ostlichsten  Gebiet  der  Republik  ist  die  Verfassung 
ein  Fetzen  Papier,  der  Fascismus  eine  Realitat.  Wirtschaftlich 
ist  es  den  Herren  der  Alpine-Montangesellschaft,  den  Vasallen 
der  steirischen  Schwerindustrie,  politisch  dem  Landeshaupt- 
mann  Rintelen  gelungen,  in  der  Steiermark  das  zum  groBten 
Teil  zu  verwirklichen,  was  die  Heimwehr  fur  ganz;  Oesterreich 
anstrebt.  Am  Semmering  endet  Europa,  beginnt  d!as  Polen 
Pilsudskis.  Und  wenn  man  Graz  das  steirische  Tarnopol 
nennt,  hat  das  seinen  tiefen  Sinn, 

Doktor  Anton  Rintelen,  „unser  Toni"t  der  „Konig  Anton", 
wie  ihn  die  Heimwehr  nennt,  ist  neben  Ignaz  Seipel  der  beste 
politische  Kopf  der  Reaktion  in  Oesterreich,  Von  Seipel  unter- 
scheidet  ihn  nur,  daB  er  vollig  gesinnungslos,  von  keiner  Idee 
besessen  und  daher  auf  die  Bauer  erfolgreicher  ist  als  der 
starre  Pralat.  Dieser  weiBhaarige  Rundschadel  mit  dem  roten 
Gesicht,  in  dem  zwei  kluge  Augen  ruhelos  zwinkern  und  blin- 
zeln,  zwei  Augen,  die  zu  schielen  scheinen,  weil  sie  stets  an 
den  M ens c hen  und  Dingen  vorbeisehn,  dieser  schlaue,  hab- 
gierige  und  dtirchtriebene  Mann  ist  mit  jeder  Konjunktur  ge- 
gangen,  hat  sich  mit  jeder  Weltanschauung  verstandigt.  Er  hat 
im  Jahre  1918  als  uberzeugter  Republikaner  gegolten,  damals, 
als  die  steirischen  Klerikalen  auf  Fuhrersuche  gingen  und  von 
dem  Rechtsanwalt  Doktor  Karl  Rintelen,  dem  das  Geschaft  zu 
riskant  war,  an  den  Bruder  Anton  gewiesen  wurden,  er  hat 
sich  als  einer  der  ersten  osterreichischen  Politiker  unumwun- 
den  zur  Repuiblik  bekannt,  sofort  Fiihlung  mit  den  Sozial- 
demokraten  gesucht,  .gleichzeitig  aber  konterrevolutionare 
Banden  ausgeriistet,  mit  Ungarn  konspiriert,  sich  dreifach  den 
Riicken  gedeckt,  Unter  seiner  Patronanz  wurden  tschecho- 
slowakische  Banknoten  gefalscht,  lUinter  seiner  Patronanz 
staatliche  Waffenlager  ausgeplundert,  unter  seiner  Patronanz 
haarstraubende  Inflationsgeschafte  getatigt.  Es  gab  kaum 
einen  Korruptionsskandal,  .  kaum  eine  anriichige  Affare  in 
Oesterreich,  bei  der  nicht  der  Namen  Rintelen  genannt  wurde; 
aber  wenn  seine  engsten  Verbundeten  stiirzten,  zog  er  sich  ge- 
schickt  aus  der  Angelegenheit,  befestigte  er  seine  Hausmacht. 
Diesem  begabten  Zyniker  fehlt  ein  Gegenspieler;  kein  Mann 
der  Opposition  ist  ihm  gewachsen.  Ebenso  fehlen  Gegenspieler, 
die  der  Alpine-Montangesellschaft  gewachsen  waren; 
dort,  wo  die  Reaktion  immer  am  starksten  und  aggressivsten 
war,  war  die  Sozialdemokratie  immer  am  schwachsten  und 
passivsten.  So  ist  die  Steiermark  zur  Einfallspforte  des  Fas- 
cismus geworden, 

Anton  Rintelen  ist  viel  zu  gescheit,  vollkommen  ungedeckt 
seine  Heimwehrpolitik  zu  betreiben;  er  ist  zwar  Ehrenmitglied 
der  Heimwehr,  er  begliickwiinscht  zwar  die  Heimwehrfiihrer 
zu  ihren  Aktionen,  aber  er  halt  sich  stets  die  Moglichkeit 
of  fen,  den  Sozialdemokraten  zu  sagen:  „Ich  bitt  Sie,  meine 
Herren,  das  war  ja  gar  nicht  so  gemeint,  Ich  muB  die  Leute 
in  die  Hand  bekommen,  damit  ich  sie  von  Dummheiten  abhal- 
ten  kann.  Ich  werde  selbstverstandlich  nichts  Ungesetzliches 
zulassen."  So  war  auch  seine  Zeugenaussage  im  Pfrimer- 
prozeB     ein  Meisterwerk    unmiBverstandlicher  Zweideutigkeit. 


Ohne  sich  zu  dem  Putsch  zu  bekennen,  hat  er  sich  zu  <lem 
Putsch  bekannt,  ohne  das  Letzte  zu  sagen,  hat  er  alles  gesagt, 
was  zu  dcm  Freispruch  notig  war.  Das  Letzte:  daB  er  den 
Putsch  bekannt;  ohne  das  Letzte  zu  sagen,  hat  er  alles  gesagt, 
wurde  nicht  zur  Sprache  gebracht.  Der  Wortlaut  seiner  Zeu- 
genaussage  verschleierte  ihren  Inhalt  so  gut,  daB  man  ihn  zwar 
erkennen,  afoer  nicht  festhalten  konnte.  Der  Landeshauptmann 
hat  die  Wahrheit  gelogen. 

Die  Liigen  der  andern  waren  nicht  so  fein,  asthetisch  nicht 
so  befriedigend.  Zuerst  wurden  in  aller  Eile  die  Zeugen  ver- 
nommen,  die  belastend  aussagten;  der  letzte  Tag  des  Beweis- 
verfahrens  gehorte  nur  dem  Heimwehrabgeordneten  Hornik 
und  dem  Landeshauptmann  Rintelen.  Und  in  der  Nacht  vor 
diesem  letzten  Tag  wurde  in  Voitsberg  eine  SchieBerei  organi- 
siert,  bei  der  die  Gendarmerie  drei  Menschen  niederknallte. 

Es  war  eine  teuflisch  gute  Regie:  der  Landeshauptmann 
hatte  wohlweislich  Graz  verlassen,  um  weit  vom  SchuB  zu 
sein.  Gendarmeriebeamte  in  Voitsberg,  einer  kleinen  Stadt  im 
weststeirischen  Kohlenrevier,  deren  Biirgermeister  ein  ebenso 
kluger  wie  mutiger  Sozialdemokrat  ist,  hatten  den  Auftrag, 
Waffen  der  Sozialdemokratie  zu  finden.  DaB  die  Sozialdemo- 
kratie  Waffen  besitzt,  leugnet  sie  nicht.  In  Voitsberg  fand 
man  Waffen,  Handgranaten,  die  noch  nicht  gefiillt  waren;  man 
fand  sie  seltsamerweise  in  einem  unversperrten  Magazin  des 
Rathauses,  in  einem  unversperrten  Kasten,  offen  und  fur  jeder- 
mann  greifbar.  Man  fand  sie  seltsamerweise,  wahrend  der 
Biirgermeister  in  einer  sozialdemokratischen  Massenversamm- 
lung  sprach  und  die  Nationalsozialisten  eine  zweite  Versamm- 
lung  abhielten,  Man  wartete  seltsamerweise  so  lange,  bis  die 
Versammlungen  zu  Ende  waren,  hielt  so  lange  das  Rathaus  be- 
setzt,  eskortierte  just,  als  die  Massen  der  Versammlungsteil- 
nehmer  am  Rathaus  vorbeistromten,  einen  jungen  stadtischen 
Angestellten  mit  aufgepflanztem  Bajonett  mitten  durch  die  er- 
regte  Menge.  Alle  diese  seltsamen  Zufatte  muBten  in  dem  Ge- 
biet,  wo  die  Arbeitslosigkeit  katastrophal  und  die  Stimmung 
sehr  iiberreizt  ist,  zu  einem  ZusammenstoB  fiihren;  die  Gen- 
darmerie gab  Feuer,  einige  Tote  und  Verwundete  blieben  lie- 
gen.  Unmittelbar  darauf  telephonierte  der  Landesrat  MeiBher, 
ein  Bandenfiihrer  der  steirischen  Heimwehr,  Voitsberg  an,  for- 
derte,  daB  die  Heimwehr  mobilisiert  und  der  Gendarmerie  als 
Assistenz  zur  Verfiigung  gestellt  werde;  denn,  so  sagte  der 
Landesrat,  ,,wir  brauchen  das  aus  optischen  Griinden,  als  Stim- 
mungsmittel  fur  den  ProzeB".  Das  Stimmungsmittel  hat  ge- 
wirkt.  Die  Toten  wurden  von  den  Verteidigern  der  Angeklag- 
ten  ausgeweidet.  Die  Handgranaten  wurden  den  Geschwornen 
unter  die  Nase  gehalten.  Der  Freispruch,  der  allerdings  kaum 
mehr  zweifelhaft  schien,  war  nun  bombensicher.  Die  Ge- 
schwornen griiBten  die  Freigesprochenen  mit  dem  Fas- 
cistengruB. 

Unmittelbar  nach  dem  Freispruch  kundigte  die  Heimwehr 
ihren  nachsten  Putsch  an. 

Man  glaube  nur  nicht,  daB  angesagte  Revolutionen  stets 
unterbleiben.  Die  Lorbeern  Pfrimers  lassen  Starhemberg 
nicht  schlafen;  schon  die  Rivaiitat  der  beiden  drangt  zu  neuen 
10 


Aktionen,  Die  erste  Aktion  ist  miBlungen,  weil  Pfrimer  dem 
Starhemberg  zuvorkommen  wollte,  weil  der  Rivale  sich  seinem 
Kommando  nicht  unterstellte,  weil  die  Dummheit  des  stei- 
rischen  Heimwehrfiihrers  die  Klugheit  des  steirischen  Landes- 
hauptmanns  mehr  als  paralysierte.  Die  zweite  Aktion  wird 
besser   gefiihrt   sein. 

GewiB:  alles  muB  unternommen  werden,  ,um  den  Biirger- 
krieg  zu  vermeiden,  aber  wenn  die  Fascisten  ihn  wollen,  sollen 
sie  ihn  haben.  Und  so  furchtbar  er  sein  wird  —  er  wird  in 
Oesterreich  nicht  sehr  lange  dauern.  Denn  man  darf  die  Heim- 
wehr  nicht  mit  deutschen  Freikorps  verwechseln;  wirklich  ge- 
fahrlich  sind  nur  einige  Manner  und  einige  Bataillone  dieser 
Bewegung  —  die  Massen  der  Bauern  aber  werden,  wenn  es 
ernst  wird,  sehr  bald  nicht  mehr  mittun.  Und  die  rabiat  ge- 
wordenen  SpieBer  ebensowenig. 

Sie  haben  mit  Toten  Stimmung  gemacht.  Die  Stimmung, 
die  sie  gemacht  haben,  wird  vielleicht  in  kurzer  Zeit  mehr 
Tote  fordern.  Aber  dem  zweiten  Putsch  wird  kein  dritter 
folgen. 


CaUSa  finita  von  Alfred  Apfel 

Am  5.  November  1931  yerhandelte  der  II.  Strafsenat  des 
"•  Reichsgerichts  iiber  die  Revision,  die  der  Staatsanwalt 
gegen  das  George  Grosz  und  Wieland  Herzfelde  freisprechende 
Urteil  der  Siegertkammer  des  Landgerichts  III  Berlin  ein- 
gelegt    hatte.      Das    Reichsgericht    erliefi   folgendes   Urteil: 

Das  Urteil  des  Laftdgerichts  III  in  Berlin  vom  4.  Dezember 
1930  wird  dahin  abgeandert: 

.  Die  Zeichmmg  Nummer  10  der  im  Malik  Verlag  erschienenen 
Sammelmappe  „Hintergrund"  und  alle  im  Besitz  des  Verfassers, 
Druckers,  Herausgebers,  Verlegers  oder  Buchhandlers  befindlichen 
und  die  offentlich  ausgelegten  oder  offentlich  angebotenen  Exem- 
plare  der  Abbildung  dieser  Zeichnung  sowie  die  zu  ihrer  Herstel- 
lung   bestimmten   Platten  und   Formen   sind   unbrauchbar   zu   machen. 

Im  iibrigen   wird   das   Rechtsmittel    als    unbegriindet    verworfen. 

Die  PreuBische  Staatskasse  hat  die  Kosten  des  Rechtsmittels  zu 
tragen. 

Es  ist  mir  unverstandlich,  warum  dies  abschlieBende 
Reichsgerichtsurteil  eine  so  gute  Presse  gefunden  hat.  Zu 
Jubelhymnen  liegt  kein  AnlaB  vor. 

GewiB  soil  nicht  unterschatzt  werden,  daB  George  Grosz 
und  Wieland  Herzfelde  von  Strafe  verschont  bleiben.  Man  er- 
innert  sich  wohl  noch  an  das  urspriingliche  Urteil  des  Schof- 
fengerichts  Charlottenburg,  das  ihnen  an  Stelle  einer  verwirk- 
ten  Gefangnisstrafe  von  je  zwei  Monaten  eine  Geldstrafe  von 
zweitausend'  Mark  auferlegte.  Es  soil  ferner  nicht  unerwahnt 
bleiben,  daB  beiden  die  Zahlung  der  sehr  erheblichen  Kosten- 
last  erspart  bleibt.  Als  Aktivum  kann  schlieBlich  gebucht 
werden,  daB  die  Mappe  f,Hintergrund"  vom  Malikverlag  wei- 
ter  vertrieben  werden  kann,  und  zwar  einschlieBlich  der  ur- 
spriinglich  mitverfolgten  Bilder  Nummer  2  („Seid  Untertan 
der  Obrigkeit")  und  Nummer  9  (MAusschuttung  des  heiligen 
Geistes'1}. 

11 


Abcr  das  inzwischcn  zur  Beruhmtheit  gelangte  Christus- 
bild,  und  das  war'wohl  der  Hauptzweck  der  Ubung,  hat  end- 
giiltig  aus  dem  Verkehr  zu  verschwinden.  Dieses  Bild,  das  in 
eindringlichster  Form  den  Widerspruch  zwischen  der  reinen 
christlichen  Lehre  und  dem  tatsachlichen  Verhalten  vieler 
ihrer  Anhanger  zeigt,  von  dem  wahrhaft  glaubige  Christen 
gesagt  haben,  daB  man  es  an  jede  Kanzel  hang  en  miisse,  ist 
fur  Deutschland,   bis   andre   Zeiten  kommen,   erledigt  worden, 

Wem  es  Ernst  mit  der  Freiheit  der  Kunst  ist  und  wer 
einmal  hinter  die  Kulissen  der  juristischen  Technik  blicken 
will,  der  lese  den  SchluBteil  des  Urteils  vom  5.  November 
1931.     Er  lautet: 

In  der  Hauptsache  erweist  sich  hiernach  das  Rechtsmittel  als 
unbegriindet.  Ihm  kann  jedoch  der  Erfolg  insoweit  nicht  versagt 
werden,  als  im  Urteil  unterlassen  ist,  die  Unbrauchbarmachung  der 
Exemplare  des  Bildes  10  in  dem  in  §  41  StGB.  festgestellten  Aus- 
mafie  auszusprechen.  Das  Berufungsgericht  hat  diesen  Ausspruch 
deshalb  abgelehnt,  weil  iiberhaupt  keine  strafbare  Handlung  vorliege. 
Diese  Ansicht  ist  rechtsirrtumlich.  §  41  StGB,  enthalt  eine  poli- 
zeiliche  vorbeugende  Mafiregel,  die  nur  voraussetzt,  dafi  durch  den 
Inhalt  der  Schrif t,  Abbildung  oder  Darstellung  der  aufiere  Tat- 
bestand  einer  strafbaren  Handlung  erfiillt  werde,  Auch  dann,  wenn 
ein  Tater  wegen  des  Fehlens  des  inneren  Tatbestands  nicht  verfolgt 
oder  nicht  bestraft  werden  kann,  ist  der  Ausspruch  nach  §  41  StGB. 
zulassig  (vgl.  u.  a.  RGSt.  Bd.  4  S.  88;  Bd.  38  S.  100  und  S,  345; 
aber  auch  RGSt,  Bd.  61  S.  293).  Nach  §  42  kann  auf  die  MaB- 
nahme  der  Unbrauchbarmachung  selbstandig  nur  dann  erkannt 
werden,  wenn  die  Verfolgung  oder  Verurteilung  einer  bestimmten 
Person  nicht  ausfiihrbar  ist.  Deshalb  hangt  die  Entscheidung  davon 
ab,  ob  die  Verurteilung  einer  andern  Person  in  Beziehung  auf  die 
Zeichnung  10  und  damit  eine  Unbrauchbarmachung  nach  §  41  StGB. 
in  einem  andern  Verfahren  noch  zu  erwarten  ist.  Dafi  die  nachtrag- 
liche  Verurteilung  einer  andern  Person  schlechthin  ausgeschlossen 
sei,  wird  sich  kaum  jemals  mit  voller  Bestimmtheit  sagen  lassen  und 
kann  deshalb  auch  nicht  die  Voraussetzung  fur  die  Anwendung  des 
§  42  StGB.  sein.  Bei  der  durch  die  Freisprechung  des  Kiinstlers 
und  Verlegers  geschaffenen  Sachlage  kann  ohne  weitere  tatsachliche 
Erhebungen  schon  jetzt  davon  ausgegangen  werden,  dafi  mit  der  Mog- 
lichkeit  einer  Verurteilung  andrer  Personen,  die  die  Nachbildungen 
feilgehalten  und  vertrieben  haben,  nicht  zu  rechnen  ist,  Nachdem 
die  mafigebenden  Entschliefiungen  der  Strafverfolgungsbehorde  (vgl. 
RGSt.  Bd.  32,  S.  53,  55)  durch  den  hilfsweise  gestellten  Antrag  des 
Oberreichsanwalts  zum  Ausdruck  gelangt  ist,  konnte  deshalb  das  Re- 
visionsgericht  in  entsprechender  Anwendung  des  §  354  StPO.  von 
sich  aus  die  Unbrauchbarmachung  aussprechen. 
Hiernach  war  zu  erkennen  wie   geschehen. 

Um  zum  vollen  Verstandnis  zu  gelangen,  miissen  wir  aller- 
dings   ein  wenig  Paragraphenstudium   treiben. 

Der  §  41  des  Strafgesetzbuchs  lautet;  „Wenn  der  Inhalt 
einer  Schrift,  Abbildung  oder  Darstellung,  strafbar  ist,  so  ist 
im  Urteil  auszusprechen,  daB  alle  Exemplare  ....  unbrauch- 
bar  zu  machen  sind."  DemgemaB  hatte  das  freisprechende 
Urteil  der  Siegertkammer  eine  Unbrauchbarmachung  nicht  aus- 
gesprochen,  weil  es  keine  strafbare  Handlung  festgestellt  hatte. 

Halt!  sagt  der  Oberreichsanwalt  und  ihm  folgend  das 
Reichsgericht.  Zweierlei  sei  iibersehen  worden.  Erstens: 
Wenn  auch  das  Siegerturteil  den  Angeklagten  nach  der  so- 
12 


genannten  subjektiven  Seite  hin  kcincn  Vorwurf  habe  machen 
konnen,  so  habc  es  doch  festgestellt,  daB  der  sogenannte  ob- 
jektivc  auBere  Tatbestand  des  Gotteslasterungs-Paragraphen 
durch  das  Christusbild  erfullt  wordcn  sei.  Zwcitens:  MAuch 
dann,  wenn  ein  Tater  wegen  des  Fehlens  des  inneren  Tat- 
bestandes  nicht  verfolgt  oder  bcstraft  werden  kann,  ist  der 
Ausspruch  nach  §  41  Strafgesetzbuch  zulassig!"  Um  es  an 
einem  Beispiel  klarzumachen:  Du  bist  angeklagt,  ein  unziich- 
tiges  Bild  vertrieben  zu  baben.  Das  Gericht  glaubt  Dir,  daB 
Du  das  Bild  nicht  als  unziichtig  angesehen  hast,  obschon  es 
das  Bild  als  objektiv  unziichtig  bezeichnet.  Du  wirst  frei- 
gesprochen,  aber  das  Bild  soil  durch  das  gleiche  Urteil  un- 
brauchbar  gemacht  werden  konnen. 

Aber  es  gait  fur  das  Reichsgericht  noch  eine  Klippe  zu 
umschiflen,    um   das   Christusbild   vernichten  zu  konnen. 

Hinter  dem  oben  zitierten  §  41  folgt  der  §  42  des  Straf- 
gesetzbuchs,  der  davon  handelt,  wann  die  Unbrauchbar- 
machung  selbstandig,  das  heiBt  ohne  Verurteilung  des  Taters, 

erfolgen  kann.     Da  steht  wortlich:  1(Ist  im  Falle  der  §§    

und  41  die  Verfolgung  oder  die  Verurteilung  einer  bestimraten 
Person  nicht  ausfuhrbar,  so  kann  die  dafur  vorgeschriebene 
MaBnahme  selbstandig   erkannt  werden". 

Du  liest  natiirlich  mit  Deinem,  ach  so  ungesunden  Men- 
schenverstand  heraus,  daB  dieser  Paragraph  doch  nur  Falle 
betrifft,  wo  man  keinen  Angeklagten  auftreiben  kann;  aber 
hier,  in  diesem  Verfahren,  wo  doch  Grosz  und  Herzfelde  sich 
dem  Richter  stellten,  kann  doch  angesichts  ihres  Freispruchs 
nicht  auf  Vernichtung  des  Bildes  erkannt  werden!  Du  irrst, 
und  wie  groB  dieser  Irrtum  ist,  erkennst  Du,  wenn  Du  Dir 
genau  den  zitierten  Abschnitt  des  Urteils  durchliest,  voraus- 
gesetzt,  daB  Du  die  dort  meisterhaft  angewandte  Kunst  der 
juristischen  Technik  iiberhaupt  begreifst. 

Ich  empfehle  den  Verbanden  der  Kiinstler,  auch  noch  die 
aus  dem  hier  nicht  abgedruckten  Teil  des  Urteils  ersichtliche 
Stellungnahme  des  Reichsanwalts  zu  beriicksichtigen,  der  an- 
schemend  alle  originellen,  von  den  iiblichen  Darstellungen  ab- 
weichenden  Christusfiguren  als  suspekt  betrachtet.  Wenn  das 
Reichsgericht  auf  die  hierin  liegende  Riige  der  Art  der  Dar- 
stellung,  der  zeichnerischen  Technik  und  des  Stils  des  Bil- 
des nicht  weiter  eingegangen  ist,  so  braucht  keineswegs  an- 
genommen  zu  werden,  daB  dies  im  Interesse  der  Freiheit  der 
Kunst  geschehen  ist.  Hier  einzuhaken  ware  nach  den  ent- 
sprechenden  tatsachlichen  Feststellungen  der  Siegertkammer 
juristisch   kaum   moglich   gewesen. 

Von  Bedeutung  ist  noch,  daB  das  Reichsgericht  im  Laufe 
des  dreijahrigen  Prozesses,  als  es  den  ersten  Freispruch  auf- 
hob,  unzweideutig  als  Richtschnur  fiir  die  kiinftige  Judikatur 
aufgestellt  hat,  daB  fortan  unter  den  Begriff  der  „beschimp- 
f  end  en  AuBerungen"  im  Sinne  des  §  166  des  Strafgesetzbuchs 
auch  bildliche  Darstellungen  fallen,  also  nicht  nur  schriftliche 
und  mundliche  AuBerungen.  Bisher  wurde  das  Gegenteil  an- 
genommen. 

So  glaube  ich,  daB  der  Ausgang  des  Kampfes  um  das 
Christusbild  im  Endresultat  nicht  sehr  erfreulich  ist. 

3  13 


Der  Untergang  des  Judentums  von  Bruno  Frei 

1^  arl  Marx  hat  im  Jahre  1844  zwei  Aufsatze  uber  die  Juden- 
frage  als  Antwort  auf  Bruno  Bauers  theologisch-idealistische 
TiifteLeien  ersohcincn  lassen.  Vier  Jahre  vor  dem  Kommu- 
nistischen  Manifest  laBt  Marx  in  einem  Nebenthema  die  droh- 
nenden  Motive  seiner  welterscbutternden  Symphonie  erklin- 
gen.  Was  bedeutet  die  Emanzipation,  die  die  deutschen  Ju- 
den  begehren?  Die  politische  Emancipation  wurde  zur  „letzten 
Form  der  menschlichen  Emanzipation  liberhaupt"  erklart, 
allerdings  zur  letzten  ,,innerhalb  der  bisherigen  Weltordnung". 
Das  MMenschenrecht  der  Freiheit",  auf  das  sich  die  Freunde 
der  burgerlichen  Emanzipation  berufen,  verkennen,  daB  „seine 
praktische  Nutzanwendung  das  Menschenrecht  des  Privat- 
eigentums  ist/*  Sucht  man  „das  Geheimnis  des  Juden  nicht 
in  seiner  Religion  sondern  das  Geheimnis  der  Religion  in  wirk- 
lichen  Juden*',  dann  findet  man  den  ,,weltlichen  Grund  des 
Judentums"  in  seiner  sozialen  Funktion,  im  Handel,  im 
Schacher.  Marx  untersucht  nicht,  wie  es  dazu  gekommen  ist. 
Er  schreibt  ja  keine  Geschichte  des  Judentums,  sondern  eine 
Analyse  des  Begriffs  der  Emanzipation.  Und  er  kommt  zu  dem 
Ergebnis,  daB  ,,die  Emanzipation  vom  Schacher  und  vom  Geld, 
die  Selbstemanzipation  unsrer  Zeit"  ware.  ,,Eine  Organi- 
sation der  Gesellschaft,  welche  die  Voraussetzungen  des 
Schachers,  also  die  Moglichkeit  des  Schachers  aufhobe,  hatte 
den  Juden  unmoglich  gemacht."  Wenn  in  dem  Augenblick  — 
wir  stehen  vor  1848  —  da  die  politische  Revolution  als  Re- 
volution der  burgerlichen  Gesellschaft  auf  die  Tagesordnung 
der  Geschichte  gesetzt  wird,  von  Judenemanzipationen  die 
Rede  ist,  so  ist  es  nur  richtig  zu  sagen:  „die  Juden  haben  sich 
insoweit  emanzipiert,  als  die  Christen  zu  Juden  geworden 
sind",  das  heiBt  sie  haben  den  Juden  ihre  spezifische  Funktion, 
die  Geldmacht,  die  sie  in  der  feudalen  Zeit  ausschlieBlich 
inne  hatten,  abgenommen. 

Marxens  prachtvolles  Geistgewitter  ,,zur  Judenfrage" 
schlieflt  mit  dem  visionaren  Gedankenblitz:  „Sobald  es  der  Ge- 
sellschaft gelingt,  das  empirische  Wesen  des  Judentums,  den 
Schacher  und  seine  Voraussetzungen  aufzuheben,  ist  der  Jude 
unmoglich  geworden . . .  Die  gesellschaftliche  Emanzipation 
der  Juden  ist  die  Emanzipation  der  Gesellschaft  vom  Juden- 
tum." 

Seither  sind  siebenundachtzig  Jahre  vergangen.  Das  ist 
die  ungefahre  Lebensdauer  der  burgerlichen  Gesellschaft.  Da- 
mals  entstand  sie  —  heute  vergeht  sie.  Angesichts  der  tragi- 
komischen  Tatsache,  daB  die  Geschicke  und  die  Geschichte 
der  mitteleuropaischen  Menschheit  wieder  einmal  dank  des 
nationalsozialistischen  Antisemitismus  von  der  ,,L6sung  der 
Judenfrage"  abzuhangen  scheint,  ist  das  Buch  Otto  Hellers 
,,Der  Untergang  des  Judentums"  (Verlag  fur  Literatur  und 
Politik)  nicht  nur  ein  wissenschaftlich-literarisches  Ereignis 
sondern  eine  politische  Tat. 

Hellers  Ausgangspunkt  ist  Marxens  Begriff  des  Juden- 
tums.    Das  gesohichtlich  gewordene  Judentum  ist  eine  soziale 

14 


Kaste  und  nur  als  solche  ist  es  geschichtlich  geworden,  Der 
ganze  idealistische  Spuk  von  Rasse  und  Religion  verfliegt  vor 
der  wissenschaftlichen  Untcrsuchung  des  Objekts:  Judenfrage. 
Ein  Fachmann  des  Nationalitatenproblems,  namlich  Stalin,  hat 
den  Begriff  der  Nation  eindeutig  umrissen.  Die  Juden  sind 
keine  Nation,  denn  es  fehlt  ihnen  dazu  das  wesentliche  Merk- 
mal  des  gemeinsamen  Territoriums.  Aber  sie  sind  eine  Natio- 
nalitat,  Woduroh  haben  sie  sich  diese  durch  die  Jahrtausende 
erhalten?  Durch  ihren  Kastencharakter,  der  bedingt  war  durch 
die  spezifische  soziale  Funktion,  die  sie  ausiibten. 

Heller  verfolgt  diese  spezifische  soziale  Funktion,  nam- 
lich den  Handel,  bis  in  die  graue  Urzeit.  Es  mag  offen  blei- 
ben,  ob  er  da  nicht  zu  weit  geht.  Heller  behauptet,  daB  die 
nomadisierenden  Stamme  vor  der  Landnahme  Palastinas  be- 
reits  Juden  —  in  unserm  Sinne,  also  Handelsleute  —  waren 
und  diesen  Charakter  wahrend  der  rund  tausend  Jabre,  die 
sie  im  Lande  als  Ackerbauer  und  Viehziichter  blieben,  von  der 
Richterzeit  bis  zum  babylonischen  Exil,  beibehielten.  Das 
konnte  nach  Hellers  Ansicht  dadtirch  geschehen,  daB  Palastina 
in  seiner  besondern  geographisch-politischen  Situation  als 
doppelte  HandelsstraBe  der  antiken  Welt,  seine  Bewohner 
gleichsam  zwang,  sich  mit  Handel  zu  beschaftigen.  Per  Ein- 
wand  scheint  hier  foerechtigt,  daB  nach  dieser  Theorie  ,, Juden" 
auch  anderswo,  namlich  iiberall  dort,  wo  Nomaden  in  einem 
Durchzugsland  seBhaft  werden,  hatten  ,,entstehen"  miissen. 
Zugegeben,  daB  die  Nomaden  die  natiirlichen  Trager  des  Ur- 
handels  sind,  so  ist  doch  eher  anzunehmen,  daB  die  israeliti- 
schen  Stamme,  die  sich  in  Palastina  niederlieBen,  sich  in  die- 
ser Zeit  vor  dem  Exil  nicht  wesentlich  von  ihren  Nachbarn 
unterschieden.  Es  ist  wahrscheinlicher,  dafi  das  ^Judentum", 
wie  wir  es  mit  Heller  verstehen,  erst  durch  das  Exil  ,,entstan- 
den"  ist.  Die  Diaspora  ist  die  Ruckentwicklung  des  seBhaften 
Volkes  zum  Nomadentum  und  damit  zum  Handel. 

Aber  gleichgultig,  welche  dieser  Hypothesen  ,,marxisti- 
scher"  ist,  entscheidend  bleibt  das  Verdienst  Hellers,  eine  um- 
fassende  materialistische  Geschichte  des  Judentums  skizziert 
zu  halben.  In  dem  MaBe,  als  die  Darstellung  zeitlich  weiter- 
schreitet,  gewinnt  sie  an  Wucht  und  Eindringlichkeit  und  wird 
schlieBlich  in  der  Erklarung  der  morderischen  Judenmetze- 
leien  des  Mittelalters  als  soziale  Reaktionserscheinungen  des 
erwachenden  stadtischen  Handels  zum  Fundament  einer  So- 
ziologie  des  Antisemitismus,  Exakt  verfolgt  Heller  aile  Er- 
scheinungen  „der  sozialen  Verlagerung  der  Juden",  die  mit  der 
„Entwicklung  der  deutschen  Stadt,  mit  dem  Erst  ark  en  des 
handwerklichen  und  kaufmannischen  Btirgertums"  notwendig 
zusammenhangen,  „Die  Juden  waren  gleichsam  auf  das  Land 
hinausgeeitert  worden." 

Die  letzte  Etappe,  die  Verschiedenartigkeit  in  der  Entwick- 
lung  des  West-  und  Ostjudentums  erklart  sich  marxistisch- 
materialistisch  durchaus  natiirlich  als  die  Folge  der  Verschie- 
denartigkeit von  Klassenfeife  und  Klassenentwicklung  in 
West-  und  Osteuropa,  Die  Assimilation  der  Juden  in  den  ka- 
pitalistischen    Staaten    West-    und    Mitteleuropas    ist    nichts 

15 


andres  als  die  von  Marx  prophezeite  AuflSsung  durch  Ober- 
gabe  ihrer  Funktion  an  die  burgerliche  Gesellschaft.  Die  Ju- 
den werden  uberfliissig  in  dem  MaBe,  als  die  Christen  zti  „  Ju- 
den" werden,  das  heiBt  den  Warenverkehr  und  den  Geldhan- 
del  in  eigne  Hande  nehmen,  Nichts  kann  diesem  Auflosungs- 
prozcB  entgegenwirken,  auch  nicht  die  Religion,  denn  „die 
Basis  der  jiidischen  Religion  ist  allein  die  besondre  soziale  und 
okonomische  Funktion  der  Juden,  nichts  andres.  Erlischt  diese 
Funktion,  so  stirfct  mit  ihr  auch  ihr  id^ologischer  Uberbau,  die 
jiidische  Religion",  Im  Osten  allerdings  kann  sie  sich  halten, 
aber  nur  deshalb,  weil  die  osteuropaischen  Volker  noch  in 
halbfeudaler  Form  wirtschaften.  In  Osteuropa  ist  nicht  nur 
das  mittelalterliche  Ghetto  erhalten,  sondern  auch  seine  Vor- 
aussetzung,  die  mittelalterliche  Wirtschaftsweise  der  Grund- 
pacht,   des  Kleinhandels   und   des   Kleingewerbes, 

Und  damit  riickt  die  Frage  zu  ein«r  weltgeschichtlichen 
Entscheidung  auf.  Die  Zeit  hat  sich  erfiillt-  Der  Untergang 
des  Judentums  ist  besiegelt  Denn  wahrend  in  Westeuropa  die 
Grundlage  seiner  Erhaltung  durch  die  Entwicklung  des  Kapi- 
talismus  geschwunden  ist,  hat  der  soziale  Umwalzungsprozefi, 
der  mit  der  Sowjetrevolution  die  Millionenmassen  der  judischen 
Kleinstadte  WeiBruBland's  und  der  Ukraine  ergriffen  hat,  die 
Auflosung  von  der  andern  Seite  beginnen  lassen.  Dort  hat 
sich  der  zweite  Teil  von  Marxens  Vision  erfiillt:  dort  besteht 
eine  f, Organisation  der  Gesellschaft,  welche  die  Voraussetzun- 
gen  des  Schachers  aufgehoben"  hat,  Und  in  der  Tat,  damit 
ist  die  Existenz  des  Jud'en  im  herkommlichen  Sinne  aufge- 
hoben. 

Den  sensationellsten  Teil  des  Hellerschen  Buches  bilden 
die  Kapitel,  die  das  Verhaltnis  der  Sowjetmacht  zur  Juden- 
frage  schildern.  Wir  sehen,  wie  die  Sowjetregierung  als 
zur  Staatsmacht  gelangter  Marxismus  die  Frage  von  Anfang 
an  als  eine  soziale  ansah.  Von  den  2,6  Millionen  Juden,  die  es 
nach  der  Volkszahlung  von  1926  in  der  Sowjetunion  gab,  waren 
rund  45  Prozent  deklassiert.  Was  geschieht  mit  diesen  Juden? 
Da  sie  keine  Bourgeoisie  vor  sich  haben,  der  sie  sich  assimi- 
lieren  konnten,  konnen  sie  sich  sozial  nur  dem  Proletariat  assi- 
milieren.  Die  gest elite  Aufgabe  lautet:  Kolonisierung  und  In- 
dus trialisierung.  Es  ist  ein  St  tick  des  Fiinfjahr  plans,  und  so  wie 
die  wachsende  Produktion  an  Roheisen  wird  die  standig  wach- 
sende  Produktion  von  Arbeiter-  und  Bauern-Juden  an  der 
Hand  der  Kontrollziflern  auf  dem  Plan  verglichen,  Es  ist  eine 
noch  nicht  entschiedene  Frage,  ob  die  Kolonisierung  oder  die 
Industrialisierung  den  wichtigsten  Teil  des  sozialen  Um- 
schichtiungsprozesses  darstellen  wird-  Heller  besuchte  alle 
judischen  Kolonien,  von  den  kleinen  Vorstadtsiedlungen  in 
der  Ukraine  tiiber  die  judischen  Siedlungsrayons  in  der  Krim 
bis  zu  dem  fernen  „Judienstaat"  am  Amur:  Birobidjan,  Hellers 
Berufsstatistik  der  Sowjetjuden  ist  aufregend.  Wir  erfah- 
ren,  wie  groB  der  Anteil  der  Juden  in  der  Roten  Armee,  in 
der  Staatsverwaltung  und  in  der  Parte i  ist.  Wesentlich  dabei 
ist  die  Dynamik  in  den  Ziffernreihen.  Der  relative  Anteil  der 
Juden   an   der   Staatsverwaltung   sinkt   in  dem   MaBe,    als   die 

16 


soziale  Entwickkmg  der  Union  f ortschreitet.  Die  Zahl  der 
judischen  Bergarbeiter  in  der  Ukraine  hat  sich  von  1926  bis 
1929  nahezu  verdoppelt.  Am  Endc  des  erst  en  Fiinfjahr  plans 
wird  es  bei  «iner  judischen  Bevolkerungszahl  von  2  853  000 
1 446  000  okonomisch  aktive  Juden  (zwischen  dem  16.  und 
50,  Lebensjahr)  gefcen,     Davon 

Arbeiter  480  000   (1926  —   153  000) 

Angestellte  450  000   (1926  —  241000) 

Heimindustrie  200  000   (1926  =  244  900) 

Landwirtschaft   170  000    (1926   =   100  400) 

Pensionare  des  Staates  und  der  wirtschaftlichen  Organisationen 

131  000 
Nichtwerktatige  15  000 
Privathandel   0 
Arbeitslose  0, 

Diese  Ziffern  sind  ein  Teil  jenes  Gcschichtsprozesses,  den 
man  bei  Annahme  von  Marxens  Definition  den  „Untergang 
des  Judentums"  nennen  kann.  Der  andre  Teil  vollzieht  sich 
in  den  Grofistadten  des  Kapitalismus,  Den  Millionen  Juden 
kleinbiirgerlicher  Struktur  zwischen  Warschau  und  New  York 
bleibt  nichts  andres  iiibrig  als  Untergang  durch  Assimilierung 
an  den  Kapitalismus  oder  Untergang  durch  Anschlufi  an  das 
Proletariat. 

Wahrend  aber  jener  Untergang  endgiiltig  ist  und  nicht  nur 
ein  Untergang  als  Kaste,  ist  dieser  verbunden  mit  der  Mog- 
lichkeit,  ja  Wahrscheinlichkeit  der  Renaissance  als  Nation  im 
Rahmen   der    proletarischen   Volkerfamilie   des    Sowjetstaates. 

Die  Losung  der  Judenfrage  ist  ein  Nebenprodukt  der  Lo- 
sung  der  sozialen  Frage. 

Otto  Hellers  Buch  braucht  nicht  empfohlen  zu  werden. 
Seine  Akutalitat  brennt  uns  auf  den  Fingern,  Zionismus  und 
Antisemitismus,  Religion  und  Rasse,  Statistik  und  Geschichte, 
—  Heller  rollt  mit  Meisterhand  die  Frage  von  alien  Seiten 
auf,  kiihn  in*  der  Darstellung,  klar  in  der  Sprache.  Zum 
SchluB  —  Heller  ist  nicht  nur  Marxist,  sondern  auch  Jour- 
nalist —  das  „Protokoll  einer  Reise":  eine  Reportage  uiber 
die  Juden  in  der  Sowjetunion,  Die  Apothese  der  Wirklich- 
keit  nach  der  Analyse  d'er  Wissenschaft. 
i 

Notverordnung  1669 

Beschwerden  zu  Neapolis  werden  gemildert 

Zu  Neapolis  hatte  sich  der  gemeine  Mann  /  wegen  einiger  Auffla- 
gen  /  eine  Zeit  hero  sehr  schwuerig  erzeiget  /  Worvon  selbiger 
Vice-Re  der  Koniglichen  Regentin  Nachricht  gegeben:  Worauf  selbige 
verordnet  /  dafi  gedachte  Beschwerniisse  /  so  viel  moglich  /  gemil- 
tert  /  und  die  Gemeine  verschonet  werden  mochte.  Und  weil  unter- 
schiedliche  abgedanckte  Of  Heir  er  grofie  Gagen  und  Geld-Summen 
wegnehmen  /  und  doch  nichts  darvor  thaeten  /  so  solte  hinfuro  solche 
Geldspildung  /  anderst  erwehnten  Officirern  nichts  mehr  gezahlet  und 
gegeben  werden, 

Continuatio  XIX.  Diarii  Europaei  etc.  oder  tdgliche  Geschichts- 

erzehlung    Zwanzigster    Theil    etc.      Frankfurt    am    Mayn      Im 

Jahre  1670.     (Seite  578.     Anno  1669  Julius.) 

17 


Vier  Jahre  ohne  Sittenpolizei  von  Herbert  Fnchs 

rjas  Gesetz  zur  Bekampfung  der  Gcschlechtskrankheiten  gehort  zu 
*^  den  Gesetzen  des  Deutschen  Reichs,  die  das  starkste  Interesse 
wachgerufen  haben.  Es  greift  in  dasjenige  Gebiet  unsrer  Individuali- 
ty auf  dem  wir  gegeniiber  staatlichen  Eingriffen  am  empfindlichsten 
sind,  in  die  Bestimmung  iiber  unsern  Korper. 

Trotz  der  Erkenntnis,  welcbe  Gefahr  grade  diese  Krankheiten  ftir 
die  Gesundheit  unsres  Volkes  bilden,  war  es  bis  zum  Kriegsende  nicht 
gelungent  eine  reichsrechtliche  Regelung  der  Bestimmungen  zur  Be- 
kampfung der  Geschlechtskrankheiten  durchzufiihren.  Lediglich  ftir 
weibliche  Prostituierte  bestanden  landesrechtliche  Bestimmungen,  die 
zum  Beispiel  eine  polizeiliche  Kontrolle  sowie  Zwangsbehandlung  bei 
Erkrankung  zulieBen.  Mit  der  Demobilmachung  des  Heeres  erhob 
sich  drohend  die  Gefahr,  dafi  nunmehr  eine  groBe  Masse  von  Sol- 
daten,  die  hygienisch  und  sanitar  ungenugend  versorgt  gewesen  sind 
und  unter  denen  ein  besonders  hoher  Prozentsatz  von  Geschlechts- 
kranken  zu  befurchten  war,  das  Land  uberfluten  wiirde.  Gleichzeitig 
bot  die  durch  die  Staatsumwalzung  geschaffene  staatsrechtliche  Lage 
die  Moglichkeit  einer  reichsrechtlichen  Regelung  der  einschlagigen 
Verhaltnisse  im  Verordnungswege  unter  Umgehung  aller  parlamen- 
tarischen  Schwierigkeiten.  Daher  zogerte  auch  der  Rat  der  Volks- 
beauftragten  nicht,  schon  am  11,  Dezember  1918  eine  Verordnung  zur 
Bekampfung  der-  Geschlechtskrankheiten  zu  erlassen,  die  bereits  die 
hauptsachlichsten  Grundsatze  des  nunmehr  seit  vier  Jahren,  seit  dem 
1.  Oktober  1927  in  Geltung  befindlichen  Reichsgesetzes  zur  Be- 
kampfung der  Geschlechtskrankheiten  enthielt.  Der  erste  Teil  dieses 
neuen  Gesetzes  behandelt  die  unmittelbar  der  Bekampfung  der  Ge- 
schlechtskrankheiten dienenden  Vorschriften;  der  zweite  Teil  bringt 
eine  Anderung  der  bisherigen  gesetzlichen  Bestimmungen  iiber  Kuppe- 
lei  und  Prostitution. 


Den  Kernpunkt  des  ersten  Teiles  bildet  die  jedem  Kranken  auf- 
erlegte  Pflicht,  seine  Geschlechtskrankheit  arztlich  behandeln  zu 
lassen,  Diese  Behandlungspflicht  trifft  nicht  nur  den  Kranken  selbst, 
sondern  auch  Eltern,  Vormtinder  und  sonstige  Erziehungsberechtigte 
gegeniiber  ihren  minder jahrigen  geschlechtskranken  Pflegebefohlenen. 
Die  Behandlung  Minderbemittelter,  die  keinen  Versicherungsanspruch 
haben  oder  denen  die  Behandlung  durch  eine  Versicherung  wirt- 
schaftliche  Nachteile  bringen  konnte,  erfolgt  aus  offentlichen  Mitteln. 
Art  und  Dauer  der  Behandlung  sind  grundsatzlich  in  die  Hande  des 
Arztes  gelegt.  Hinter  ibm  steht  die  offentliche  Gesundheitsbehorde, 
die  die  Durchfiihrung  der  gesetzlichen  Bestimmungen  zu  tiberwachen 
hat.  Diese  Behorde  kann  Personen,  die  dringend  verdachtig  sind,  ge- 
schlechtskrank  zu  sein  und  die  Geschlechtskrankheit  weiter  zu  ver- 
breiten,  anhalten,  uber  ihren  Gesundheitszustand  ein  arztliches  Zeug- 
nis  beizubringen,  eventuell  sich  auch  der  Untersuchung  durch  einen 
von  der  Gesundheitsbehorde  benannten  Arzt  zu  unterziehen.  Auch 
konnen  geschlechtskranke  Personen,  die  der  weitern  Verbreitung 
verdachtig  sind,  einer  Heilbehandlung  unterworfen  und  in  einem 
Kfankenhause  untergebracht  werden.  Zur  Durchfiihrung  dieser  MaB- 
nahmen  darf  sich  die  Gesundheitsbehorde,  falls  gutliche  Einwirkung 
vergeblich  ist,  des  unmittelbaren  Zwanges  bedienen.  Anonyme  An- 
zeigen  sind  grundsatzlich  unbeachtet  zu  lassen;  namentliche  Anzeigen 
diirfen  erst  dann  verfolgt  werden,  wenn  eine  personliche  Vernehmung 
des  Anzeigenden  Anhaltspunkte  fur  die  Richtigkeit  seiner  Behauptun- 
gen  ergeben  hat.  Man  hatte  erwartet,  daB  grade  aus  den  Reihen  der 
Arzteschaft  zahlreiche  Anzeigen  erstattet  werden  wiirden.   Das  Gegen- 

18 


teil  ist  der  Fall:  sehr  selten  geht  von  einem  Arztc  cine  Meldung  ein; 
die  Mitteilungen  stammen  fast  ausschliefilich  aus  den  stadtischen  Be- 
ratungsstellen  und  den  Krankenhausern. 

Eine  der  wichtigsten  Bestimmungen  des  ersten  Teils  ist  das  Ver- 
bot  der  Laienbehandlung,  die  im  Jahre  1869  durch  die  Gewerbeord- 
nung  als  sogenannte  Kurierfreiheit  eingefuhrt  wurde.  Die  Behand- 
lung  aller  Leiden  und  Krankheiten  der  Geschlechtsorgane  —  nicht  nur 
der  spezif  ischen  Geschlechtskrankheiten  —  im  Deutschen  Reiche  wird 
danach  nur  einem  approbierten  Arzt  gestattet.  Verboten  ist  ferner 
die  sogenannte  Fernbehandlung  sowie  die  Erteilung  von  Ratschlagen 
zur  Selbstbehandlung.  Aus  Grunden  des  allgemeinen  Volkswohls  ent- 
halt  das  Gesetz  die  Durchbrechung  eines  wichtigen  reichsrechtlichen 
Grundsatzes:  namlich  der  unbedingten  arztlichen  Schweigepflicht.  Der 
behandelnde  Arzt  wlrd  verpflichtet,  von  einer  ansteckenden  Ge- 
schlechtskrankbeit  der  Gesundheitsbehdrde  dann  sofort  Anzeige  zu 
erstatten,  wenn  der  Kranke  sich  der  arztlichen  Behandlung  oder  Be- 
obachtung  entzieht  oder  durch  sein  Verhalten  Andre  besonders  ge- 
f  ahrdet.  Aus  dem  gleichen  Grunde  ist  der  Arzt  berechtigt,  von  der 
Erkrankung  solchen  Personen  Kenntnis  zu  geben,  die  ein  berechtigtes 
gesundheitliches  Interesse  an  dieser  Kenntnis  haben,  der  Verlobten 
oder  ihren  Angehorigen  von  der  geschlechtlichen  Erkrankung  des 
Brautigams.  Die  Ausstellung  und  Anpreisung  von  Schutzmitteln 
gegen  Geschlechtskrankheiten  ist  in  dem  Gesetz  nur  dann  noch  ver- 
boten, wenn  sie  in  einer  Sitte  und  Anstand  verletzenden  Weise  erfolgt, 

Neben  den  amtlichen  Gesundheitsbehorden  sind  unter  der  Gel- 
tung  des  neuen  Gesetzes  bereits  zahlreiche  stadtische  Beratungsstellen 
ins  Leben  getreten,  die  in  Berlin  zumeist  auch  gleichzeitig  mit  Be- 
handlungsstellen  verbunden  sind.  Hier  wird  alien  Kranken,  die  nicht 
einen  freitatigen  Arzt  aufsuchen  wollen  oder  konnen,  Gelegenheit  ge- 
geben;  sich  kostenlos  beraten  und  erforderlichenfalls  auch  behandeln 
zu  lassen,  ohne  da 6  jemand  gezwungen  wird,  seinen  Namen  zu  nennen. 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  die  Strafbestimmungen  des  neuen 
Gesetzes:  Danach  wird  mit  Gefangnis  bis  zu  drei  Jahren  derjenige  be- 
straft,  der  den  Beischlaf  ausiibt,  obwohl  er  an  einer  mit  Ansteckungs- 
gefahr  verbundenen  Geschlechtskrankheit  leidet  und  dies  weiB  oder 
den  Umstanden  nach  annehmen  muB.  Die  gleiche  Strafe  trifft  den, 
der  weiB  oder  annehmen  muC,  dafi  er  an  einer  solchen  Krankheit 
leidet  und  trotzdem  eine  Ehe  eingeht,  ohne  dem  andern  Teil  vor- 
her  davon  Mitteilung  gemacht  zu  haben.  Ferner  werden  geschlechts- 
kranke  weibliche  Personen  bestraft,  die  in  Kenntnis  ihrer  Krankheit 
ein  fremdes  Kind  stillen;  Fursorgeberechtigte  eines  syphilitischen  * 
Kindes,  die  in  Kenntnis  der  Krankheit  das  Kind  von  einer  andern 
Person  als  der  Mutter  stillen  lassen;  und  endlich  derjenige,  der  ein 
geschlechtskrankes  Kind  in  Pflege  gibt,  ohne  den  Pflegeeltern  von  der 
Krankheit  Mitteilung  gemacht  zu  haben.  Straflos  aber  bleibt  eine 
syphilitische  Person,  wenn  sie  ein  syphilitisches  Kind  stillt,  oder 
jemand,   der   ein  solches   durch  eine  syphilitische   Person   stillen  laBt. 


Nur  in  lockerem  Zusammenhange  mit  den  bisher  erwahnten  Be- 
stimmungen  des  Gesetzes  steht  der  zweite  Teil,  der  insbesondere  der 
Reglementierung  und  Kasernierung  der  Prostitution  ein  Ende  bereitet 
hat.  Bis  dahin  bestand  bekanntlich  in  den  deutschen  Landern  eine 
sogenannte  Sittenpolizei,  das  heifit  ein  polizeiliches  Kontrollsystem, 
auf  Grund  dessen  die  Prostituierten  in  Listen  gefuhrt,  einer  regel- 
maBigen  arztlichen  Untersuchung  unterworfen  wurden  und  ihnen  der 
Aufenthalt  in  bestimmten  Stadtvierteln  verboten,  oft  sogar  das  Woh- 
nen  in  bestimmten  StraBen  vorgeschrieben  war.  Diese  Regelung  hatte 
vollkommen  versagt,  da  sich  besonders  in  den  Grofistadten  trotz  alien 

19 


Stratandrohungen   nur   ein  ganz  geringer   Tcil   der  Prostituierten   der 
sittenpolizeilichen  Kontrolle   unterstellt  hatte. 

Die  Ausiibung  der  Gewerbsunzucht  ist  jetzt  grundsatzlich  straf- 
frci  und  nur  die  Gefahrdung  der  offentlichen  Sittlichkeit  —  und  zwar 
auch  durch  mannliche  Prostituierte  —  wird  unter  Strafe  gestellt.  Aus- 
drucklich  untersagt  ist  die  Ausiibung  der  Prostitution  nur  an  solchen 
Orten,  die  besonders  dem  Aufenthalt  Jugendlicher  dienen.  Der  Bc- 
trieb  eines  Bordells  bleibt  nach  wie  vor  strafbar,  mag  es  auch  poli- 
zeilich  geduldet  und  kontrolliert  sein.  Dagegen  wird  die  Zimmer~ 
vermietung  an  Prostituierte  uber  18  Jahre  nur  dann  noch  als  Kuppelei 
bestraft,  wenn  damit  ein  Anhalten,  Anwerben  oder  Ausbeuten  de<- 
Prostituierten  verbunden  ist. 


Obwohl  das  neue  Gesetz  beute  bereits  vier  Jahre  in  Kraft  ist,  lafit 
sich  Genaueres  oder  gar  AbschlieBendes  uber  seine  Auswirkung  noch 
nicht  sagen.  Das  liegt  an  der  Besonderheit  der  von  ihm  erfaBten 
Krankheiten,  die  zahlreiche  von  ihnen  Betroffene  selbst  vor  Arzten 
und  Behorden  zu  verbergen  suchen.  Nach  dem  Urteil  der  berliner 
stadtischen  Beratungsstellen  ist  unter  der  Geltungsdauer  des  neuen 
Gesetzes  die  Syphilis  sehr  erhebiich  zurtickgegangen,  wahrend  die 
Trippererkrankungen  eher  eine  Zunahme  aufweisen.  Gegen  den  Fort- 
bestand  des  kriminellen  Ansteckungsparagraphen,  der,  wie  erwahnt, 
Gefangnis  bis  zu  drei  Jahren  demjenigen  androht,  der  den  Beischlaf 
ausiibt,  obwohl  er  an  einer  mit  Ansteckungsgefahr  verbundenen  Ge- 
schlechtskrankheit  leidet  und  dies  weiB  oder  den  Umstanden  nach 
annehmen  muB,  miissen  nach  wie  vor  die  schwerwiegendsten  Bedenken 
erhoben  werden.  Die  bisherige  dreijahrige  Erfahrung  mit  dem  neuea 
Gesetz  hat  den  Warnern  vollauf  Recht  ge^eben.  Das  Hauptbedenkea 
richtete  sich  gegen  das  ungeheure  Anwendungsgebiet  und  den  begriff- 
lich  auBerordentlich  weiten  Rahmen  dieser  Strafgesetznorm.  Der 
Gesetz  geber  hatte  sicherlich  zu  sehr  an  die  mit  augenfalligen  auBeren 
Krankheitserscheinungen  behafteten  Personen  und  zu  wenig  an  die  ge- 
waltig  groBe  Anzahl  symptomfreier  Inf izierter  gedacht,  die  nach  einern 
kurzen  schmerzlosen  Primaraffekt  niemals  mehr  unter  irgendwelchen 
merkbaren  Sekundarerscheinungen  zu  leiden  batten,  gleichwohl  aber 
—  nach  der  herrschenden  medizinischen  Meinung  —  noch  jahrelang 
Ansteckungsmoglichkeiten  in  sich  tragen,  Wie  von  vornherein  be- 
fiirchtet,  wird  nun  auf  Grund  jener  Sonderstrafnorm  grade  diese  Art 
symptomfreier  K ranker,  obwohl  sie  am  wenigsten  gefahrlich  sind  und 
Krankheitsstoffe  gar  nicht  iibertragen,  zur  Anzeige  gebracht,  da  sie 
nicht  wie  die  floriden  Syphilitiker  ihren  Zustand  angstlich  ver- 
bergen, vielmehr  aus  ihrer  fruhern  Erkrankung  gar  kein  Hehl 
machen,  Wird  auch  diesen  symptomfreien  Kranken  im  Einzelfalle 
nur  schwer  nachgewiesen  werden  konnen,  daB  sie  Kenntnis  von  ihrem 
Zustand  haben,  so  hat  sich  doch  dieser  beriichtigte  Ansteckungs- 
paragraph  —  wie  bekannte  Juristen  mit  Sicherheit  vorausgesagt 
hatten  —  gegenuber  Zehntausenden  sich  gesund  ftihlender  Menschen, 
denen  die  Willenskraft  fehltf  sich  jahrelang  nach  erfolgter  Ansteckung 
jeglichen  Geschlechtsverkehrs  zu  enthalten,  zu  einem  der  gefahrlich- 
sten  Belastigungsmittel  entwickelt,  das  auch , —  da  die  Verfolgung  nur 
auf  Antrag  eintritt,  der  in  gewissen  Fallen  sogar  zuruckgenommen 
werden  kann  —  zu  Erpressungen  reichlich  ausgenutzt  werden  diirfte. 

Hoffentlich  wird  es  gelingen,  diese  Sonderstrafschutznorm  gegen 
geschlechtliche  Infektion  wieder  zu  Fall  zu  bringen,  sobald  das  in 
Vorbereitung  begriffene  neue  deutsche  Reichsstrafgesetzbuch  mit  den 
beabsichtigten  erweiterten  Kdrperverletzungsparagraphen  in  Kraft 
getreten   sein  wird. 

20 


SdiailfenSter  von  Alice  Ekert-Rothholz 

Q  chauf enster   sind   des  wegen   so    beliebt 

weil  man  da  so  schon  sieht,  was  es  alles  noch  gibt. 
Man   ist   doch  neugierig  —   immerhin! 
Ansehn  kost   ja  nischtf  — 
Und  so  ziehn   denn  auch   die  Berliner   hin 
und   besehn  zwischen  Scheinwerfern,   Krach  und  Benzin 

die  Schaufenster,   die  Schaufenster 
der   schonen  Stadt  Berlin. 

Da  steht  nun  die   Industrie  hinter  Glas 

und  schmiickt  auch  den  Laden  und  wartet  sich  was. 

Kochtopfe  aus  Silber,   deutsche  Taschen  aus  Wien  — 

Ansehn  kost   ja  nischt! 
Alle  Wachsdamen  heulen  bereits   Glyzerin ... 
Fur  wen  pflanzt  man  bloB  diese  Stilleben  hin? 

in  die  Schaufenster,  in  die  Schaufenster 
der   komischen  Stadt  Berlin. 

Das  Silber  glanzt  wie  ein  polierter  Stern. 
Und  der  bessere  Herr  spricht  zu  dem  schlechteren  Herrn: 
„Vorm  Krieg  kauft  ich  auch  mal  sonen  Silberpokal; 
Kultur  kostete  nischt...!" 
Undl  der  schlechtere  Herr  spricht   leis  vor  sich  hin; 
flIhr   Silberpokal   . . .   der  kann  raich  mal." 

.Vor  den  Schaufenstern,  vor  den  Schaufenstern 
der  armen  Stadt  Berlin. 

links  das  Schaufenster  zeigt  fette  Ganse  und  Mut. 

Plakat;  „Spart  fur  die  Weihnachtsgans!     Gans  schmeckt  gut." 

Und  der  kleinere  Mann  spricht  zu  dem  kleinen  Mann; 

nSparen  is  jut!  —  Und  Jans  is  ooch  jut." 
Doch  jener  spricht  traumerisch  vor  sich  hin: 

t,Wenn  ick  noch  lange  die  Jans  seh ...  is  det  valleicht  nich  jut 
fur  die  Schaufenster,  fur  die  Schaufenster 
der   hungrigen    Stadt    Berlin ..." 

So  schimmeln,  beleuchtet  von  mehreren  Seiten, 
alle   burgerlichen  Behaglichkeiten; 
Konfekt.     Autos.     Romane.     Kakteen.     Perserbriicke. 
Lauter  nagelneue  Museumsstucke: 
Ansehn  kost  ja  nischtf  — 
Merkt:    „Die   Dame  tragt  diese   Saison  Hermelin". 

Aber  nur  in  den  Schaufenstern,  Mensch!  — 

In  den  Schaufenstern 
der    frierenden  Stadt   Berlin. 

Diese  Schaufenster  mit  ihren  schonen  und  ntitzlichen  Sachen 
konnen  alles  —  bloB  nicht  Geschafte  machen. 

Ansehn  ntitzt  ja  nischt. 
Komisch,  je  langer  man  reinsieht,  um  so  mehr  kommt  man  drauf: 
Fruher  regte  das  an.     Und  heut  regt  uns  das  auf. 

21 


Das  Kronprinzenpalais  in  Oslo  von  Adoii  Behne 

1st    der    Kritiker    verpflichtet,    freiwillig    einen    Maulkorb    an- 
zulegen? 

Seit  langerer  Zeit,  namlich  seit  der  Munch-Ausstellung, 
ist  unsrc  moderne  Galerie  eingeladen,  die  neucre  deutsche 
Kunst  in  Oslo  zu  zeigen-  Am  8,  Januar  wird  die  von  Doktor 
Thormahlen,  dem  ersten  Assistenten  Justis,  besorgte  Ausstel- 
lung  in  Oslo  er  off  net  werden.  . 

Die-  Sammlung  des  Materials  gesohah  in  einiger  Heimlich- 
keit.  AIs  ich  den  Wunsch  aufierte,  das  Material  vor  der  Aus- 
reise  zu  sehen,  wurde  das  zunachst  verweigert:  das  Auswartige 
Amt  wiinsche  nicht,  daB  die  Kollektion  vorher  gezeigt  werde. 
Auf  Anfrage  Jbeim  Auswartigen  Amt  wurde  mir  die  Besichti- 
gung  zugestanden,  doch  nahegelegt,  nicht  vor  erfolgter  Eroff- 
nung  in  Oslo  kritisch  zu  dem  Gesehenen  Stellung  zu  nchmen, 
Ein,  zwei  Tage  darauf  erschien  die  erste  petit  gesetzte  Notiz 
in  den  Zeitungen:  „Im  Jahre  1932"  werde  eine  deutsche  Kunst- 
ausstellung  in  Oslo  zu  sehen  sein.  Die  Angabe  ,,im  Jahre 
1932"  ist  eine  sehr  korrekte  Verschleierung  der  Tatsache,  daB 
die  Eroffnung  schon  in  vierzehn  Tagen  stattfinden  wird. 

Da  ich  der  Ausstellung  glaubte  mit  einigem  MiBtrauen 
begegnen  zu  miissen,  suchte  ich  die  Herren  Justi  und  Thor- 
mahlen auf,  bespfach  mit  ihnen  offen  meine  Befiirchtungen  und 
Einwande  und  nahm  das  Versprechen  mit  mir,  daB  ich  recht- 
zeitig  zu  einer  Besichtigung  des  Materials  schriftlich  wurde 
eingeladen  werden.  Am  Montag  darauf  waren  denn:  auch 
einige  prominente  Herren  auf  schriftliche  Einladung  im  Kron- 
prinzenpalais erschienen,  was  ich  hinterher  erfuhr:  ich  hatte 
namlich  keine  Einladung  erhalten.  AIs  Grund  wurde  angege- 
ben;  da  ich,  eine  bindende  Zusage,  bis  zur  Eroffnung  in  Oslo 
unter  alien  Umstanden  zu  schweigen,  nicht  gegeben  hatte, 
konnte  ich  nicht  eingeladen  werden.  Tatsachlich  haben  alle 
eingeladenen  Herren  votf  Oberschreiten  der  Schwelle  eine 
solche  Zusage  unterschreiben  mussen.  Tatsachlich  wiirde  ich 
mich  igeweigert  haben,  dies  zu  tun.  Aber  man  scheint 
einige  Sorge  gehabt  zu  haben,  daB  ich  vielleicht  doch  unter- 
schreiben und  damit  das  Material  zu  Gesicht  bekommen 
kfinnte, 

Jed'enfalls  habe  ich  durch  die  Sorge  des  Herrn  Thor- 
mahlen meine  Handlungsfreiheit,  und  ich  Werde  sie  ge- 
brauchen. 

Warum  ist  die  ganze  Sache  wichtig? 

Nicht  so  sehr  der  Einwohner  Oslos  und  selbst  nicht  jener 
Kiinstler  wegen,  die  auch  in  Oslo  fehlen  mussen,  weil  sie  nun 
mal  fur  das  Kronprinzenpalais  nicht  existieren,  obwphl  es 
schon  eine  glatte  *  Ungerechtigkeit  ist,  den  besten  jiingern 
Munchener,  Johannes  Scharl,  zu  ubergehen  zugunsten  irgend- 
welcher  Lokalhauptlmge,  oder  Segal  und  Ehnsen  zu  iiber- 
gehen, wenn  man  Schrimpf  und  Pilartz  zeigt.  Nein,  nicht 
das  ist  die  Hauptsache.    Das  Kronprinzenpalais  hat  lange  Jahre 

22 


gebraucht,  bis  es  iiber  den  1(Brucke"-Kreis  hinauszusehen 
lernte;  man  kann  nicht  verlangen,  daB  es  schon  wieder  den 
Gesichtskreis  erweitere.  Es  heiBt  warten.  Der  fiinfundsiebzig- 
jahrige  prachtvolle  Adolf  Holzel  existiert  ja  auch  noch  nicht 
fur   Justi.  '  * 

Das  Entscheidende  ist1  daB  hier  eine  bestimmte  einseitige 
Auslese  amtlich  als  ,,die"  deutsche  Moderne  mit  geheimrat- 
licher  Macht  und  umsichtig-geschickter  Diplomatie  im  Aus- 
land'e  propagiert  wird,  eine  deutsche  Auslese,  die  sehr  koinst- 
Hch  auf  eine  stilistische  Einheitslinie  des  ,,Nordischen",  des 
,,Unwelschen"  gebracht  und  in  der  nach  Moglichkeit  das  so- 
2iale  und  das  konstruktive  Element  zuruckgedrangt  ist. 

Die  moderne  deutsche  Kunst  in  Oslo  bringt  kein  Bild1  von 
Liebermann.  Ich  halte  das  fur  eine  glatte  Unmoglichkeit.  Man 
mag  zut  Erklarung  viele  schone,  klug  zurechtgelegte  Griinde 
anfiihren:  die  Wirkung  kann  nur  die  eines  demonstrativen 
Affronts  sein.  Justi  sagt:  er  zeige  ja  auch  Corinth  nicht.  Nun, 
erstens  ware  es  sehr  schon,  wenn  er  Corinth  zeigte, 
ich  halte  es  sogar  fur  eminent  wichtig,  ihn  zu  zeigen.  Zwei- 
tens  aber  ist  Corinth  nicht  dter  amtierende  President  der  ber- 
liner  Akademie,  der  als  Kiinstler  im  Auslande  ungewohnlich 
angesehen  ist*  Diesen  wegzulassen,  kann  nur  als  Demonstra- 
tion aufgefaBt  werden. 

Ich  bin  wohl  alles  eher  als  ein  Parteiganger  Liebermanns. 
Das  diirf te  bekannt  genug  sein.  Justi  mag  iiber  manche  Schwie- 
rigkeiten,  die  ihm  vom  Pariser  Platz  aus  bereitet  werden,  mit 
Recht  verargert  sein.  Aber  wir  wollen  nicht  zwei  verschie- 
dene  afntliche  Ausgaben  deutscher  Moderne  —  bloB  weil  zwei 
Geheimrate,  zwei  Ressorts  miteinander  verkracht  sind. 

Es  ist  eine  Unmoglichkeit,  daB  die  PreuBische  Galerie 
den  Prasidenten  der  PreuBischen  Akademie,  wenn  er  ein 
Kiinstler  vom  Range  und  von  den  Verdiensten  Liebermanns 
ist,  in  einer  Ausstellung  moderner  deutscher  Kunst  im  Aus- 
lande auslaBt . . .  urn  so  unmoglicher,  als  ja  Justi  selbst,  als 
er  das  Kronprinzenpalais  einrichtete,  Liebermann  zu  den  „Jun- 
gen"  in  das  neue  Haus  heriibernahm. 

Zur  Erklarung  sagt  Justi:  nDie  Herren  aus  Oslo  haben 
sich  eine  ganz  bestimmte  Gruppe  von  deutschen  Kiinstlern  er- 
beten".  Ja,  dann  hatten  sich  die  Herren  aus  Oslo  an,  einen 
privaten  Sammler  oder  an  einen  Handler  wenden  sollen.  Aber 
die  Staatliche  Galerie  ist  nicht  dazu  da,  einseitige  Wunsche 
noch  so  prominenter  Herren  zu  erfiillen,  auch  nicht,  wenn 
Edvard  Munch  ihr  Wortfuhrer  ist.  Ich  kann  mir  auch  nicht 
recht  denken,  daB  Munch  gewunscht  haben  konnte,  Lieber- 
mann auszulassen,  denn  schlieBlich  dankt  er  es  der  Lieber- 
mannschen  Sezession,  daB  er  in  Deutschland  bekannt  wurde. 
Die  Galerie  hatte  ja  auch  sicher  Wunsche  abgelehnt,  die  sich 
nicht  so  nett  wie  die  Wunsche  aus  Oslo  mit  den  eignen  Wiin- 
schen  deckten.  Edvard  Munch  ist  tins  jederzeit  willkommen, 
aber  als  Schirmherrn  einer  deutsch-nordischen  Moderne 
brauchen  wir  ihn  nicht. 

23 


Wenn  man  aber  in  Oslo  aus  ,,stilistischen"  Griinden  nur 
die  Nach-Liebermannsche  Generation  zeigen  wollte,  so  ware 
es  eine  noble  Geste  gewesen,  Liebermann  zu  einem  kurzen 
Vorspruch  im  Katalog  aufzufordern,  mit  dem  er  diese  Jiingern, 
die  ja  fast  alle,  zu  seiner  Freud'e  oder  nicht,  Mitglieder  seiner 
Akademie  sind,  in  Oslo  vorgestellt  hatte.  Das  hatte  in  Oslo 
gewiB  sympathisch  gewirkt  . . .  urn  so  mehr,  als  das  Aiisland 
oft  gentig  mit  Erstaunen  einie  neue  antisemitische  Welle  in 
Deutschland  konstatiert  und  man  aus  dem  Fehlen  Liebermanns 
in  Oslo  vielleicht  fiir  uns  peinliche  Schliisse  ziehen  konnte. 

Ober  das  Nordische  noch  ein  offenes  Wort;  Es  besteht 
hier  und  da  bei  uns  eine  Neigung,  die  Kunst  der  Nolde, 
Schmidt-Rottluff,  Kirchner,  Kokoschka  fiir  ndeutsch"  in  einem 
besondern  und  hohern  Sinne  zu  halten.  Ich  brauche  wohl 
nicht  immer  wieder  zu  betonen,  wie  hoch  ich  die 
Kunst  dieser  Manner  schatze.  Schulze-Naumburg  hat  sie  als 
degenerierte  Untermenschen  beschimpft,  der  ,Angriff'  hat  sie 
kiirzlich  als  Kiinstler  des  Dritten  Reiches  gefeiert,  was  wohl 
den  Gefeierten  sehr  peinlich  war,  Aber  auBer  dem  unbekann- 
ten  Autor  des  .Angriffs',  dessen  Begeisterung  schnell  zuriick- 
gepfiffen  wurd'e,  gibt  es  eine  Gruppe  von  Freunden  der  Mo- 
derne,  die,  viel  zu  klug,  urn  in  teutonische  Heilrufe  auszu- 
brechen  tind  die  Grenzen  der  Kunst  zu  sperren,  doch  sozu- 
sagen  feine  Gradunterschiede  des  HDeutschen"  und  des  „Nor- 
dischen"  vornehmen.  Aber  wir  sollten  in  diesen  Dingen  doch 
recht  vorsichtig  sein  und  nicht  die  Mittel  mit  der  Sache  ver- 
wechseln.  Der  kame  auf  sehr  unsichern  Boden,  der  einen 
Nolde  fur  „deutscher"  halten  wollte  als  einen  Liebermann. 
Wen  er  kiinstlerisch  mehr  liebt,  hoherstellt;  seine  Sache.  Aber 
das  nationale  Argument  sollten  wir  beim  Urteilen  lieber  aus 
dem  Spiele  lassen.  1st  Hans  Thoma  deutscher  als  Hans  von 
Marees?  Und  bemerken  wir  nicht  in  dien  Arbeiten  der  besten 
Europaer  zunehmend  eine  letzte  Verwandtschaft,  die  mit  „Ein- 
fliissen"  im  banalen  Sinne  gar  nicht s  mehr  zu  tun  hat,  eine 
geistige  Einheit,  die  uns  sehr  begliicken  so  lite , . .  bei  dem 
Amerikaner  Feininger,  dem  Spanier  Picasso,  dem  Schweizer 
Klee,  dem  Russen  Kandinsky,  dem  Deutschen  Nolde? 

Es  ist  das  gute  Recht  der  Wissenschaft,  die  spezifischen 
Mittel  der  Kunst  auch  auf  ihre  nationale  Determiniertheit  hin 
zu  untersuchen;  aber  wir  sollten  uns  huten,  durch  falsche 
SchluBfolgerungen  nun  auch  noch  die  Kunst  in  Autarkien  zu 
zerfetzen. 

Und  warum  warte  ich  mit  dieser  Kritik  nicht  bis  nach 
der  Eroffnung  der  Ausstellung  in  Oslo?  Ich  weifi,  dafl  ich  die 
Ausstelkmg  auf  keinen  Fall  mehr  andern  kann.  Aber  wenn 
ich  bemerken  muB(  daB  trotz  meines  loyalen  Versuchs  einer 
Verstandigung  die  geheimratlichen  Mittel  des  bureaukratischen 
Apparats  mobil  gemacht  und  Zusagen  nicht  eingehalten  wer- 
den,  ware  freiwil'lige  Benutzung  des  amtlichen  Maulkorbs 
wiirdelos. 


24 


Ein  Brief  von  Rainer  Maria  Rilke 

Der  folgende  Brief  Rainer  Maria  Rilkes,  aus  Anlafi  seines 
fiinften  Todestages  hier  zum  erstemnal  veroffentlicht,  bezieht  sich 
auf  eine  feindselige  Zeitungsrezension  iibcr  eine  Vorlesung  aus 
Gedichten,  Seine  Worte  gegen  die  Haltung  solcher  Presse- 
kritiken  haben  eine  fur  ihn  ungewohnliche  Scharfe.  Der  Brief 
weist  auf  eine  Zeit  zuruck,  als  ein  Dichter  die  Dichtung  noch 
ernst  nahm,  Freilich  ist  Rilke  uberhaupt  das  starkste  Vorbild 
musischer  Verantwortung,  —  und  es  zeigt  die  vornehme  Ein- 
dringlichkeit  seiner  Kunstanteilnahme,  wie  er  hier  mit  fast 
chinesisch  anmutender  Hoflichkeit  doch  grade  bei  Gelegenheit 
des  Zeitungsangriffs  auch  seine  eigne  Kritik  an  den  Gedichten 
laut  werden  lafit.  Alfred  Wolfenstein 

Miinchen,   am  26.  April  1918. 

Mem  liebcr  Herr  Wolfenstein, 
Sie  wissen,  daB  die  Presse  nie  ein  Gestandnis  ihres  Un- 
vermogens  ablegt,  ohne  sich  zugleich  wortlich  und  bosartig 
ins  Recht  zu  setzen.  Die  Notiz  in  -der  ,M.  Z/  hat  mich  nicht 
uberrascht;  daB  sie  verlogen  ist,  macht  sie  <ja  nur  um  so  raehr 
zu  einem  Muster  ihrer  argen  Art.  Sie  ist  es,  denn  ich  habe 
in  meiner  Nahe  relativ  viel  Auffassung  und  Verstandnis  mer- 
ken  konnen,  Eine  zuverlassigere  Verbindung  ware  tatsachlich 
nur  auf  Grund  einer  gewissen  Vorbereitung  herzustellen;  Sie 
unterschatzen,  weil  sie  Ihnen  natiirlich  ist,  die  auBerordent- 
liche  Neuheit  Ihrer  Formung.  Die  Zuhorer,  auch  die  geubte- 
ren,  sind  gewohnt,  innerhalb  der  Dichtungen,  die  ihnen  ge- 
6racht  werden,  immer  wieder  einen  Punkt  der  Vereinbarung 
zu  finden,  wahrend  Ihr  Gedicht  ganz  und  gar  in  der  Gefiihls- 
Obersetzung  bleibt  und  innerhalb  ihrer  jeden  Augenblick  be- 
wegt  und  gewendet  ist.  Es  setzt  eine  unbeschreiblich  selb- 
standige  und  zugleich  unterworfene  Aufmerksamkeit  voraus, 
ich  kann  nur  wiederholen,  es  stellt,  vorgelesen,  auch  an  mich 
die  schwersten  Anforderungen.  Ganz  wirksam  wiirde  es  nur 
gegen  ein  Publikum,  das  bemuht  und  rein  aufnehmend  ware, 
nicht,  wie  das  unsre,  miiBig  und  kritisch;  und  dieses  ideale 
Publikum  miiBte  das  Recht  haiben,  sich  ein  Gedicht  fiinf-, 
sechsmal  wiederholen  zu  lassen. 

Bei  aller  dieser  Schwierigkeit  stehe  ich  iiberzeugt  auf  der 
Seite  Ihres  Gedichts,  welches  nur  ausnahmsweise  schwieriger 
istt  als  das  seine  Natur  und  unser  Mangel  an  Geistesgegen- 
wartigkeit  mit  sich  bringt.  Seine  Schwierigkeit  liegt  d'ann 
©ben  in  der  Neuheit  des  Gebildes,  und  Sie  mogen  an  ihr  nur 
insoweit  Schuld  tragen,  als  Sie  gewisse,  eben  erst  durch- 
gesetzte  Fbrmungen  gleich  mit  dem  Anspruch  bringen,  all- 
gemein   und  gewisserrriaBen   forensisch  wirksam   zu  sein, 

Hier  darf  ich  vielleicht  ein  Bedenken  aussprechen,  das 
ich  zuweilen  bei  Gedichten  im  Buche  „Freundschaft"  und  bei 
einigen  anderen,  spateren,  aufkommen  fiihlte,  das  mir  aber 
erst  jetzt  mitteilbarer  sich  lormen  will.  Die  ttngemein  kiihne 
Art,  mit  der  Ihr  Gedicht  sich  seiner  Gegenstande  bemachtigt, 
war  in  der  Ausbildung  noch  nicht  vollig  abgeschlossen,  als 
ein  EntschluB  zur  unmittelbaren  Wirkung  und  eine  plotzliche 

25 


Wendung  nach  auBen  diese  innere  Beschaftigung  untenbrach, 
urn  sie,  sowie  sie  nun  grade  war,  in  die  lebhafteste  und  un- 
eigenniitzigste  Anwendung  zu  stellen.  Ich  bin  uberzeugt,  daB 
Sie  unter  alien  Umstanden  diesen  EntschluB  wiirden  gefaBt 
halben  und  daB  er  Ihnen  in  einem  hohen  Grade  gemaB  ist;  nur 
hat  der  Druck  unsrer  Zeit  diese  Umkehr,  wenn  man  so  sagen 
darf,  vielleicht  um  ein  Weniges  verfrtiht  und  ttm  eine  Spur 
heftiger  gemacht.  In  dieser  Doppelheit  Ihres  Gedichts,  wel- 
ches in  einem  Atem  ganz  neu  ist  und  ganz  angewendet,  uns 
zugewendet,  an  uns  weggegeben  sein  will  (vielleicht  noch  ehe 
es  Ihr  vollkommen  Errungenes  war)  — ,,  liegt  jenes  Mehr  von 
Schwierigkeit,  das  man  Ihnen  genau  genommen,  etwa  vor- 
werfen  konnte, 

Darf  ich  zum  SchluB  die  Bitte  hinschreiben,  gelegentlich 
(wenn  einmal  eine  iiberzahlige  da  ist]  eine  Abschrift  des 
Gedichtes  ,,Der  Tag"  zu  besitzen?  Es  wiirde  mir  Freude  be- 
reiten,  es  wieder  und  wieder  zu  lesen  und  es  mir  besser  an- 
zueignen.  Und  lassen  Sie  sich  dtirch  die  .Munchner  Zeitung* 
nichts  verbittern! 

Auf   das  Herzlichste 

Ihr  R.  M.  Rilke. 


Der  Floh  von  Peter  Panter 

jm  Departement  du  Gard  —  ganz  richtigf  da,  wo  Nimes  liegt 
und  der  Pont  du  Gard;  im  siidlichen  Frankreich  —  da  sa6 
in  einem  Postbureau  ein  alteres  Fraulein  als  Beamtin,  die 
hatte  eine  bose  Angewohnheit:  sie  machte  ein  biBchen  die 
Brief e  auf  und  las  sie.  Das  wuBte  alle  Welt.  Aber  wie  das 
so  in  Frankreich  geht:  Concierge,  Telephon  und  Post,  das  sind 
geheiligte  Institutionen,  und  daran  kann  man  schon  riihren, 
aber  daran  darf  man  nicht  riihren,  und  so  tut  es  denn  auch 
keiner. 

Das  Fraulein  also  las  die  Briefe  und  bereitete  mit  ihren  In- 
diskretionen  den  Leiiten  manchen  Kummer. 

Im  Departement  wohnte  auf  einem  schonen  Schlosse  ein 
kluger  Graf.  Grafen  sind  manchmal  klug,  in  Frankreich.  Und 
dieser  Graf  tat  eines  Tages  folgendes: 

Er  bestellte  sich  einen  Gerichtsvollzieher  auf  das  SchloB 
und   schrieb  in  seiner  Gegenwart  an   einen  Freund: 

Lieber  Freund! 
Da  ich  weiB,  daB  das  Postfraulein  Emilie  Dupont  dauernd 
unsre  Briefe   of fnet  und  sie  liest,  weil  sie  vor  lauter  Neugier 
platzt,   so   sende  ich  Dir  anliegend,  um  ihr  einmal   das  Hand- 
werk  zu  legen,  einen  lebendigen  Floh, 

Mit  vielen  schonen  GriiBen 

Graf  Koks 

Und  diesen  Brief  verschloB  er  in  Gegenwart  des  Gerichts^ 
vollziehers.     Er  legte  aber  keinen  Floh  hinein. 
Als  der  Brief  ankam,  war  einer  drin. 

26 


Berlin  Ulld  Prag  von  Bernhard  Citron 

Ceit  Friedrich  Naumanns  aus  der  Kriegsatmosphare  heraus 
geborenes  Buch  MMitteleuropa"  erschiencn  ist,  hat  diese 
Frage  vicle  Abwandlungen  erfahren.  Ein  preuBisch-oster- 
reichisches  Mitteleuropa  kann  es  nicht  mchr  geben.  Die  Fiih- 
rung  in  eiaem  Staatenblock,  der  sich  aus  den  ehemaligen 
Gliedern  der  habsburgischen  Monarchic  und  dem  Deutschen 
Reich  zusammensetzt,  wiirde  heute  oder  in  einer  nahen  Zu- 
kunft  Deutschland  und  der  Tschechoslowakei  zufallen.  Von 
dieser  allein  aber  diirfte  die  Initiative  zu  einem  derartigen 
Bunde  ausgehen,  Bemerkenswert  sind  die  Interviews,  die  in 
den  Weihnachtstagen  der  AuBenminister  der  tschechoslowa- 
kischen  Republik  Benesch  und  der  ungarische  Minister  presi- 
dent Karolyi  Pressevertretern  gewahrt  haben.  Ungarn,  dessen 
zeitweilige  Annaherung  an  Italien  vielleicht  militarische  aber 
niemals  finanzieile  Vorteile  gebracht  hat,  sucht  eine  Stiitze  bei 
der  Tschechoslowakei,  einem  der  wenigen  politisch  und  finan- 
ziell  gefestigten  Staatswesen  im  Herzen  Europas.  In  Oester- 
reich  macht  sich  eine  starke  Bewegung  gegen  die  direkte  An- 
lehnung  an  Deutschland,  die  in  den  miBgluckten  Zollunions- 
planen  ihren  Ausdruck  fand,  geltend.  Sieht  man  ab 
von  Rumanient  Jugoslawien,  Italien  und  Polen,  die  nicht  als 
Nachfolgestaaten  sondern  als  Annektionisten  osterreich-unga- 
rischen  Gebiets  zu  betrachten  sind,  so  bleiben  als  eigentliche 
Erben  des  habsburgischen  Territoriums  Oesterreich,  Ungarn 
und  die  Tschechoslowakei. 

Die  militarischen  Machtmittel  Oesterreichs  und  Ungarns 
sind  durch  die  Friedensvertrage  starken  Beschrankungen 
unterworfen  worden;  die  Tschechoslowakei  hat  dagegen  ein 
stehendes  Heer  und1  allgemeine  Wehrpflicht  mit  einer  Ausbil- 
dungszeit  von  anderthalb  Jahren.  Die  groBe  und  wegen  der 
Lohnungen  billige  tschechische  Armee  stellt  einen  Machtfaktor 
dar,  der  an  sich  schon  ausreichen  wiirde,  um  das  Schwer- 
gewicht  einer  osterreichisch-tschechischen  Union  nach  Prag 
zu  verlegen.  Dazu  kommt,  daB  die  tschechische  Wirtschaft 
zwar  nicht  von  der  allgemeinen  Krise  verschont  blieb,  sich 
aber  im  groBen  und  ganzen  widerstandsfahiger  erwiesen  hat 
als  die  andrer  europaischer  Staaten,  Wenn  das  of fiziose  Regie- 
rungsorgant  die  ,Prager  Pressed  kiirzlich  erklaren  konnte,  das 
trotz  der  auch  in  der  Tschechoslowakei  herrschenden  Not 
und  Arbeitslosigkeit  jeder  Burger  die  GewiBheit  habe, 
dafi  die  Republik  ihn  niemals  verhungern  lasset  dann  begreift 
man  die  politische  Stabilitat  dieser  aus  verschiedenen  Volks- 
stammen  zusammengesetzten  jungen  Nation.  Selbst  die  deut- 
schen Nationalsozialisten  der  Tschechoslowakei  stehen  bei  wei- 
tem  nicht  so  feindlich  der  tschechischen  wie  unsrer  Hitleria- 
ner  der  deutschen  Repuiblik  gegenuber. 

Da  den  Schliissel  zur  wirtschaftlichen  Existenzkrise  in  fast 
alien  Landern  die  Auslandsverschuldung  liefert,  muB  auch  sie 
bei  der  Beurteilung  der  Lage  des  tschechischen  Wirtschaf ts- 
gebiets  vor  allem  in  Betracht  gezogen  werden.  Bei  den  poli- 
tischen  Zahlungen  handelt  es  sich  wie  bei  uns  um  Reparations- 
leistungen.     Die   Aufbringung   dieser   verhaltnisma'Big   geringen 

27 


Summe,  „Befreiungsabgabe"  genannt,  wird  wohl  auch  kunftig 
der  prager  Regierung  keine  allzu  groBen  Schwierigkeitcn  be- 
reiten.  Ganz  unbedeutend  ist  die  kurzfristige  Auslandsver- 
schuldung  der  tschechischen  Banken,  So  ist  die  Tschecho- 
slowakei  neb  en  Frankreich  eines  der  wenigen  Lander,  fiir  die 
es  ein  passives  Stillhaltungsprobiem  nicht  gibt.  Nach  dem  Zu- 
sammenbruch  der  Oesterreichischen  Creditanstaljt  setzte  auch 
ein  Run  auf  die  Schalter  der  tschechischen  Banken  ein,  die 
Auslandsguthaben  wurden  bis  zu  einem  Bruchteil  abgezogen* 
Einzelne  Banken  konnten  dieser  Bewegung  nur  infolge  groB- 
ztigiger  Staatssubventionen  standhalten. 

In  einem  Punkte  unterschieden  sich  die  tschechischen  Kre- 
ditinstitute  wesentlich  von  den  deutschen;  diese  haben  letzt- 
hin  stets  nur  die  Hilfe  des  Reiches  in  Anspruch  genommenf 
jene  haben  ihrerseits  auch  den  Staat  unterstiitzen  konnen. 
Die  Sparkassen,  zu  denen  sich  ein  Teil  der  verangstigten 
Bankeinleger  wahrend  der  Krise  dieses  So  miners  gefliichtet 
hat,  konnten  erst  kiirzlich  dem  Finanzminister  einen  erheb- 
lichen  Kredit  zur  Verfiigung  stellen.  Das  Gefiihl  der  standl- 
gen  Unsicherheitt  das  zu  einer  volligen  Verodung  des  wirt- 
schaftlichen  Lebens  fiihren  muB,  herrscht  an  der  Moldau  nicht. 

Man  ist  sich  in  Prag  dessen  bewuBt,  daB  ein  erheblicher 
Teil  der  vom  Staat  bereitwillig  gewahrten  Subventionen 
heute  als  verloren  zu  betrachten  ist,  aber  Staat  und  Wirt- 
schaft  sind  nicht  so  auf  Gedeih  und  Verderb  aneinander  ge- 
kettet  wie  in  Deutschland.  Trotz  der  starken  industriellen 
Entfaltung,  die  nach  dem  Kriege  einsetzte  und  am  besten  in 
dem  Anwachsen  der  Stadtbevolkerung  zum  Ausdruck  kommt, 
ist  keine  ubermafiige  Expansionspolitik,  von  Einzelfallen  ab- 
gesehen,  getrieben  worden,  Vor  allem  haben  nicht  die  Banken, 
wie  dies  in  Deutschland  nur  zu  oft  geschehen  ist,  der  Industrie 
Kredit  e  aufgedrangt:  so  waren  keine  Mitt  el  fiir  iiberfltissige  In- 
vestitionen  vorhanden.  Die  groBen  Unternehmungen  legten 
keinen  Wert  auf  Verwaltungspalaste.  Im  Zentralgebaude  der 
groBten  und  angesehenstem  Bank,  der  Zivnostenska  Banka,  be- 
finden  sich  offene  Geschaftsladen,  Unsern  GroBbankdirekto- 
ren  ware  sicher  ein  Juwel  aus  ihrer  Krone  gefallen,  wcna  sie 
Raume  an  einen  Schneider  oder  Uhrmacher  vermietet  hatten, 

Der  Lebensstandard  des  groBen  und  kleinen  Mannes  war 
in  der  Tschechoslowakei  auch  in  gut  en  Zeiten  eng  zugeschnit- 
ten.  Man  kennt  dort  keine  „Wirtschaftsfuhrer",  sondern  nur 
Kaufleute.  Der  Lebensindex  ist  nach  den  Ziffern  vom  Oktober 
1931  im  Verhaltnis  zur  Vorkriegszeit  von  100  auf  97  zuriick- 
gegangen,  wahrend  er  in  Deutschland  auf  133  gestiegen  ist. 
Dieses  sparsame,  fleiBige  und  vielleicht  etwas  engstirnige  Volk 
ist  in  der  Notzeit  geschaffen  fiir  die  Hegemonie  unter  wirt- 
schaftlich  und  politisch  geschwaehten  Nachbarn.  Frankreich, 
dessen  ostliches  Abbild  die  Tschechoslowakei  in  vieler  Be- 
ziehung  darstellt,  wird  die  Annaherung  der  habsburgischea 
Nachfolgestaaten  unter  tschechischer  Fiihrung  begiinstigen. 
Wenn  sich  auch  Mancher  die  Wiedervereinigung  Oesterreich- 
Ungarns  anders  vorgestellt  hat,  so  ware  vom  deutschen  Stand- 
punkt  aus  die  wirtschaftliche  Starkung  unsrer  ostlichen  Ab- 
satzgebiete  dtirch  franzosisches  Kapital  auch  dann  zu  be- 
28 


grii£  >nf  wenn  dahinter  politische  Plane  der  Franzosen  stecken. 
Die  Deutsche  Politik  sollte  sich  allmahlich  daran  gewohnen, 
mit  diesem  Faktor  zu  rechnen.  Die  mitteleuropaische 
Zollunion  ist  kein  phantastischer  Zukunftstraum  mehr, 
sondern  tiach  dem  Scheitern  des  verfehlt  angelegten  deutsch- 
osterreichischen  Pakts  wob1  die  einzige  Gelegenheit,  aktive 
deutsche  AuBenpolitik  zu  t  siben.  Auch  die  gliihendsten  An- 
schluBfreunde  miissen  sich  sagen,  daB  aus  politischen  und  wirt- 
schaf tlichen  Griinden  der  Weg  nach  Wien  iiber  Prag  fiihxt. 

Das  Lied  von  der  Gleichgiiltigkeit 

von  Theobald  Tiger 

Alle  Rechte  vorbehalten 
Cine   Hur  steht   unter   der  Laterne, 
"  des   abends   um   halb   neun, 
Und  sie  sieht  am  Himmel  Mond  und  Sterne  — 
was  kann  denn  da  schon  sein? 

Sie  wartet  auf  die  Kunden, 

sie  wartet   auf   den  Mann, 

und  hat  sie  den  gefunden, 

fangt  das  Theater  an. 
Ja,  glauben  Sie,  daB   das  sie  iiberrasche? 
Und  sie  wackelt  mit  der   Tasche  —  mit  der  Tasche, 

mit  der  Tasche, 

mit  der  Tasche  — 
Na,  womit  denn  sonst. 

Und  es  gehen  mit  der  Frau  Studenten, 
und  auch  Herr  Zahnarzt  Schmidt. 
Redakteure,   Superintendenten, 
die  nimmt  sie  alle  mit. 

Der   eine  will  die   Rute, 

der  andre  will  sie  blaun. 

Sie  steht  auf  die  Minute 

an  der  Ecke  um  halbneun. 
Und  sie   klebt  am  Strumpf  mit  Spucke  eine  Masche .  . . 
und  sie  wackelt  mit  d*"*  Tnsche  —  mit  der  Tasche, 

mit  der  Tasche, 

mit  der  Tasche    - 
Na,  womit  denn  sonst. 

Und  es  ziehn  mit  Fahnen  und  Standarten 
viel  Trupps   die  Strafien  lang. 
Und  sie  singen   Lieder  aller  Arten 
in   drfihnendem   Gesang. 

Da  kommen  sie  mit  Musike, 

sie   sieht  sich   das  so   an. 

Von  wegen  Politike  . . . 

sie   weifi  doch:    Mann  ist  Mann. 
Und  sie  sagt:   „Ach,   lafit  mich   doch   in  Ruhe  — "  { 

und  sie  wackelt  mit  der  Tasche  —  mit  der  Tasche  — 

mit  der  Tasche  — 

mit  der  Tasche  .  . 
Und  sie   tut  strichen  „ehn. 

Diese  Gleich^altigkeit, 

diese   GleicAgiiltigkeit   — 
die  kann  man  achlieBlich  verstehn. 

29 


Bemerkungen 

Hitler  erobert  Rumanien 
Im  alten  Hermannstadt,  dem 
*•  heutigen  Sibiu  in  Siebenbiir- 
gen,  fand  Mitte  Dezember  ein 
seltsamer  Verbruderungsakt  statt. 
Auf  dem  Kongrefi  der  ultranatio- 
nalistischen  rumanischen  Studen-  . 
tenschaft,  die  unter  der  Leitung 
des  Antisemitenfuhrers  Cuza 
steht,  trat  eine  Delegation  von 
Hitler- Studenten  aus  Deutsch- 
land  auf,  um  den  rumanischen 
Commilitonen  die  briiderlichen 
Griifie  des  groBen  Adolf  zu  iiber- 
mitteln.  Ein  Herr  Karl  Motz  be- 
.  griiBte  die  rumanischen  Fascisten 
im  Namen  Hitlers,  und  der  Vor- 
sitzende  des  Kongresses,  Herr 
Tanasescu,  hiefi  wiederum  die 
lieben  deutschen  Gaste  willkom- 
men.  Es  war  ein  Bild  holder 
Eintracht,  als  die  Exponenten  der 
rumanischen  Bo  j  aren  und  des 
deutschen  Industriekapitals  da 
beisammensafien  und  einander 
Treue  gelobten  im  Kampfe  gegen 
das  grofite  Obel  der  Gegenwart: 
die  Juden,  die  grade  in  Ru- 
manien, wo  sie  zum  groBen  Teil 
Proletarier  sind,  ein  besonders 
schadliches   Element   darstellen. 

MNehmt  euch  an  unserm  Adolf 
ein  Beispiel",  rief  Karl.  Motz  den 
rumanischen  Kulturtragern  zu, 
und  mit  dem  gewohnten  Takt, 
der  die  deutsche  Politik  so  oft 
auszeichnet,  trank  er  bei  einem 
Bankett  auf  die  „kunftigen  Re- 
gierungen  in  Rumanien  und 
Deutschland,  an  deren  Spitze  die 
Professoren  Cuza  und  Hitler 
stehen  we'rden". 

Die  Vorsehung  schenkt  jeder 
Nation  die  Jugend,  die  sie  ver- 
dient.  Sollte  die  antisemitische 
rumanische  Studentenvihaft  tat- 
sachlich  die  Meinung  der  ruma- 
nischen Jugend  vertreten,  dann 
waren  alle  Befiirchtungen  ber«ch- 
tigt,  die  aufrichtige  Freunde  dit- 
ses  begabten  Volkes  iiber  seine 
weitere  Entwicklung  hegen  konn- 
ten.  Viel  eher  kann  man  aller- 
dings  annehmen,  dafi  die  Studen- 
ten beiderlei  Couleurs  einfach 
nicht  wissen,  was  sie  tun.  Denn 
auCer     einem    bornierten     Juden- 

30 


hafi  kann  man  selbst  bei  bestem 
Willen  nicht  entdecken,  was  die 
deutschen  und  rumanischen  Fas- 
cisten verbinden  soil.  Man  kann 
doch  nicht  gut  annehmen,  dafi 
Hitler  fur  die  Parole  Cuzas  ein- 
tritt:  Verteidigung  der  Friedens- 
vertrage  bis  zum  aufiersten,  oder 
dafi  sich  Cuza  den  heldenhaften 
Kampf  Hitlers  gegen  Frankreich 
zum    Lebensziel  gesetzt   hatte. 

Oder  sollte  die  Einigung  ein- 
fach nur  die  siebenbiirger  Deut- 
schen betreffen,  die  Hitler  groB- 
miitig  opfern  will,  wie  er  schon 
vorher  die  sudtiroier  Deutschen 
geopfert  hat?  Dann  ist  der  Preis 
—  unter  uns  gesagt  —  zu  hoch: 
denn  Judenpogrome  konnen  von 
den  Cuzaleuten  ohne  j  ede  Ge- 
genleistung  geliefert  werden, 

K.  L.  Reiner 

Erlebnis  mit  Arthur  v.  Gwinner 

D  eim  Tode  des  friihern  Gene- 
*-*  raldirektors  der  Deutschen 
Bank  war  die  Tagespresse 
erftillt  mit  anerkennenden  Nach- 
rufen.  Mir,  *der  ich  vor  dem 
Kriege  mit  Herrn  von  Gwinner 
mehrfach  auf  gesellschaftlichem 
Boden  zusammengetroffen  war, 
fallt  ein  Erlebnis  ein,  das  ich 
wahrend  des  Krieges  mit  ihm 
hatte  und  das  mir  charakteri- 
stisch  scheint  fur  die  Verwiistun- 
gen,  die  die  Kriegspsychose  auch 
bei  den  Prominentesten  angerich- 
tet  hat. 

Anfang  Januar  1918  bat  mich 
nach  der  Pressekonferenz  Major 
von  Olbert  als  Vertreter  des 
Kriegspresseamts  um  eine  Riick- 
sprache;  Er  iiberreichte  mir  einen 
Brief  mit  meiner  Namensunter- 
schrift  in  Maschinenschrift:  MDen 
hat  Herr  von  Gwinner  dem  Ober- 
kommando  in  den  Marken  zuge- 
schickt,  um  ein  Vorgehen  gegen 
Sie  zu  veranlassen.  Was  meinen 
Sie  dazu?" 

Ich  warf  einen  Blick  auf  das 
mir  vollig  unbekannte  Schrift- 
stiicV  und  erklarte  kurz:  „Elende 
Falscmng". 

Herr  v0n  Olbert  lachelte:  „Das 
habe  ich  ujr  jjleich  gedacht.  Des- 


halb  habe  ich  mich  direkt  an  Sie 
gewandt  und  ilberlasse  Ihnen  den 
Brief/' 

Worum  handelte  es  sich?  Ir- 
gendein  Angestellter  der  Deut- 
schen  Bank  hatte  in  Sachen  der 
Weihnachtsgratifikation  auf  Herrn 
von  Gwinner  einen  erpresseri- 
schen  Druck  auszuiiben  versucht 
und  zu  diesem  Zweck  meinen  Na- 
men  mifibraucht.  Der  Brief 
schlofi  folgendermafien: 

MSollte  die  Auszahlung  der 
Gratifikation  seitens  der  Direk- 
tion  in  boswilliger,  kaltherziger 
Absicht  bis  Freitag  (21.  12.  17.) 
nicht  durchgefuhrt  und  ein  ent- 
sprechende'r  Bescheid  an  die  Her- 
ren  Stundenarbeiter  nicht  ergan- 
gen  seint  so  mufi  ich  zu  meinem 
grofiten  Bedauern  Ihrerseits  in 
der  ,Welt  am  Montag'  uber  den 
ungerechten,  typischen  Fall  Stel- 
lung  nehmen  und  in  allgemeinver- 
standlicher  Weise  eingehender 
besprechen.  Hochachtungsvoll 

Slez.  von  Gerlach,  Redakteur  und 
Schriftsteller. 

NB.  Wenn  ich  diesen  Brief 
nicht  eingeschrieben  Ihnen  zu- 
gehen  lasse,  so  geschieht  es  ledig- 
lich  nur  deswegen,  weil  ich  anneh- 
men  muO,  dafi  Sie  als  Ehrenmann 
eine  gerechtfertigte  tNotstands- 
sache'  nicht  unterschlagen  wer- 
den.    D.  O." 

Die  Herren  vom  Kriegspresse- 
amt,  die  mir  wahrhaftig  nicht  ge- 
wogen  waren,  hatten  sofort  die 
Falschung  erkannt  und  dement- 
sprechend  gehandelt.  Dafi  Herr 
von  Gwinner,  der  mich  person- 
lich  kannte,  die  Falschung  nicht 
erkannt  haben  sollte,  wiirde  auf 
die  Einseitigkeit  der  Intelligenz 
des  damals  einflufireichsten  deut- 
schen  Finanzmannes  schliefien 
lassen.  Dafi  er  sich  nicht  an 
mich      urn     Aufklarung      wandte, 


sondern  mich  bei  dem  allmachti* 
gen  Generalkommando  denun- 
zierte,  veranlafite  mich  zu  einem 
Brief  an  ihn.  Darin  aufierte  ich 
mein  Befremden  uber  die  Art 
seines  Vorgehens. 

In  seiner  etwas  bekniffenen 
Antwort  vom  27.  Februar  1918 
suchte  er  sein  Verhalten  damit 
zu  rechtfertigen,  dafi  ich  mich 
eine  Reihe  von  Jahren  vorher  auf 
der  Generalversammlung  der 
Deutschen  Bank  Mfur  einen  Un- 
wtirdigen  eingesetzt   hatte". 

Lange  vor  dem  Kriege  hatte 
ich  n ami  ich  als  Aktionar  der 
Deutschen  Bank  fur  einen  nach 
-  meiner  Kenntnis  der  Dinge  zu 
Unrecht  —  wegen  seiner  gewerk- 
schaftlichen  Betatigung  —  gemafi- 
regelten  Bankbeamten  das  Wort 
ergriffen. 

Das  hatte  mir  der  Bankherr 
nicht  vergessen.  Weil  ich  mich 
einst  eines  der  Angestellten  sei- 
ner Bank  nach  seiner  Meinung 
unbegrundetermafien  angenommen 
hatte,  traute  er  mir  zu,  dafi  ich 
der  Verfasser  eines  im  Carlchen- 
Miefinick-Stil  gehaltenen  grob- 
schlachtigen  Erpresserbriefs  sei. 
Und  er,  der  sich  uber  die  mog- 
lichen  Folgen  seiner  Handlungs- 
weise  durchaus  klar  sein  mufite, 
versuchte,  mich  einer  Militar- 
behorde  zu  uberliefern,  die  da- 
mals die  Gewalt  hatte,  ohne  jede 
Untersuchung  j  edermann  einzu- 
sperren.     Schutzhaf  1 1 

Dafi  die  Aktion  mifilang,  war 
nicht  das  Verdienst  des  Herrn 
von  Gwinner. 

Hellmut  v.  Gerlach 

Indien  im  Roman 

r\  ie  Nachrichtendienste  iiber- 
*~*  schlagen  sich.  Das  Ubermafi 
unzusammenhangender  Teilmel- 
dungen    macht    j  ede    Anschauung 


Wer  die  Zukunfft  anders  will 

als  die  heute  in  sich  zerrUttete  Vergangenheit  war,  der  stellt  sich  instinkt- 
sicher  in  die  Reihen  der  Schtiler  von  B6  Yin  Ra.  Was  die  Biicher  dieses 
Verkiinders  aus  dem  Reiche  der  „Mutter"  Ihnen  zu  geben  haben,  sucht 
die  Einfiihrungsschrift  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin:  „Weshalb  B6 
YinRa?"  Ihnen  zu  sagen.  Sie  erhalten  sie  kostenfrei.  Wir  zbgern  nicht, 
B6  Yin  R§,  J.  Schneiderfranken  als  die  bemerkenswerteste  Erscheinurig 
unserer  Zeit  zu  bezeichnen!   Kober'sche  Veriagsbuchhandlung  (gegr.  1816) 

Basel-Leipzig. 

31 


zunichte,  Je  mehr  die  Zeitungen 
iiber  eine  Sache  schreiben,  desto 
undeutlicher  werden  unsre  Be- 
griffe   davon. 

Nicht  viel  anders  gehts  mit  den 
berichtenden  und  betrachtenden 
Buchern,  Eine  unabsehbare  Fiille 
von  ^Rechenschaften"  iiber  Rufi- 
land,  iiber  Amerika  erscheint. 
Aber  immer  verschwommener, 
immer  schillernder  wird  dasviel- 
fach  iibereinanderkomponierte 

Bild,  das  der  Durchschnittsleser 
sich  von  der  Wirklichkeit  dieser 
Lander  xnachen  kann,  SchlieBlich 
wirkt  da  ein  Roman  von  Sinclair 
Lewis  oder  Gladkow  gradezu  er- 
losend.  Er  gibt  wenigstens  ein 
geschlossenes  Bild,  an  das  man 
sich  vorlaufig  halten,  das  man 
erganzen,  mit  den  ungeordneten 
Tatsachenmassen  anreichern  kann,, 

So  bekommt  die  Romandich- 
tung  einen  neuen,  informato- 
rischen  Sinn,  den  die  sogenannte 
Reportage-Dichtung  nie  haben 
konnte:  Sie  durchdringt  und  klart 
den  Wust  allzu  tiichtiger  Tat- 
sachenherichte. 

In  diesem  Sinne  ist  die  Ver- 
deutschung  des  Buches  „A  pas- 
sage to  India"  von  E.  M.  Forster 
(„Indien"  —  Paul  Neff  Verlag) 
als  verdienstlich  anzusehen.  Es 
erganzt  unser  wirres,  tag  lie  h  mit 
Sensationen  gefiittertes  Wissen 
aufs  beste.  Nebenbei  ist  es  ein 
ansprechender,  wenn  auch  nicht 
grade  iiberwaltigender  psycholo- 
gischer  Roman,  Forster  hat  eine 
gewisse  monotone  Art  pessimisti- 
scher   Menschenbetrachtung. 

In  den  letzten  Jahren  hatten 
wir  schon  einmal  ein  ganz  ahn- 
liches  Bucherlebnis:  Thomas  Rau- 
cat  enthiillte  in  dem  entziicken- 
den,  dichterisch  viel  wertvollern 
Roman  „Die  ehrenwerte  Land- 
partie"  das  lebendige  Alltagsbild 
Japans  auf  iiberraschende  Art. 
Unsre  Vorstellungen,  schwankend 
zwischen  Lafcadio  Hearns  siiB- 
licher  Anhimmelung  und  dem 
dumpfen  Eindruck  eines  wildge- 
wordenen  gelben  Imperiums,  wur- 
den  nachhaltig  aufgehellt,  Es 
zeigte  sich  der  enge  bureaukra- 
tische,  pedantische,  erstaunlich 
„unpoetische"  Charakter  eines 
Landes, 

32 


Ahnliches  erlebt  man  nun  bei 
diesem  Roman.  Durch  Roy  und 
Andre  wissen  wir,  wie  schnell 
die  okonomische  Entwicklung  in 
Indien  vorangeht.  Inzwischen 
wird  aber  die  romantische  Figur 
Gandhis,  der  sich  nur  zogernd 
okonomischen  Notwendigkeiten 
anpaBt,  nicht  nur  weiter  gefeiert 
und  abgebildet,  sondern  auch  zu 
Round  table-Konferenzen  geladen, 
Wirkliche  Kenner  Indiens  ver- 
sichem  uns  indessen,  der  Ma- 
hatma  sei  nahezu  bedeutungslos 
geworden,  wenn  er  iiber haupt  je 
eine  historische  Rolle  gespielt  habe. 
Sein  Name  fallt  in  Forsters 
Roman  nicht,  Uberhaupt  werden 
politische  Namen  und  Fakten  nur 
selten  erwahnt.  Dafur  lernen  wir 
die  Realitaten  des  Alltagslebens 
in  einer  kleinern  Stadt  griindlich 
kennen,  Besonders  beobachten 
wir  die  Entwicklung  einer  biir- 
ger lichen,  gebildeten  Schicht  in 
steter  offener  oder  heimlicher 
Reibung  gegen  die  englischen  Po- 
sitionen.  Dieser  Vorgang  scheint 
nun  auBerordentlich  wichtig  zu 
sein,  Dabei  handelt  es  sich  nicht 
nur  urn  macht-  oder  handelspoli- 
tische,  sondern  vielfach  urn  aus- 
gesDrochen  weltanschauliche,  j  a 
gesellschaftliche  Fragen,  Die 
Restbestande  der  vielen,  iiberein- 
ander  gelagerten  alten  Kulturen  be- 
gunstigen  jedeArt  von  Unklarheit, 

Diese  werdende  indische  Bour- 
geoisie, Hindus  wie  Moham- 
medaner,  sucht  sich  gegen  den 
englischen  Elan,  gegen  den  eng- 
lischen Lebensstil  zu  behaupten, 
indem  sie  ihn  umgeht,  sich  in  ihn 
einzudrangen  oder  einzuschleichen 
bemuht,  Es  kommt  zu  seltsamen 
Kompromissen.  Jede  Art  von  An- 
passung  wird  versucht,  Nur  die 
klare,  glatte  Ablehnung  und  Ab- 
sonderung  ist  unbeliebt. 

An  einer  ziemlich  alltaglichen  Ge- 
schichte,  einem  etwas  lacherlichen 
BeleidigungsprozeB,  wird  diese 
Situation  hinreichend  deutlich 
entwickelt,  Mit  erschreckender 
Hilflosigkeit  starren  alle  diese 
indischen  Anwalte,  Arzte,  Kauf- 
leute  auf  das  englische  Vorbild. 
Auch  wo  sie  im  Recht  sind,  ■ — ja 
sogar,  wo  sie  Recht  bekommen, 
fiihlen    sie    sich    noch    unterlegen. 


Ihr  Selbstbewufitsein  reicht  nur 
zu  Gesten  und  Worten.  Alsbald 
sind  sie  zu  neuer  Unterwerfung 
bereit. 

Grade  diese  Haltung  wurdc 
mir  von  Indienkennern  und  von 
Indern  sclber  als  sehr  bezeich- 
nend  und  gut  beobachtet  be- 
statigt.  Man  lernt  aus  diescr 
Lekttire  Vieles,  was  nicht  in  den 
Zeitungen  stent,  Vor  allem  aber, 
dafi  die  engliscbe  Herrschaft  von 
der  unklaren,  gespaltenen  und 
unentschlossenen  jungindischen 
Intelligenz  offenbar  herzlich  wenig 
zu  furchten  hat. 

Axel  Eggebrecht 

Ronny  mit  Vor-  und  Nachwort 

r\as  Kino  war  lang  und  schmal 
*"^  und  bis  auf  den  letzten 
Platz  besetzt,  Man  gab  einen 
Stummfilm  aus  dem  dritten  Jahr- 
hundert  vor  Christus,  „Rasputins 
Liebesabenteuer",  aber  kurz  vorm 
letzten  Akt  hatte  der  Vorfuhrer 
Maschinendefekt,  und  nun  safi 
das  Publikum  dreiviertel  Stun- 
den  ohne  Ungeduld,  horchte  auf 
ein  lungenkrankes  Grammophon 
und  wartete  auf  den  Schlufi.  Ge- 
gen  Zehn  erschien  Rasputin,  ein 
hohlaugiger  Herr  mit  viel  Frisur 
um  den  Kopf,  wieder  auf  der 
Leinwand,  liefi  sich  Balalaika 
vorsnjelen  und  trank  in  zugello- 
ser  Weise  aus  einer  Glaskaraffe. 
Da  packte  mich  eine  sehr  dicke 
Frau,  die  neben  mir  sa6,  am  Arm, 
schuttelte  mich  mehrmals  heftig 
und  keuchte  mit  tranenerstickter 
Stimme:  „Der  Wein  ist  vergiftet, 
der  Wein  ist  vergiftet!"  Dies  nach 
dreiviertelstiindiger  Wartezeit. 
Ich  fuhlte,  nichti  ohne  Bescha- 
mung,  dafi  mich  Rasputins  Wein 
kalt  liefi,  Woraus  zu  lernen  ist, 
dafi  Filmkritiker  nicht  ins  Kino 
gehoren. 

Verdrangen  wir  die  dicke  Dame 
ins  UnterbewuBtsein  und  betrach- 
ten  wir,  als  sei  nichts  ihres- 
gleichen  auf  der  Welt,  das  neue 
Ufa-Lustspiel  „Ronay,#  mit  kriti- 
schen  Mafistaben,  so  bemerken 
wir  zunachst,  dafi  das  Fursten- 
tum  Perusa  eine  betrachtliche 
Staatsanleihe  beim  benachbarten 
Flausenthurm  gemacht  hat. 
Fritsch      lauft      die      Chevalier- 


TrepDe  herauf  und  herunter,  und 
als  die  Kleinbahn  mit  demVieh- 
wagen  vorfuhr,  werden  wohl  auch 
dem  Wohlmeinendsten  Reminis- 
zenzen  gekommen  sein.  Eine 
kleine  Angestellte  fahrt  in  der 
Ftirstenkarosse  zum  Schlofi  —  da 
sind  bei  der  Ufa  offenbar  zwei 
Drehbucher  durcheinander  gera- 
ten.  Fast  vor  jeder  Szene  mochte 
man  den  Hut  Ziehen,  nicht  eben 
aus  Ehrfurcht,  sondern  weil  man 
sie  als  alten  Bekannten  wieder- 
erkennt.  Die  Autoren  Schiinzel 
und  Prefiburger  zeigen  an  einigen 
Stellen,  dafi  sie  'nicht  ganzlich 
ohne  Einfalle  sind  -  -  *  ist  es  ihnen 
nicht  peinlich,  so  hemmungslos 
auf  andrer  Leute  Kosten  zu  le- 
ben?  Es  handelt  sich  hier  ein- 
mal  nicht  um  Zugestandnisse  an 
Publikumsgeschmack  und  Kasse 
sondern  einfach  um  Tragheit. 
Man  konnte  dieselbe  Operette 
mit  originellen  Gags  spicken, 
ohne  dafi  es  der  dicken  Dame 
auf  den  beiden  Klappsitzen  un- 
angenehm  auffiele. 

Wie  iiblich  erscheint  das  Mili- 
tar  als  eine  Art  mannlicher  Girl- 
truppe,  Konkurrenz  des  weib- 
1  ich  en  Geschlechts,  das  ebenfalls 
grofiziigig  mobilisiert  ist;  Land- 
wehr  und  Landsturm  hat  man 
aufgeboten:  ganze  Horden  junger 
Madchen,  streng  auf  Busen  ge- 
arbeitet,  zeigen  die  Beihe.  Selbst 
die  marmornen  Reifrockfiguren 
im  Park  ziehen  sich  voruber- 
gehend  nackt  aus  —  der  Natur 
wird  Gewalt  angetan,  auf  dafi 
sie  offenbar  werde.  Willy  Fritsch, 
der  Fiirst,  findet  sich  gelangweilt 
und  ironisch  mit  Spielzeugsolda- 
ten  und  Zeremoniell  ab;  denn  wir 
Republikaner  wunschen  zwar 
einen  Monarchen  zu  sehen,  aber 
die  Monarchie  soil  ihm  nicht  ge- 
f  alien.  Auch  treibt  er  Musik 
und  Liebe.  Das  sohnt  den  bol- 
schewistisch  verhetzten  Teil  des 
zahlenden  Publikums  aus.  Fritsch 
ist  auch  im  Frack  nicht  zu  vor- 
nehm.  Der  kleine  Angestellte 
auf  dem  Thron  —  neudeutsche 
Ideale!  Kathe  von  Nagy  ist 
ebenso  schon  wie  fleifiig-bemuht; 
das  erstere  soil  man,  das  zweite 
sollte  man  nicht  merken.  Regis- 
seur    und    Autor    benutzen    j  ede 

33 


Gelegenheit  zu  choreographischen 
Apropos.  Sic  sind  lastig,  wic 
Amateurphotographen  auf  Land- 
partien,  die  alle  Augenblicke  den 
Gang  des  Programms  unter- 
brechen,  um  langwierige  Gruppen 
zu  stellen.  Bitte  recht  freund- 
lich.  Das  verschont  den  Alltag. 
,,So  ein  Werkeltag  ist  ufalos", 
singt  der  Diener  Anton;  denn  der 
Werktag  gehort  nicht  ins  Kino. 
Findet   die   dicke  Dame  auch. 

Was  die  andre  Weihnachts- 
premiere  der  Ufa,  den  Yorck- 
Film,  arilangt,  so  hat  man  sich 
diesmal  nicht  'damit  begniigt,  die 
AuBenfassade  des  Kinos  stil- 
gerecht  zu  verkleiden.  Der  Aus- 
stattungschef  Rudi  Feld  hat  den 
groBziigigen  Gedanken  gehabtt 
ganz  Deutschland  mit  einer  stim- 
mungsvollen,  an  Tauroggen  ge- 
mahnenden  Schneedecke  zu  tiber- 
ziehen.  Was  allerdings  viele 
Filmfreunde  veranlaBt,  eilends 
zu  AuBenaufnahmen  ins  Gebirge 
zu  fahren.  Erholung  tut  not.  Der 
Unterzeichnete  wenigstens  .  /  . 
geht  Ihnen  das  auch  so:  ich  sehe 
iiberall  Max  Adalbert.  In  alien 
Kinos,  in  alien  Vorankundigun- 
gen,  auf  alien  Programmzetteln, 
iiberall  Adalbert,  mit  und  ohne 
Perriicke.  Das  muB  an  mir  lie- 
gen.  Nerveniiberreizung,  weifte 
Mause.  Ab  in  den  Schnee.  A 
happy  new  year.  tJber  Yorck 
spater.  Rudolf  Arnheim 

Truppe  1931 

J7  in  Angestellter  wird  von  Na- 
*-*  tionalismus  und  Individualis- 
mus  zur  internationalen  Klassen- 
gemeinschaft  mit  dem  revolutio- 
naren  Proletariat  bekehrt.  Die 
dramatisch-dialektischen  Statio- 
nen  seines  Weges  ergeben  Schlag 
auf  Schlag  die  scharf  rythmisierte 
temperamentvoll-bewegliche  Sze- 
nenfolge  einer  Revue.  Sie  heifit 
„Die  Mausefalle"  und  wird  im 
Kleinen  Theater,  Unter  den  Lin- 
den, von  einem  Buhnenkollektiv 
mit  soviel  Geist,  Witz,  Begeiste- 
rung  und  Konnen  aufgeftihrt,  daB 
man  ihr  mit  tausend  Handen  Bei- 
fall  klatschen  mochte.  Die  Mit- 
glieder  dieser  Truppe  1931  miis- 
sen  Namen  fur  Namen  genannt 
werden,   in    der   Reihenfolge,    wie 

34 


sie  auf  dem  Programmzettel  fur 
Text,  Musik  und  Darstellung  ein- 
stehen:  Bonsch,  Czempin,  Luisrose 
Fournes,  Ingeborg  Franke,  Hahn, 
Charlotte  Jacoby,  Lex,  Meyer- 
HannO,  Nerlinger,  Popp,  Ruschin, 
Steffi  Spira,  Trepte,  Wangenheim, 
Wolpe. 

Auf  dem  Programmzettel  heiBt 
es:  „Die  Truppe  1931  sieht  ihre 
Aufgabe  darin,  Wirklichkeit  in 
ihr  en  Zusammenhangen  zu  erfas- 
sen  und  darzustellen.  Daher  sind 
Zitat  und  Reportage  wesentliche 
Elemente(  dieser  Revue."  Man 
weiB,  wie  langweilig-lehrhaft 
solche  Dinge  im  Namen  der  re- 
volutionaren  Tendenz  zumeist  ge- 
boten  werden  und  ist  um  so  freu- 
diger  uberrascht,  echtes  Theater, 
phantasievolles,  springlebendiges 
Spiel  zu  sehen.  Ein  Spiel  mit 
offenen  Karten,  ohne  jeden  fau- 
len  illusionistischen  Zauber,  mit 
einem  MindestmaB,  fast  mit 
einem  Nichts  an  szenischem  Auf- 
wand  am  Buhnenbild,  Kostum  und 
Maske.  Aber  grade  dieser  Ver- 
zicht  auf  alles  Beiwerk  bringt 
das  Wesentliche  der  Biihne,  das 
Wort,  zur  konzentriertesten  Wir- 
kung  und  ermoglicht  es,  seinen 
szenischen  Rahmen  auf  immer 
wieder  neue  Stationen  der 
Handlung  blitzschnell,  mit  einem 
Handgriff  sozusagen,  umzuschal- 
ten.  Die  Biihne  ist  offen, 
ein  Phantasiefeld,  frei  wie  ein 
Sportplatz  oder  wie  eine  Kino- 
leinwand.  Der  Sinn,  der  am 
Schicksal  des  Angestellten  FleiBig 
demonstriert  werden  soil,  hat 
einen  Spielraum  von  unbegrenz- 
ten  Moglichkeiten,  um  sich  je 
nach  Bedarf  in  einer  Figur,  einer 
statistischen  Zeichentabelle  oder 
in  einer  vorgelesenen  Zeitungs- 
nachricht  zu  verkorpern  und  aus- 
zuwirken.  Dem  gleichen  Schau- 
spieler  im  gleichen  Kostum  wird, 
j  e  nach  Bedarf,  wahrend  der 
gleichen  Szene  mal  diese,  mal 
jene  Rolle  zugeworfen:  fix  wie 
ein  Fangball.  Es  geniigt  ein  Wort 
und  man  weiB:  jetzt  springt  er 
als  Arzt  ein,  jetzt  wieder  ist  er 
Polizist  oder  Empfangschef  einer 
Schuhfabrik  oder  Rasonneur,  der 
beiseite  steht  und  die  Handlung 
glossiert.     Es    geht    zu   wie   beim 


Fufiball:  der  eben  noch  Stiirmer 
war,  gehort  j  etzt  zur  Deckung 
oder  umgekehrt.  Auch  Kinder 
spielen  so.  Ihre  Spielsachen  und 
Spielkameraden  konnen  das  Ver- 
schiedenste  vorstellen.  Es  geniigt, 
wenn  man  ihnen  den  betreffen- 
den  Namen  anhangt.  Die  Truppe 
1931  ist  endlich  neues,  well  ganz 
altes  Theater.  Unverblumtes  Ko- 
modiantenspiel  und  eben  deshalb 
ziindend  geladen  von  den  Ener- 
gien  und  Spannungen  unsrer 
Wirklichkeit,  Die  von  j  edem 
uberfliissigen  Ballast  befreite  sze- 
nische  Montage  bleibt  immer  auf 
dem  Sprung  zu  neuen  und  wieder 
neuen  Momenten  und  Verkniip- 
fungen.  Das  personliche  Schick - 
sal  des  Angestellten  Fleifiig  wird 
in  seiner  komplizierten  Verstrik- 
kung  mit  einem  ganzen  Wirt- 
schafts-  und  Gesellschaf tssystem 
sichtbar.  Es  steht  als  Typus  vor 
uns,  mit  einer  bunten  Vielheit  von 
Gestalten  verschiedenster  gesell- 
schaftlicher,  historischer  und  ide- 
ologischer  Funktionen  verwoben. 
Diese  ganze  dramatisch-dialek- 
tische  Mobilmachung  wechselvpl- 
ler  scharf  umrissener  Typen,  Ge- 
danken  und  Geschehnisse  ist  eine 
kritische  Auseinandersetzung  mit 
dem  Wahlspruch:  Hochstes  Gliick 
der  Erdenkinder  ist  doch  die  Per- 
sonlichkeit.  Das  Goethe-Zitat 
bleibt  in  breiter  Uberschrift  wah- 
rend  der  ganzen  Spieldauer  zu 
sehen.  Zunachst  mit  dem  Bild 
des  Dichterfursten  in  der  Mitte, 
Aber  das  olympische  Profil 
wird  sehr  bald  durch  ein 
neues  Sinnbildnis  verdeckt, 
Nun  vereinigt  der  ungekronte 
Schuhkonig  Taba  (alias  Bata) 
alien  Glanz  der  Personliqh- 
keit  in  sich.  Das  klassisch- 
humanistische   Geistesideal  weicht 


vor  dem  Unternehmer.  f(Wirt- 
schaft  ist  Schicksal."  Kapitalis- 
mus,  Industrie  und  Rationalisie- 
rung,  kurz  und  gut:  Geschaft  uber 
alles.  Die  freie  personliche  Men- 
schenwiirde  Herrn  Fleifiigs  geht 
zum  Teufel.  Verbraucht,  abge- 
baut,  an  Leib  und  Seele  verprii- 
gelt  und  erniedrigt,  scheint  ihm 
nur  noch  das  Betteln  oder  der 
Selbstmord  iibrig  zu  bleiben.  Doch 
er  findet  bessere  Einscht,  neue 
Kraft  und  Zielsetzung  in  der  Ge- 
meinschaft  mit  dem  Proletariat. 
Taba  wird  entthront,  seine  spie- 
fiige  Visage  verschwindet  hinter 
einem  neuen  Sinnbildnis.  Ein 
russischer  Arbeiter  lacht  uns  an, 
der  sich  als  Personlichkeit  von 
besonderen  Graden  ausgezeichnet 
hat:  durch  seine  besonders  tiich- 
tigen  Werkleistungen  in  der  Sow- 
jetfabrik.  Er  steht  im  Vorder- 
grund  der  Aktualitat,  ohne  das 
Geistige  zu  verneinen:  denn  auch 
Goethe  ist  nun  wieder  sichtbar. 
Goethe  und  der  Fabrikarbeiter  in 
gleicher  Front!  Von  der  dialek- 
tischen  Feinheit  dieser  Demon- 
stration konnte  mancher  vulgar- 
marxistische  Kulturpolitiker  ler- 
nen. 

Es  dauert  eine  Weile,  bis  Flei- 
fiig  so  weit  ist,  dies  en  Sinnwan- 
del  des  Goethe-Zitats  zu  begrei- 
fen  und  zu  bejahen.  Manches, 
was  ihm  auf  dem  Weg  zur  Lau- 
terung  widerfahrt,  bringt  drama- 
tischen  Tempoverlust,  ist  zu  breit 
geraten.  Aber  solche  vereinzel- 
ten  Konstruktionsfehler  haben 
nichts  neben  dem  Reichtum  an 
Ideen  und  an  kunstlerischem 
Temperament  zu  sagen,  der  in 
dieser  Revue  lebt.  Hoffentlich 
wird  man  von  der  Truppe  1931 
noch  mehr  dergleichen  sehen  und 
h6ren!  Ernst  Kdllai 


ELIZABETH  RUSSELL  /  HOCHZEIT,  FLUCHT 
UND  EHESTAND  DER  SCHONEN  SALVATIA 

Roman. 

Diese  Qeschichte  von  einem  weibllchen  Parsifal  Ist  so  lustlg,  wte  man  es  sich  nur 
wllnschen  kann.  Man  lacht  belm  Lesen  oft  laut  auf.  Es  1st  elner  jener  nicht  hau- 
figen,  wirkllch  unterhaltenden  Romane,  ftlr  den  man  dem  Ver- 
fasser  ebenso  dankbar  seln  mu8  wie  Freunden.  die  uns  einen 
helteren,  sorgenlosen  Abend  bereitet  haben.      Llterarlsche  Welt. 


TRANSMARE  VSRLAQ  A.-Q.v  BERLIN  W  10 


Leinen 

4.80  RM 
35 


Tu  felix  Austria 

Schobcr:  „Und  bei  um  ist  die  Lage 
hoffnungslos,  aber  nicht  ernst." 

(Aus  einer  alten  Anekdote) 

p  ines  Tages  sollte  in  Wien  Re- 
Ll  volution  sein.  Aber  es  regnete. 
Und  da  wurde  die  Revolution 
auf  das  nachste  schone  Wetter 
verschoben. 

* 

Und  als  die  tobende  Volks- 
menge  den  Justizpalast  anzun- 
dete,  war  es  auch  sonst  ein  heiBer 
Tag.  Also  machten  trotz  der 
Toten  und  Verwundeten  die  Eis- 
verkaufer  ein  unvorhergesehen 
gutes  Geschaft,  „Hallof  rasch  ein 
Vanilleeis!  —  Nieder,  nieder  mit 
der  Regierung!" 
* 

Auch  ein  Revolutionslied  gab 
es  in  diesen  stfirmischen  Tagen: 
Eine  wiener  Marseillaise.  Sie  gab 
der  Hauptsorge  Ausdruck,  wer 
denn  eigentlich  die  StraBen  sau- 
bern  wurde,  wenn  der  Umsturz 
aus  alien  Knechten  Herren  ge- 
macht  haben  wird. 
.Wer  wird  denn  die  StraBen  dann  kehren? 
Wer  wird  denn  die  StraBen  dann  kehren? 
Die  noblichten  Herrn,  mit  dem  goldenen 

Stern, 
Die  werden  halt  die  StraBen  dann  kehrn. 
Ja,  die  noblichten  Herrn,  mit  dem  goldenen 

Stern, 
Die  werden  halt  die  StraBen  dann  kehrn." 

Das    Capua   der   Geister   revol- 
tiert.  Den  noblichten  Herrn  bleibt 
eben  nichts  erspart 
* 

Als  alle  Staaten  einander  den 
Krieg  erklarten,  war  ich  bei  Os- 
kar  S.  „Meld  dich  zum  Militar", 
sagte  der  Vater  zu  ihm,  ffmeld 
dich  freiwillig,  so  ein  Weltkrieg 
ist  nicht  alle  Tag." 


Wahrend  des  Krieges  wurde 
das  Wort  „Tachinieren"  gepragt. 
Das  hiefi  beim  Militar  so  viel  wie 
die  Zeit  totschlagen,  gleichgfiltig 
womit,  «in  doltsches  deutsches 
far  niente.  Nach  dem  Krieg 
wurde  das  Wort  vergessen,  der 
Begriff  blieb,  Im  Grunde  ist  je- 
der  Oesterreicher  ein  Tachinierer, 
der  sein  Leben  nach  abgelaufe- 
nen  Dienstjahren  rechnet,  seine 
Geburt  mit  begonnener  Pensio- 
nierung,      Und   nirgends   wird    so 

36 


viel     tachiniert      wie     grade     im 
Staatsdienst. 

Ein  oberosterreichischer  Ge- 
meinderat  beschloB,  den  Dorf* 
bock  zu  besteuern.  Ein  Schilling 
sollte  fur  jedes  Decken  an  die 
Gemeindekasse  abgeffihrt  werden. 
Als  zum  ersten  Mai  nach  dieser 
Notverordnung  ein  Bauer  mit 
einer  Ziege  zur  Gemeindebock- 
bauerin  kam,  war  der  Bock  ab- 
solut  lustlos.  ,fTeifel,  Teifel," 
sagte  die  Bauerin  argerlich,  „seit 
er  im  Staatsdienst  is,  will  er 
auch  nix  mehr  arbeiten," 
* 

Man  freut  sich  fiber  alles,  fiber 
die  geringsten  Kleinigkeiten,  so- 
gar  fiber  schone  Aborte.  Einmal 
begegnete  mir  unsre  junge  Haus- 
meisterstochter  auf  der  Treppe; 
„Habens  schon  gesehn,  Herr  Nor- 
bert,  unser  Abort  ist  frisch  ge- 
strichen.  Ich  bin  heut  den  gan- 
zen  Tag  drauf  gesessen  und  hab 
gepfiffen." 

* 

Zehn  Jahre  nach  KriegsschluB 
traf  ich  Oskar  S.  wieder.  MIch 
war  im  Kriege  Fahnrich.  Schade, 
daB  es  kein  Militar  mehr  gibt, 
ich  war  heute  schon  beim  Gene- 
ralstab."  —  „Wieso?"  —  lfBloder 
Hund,  wie  du  mich  kennst,  hatt 
ich  doch  bestimmt  ein  Verhaltnis 
mit  der  Kaiserin  Zita." 
* 

In  unsrer  Zinskaserne  begeg- 
nete mir  am  Gang'  ofter  ein  klei- 
nes  Madchen,  vielleicht  dreiein- 
halb  bis  vier  Jahre  alt,  das  aber 
schon  sehr  kokett  um  sich  blickte. 
Eines  Abends,  als  sie  wieder  ein- 
mal bei  mir  vorbeiwischte,  drehte 
sie  sich  vor  der  Stiege  noch  ein- 
mal und  rief  verschamt,  aber 
nicht  ohne  Stolz:  „Gfailt  dir  mein 
Hintern?" 

Ein  paar  charmante  Wortpra- 
gungen: 

DaB  ein  Motorrad  mit  Bei- 
wagen  „Pupperlhutschen"  heiBt, 
ist  nicht  neu,  Weniger  bekannt 
ist  vielleicht  der  Name  „Leck- 
miamarschkaoperl"  ffir  die  Bas- 
kenmutze.  Die  winzigen  Sterne 
der  Plej  aden  heifien  sinnvoll 
,  ,B  runzerlbuben". 

Norbert  Schiller 


Auslandsdeutsche 

r\er  Weg  der  Macht  ist  bezeich- 
■^  net  durch  Friedrich  von  Ho- 
henstaufen  und  Friedrich  von 
PreuBen,  durch  Nietzsche  und 
Bismarck.  Sein  Bezirk  ist  nicht 
gebunden  an  geographische  Gren- 
zen,  denn  es  gibt  die  Deutschen 
des  Auslandes,  Shakespeares  und 
Cervantes. 

Franz  Schauwecker 

im  Lokat-Anzeiger 

vom  1.  Januar 

Ecco! 
llTTenn     man     die    entlegensten 

"  Apennintaler  mit  dem  Auto- 
bus durchrumpelt  und  immer  nur 
Italienisch  um  sich  hort,  vergifit 
man  alle  Vorsicht. 

In  der  Gegend  von  Chiavari 
sagte  ich  zu  meinem  deutschen 
Begleiter,  als  unter  andern  ein 
biederer  alter  Herr  eingestiegen 
war:  „Der  konnte  ebensogut  ein 
sachsischer    Oberlehrer    sein." 

Worauf  zu  unserm  Entsetzen 
der  alte  Herr  den  Mund  bffnete 
und  diese  Worte  sprach:  MIch 
danke  Ihn\  mein  Herr  —  also 
sah'ch  doch  eechendlich  ooch  e 
bifichen  idaljansch  aus!" 

Es  war  wirklich  ein  sachsischer 
Professor,  und  er  fuhlte  sich 
nicht  im  mindesten  getroffen, 
sondern  im  Gegenteil  als  Sachse 
wie  als  leidenschaftlicher  Italien- 
freund    angenehm    beriihrt. 

Nun  sagen  Sie  selbst:  Gibt 
es  ein  Klischee,  dem  nicht  die 
Tendenz  innewohnt,  sich  selbst- 
tatig  immer  wieder  zum  Original 
zu  erhehen? 

Aber  das  Leben  ist  genau  so 
unerschopflich  wie  ein  erfolg- 
reicher  Romanschriftsteller  arm 
an   Einfallen   ist. 

Zwischen  Sestri  und  Trigoso  — 
wieder  im  Autobus  —  zieht  ein, 
natiirlich   blonder,  Herr   die  Ver- 


fassung  der  Deutschen  Republik 
aus  der  Tasche  und  versenkt  sich 
eifrig   in  die   Druckschrift, 

Endlich  einmal  ein  deutscher 
Republikaner!  denke  ich  —  na  J  a, 
im  Ausland  gibt  es  so  was  viel- 
leicht  doch.  Immerhin,  dafi  er 
da  grade  diese  Drucksache  bei 
sich  fiihrt  —  alle  Achtung!  Der 
Herr  interessiert  mich.  Als  er 
nach  einiger  Zeit  aufsieht, 
spreche  ich  ihn  an,  und  was  stellt 
sich  heraus? 

Er  ist,  der  blonde  Herr,  durch- 
aus  ein  Italiener.  Er  kann  et- 
was  Deutsch,  iibt  fleifiig  weiter 
und  hat  sich  zu  diesem  Zweck 
unter  andern  Drucksachen  die 
Deutsche  Verfassung  kommen 
lassen. 

Wir.  geraten  in  eine  aufschluB- 
reiche  Unterhaltung,  Er  ist  gut 
unterrichtet  —  sogar  iiber  Ita- 
lien  —  denn  er  halt  auch  eine 
deutsche   Zeitung. 

Er  macht  mir  Komplimente 
iiber  unsre  Verfassung,  was  mich 
einigermafien  aus  der  meinigen 
bringt. 

Denn  natiirlich  —  ich  mufite  ja 
kein  Deutscher  sein  —  habe  ich 
unsre  Verfassung  nie  gelesen. 

Der  Italiener  ist  ein  offener 
Kopf. 

„Wenn  das  alles  so  durchge- 
fiinrt  wird,  wie  es  dasteht"  — 
sagt  er  und  sieht  mich  dabei 
auf  eine  ich  mochte  sagen  hin- 
tergrundig  verschmitzte  Art  an 
—  ,,dann,  mein  Herr,  mochte  ich 
jederzeit    in    Deutschland    leben." 

Bedurfte  es  eines  deutlicheren 
Beweises  fiir  seine  Informiert- 
heit  als  j  enen  hintergriindigen 
Blick? 

Wir  verabschiedeten  uns  mit 
schatzungsweise  siebzehn  Kom- 
plimenten. 

Als  ich  mich  von  meiner  Be- 
schamung    erholt    hatte,    beschloB 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiyiiiiiifiiiiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinniiiiiniiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin 

ANTOON  THIRY 

DAS  SCHSNE  JAHR  DES  CAROLUS 

Roman  aus  dem  Holiandischen.    Leinen  5,50  RM 

DIeser  Roman   des  Jugendfreundes  Fetix  Tlmmermanns   gibt,   einziqartig   in  Plastik 

und  Farblgkelt  der  Schilderung,  das  BHd  elner  kielnen   hollSndlschen  Stadt,  das 

Schlcksal  Ihrer  Bewohner  und  ihres  stOrmischen  Helden. 

TRANS  MARE  V1R1AO  A.  -  O.,  BERLIN  W  10 

37 


ich,  mir  den  Text  der  Deutschen 
Verfassung  lieber  doch  nicht  an- 
zuschaffen. 

Denn  wozu  soil  man  sich  un- 
ntitz  argern? 

Peter  Scher 

Marcellus  In  Form 
A  us  einer  Anzeige  des  Verlages 
*"*  Gustav    Richter,    Leipzig,    im 
,Buchhandler-Borsenblatt': 

Marcellus,  Hermann:  Schnucki 
in  Form,  Schwank  in  1  Aufz. 

Marcellus,  Hermann:  Briider  in 
Ketten.  Die  Tragodie  dt.  Volks- 
genossen  im  Osten  in  3  Aufz. 

Llebe  Wellbuhne! 

17  in  bekannter  englischer  Finanz- 
"  mann  befand  sich  auf  einer 
Kontinentreise.  Wahrend  eines 
Ausflugs  mit  einer  groBern  Reise- 
gesellschaft  kam  die  Rede  auf 
die  nicht  immer  einwandfreien 
Methoden  der  Banken,  und  man 
bezweifelte,  dafi  die  Bankiers 
einen  sehr  entwickelten  Sinn  fur 
das   fair  play   hatten. 

„Wieso,  meine  Herren,"  mischte 
sich  unser  Finanzmann  ins  Ge- 
sprach,  ,fGestatten  Sie  mir,  Ihnen 
eine  kleine  Geschichte  zu  erzah- 
lent  die,  wie  ich  hoffe,  Sie  *  von 
dem  Gegenteil  uberzeugen  wird. 
Die  Geschichte  spielt  in  der  Ion- 
doner   City.    Zwei  Bankiers,   self- 


mademen,  die  es  zu  einen  erfolg- 
reichen  Geschaft  gebracht  haben, 
bemerken,  daB  ein  Junge,  der  bei 
ihnen  angestellt  ist,  von  Zeit  zu 
Zeit  Briefmarken  stiehlt.  Der 
eine  Bankier  will  das  Vergehen 
des  Jungen  bei  der  Polizei  zur 
Anzeige  bringen.  ,Seien  Sie  nach- 
sichtig/  sagt  der  andre,  ,Beden- 
ken  Sie,  dafi  auch  wir  selbst  mit 
Geringem  angefangen  haben/ 
Meine  Herren,  wiirden  Sie  das 
nicht   als   fair   play   bezeichnen?" 

„Op1imismus" 

Auch  das  schneidigste  Komplott 
(Stets  fiir  Vatcrland  und  Gott) 
Wird  zum  liberholten  Trott. 

Auch  der  strammc  Redeschwall 
Leiert  sich  allmahlich  all. 

Man  ist  das  ja  so  gewohnt, 
Dafi  es  von  Paraden  drohnt, 
Und  der  National-Extrakt 
1st  in  Hosen  eingesackt. 

Es  wird  kalt  —  und  uberall 
Kriecht  man  still  in  seinen  Stall. 

Nur  der  Hunger,  stumm  —  gefroren, 
Bleibt  an  diese  Welt  verloren; 
Eine  Millionenmasse 
Tragt  die  Fratze  seiner  Rasse. 

Doch  man  mache  sich  fiir  morgen 
Diesbeziiglich  keine  Sorgen : 

Mit  dem  ersten 
Frischen  Schnee 
Knallt  es  wieder: 
Heil! 
Juchhe 1 


Margarethe  Voss 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Adolf  Behne  beginnt  am  Donnerstag:  Fuhrungen  durch  das  Deutsche  Museum  und  die 
Nationalgalerte.     Karten  durch  die  Humboldt-Hochschule. 

Rote  Studentengruppe.  Sonntag  11.00.  Mozartsaal,  Nollendorfplatz.  Matinee:  AHn, 
Ernst  Busch,  Hans  Deppe,  Blandine  Ebinger,  Hanns  Eisler,  Paul  Graetz,  Trude 
Hesterberg,  Kate  Kuhl,  Lotte  Lenja,  Hans  Rodenberg,  Agnes  Straub,  Rosa  Valetti, 
Helene  Weigel,  Kurt  Weill. 

Gesellschaft  der  Freunde  der  Sozialistischen  Monatshefte,  Schadowstr.  8,  Deutsche 
Gesellschaft.  Dienstag  (12.  Jan.).  Felix  Stossinger,  Die  Sozialdemokratie  in  der 
deutschen   Politik.     Anschliefiend  kontradiktorische  Diskussion  (fur  jedermann). 

BOcher 

R.  N.  Coudenhove-Kalergi:  Gebote  des  Lebens,  Paneurqpa-Verlag,  Wien. 
Hermann  Wendel:  Franz 6s is che  Menschen.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  Konigsberg  19.35:  Wird  die  Menschheit  dummer  oder  kluger?  Axel  Egge- 
brecht.  —  Mittwoch.  Konigsberg  21.40:  Er  ist  an  allem  schuld  von  Leo  Tolstoi.— 
Stuttgart  21.45:  Rauberhauptmann  Cocosch  von  Otto  Rombach.  —  Donnenttaff. 
Breslau  18.05:  Vom  dichterischen  Schaffen,  Gerhart  GleiBberg.  —  Langenberg  18.10: 
Abbau  von  innen,  Erik  Reger,  —  Konigsberg  21.30;  Josef  Bunzl  liest  aus  Travens 
Regierung.  —  Muhlacker  21.45:  Alfred  Polgar  oder  Die  aphoristische  Form  in  der 
modernen  Literatur,  Hermann  Kempf.  —  22.00:  Alfred  Polgar  liest.  —  Freitag. 
Berlin  15.20:  Lebensschicksale  hervorragender  Frauen,  M.  M.  Gehrke.  —  Breslau 
21.20:  Schattenseite  von  Alfons  Paquet  ~  Sonnabend.  Langenberg  18.40:  Ein 
unterbliebener  Sterbefall,  F.  C.  Weiskopf, 

38 


Antworten 

Untersuchungsrichter  dcs  Reichsgerichts  beim  Landgericht  III, 
Berlin.  Wir  haben  am  30,  Dezember  1931  folgenden  Brief  an  Sie 
gerichtet:  ,tSie  lassen  uns  unter  dem  28.  Dezember  1931  das  nach- 
folgende  Schreiben  zugehen:  ,Die  Aushandigung  der  vier  Exemplare 
,Die  Weltbiihne',  die  am  28.  Dezember  an  Herrn  R.  Scheringer  ge- 
sandt  sind,  ist  nicht  genehmigt.  Auf  Anordnung  gez.  Hasenck, 
Justizsekretar.'  Uns  ist  nicht  bekannt,  daB  wir  am  28.  Dezember 
vier  Exemplare  der  .Weltbiihne'  an  Richard  Scheringer  gesandt  haben, 
es  dtirfte  sich  wohl  um  jene  vier  Hefte  handeln,  die  wir  am  24.  De- 
zember hier  abgehen  HeBen.  Sollte  diese  Voraussetzung  zutreffen, 
so  nehmen  wir  zur  Kenntnis,  daB  unsre  Bemerkungen  in  der  Num- 
mer  50  des  vergangenen  Jahres  berechtigt  sind,  daB  Sie  also  Leut- 
nant  Scheringer  moglichst  von  jeder  Verbindung  mit  der  Aufienwelt 
abschneiden.  Wir  stellen  fest,  dafi  alles  getan  wird,  Scheringer  die 
Unterstutzung,  die  er  durch  die  Presse  erhalt,  nicht  wissen  zu  lassen. 
Auf  einen  bloBen  Verdacht  hin  wird  hier  em  Mensch  nur  seiner  Ge- 
sinnung  wegen  in  der  Zwangsisolation  gehalten.  Das  hat  nichts  mehr 
mit  Untersuchungshaft  zu  tim,  das  ist  einfach  eine  unbefugte  Vor- 
wegnahme  der  Bestrafung  nach  einem  Urteil,  das  noch  gar  nicht  aus- , 
gesprochen  worden  ist.  Wort  fur  Wort  dessen,  was  wir  hier  in  der 
Nummer  50  zu  dem  Fall  geauBert  haben,  wird  durch  Ihr  rigoroses 
Verhalten  bestatigt.  Wir  konnen  nicht  umhin,  Ihnen  fur  diese  Be- 
statigung  unsrer  Ansichten  unsern  Dank  auszusprechen.  Leider  ver- 
missen  wir  die  Riicksendung  der  betreffenden  Hefte.  Da  die  Exem- 
plare fiir  Scheringer  und  nicht  fiir  Sie,  Ihre  Beamten  oder  gar  Hire 
Akten  bestimmt  waren,  so  ersuchen  wir  Sie  hiermit,  uns  die  Hefte 
in  dem  beigefiigten,  mit  einer  15-Pfennig-Marke  freigemachten  Um- 
schlag  umgehend  zuruckzusenden.  Hochachtungsvoll  gez.  Unter - 
schrift." 

Rolf  Niirnberg.  Sie  senden  uns  zu  dem  Artikel  von  Walter  Meh- 
ring  „Kleiner  Seitenhieb"  (1931,  Nr.  51)  diese  Berichtigung:  „Es  ist 
unwahr,  daB  ich  es  ,vom  Sport-  zum  Theaterkritiker  gebracht'  habe. 
Wahr  ist,  daB  ich  meine  journalistische  Tatigkeit  sowohl  innerhalb 
als  auch  auBerhalb  des  ,12-Uhr-Blattes'  als  Theaterkritiker  begon- 
nen  und  erst  Jahre  spater  die  Leitung  des  Sportteils  im  ,12-Uhr- 
Blatt1  iibernommen  habe.  Es  ist  unwahr,  daB  ich  im  ,12-Uhr-Blatf 
eine  .pekuniar  einfluBreiche  Position'  einnehme.  Wahr  ist,  daB 
zwischen  mir  und  dem  ,12-Uhr-Blatt'  auBer  meinem  Gehaltsverhaltnis, 
finanzielle  Beziehungen  irgendwelcher  Art,  sei  es  direkt,  sei  es  durch 
Mittelspersonen,  nicht  bestehen.  Es  ist  unwahr,  daB,  als  ich  neben 
Karl  Kraus  im  Theater  saB,  auf  mythischem  Wege  der  Name  des 
Obersetzers  Hopp  vom  Hirn  des  Herrn  Kraus  in  das  meine  gedrun- 
gen  sei.  Wahr  ist,  daB  ich  Monate  vorher  dem  kunstlerischen  Leiter 
der  Volksbiihne,  Herrn  Karl-Heinz  Martin,  auf  dessen  Anfrage  den 
Namen  Hopp  als  den  des  besten  Obersetzers  der  ,GroBherzogin  von 
Gerolstein1  genannt  habe."  Wir  haben  Walter  Mehring  Ihre  Zeilen 
zur  GegenauBerung  vorgelegt.  Walter  Mehring  erklart  sich  fur  des- 
interessiert. 

Volkischer  Beobachter.  Du  schreibst  am  16.  Dezember:  „Auf 
der  fWeltbiihne'  des  Herrn  Ossietzky  wird  zurzeit  eine  Haupt- 
und  Staatsaktion  gespielt.  Der  Titel  des  Stiickes  heiBt:  fLandes- 
verrat',  sein  Hauptinhalt  ist  eine  Verachtlichmachung  des  deutschen 
Soldaten.  Die  Auffiihrung  selbst  ist  eben  beim  retardierenden  Mo- 
ment (Moabit)  oder  beim  Moment  der  letzten  Spannung  angelangt. 
Bald  nach  der  Peripetie  miissen  aber  bei  einer  richtigen  ,Haupt-  und 
Staatsaktion',  die  schon  Goethe  als  blutriinstig  verabscheut,  Hinrich- 
tungen,  mindestens  in  contumaciam,  stattfinden."  Wenn  wir  bitten 
diirften,   etwas   deutlicherl 

39 


Mediziner,  In  dem  Bericht  Uber  die  XXII,  Tagung  der  Deut- 
schen  Gesellschaft  fiir  Gynakologie  zu  Frankfurt  a.  M.  (erschicnen 
im  Zentralblatt  fur  Gynakologie,  1931,  Nummer  37,  Seite  2784)  steht 
zu  lesen:  MH.  H.  Schmid  (Reichenberg)  vermifit,  dafi  in  den  berech- 
tigten  Fragen  der  Volksvermehrung  die  Arzte  mit  gutem  Beispiel 
vorangehen,  Er  stellt  daher  den  Antrag:  Die  Deutsche  Gesellschaft 
fur  Gynakologie  erwartet  von  jedem  ihrer  erbgesunden,  noch  im  ent- 
sprechenden  Alter  stehenden  und  mit  einer  gesunden  Frau  verheirate- 
ten  Mitglieder,  dafi  es  der  tibrigen  Bevolkerung  mit  gutem  Beispiel 
vorangehen  und  im  eignen  Familienkreise  mit  mindestens  drei  Kin- 
dern  zur  Erhaltung  des  deutschen  Volkes  beitragen  moge."  Woraus 
zu  lernen  ist,  daC  sich  das  deutsche  Volk  in  zwei  Teile  grupoiert;  in 
die  Mitglieder  der  Deutschen  Gesellschaft  fiir  Gynakologie  und  in  die 
„ubrige  Bevolkerung"*  Was  diese  drei  Kinder  anstellen  sollen,  das 
hat  sich  der  zeugungseifrige  Doktor  wohl  noch  nicht  tiberlegt,  Friiher 
hiefi  es  immer,  der  Kaiser  brauche  Sol  da  ten.  An  die  Stelle  dieser 
Devise  scheint  das  Motto  getreten  zu  sein:  der  Staat  braucht  Arbeits- 
lose,  Oder  welchen  andern  Sinn  sollte  es  haben,  wenn  jedes  Ehepaar, 
angespornt  durch  das  Beispiel  der  Arzte,  mindestens  drei  Kinder  zur 
Welt  zu  bringen  hat? 

Eifriger  Leser.  Sie  fragen  an,  ob  es  aufdringlich  ware,  wenn  Sie 
einem  unsrer  Mitarbeiter  Fragen  zu  seinen  Aufsatzen  vorlegten  und 
ihn  um  Ant  wort  bat  en.  Keineswegs,  er  wird  es  gern  tun.  Nur,  bitte, 
legen  Sie  ihm  Ruckporto  bei,  Es  kommt  nicht  nur  Ihr  Brief  an,  es 
kommen  jeden  Tag  welche;  oft  mit  Manuskripten,  die  zuriickgeschickt 
warden  sollen.     Denken  Sie,  was  das  im  Jahr  kostet. 

Internationale  Hilfs-Vereinigung.  Seit  funfzehn  Jahren  sitzen 
Tom  Mooney  und  Warren  Billings  unschuldig  im  amerikanischen  Zucht- 
haus.  Der  Beweis,  dafi  ihre  Verurteilung  zu  Unrecht  erfolgt  ist, 
wurde  bereits  mehrfach  erbracht,  Trotzdem  halt  man  die  Beiden 
noch  immer  fest.  Sie  haben  uber  den  Fall  eine  Broschiire  veroffent- 
licht,  die  man  bei  Ihnen  (in  Berlin  SW  68,  Wilhelmstrafie  135)  fiir 
zehn  Pfennige  kaufen  kann.  Ihre  Lekture  sei  auch  gewissen  deut- 
schen Stellen  empf ohlen,  die  bestimmt  dazu  beitragen  konnten,  den 
Beiden,  die  jenes  Bombenattentat  gar  nicht  begangen  haben,  zu  ihrer 
Freiheit   zu  verhelfen, 

Marxistische  Arbeiterschule.  Die  Vorlesungen  des  ersten  Quar- 
tals  haben  begonnen.  Die  Kurse  sind  erheblich  erweitert  worden.  Wer 
Naheres  wissen  will,  wende  sich  an  euer  Schulbureau,  Berlin  O  27, 
Schicklerstrafie  6,   III  (Kupfergraben  29  95). 

Notverordnungsempfanger.  Neulich  fragten  wir  einmal  einen 
unsrer  Mitarbeiter,  wen  er  denn  fiir  den  aussichtsreichsten  Nachfolger 
Hindenburgs  halte.  Er  antwortete:  „Ich  habe  gehort,  durch  die  nachste 
Notverordnung  werde  der  betreffende  Absatz  der  Reichsverfassung 
dahin  geandert,  dafi  jeweils  nach  Ablauf  der  sieben  Jahre  der  rang- 
alteste  General  Reichsprasident  wird."  Und  so  wird  es  ja  auch 
kommen. 


Manuskripte  aind  nur  an  die  Redaction  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten ;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegea,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann. 
Das  Auf  fQhrungsrecht,  die  Verwertung  tou  Tlteln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  RadioTortragen 
blelben  fOr   alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitrage  ausdrucklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Cad  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirlcung  von    Kurt  Tucholsky  geleitet.  —  VerantwortHoh :   Carl  v.  Ossietzky,   Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  C  1,  Steinplatz  7757.   —  Postscheckkonto :  Berlin  11958. 
'Banklconto:     Darmstadter    u.    Nationalbank.      Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.   112. 


XXVfll,  Jahrgang  12.  Janoar  1932 Ntimmcr  2 

Eiserne  Front  von  cari  v.  ossietzky 

Cin  ncues  Schlagwort  soil  jetzt,  nach  Beendigung  des  weih- 
1-1  nachtlichen  Burgfriedens,  seine  Wirkung  erweisen.  Die 
„Eiserne  Front"  der  Republikaner  formiert  sich.  Die  SPD, 
das  Reichsbanner,  Gewerkschaften  verschiedener  Richtung,  re- 
publikanische  Biinde,  sie  alle  wollen  sich  zur  Abwehr  des 
Fascismus  zusammenschliefien.  Die  Front  ist  iang,  daran  ist 
kein  Zweifel,  wie  tief  sie  gehtt  welches  ihre  ideellen  Reserven 
sind,  das  laBt  sich  noch  nicht  leicht  abschatzen.  Einige  Ab- 
schnitte  der  Front,  dort  wo  Arbeiter  stehen,  verdienen  wohl 
wirklich  eisern  genannt  zu  werden,  andre  sind  axis  biegsame- 
rem  Stoff  gemacht  und  einige  nicht  besser  als  Pfannkuchenteig. 
Auf  Ausdauer,  auf  Nachschub  kommt  alles  an-  Die  Politik 
stent  in  einer  Epoche  von  Materialschlachten. 

Es  ist  nicht  leicht,  zu  einer  Bewegung  kritisch  Stellung  zu 
nehmen,  der  jedes  gute  Gliick  zu  wiinschen  ist.  Der  Einzehie, 
der  zur  Aktivitat  gegen  den  Fascismus  gewillt  ist,  darf  nicht 
entmuligt  werden.  Aber  grade  weil  der  einzelne  Combattant 
so  hoch  einzuschatzen  ist,  deshalb  mu8  deutlich  ausgesprochen 
werden,  daB  das  Schwachste  an  der  Eisernen  Front  die  Kom- 
mandohohen  sind. 

Herr  Karl  Holtermann,  der  neue  Generalstabschef  des 
Reichsbanners,  gehort  zu  jenen  Sozialdemokraten,  die,  pessi- 
mist isch  geworden,  den  Glauben  an  das  Proletariat  als  Klasse 
verloren  haben.  Es  ist  zu  einfach,  diese  Haltung  als  Gesin- 
nungslosigkeit  zu  denunzieren.  Die  Fuhrerschicht,  unter  ganz 
andern  Verhaltnissen  gebildet  und  gereift,  steht  mude  und 
weise  vor  einem  Wirtschaitswirrwarr,  der  die  gewohnten  Klas- 
sengrenzen  verwischt  und  die  erlernte  Marxfibel  scheinbar  ad 
absurdum  fiihrt,  \  Herr  Hilferding  zum  Beispiel  konstatiert  all- 
gemeine  Korperschwache  des  Kapitalismus,  folgert  daraus  aber 
nicht  etwa  die  Notwendigkeit,  den  Patienten  baldigst  abzu- 
sagen,  sondern  fordert  vielmehr  die  Arbeiter  auf,  ihn  hoch- 
zupappeln,  damit  sie  wieder  mehr  verdienen.  I  Hilferding  ist 
gewiB  ein  Mann  von  starkem  theoretischem  Fundament  und 
Befahigung  zu  weitem  weltpolitischem  Blick,  aber  so,  ohne  Ziel 
und  ohne  Feuer,  gleicht  er  allzu  sehr  einem  hochgebauten 
Leuchtturm,  auf  dem  nur  eine  kleine  Steatinkerze  steht,  Der 
Glaube  an  die  geschichtsbildende  Kraft  des  Proletariats  ist  da- 
hin,  die  eigne  Mutlosigkeit  der  Fiihrerkaste  wird  auf  die  ganze 
Klasse  projiziert. 

Herr  Holtermann  setzt  also  nicht  auf  die  Arbeiterschaft 
sondern  auf  das  biirgerliche  Republikanertum,  das  gewiB  noch 
.  vorhanden  ist,  aber  audi  nur  zahlenmaBig  nicht  uber  die  Be- 
deutung  einer  Hilfstruppe  hinauslangt.  Die  einigende  Formel 
Holtermanns  aber  ist  ein  sozial  angehauchter  Patriotismus,  die 
Auftakelung  des  beruhmten  „Frontkampfergeistes"  als  Links- 
parole,  jetzt,  nachdem  nicht  einmai  mehr  der  wohltatig  still  ge- 
wordene  Herr  Treviranus  damit  Staat  zu  machen  versucht.   Zu 

1  41 


diesem  Programm  aber  gehort  die  Briiskierung  von  Pazifisten 
und  Antimilitaristen,  die  ein  so  vaterlandisch  gestelltes  Bild 
naturgemaB  trtiben.  / 

Der  neue  Reichsbanner-Duce  glaubt  nicht  an  den  Demos, 
aber  er  hat  trotzdem  seine  Gotter.  Die  heiBen  Hindenburg, 
Briining,  Groener,  Dietrich,  An  diesen  Vorbildern  soil  die  re- 
publikanische  Renaissance  sich  bilden.  Das  ist  Holtermanns 
verhangnisvoller  Irrtum.  Denn  Hitler  ist  nicht  mit  politischer 
Ideologie  zu  schlagen  sondern  mit  der  sozialen  Realitat.  Das 
ist  nur  moglich  durch  sozialen  Kampf,  in  dem  der  Fascismus 
gezwungen  wird,  seine  Arbeiterfeindlichkeit  und  seine  kapi- 
talistische  Horigkeit  zu  entlarven.  An  diesem  Punkt  aber 
werden  nicht  nur  Holtermanns  biirgerliche  Hilfsvolker  streiken 
sondern  mehr  noch  jene  hohen  Amtsstellen,  unter  deren  Pa- 
tronat  er  seine  Aufgebote  gern  stellen  mochte. 

Eine  republikanische  Renaissance  mit  dem  Segen  der  Reichs- 
bureaukratie  war  in  bessern  Zeiten  schon  eine  innere  Unwahr- 
haftigkeit,  aber  immerhin  auBerlich  moglich.  Inzwischen  ist 
die  Wilhelm-StraBe  griindlich  von  reaktionaren  Elementen 
durchsetzt  worden;  linksgerichtete  Beamte  haben  inzwischen 
den  Mantel  nach  dem  Winde  gekehrt,  und  auch  mit  manchen 
sozusagen  Treugebliebenen  ist  es  nicht  weit  her,  wie  mit  Herrn 
Doktor  Zechlin,  der  sich  vor  ein  paar  Tagen  in  einem  Prdzefi 
mit  viel ,  unfreiwilliger  Komik  produzierte.  Herr  Zechlin  ist 
nach  seiner  eignen  Aussage  zwar  Sozialdemokrat  aber  nicht 
antifascistisch  und  dazu  1(ein  loyaler  alter  Beamter,  auch  noch 
aus  der  Kaiserzeit/'  Es  ist  das  Amt  des  Herrn  Zechlin,  *dem 
Herrn  Reichsprasidenten  jeden  Vormittag  eine  Viertel-  bis  eine 
Halbestunde  Vortrag  zu  halten,  besonders  iiber  die  auslandische 
Presse.  Mit  berechtigtem  Berufsstolz  erklart  Herr  Zechlin: 
,,Ich  maBe  mir  an,  daB  der  Herr  Reichsprasident  durch  meine 
Vortrage  zu  den  griindlichst  orientierten  Staatsmannern  ge- 
hort."  Toi,  toi,  Herr  Pressechefi  Etwas  wird  der  Herr  Reichs- 
prasident doch  wohl  aus  eignem  beisteuern.  Aber  so  sieht  die 
hohe  Bureaukratie  aus,  auf  die  Holtermann  seine  Kirche  bauen 
wilL  Ihre  Loyalitat  stammt  noch  aus  der  Kaiserzeit,  Was 
nicht  bestritten  wird. 


Die  Reichsregierung  mochte  Hindenburgs  Amtszeit  ver- 
langern,  urn  iiber  die  Unannehmlichkeiten  eines  Wahlkampfes 
hinwegzukommen.  Die  Unsicherheit  der  Parteien  kommt  die- 
sem Wunsch  entgegen.  Die  biirgeriichen  Mittelparteien  haben 
keinen  zugkraitigen  Namen;  Groener,  der  sich  selbst  geschickt 
in  den  Mittelpunkt  schob,  ist  fur  jeden  Mann  der  Linken  undis- 
kutierbar.  Es  ist  auch  abwegig,  anzunehmen,  Soziaidemokra- 
ten  und  Kommunisten  waren  auf  einen  gemeinsamen  Nenner 
zu  bringen..  Die  Aufstellung  Thalmanns  aber  wiirde  automa- 
tisch  die  Wahl  des  Kandidaten  der  Rechten  herbeifiihren.  Wil- 
helm  Sollmann  gibt  dem  ausgesprochenen  Obelbefinden  der 
Sozialdemokratie  melodisch  Ausdruck;  „Wir  halten  es  fiir 
selbstverstandlich,  daB  ein  solcher  Versuch  gemacht  werden 
raufi,  wenn  der  Reichsprasident  sich  bereit  erklart,  einem 
solchen  Rufe  der  Volksvertretung  Folge  zu  leisten"      Sollmann 

42 


iibersieht,  daB  es  sich  nicht  um  die  Person  des  Reichsprasi- 
dcnten  -allein  handelt,  die  Prolongation  der  Amtszeit  Hinden- 
burgs  bedeutet  ein  verdoppeltes  Bekenntnis  zu  Briining.  Denn 
der  Name  Hindenburg  ist  die  mythische  Saule,  auf  der  das 
System  Briining  ruht.  Das  Provisorium  mit  den  ,,kleinern 
Obeln"  geht  weiter.  Ein  Prinzip  gibt  es  iiberhaupt  nicht  mehr, 
nur  noch  das  „kleinere  Obei",  Ein  von  uns  sonst  hochgeschatz- 
ter  Demokrat  geht  jetzt  um,  und  propagiert  die  Kandidatur 
des  Exkronprinzen.  Auf  Grund  der  Theorie  vom  „kleinern 
Obel". 

Die  Regierung  hat  sich  auch  an  Adolf  Hitler  gewandt,  um 
ihn  in  das  KompromiB  einzubeziehen.  Gegen  die  Verhandlung 
mit  der  extremen  Rechtsopposition  ware  nichts  einzuwenden, 
wenn  man  auch  die  groBe  Partei  der  Linksopposition  zur  Be- 
sprechung  eingeladen  hatte.  Warum  also  nicht  auch  Thal- 
mann? 

Wie  diese  Verhandlungen  der  Regierung  mit  Hitler  auch 
auslaufen  mogen,  starker  als  je  wird  sie  von  nun  ab  im  Schat- 
ten  des  Nationalsozialismus  stehen.  Hitler  ist,  wenn  er  Ge- 
falligkeiten  erweist,  nicht  billig.  Und  selbst  wenn  man  mit 
ihm  diesmal  nicht  zu  Rand  kommt,  wird  er  durch  erhohten 
Druck  von  auBen  desto  kraftiger  seine  Unentbehrlichkeit  be- 
weisen.  Es  verdient  festgehalten  zu  werden,  daB  in  diesem 
Zusammenhang  Herr  Groener  als  Vermittler  genannt  worden 
ist.  Erst  das  Fruhstiick  bei  Schleicher,  und  nun  fungiert  der 
Minister  der  Exekutive,  der  Garant  fur  die  Verfassung,  fur 
Sicherheit  und  Ordnung  als  ehrlicher  Makler  fur  die  Verstandi- 
gung  mit  dem  Fuhrer  der  staatsfeindlichen  Partei, 

Der  Weg  des  deutstihen  Fascismus  ist  nicht  der  des  offnen 
Aufruhrs.  Die  Selbstabdankung  der  Demokratie  hat  ihm  die 
ersten  Triumphe  ermoglicht,  die  von  Briining  jetzt  vollendet 
werden.  Was  braucht  Hitler  legal  zu  werden,  Briining  selbst 
ist  est  der  ihn  legalisiert.  Was  will  eine  eiserne  Front  gegen 
dies  System  der  Abmachungen  hinter  gepolsterten  Tiiren  aus- 
richten?  Was  bedeuten  Massenaufmarsche  gegen  diese 
trockene  Fascisierung?  Was  das  national  getonte  Republikaner- 
tum  Holtermanns  gegen  die  frostige  Kalkulation  der  Regie- 
renden?  Wollte  das  Reichsbanner  sich  wirklich  einmal  den 
Luxus  leisten,  praktische  republikanische  Politik  zu  treiben, 
so  miiBte  es  zunachst  einmal  verlangen,  daB  Herr  Groener  aus 
dem  Innenministerium  verschwindet.  Bei  dieser  Personal- 
union  zwischen  Innenministerium  und  Reichswehr  wird  die  Re- 
publik  stiickweise  an  die  Generale  verhandelt.  Aber  das 
hiefie  natiirlich  Stellungnahme  gegen  das  System  Briining  iiber- 
haupt und  gegen  alle  Leute,  mit  denen  es  Holtermann  nicht 
verderben  will.  So  wird  sich  das  ganze.Unternehmen  in  deko- 
rativen  Protesten  verpulvern, 

Es  ist  eine  Illusion,  den  Fascismus  „abwehren"  zu  wollen. 
Man  mufi  ihn  auf  seinem  eignen  sozialen  Terrain  angreifen, 
Wenn  die  Parteien  der  Arbeiterklasse  das  endlich  begriffen 
haben,  erst  dann  werden  wieder  proletarische  Krafte  in 
Deutschland  entstehen,  die  Geschichte  machen,  anstatt  sie  zu 
bremsen. 

43 


Gewerkschaftlicher  und  politischer  Streik 

von  K.  L.  Gerstorff 

P\  ie    neue  Notverordnung    ist    in  Kraft,     Die  Strcikversuche 

von  kommunistischer  Seite  sind  klaglich  zusammen- 
gebrochen.  Und  das  ist  kcin  Zufall, ,  Die  Kommunisten  haben 
in  den  vergangenen  Monaten  an  manchen  Stellen  Streiks  an- 
zuzetteln  versucht,  die  von  vornherein  zur  volligen  Aussichts- 
losigkeit  verurteilt  waren,  weil  die  entscheidende  Vorausset- 
zung  einer  starken  Bewegung  fur  den  Streik  ira  Betrieb  fehlte, 
Dadurch  haben  sich  die  Kommunisten  immer  starker  von  den 
Betriebsarbeitern  isoliert,  sind  sie  immer  mehr  zu  einer  Er- 
werbslosenpartei  geworden.  Mit  ihrer  ultralinken  Streiktaktik 
haben  sie  die  Aktionsbereitschaft  derArbeiter  keineswegs  ver- 
starkt;  im  Gegenteil,  die  reformistische  Gewerkschaftsbureau- 
kratie  versucht  nunmehr  mit  dem  hohnischen  Hinweis  auf  die 
MiBerfolge  der  Streikbewegungen  den  Arbeitern  einzureden, 
daB  man  iiberhaupt  nicht  streiken  konne. 

Das  ist  grundverkehrt,  Doch  muB  vorerst  betont  werden, 
daB  die  Organisierung  von  Streiks  zurzeit  nicht  nur  durch  die 
ultralinke  Taktik  der  Kommunisten  erschwert  wird,  sondern 
in  weit  starkrem  Umfange  durch  die  Fiihrung  der  freien  Ge- 
werkschaften,  Es  ist  selbstverstandlich,  daB  heute  ein  groBer 
wirtschaftlicher  Streik  in  kurzer  Zeit  in  den  politischen  Kampf 
umschlagen  und  das  kapitalistische  System  in  seinen  Grund- 
festen  bedrohen  wiirde.  Und  davor  hat  die  Fiihrung  der  Ge- 
werkschaften  eine  gewaltige  Angst,  ebenso  wie  sie  beim  Be- 
ginn  des  imperialistischen  Krieges  und  in  seinem  Verlauf  vor 
jeder  Aktion  Angst  hatte.  Heute  wie  damals  das  gleiche 
Bild.  Ein  bezeichnender  Beleg.  Im  ,Vorwarts*  vom  31.  De- 
cember nimmt  Leipart  zum  Reparationsproblem  Stellung.  Hier 
bekennt  sich  der  Vorsitzende  der  freien  Gewerkschaften  voll- 
kommen  eindeutig  zur  Kriegspolitik  der  deutschen  Sozialdemo- 
kratie  vom  4.  August; 

,,Wie  es  Bebel  vorausgesagt  hat,  sind  Hunderttausende  und  Aber- 
hundcrttausende  iiberzeugte  Anhanger  der  deutschen  Arbeiterbewegung 
in  die  Schtitzengraben  der  deutschen  West-  und  Ostfront  gezogen, 
urn  unser  Land,  das  sie  zur  Heimat  aller  Deutschen  machen  wollten, 
zu  verteidigen ...  in  dieser  Zeit  larmender  Propaganda  fiir  kiinftige 
nationale  Leistungen  scheint  es  mir  notwendig,  auf  schweigend  voll- 
brachte  nationale  Leistungen  hinzuweisen,  auf  die  Taten  der  unver- 
gessenen  Toten  in  unsern  Reihen,  die  fiir  das  von  uns  ertraumte  und 
gewollte  Deutschland  fielen,  das  sie  zu  einem  freien  und  grofien 
Volksstaat   machen  wollten/' 

Diese  Burgfriedenspolitik  vom  4.  August  1914  sucht  Lei- 
part  fiir  die  heutige   politische  Situation  wieder  herzustellen: 

„Dieser  Zwang,  unter  dem  unser  Volk,  und  besonders  die  deutsche 
Arbeiterklasse  seit  uber  einem  Jahrzehnt  steht,  sind  die  Reparatio- 
nen,  die  heute,  nachdem  die  zerstorten  Gebiete  im  Westen  langst 
wiederhergestellt  sind,  auch  des  Scheins  einer  sachlichen  Berechti- 
gung  entbehren,  wahrend  ihre  moralische  Begriindung  in  der  angeb- 
lichen  Alleinschuld  Deutschlands  am  Kriege  niemals  von  der  Deut- 
schen Arbeiterschaft  anerkannt  worden  ist.11 

Die  deutschen  Arbeiter  sollen  also  nach  Leipart  in  einer 
Zeit  unter  dem  Zwang  der  Reparationen  gestanden  haben,  wo 

44 


die  deutschen  Kapitalisten  nach  ihrem  eignen  Eingestandnis 
kcinc  Reparationen  gezahlt  haben.  Und  was  ist  die  Aufgabe 
der  deutschen  Arbeiterklasse? 

,,Sie  hat  seit  elf  Jahren  die  Annullierung  der  Reparationen  und 
interalliierten  Kriegsschulden  gefordert.  Sie  mufi  heute  erklaren,  daB 
die  Reparationen  zuerst  fallen  miissen , , .  Die  Losimg  des  Repara- 
tionsproblems  im  Sinne  der  wirtschaftlichen  Vernunft  wiirde  das 
Signal  sein  zur  Wiederkehr  des  Vertrauens  in  eine  friedliche  wirt- 
schaftliche  und  politische  Entwicklung  nicht  nur  Europas,  sondern 
der  Welt/' 

Hier  wird  also  ganz  deutlich  gesagt:  Beseitigung  der  Re- 
parationen ist  Voraussetzung  fur  die  Beseitigung  der  gesamten 
Krise.  Die  zehn  Millionen  Arbeitslosen  in  den  Vereinigten 
Staaten  sind  also  nach  der  Ansicht  dieser  Gewerkschaftler 
auch  nur  durch  die  Reparationszahlungen  entstanden.  Hier 
wird  die  deutsche  Arbeiterschaft  iiber  die  wirklichen  Ursachen 
der  Krise  bewuBt  getauscht.    Aber  es  kommt  noch  besser: 

„Diese  befreiende  politische  Tat  (die  Losung  des  Reparations- 
problems)  ware  zugleich  der  Anfang  vom  Ende  des  Nationalsozialis- 
mus,  denn  diese  Bewegung  lebt  von  der  Agitation  gegen  die  Fortdauer 
einer  widersinnigen  Machtpolitik,  die  in  den  Reparationen  ihren  kras- 
sesten    Ausdruck    findet." 

Nach  Leipart  hat  also  der  Fascismus  keine  Funktion  fiir 
das  Monopolkapital.  Er  schwebt  fiir  ihn  klassenmaBig  in  der 
Luft.  Und  Leipart  glaubt,  wenn  man  eine  Einheitsfront  invRe- 
parationsproblem  herstelle,  wenn  man  sich  nationalistischer 
zeige  als  die  Nazis,  dann  grabe  man  ihnen  das  Wasser  ab. 

Das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Die  nationalistische  Ver- 
seuchung,  die  Wiederherstellung  der  Burgfriedenspolitik  vom 
4.  August,  die  Reparationseinheitsfront  von  Hitler  bis  Leipart, 
die  ideologische  Verkleisterung  der  deutschen  Arbeiterklasse 
erleichtern  dem  Fascismus  den  Weg.  Man  wird  mit  ihm  nicht 
fertig,  wenn  man  seine  nationalistischen  Phrasen  zum  Teil 
ubernimmt. 

Der  Kampf  gegen  den  Fascismus  muB  gleichzeitig  als 
Kampf  gegen  die  Notverordnung  gefiihrt  werden.  Er  muB  sich 
also  in  erster  Reihe  gegen  den  Lohnraub  richten.  Das  wagt  die 
Sozialdemokratie  nicht,  das  wagt  die  Fuhrung  der  freien  Ge- 
werkschaften  nicht,  weil  sie  weiB,  daB  dieser  Kampf  in  den 
revolutionaren  umschlagen  muB,  Aber  weil  sie  spurt,  daB  sie 
damit  die  Arbeiterklasse  immer  passiver  macht,  wachst  die 
passive,  die  mutlose,  die  hoffnungslose  Stromung  auch  inner- 
halb  der  Sozialdemokratie,  der  Gewerkschaften  und  ihrer  Fiih- 
rung  immer  mehr.  Man  fragt  sich  vielfach  nicht  mehr:  Wird 
der  Fascismus  siegen?  sondern  man  fragt:  Was  wird  er  tun, 
wenn  er  zur  Macht  gelangt?  Wird  er  die  parlamentarischen 
Spielregeln  innehalten,  wird  er  legal  bleiben,  wird  er  sich 
mit  einer  Koalitionsregierung  begniigen,  wird  er  nur  einzelne 
Ministerien  besetzen,  wird  er  die  Sozialdemokratie  und  die 
freien  Gewerkschaften  bestehen  lassen?  Es  kann  nicht  frtih 
genug,  es  kann  nicht  scharf  genug  gegen  diese  Kapitulations- 
stromung  Front  gemacht  werden.  Und  wenn  einzelne  Re- 
formisten  glauben,  bei  „Wohlverhalten '  gegeniiber  dem  Fascis- 
mus werde   er   die   gegnerischen   Arbeiterorganisationen   tole- 

2  45 


riereni  so  wird  es  nach  dem  Siege  des  Fascismus  ein  entsetz- 
fiches  Aufwachen  aus  diesen  Illusionen  geben.  Einzelne  Ar- 
beiterfiihrer  konnen  und  werden  zu  den  Fascisten  uberjauferi, 
die  Arbeiterorganisationen  aber  wird  das  Dritte  Reich  nicht 
iibernehmen. 

Die  Konterrevolution  ist  hier  marxistischer  als  der  Re- 
formismus.  Sie  hat  Lenin  besser  yerstanden.  Ebenso  wie  es 
eine  reformistische  Illusion  ist,  zu  glauben,  daB  man  den  biir- 
gerlichen  Staat  einfaoh  iibernehmen  kann,  wo  doch  im  Gegen- 
teil  die  sozialistische  Revolution  den  biirgerlichen  Staat  zerschla- 
gen  muO,  urn  auf  seinen  Triimmern  die  proletarische  Diktatur  zu 
errichten,  ebenso  wenig  kann  die  Konterrevolution  die  Organi- 
sationen  der  Arbeiterschaft  einfach  iibernehmen  und  umbilden. 
Sie  mufl  sie  zerschlagen  und  auf  ihren  Triimmern  Zwangs- 
organisationen  aufbauen,  fiir  die  Italien  Beispiel  ist. 

Von  der  Politik  des  4.  August  iiber  die  Tolerierung  der 
ersten  Regierung  Briining  und  die  Tolerierung  des  neuen  Lohn- 
raubs  fiihrt  eine  klare  Linie  bis  zur  offenen  Tolerierung  einer  Re- 
gierung Hitler,  bis  zur  Obernahme  national-fascistischer  Ideolo- 
gien  in  immer  groBerem  Umfange,  Gegen  die-  ultralinke  Poli- 
tik der  Kommunistischen  Partei,  gegen  den  Reformismus  und 
Nationalismus  in  der  Fiihrung  der  Gewerkschaften  miissen  also 
die  Streiks  heute  organisiert  werden,  Dazu  ist  ein  radikaler 
Kurswechsel  in  den  Gewerkschaften  notwendig.  Die  Voraus- 
setzungen  dafiir  sind  nicht  ungiinstig,  weil  die  Millionenmas- 
sen  der  Gewerkschaftsmitglieder  absolut  unzufrieden  mit  ihrer 
reformistischen  Fiihrung  sind  und  ihr  spontaner  Aktivitats- 
drang  nur  darum  noch  nicht  einen  organisiert  en  Ausdruck  ge- 
funden  hat,  weil  die  Kommunisten  an  den  aussichtslosesten 
Punkten  Streiks  unternommen  haben. 

Bei  der  riesigen  Arbeitslosigkeit  und  Kurzarbeit  ist  der  ge- 
werkschaftliche  Kampf,  der  sich  nur  gegen  einen  Unternehmer 
oder  eine  Gruppe  von  Unternehmern  richtet  und  sich  nur  auf 
einen  Betrieb  oder  einen  Teil  eines  Industriezweiges  be- 
schrankt,  in  den  meisten  Fallen  aussichtslos.  Doch  das,  was 
die  Gewerkschaften  auf  dem  Gebiet  des  gewerkschaftlichen 
Lohnkampfes  verloren  haben,  haben  sie  auf  politischem  Ge- 
biet gewonnen.  Das  ganze  kapitalistische  System  ist  so  zer- 
murbt  und  in  seinen  Grundfesten  so  erschiittert,  daB  es  einer 
entschlossenen  Massenaktion,  die  vor  den  Konsequenzen  nicht 
zuriickschreckt,  schwer  standhalten  kann.  Diese  Tatsache  muB 
von  den  Gewerkschaften  planmaBig  und  konsequent  ausgewer- 
tet  werden.  Sie  miissen  systematisch  den  Kampf  der  Arbeiter- 
massen  gegen  Lohnraub  und  Abbau  der  sozialen  Rechte  und 
Unterstiitzungen  iiber  den  engen  gewerkschaftlichen  Rahmen 
hinausfiihren  und  ihn  zu  einem  politischen  machen. 

Die  entscheidende  Frage  ist:  Wie  leitet  man  die  gewerk- 
schaftlichen Kampfe  in  politische  Massenaktionen  iiber? 

Die  schematische  Losung  „politische  Massenstreiks"  ge- 
niigt  hier  nioht.  Es  kommt  vielmehr  darauf  an,  aus  den  je- 
weils  gegebenen  konkreten  Anlassen  heraus  politische  Mas- 
senaktionen zu  entwickeln.  Ein  solcher  AnlaB  bestand  im 
August  1931,  wo  bei  korisequenter  Fiihrung  des  Kampfes  der 

46 


iibjer  ganz  Deutschland  ausgcdehntc  Streik  der  350  000  Ge- 
meindearbeiter  zur  Abwehr  des  Lohnabbaus  und  der  Angriffe 
auf  das  Tarifrecht  einen  unwiderstehlichen  politischen  Druck 
au!  die  Regierung  und  die  herrschende  Klasse  hatte  ausiiben 
konnen,  der  sie  zum  Nachgeben  gezwungen  hatte. 

Ein  soloher  Kampf  ist  gieichzeitig  geeignet,  nicht  nur 
direkte  Ziele  (Abwehr  des  Lohnabbaus  und  der  Angriffe  auf 
das  Tarifrecht)  zu  erreichen,  sondern  dariiber  hinaus  die  Be- 
seitigung  der  arbeiterfeindlichen  Notverordnung,  Einfiihrung 
der  gesetzlichen  40-Stundenwoohe  mit  vollem  Lohnausgleich 
und  ahnliche  politische  Forderungen  des  Proletariats  durch- 
zusetzen.  Gleiche  Situationen  waren  vorhanden  beim  berliner 
Metallarbeiterstreik,  Oktober  1930,  beim  Konflikt  im  Ruhr- 
bergbau  Januar  und  Anfang  November  1931.  Derartige  Si- 
tuationen werden  sich  bei  der  heutigen  Lage  immer  haufiger 
wiederholen.  Es  kommt  darauf  an,  solche  Gelegenheiten  aus- 
zuniitzen  und  jetzt  schon  die  Arbeiterklasse  und  die  Gewerk- 
schaften  darauf  vorzubereiten. 

Die  passive  Taktik  der  Gewerkschaftsfuhrung,  die  den 
immer  brutalern  Lohnabbau  nur  mit  Protesten,  aber  nicht  mit 
Aktionen  bekampft,  die  ultralinke  Taktik  der  Kommunisti- 
schen  Partei  haben  bisher  entscheidende  Streikaktionen  ver- 
hindert.  Es  gilt,  an  zentralen  Stellen,  wenn  der  Wille  der  Be-* 
legschaft  vorhanden  ist,  kraftvoll  vorzustofien;  an  den  Stellen, 
wo  der  wirtschaftliche  Streik  in  den  politischen  umschlagt. 
Wird  hier  einmal  Bresche  gelegt,  gelingt  hier  die  Aktion  der 
Arbeiterschaft,  dann  wird  sich  der  Kampf  auf  verbreiterter 
Basis  weiterfiihren  lassen. 


Kriegsrakete  „im  Dienste  der  Menschheit" 

von  Helen*  Stacker 

FVe  Kanone  wandert  ins  Museum.  In  der  Tat,  es  erfullt 
sich  endlich,  was  Victor  Hugo  schon  vor  einem  Jahrhun- 
dert  verlangt  hat.  Aber  offenbar  nur,  um  einem  noch  grauen- 
volleren  Zerstorungsmittel  zu  weichen:  der  Kriegsrakete.  Ihr 
erster  englischer  Erfinder,  Sir  William  Congreve,,  wiinschte 
schon  vor  einem  Jahrhundert  deren  bis  dahiu  nur  fiir  harm- 
lose  Feuerwerkskunst  benutzte  Kraft  „in  den  Dienst  der 
Menschheit"  zu  stellen,  wie  er  es  treffend  ausdriickte.  Damit 
meinte  er  —  fiir  rtickstandige  Geister  und  naive  Gemtiter  aus- 
driicklich  erlautert  — :  ihre  Fahigkeit  solle  zur  Vernichtung 
Tausender  von  „feindlichenM  Menschenleben  ausgebildet  wer- 
den. Schon  in  den  Kampfen  Englands  gegen  Kopenhagen,  ge- 
gen  Frankreich  vor  einem  Jahrhundert  wurde  sie  verwendet. 
Aber  heute  sind  wir  weit  dariiber  hinausgelangt.  Was  mensch- 
liche  Zerstorungskunst  heute  zu  leisten  vermag,  dem  gegen- 
uber  ist  die  Rakete  yon  vor  hundert  Jahren  ein  harmloses 
Spielzeug,  So  erzahlt  uns  voll  sachkundigem  Stolz  Farain 
Edwards,  die  Kriegsrakete  sei  die  „neueste  Spitzenleistung  auf 
dem  Gebiete  der  modemen  Kriegstechnik,  welche  vermutlich 
die  ganze  Kriegstechnik  revolutionieren"  werde. 

47 


Aber  horen  wir  von  ihm,  welche  begluckenden  Zukunfts- 
aussichten  sich  uns  eroffnen:  ,,Eine  kriegfuhrende  Macht  wird 
in  die  Lage  vcrsctzt  werden,  viele  Tausend  Kilometer  weit 
liegende  Stadte  zu  bombardieren.  Jeder  Infanterist  wird  in 
einen  Reise-Artilleristen  umgewandelt  werden,  wird  die 
Schlacht  tiber  die  Frontlinie  bis  zu  den  Wohnstatten  der  Nicht- 
kampfer  und  Zivilisten  in  den  Hauptstadten  der  Welt  vor- 
tragen  konnen,"  Haben  wir  doch  inzwischen  —  welcher  Fort- 
schritt!  —  einen  Hiissigen  Brennstoff  erf  und  en.  Die  Raketen 
konnen  mit  dessen  Hilfe  auf  Flugkontrolle  eingestellt  werden, 
Man  kann  ihren  Flug  beschleunigen  oder  verlangsamen.  Ihre 
Treffsicherheit  ist  mindestens  gleich  der  Treffsicherheit  der 
Artillerie.  Wir  besitzen  schon  eine  Treffsicherheit  liber  1,5 
Kilometer,  und  man  glaubt  in  Zukunft  —  nach  den  Planen  von 
Max  Valier  —  den  Weg  zum  Beispiel  von  Europa  nach  Ame- 
rika  in  etwa  rund  hundert  Minuten  zuriicklegen  zu  konnen. 
Diese  Kriegsrakete  der  Zukunft  werde  mit  chemischer 
Masse  geladen  sein,  mit  fliissigem  Feuer,  mit  Schrapnells  oder 
rauchverbreitenden  Chemikalien.  Und  die  Kampftruppeu  in 
einem  Kriege  vermogen  ein  Inferno  zu  verbreiten,  das  tau- 
sende  und  abertausende  Tode  in  sich  schlieBt.  Und  zu  gleicher 
Zeit  starren  die  Einwohner  irgend  einer  tausende  von  Kilo- 
metern  vom  Schlachtfeld  entfernten  Stadt  angsterfiillt  in  den 
Himmel  und  erwarten  abwehrbereit  (wie  soil  diese  ,Abwehr# 
erfolgen?)  die  erste  Rakete,  die  Tod  und  Verderben  auch  in 
ihrer  Stadt  verbreiten  wird." 

Zu  all  diesen  uns  von  Farain  Edwards  in  Aussicht  ge- 
stellten  Herrlichkeiten  kommt  aber  noch  ein  Moment,  das 
nicht  zu  unterschatzen  ist  und  das  sich  unser  Gewahrsmann* 
bis  zum  SchluB  —  last  not  least  —  aufspart.  Diese  Kriegs- 
rakete hat  dazu  noch  einen  auBerordentlichen  Vorzug: 
„Sie  verursacht  namlich  nicht  annahernd  so  hohe  Produktions- 
kosten  wie  schwere  'Artillerie  (Geschosse,  Kanonen,  Aus- 
riistung)  —  es  konnen  daher  in  einem  kommenden  Kriege 
(welche  Annehmlichkeit!)  ungeheure  Mengen  verwendet  wer- 
den!" 

Die  Sorge  also,  daB  etwa  die  vom  Kriege  wirtschaftlich 
erschopften  Volker  auf  diesen  offenbar  hochsten  Sinn  und 
Zweck  der  Menschheit :  sich  mit  den  jeweils  raf f iniertesten 
Mitteln  der  Technik  urns  Leben  zu  bringen,  aus  Mangel  an 
Mitteln  verzichten  muBten,  ist  hiermit  behoben.  Wir  atmen  auf. 

Man  wird  uns  also  herrlichen  Zeiten  entgegenfiihren.  Des- 
sen sind  wir  nun  gewiB.  Diese  hollische  Zukunftsperspek- 
tive  wurde  vor  ziemlich  langer  Zeit  schon  in  der  ,Germania\ 
dem  Organ  der  heutigen  Regierung,  vor  uns  ausgebreitet. 
AufgepaBt:  Mor^dmoglichkeiten  auch  fur  finanziell  weniger  lei- 
stungsfahige  Staaten! 

Mit  diesen  Problemen  beschaftigt  sich  „pflichtgemaBM 
jede  Regierung,  wird  man  mir  erwidern.  Ich  bestreite  das 
nicht.  Aber  ich  frage:  warum  erscheint  es  alien  Regierungen 
—  mit  einer  Ausnahme:  der  bosen  „bolschewistischenM  —  sc- 
viel  dringender  und  wiinschenswerter,  das  Elend  von  Millionen 
Hungernden  und  Verzweifelten  durch  deren  gegenseitige  Ver- 
nichtung  —  vermittels   der  Kriegsrakete  zum  Beispiel  —   aus 

48 


der  Welt  zu  schaffen,  als  durch  MaBnahmen,  die  das  Elend 
vermindern  und  alien  ein  menschenwiirdiges  Auskommen 
sichern?  Sonderbare  Welt!  Man  erinnert  sich  an  Andersens 
Marchen  von  dem  zersprungenen  Spiegel  des  Teufels,  dessen 
Splitter  alle,  denen  sie  ins  Auge  und  damit  ins  Herz  gedrun- 
gen  sind,  vollkommen  unempfindlich  fin*  Leid  und  Not  ihrer 
Mitmenschen  machen.  (Obrigens:  wenn  es  denn  zu  dem  ,,erd- 
bebengleichen  Einsturz  ganzer  Stadtteile"  kommt,  werden  dann 
am  Ende  nicht  auch  die  bombensicheren  Unterstande  in  Mit- 
leidenschaft  gezogen,  die  in  weiser  Voraussicht  heute  schon, 
wie  man  las,  in  aller  Stille  unter  der  Reichskanzlei  und  Ge- 
bauden  offizieller  oder  finanzkraftiger  Personlichkeiten  errich- 
tet  worden  sein  sollen?) 

Ja,  warum  muB  man  an  die  Erfiillung  so  beschamend 
selbstverstandlicher  '  Forderungen  wie  die,  daB  das  mensch- 
liche  Leben  zu  schiitzen  und  die  willkiirliche  Vernichtung  als 
ein  sinnloser  Mord  und  Selbstmord,  als  moral  insanity  zu  be- 
kampfen  ist,  heute  uberhaupt  noch  seine  Zeit  und  Kraft  ver- 
wenden?     Nur  ein  Narr  wartet  auf  Antwort. 

KurellaS  MuSSOlini-Blldl  von  Rudolf  Leonhard 

A  If  red  Kurella,  der  dazu  nicht  nur  durch  cine  profunda 
**  Kenntnis  Italiens,  sondern  auch  durch  eine  ganz  genaue 
Kenntnis  Deutschlands  und  RuBlands  legit imiert  istf  hat  ein 
Buch  veroffentlicht,  und  zwar  im  Neuen  Deutschen  Verlage, 
das  er  „Mussolini  ohne  Maske"  betitelt.  Das  ist  ein  ausge- 
zeichnetes  Buch,  weii  es  in  klarer  Obersicht  eine  Fulle  von 
Tatsachen  darlegt  und  mit  temperamentvoller  Genauigkeit  ver- 
wickelte  Situationen  eindeutig  schildert.  Es  ist  sogar  groB- 
artig,  was  alles  Kurella,  trotz  den  fiir  sein  Unternehmen  selbst- 
verstandlichen  Schwierigkeiten,  gesehen  hat;  und  was  er  ge- 
sehen   hat,   gibt   er   groBartig   wieder. 

Es  ist  also  nicht  nur  Pedanterie,  sondern  die  Genauigkeit, 
auf  die  sein  Buch  ein  Recht  hat,  wenn  gegen  einige  Partien 
des  Buches  —  es  sind  in  der  Tat  ganz  wenige  nur  —  ein  Ein- 
wand  erhoben  wird,  der  allerdings  um  so  wichtiger  nicht  fiir 
das  Buch,  sondern  fiir  unsre  gesamte  Politik  ist,  als  er  nicht 
nur  Kurella,  sondern  uns  alle  trifft. 

Fragwiirdig  in  hohem  Grade  namlich  ist  sein  Buch  nur 
dann,  aber  eben  doch  dann,  wenn  es  nicht  schildert,  sondern 
prophezeit.  Kurella  hat  in  Italren  natiirlich  nichts  von  der 
Arbeit  und  von  der  Organisation  der  Emigration  gesehn;  er 
kann  also  auch  das  merkwurdige  und  doch  natiirliche  Phano- 
men  nicht  in  Rechnung  stellen,  daB  das  Faktum  der  Emigra- 
tion erheblich  radikalisiert,  daB  also  heute  —  und  vielleicht 
nur  fiir  die  Dauer  der  Emigration  —  die  italienische  Sozial- 
demokratie,  ja  die  italienische  Demokratie  von  den  ent- 
sprechenden  deutschen,  franzosischen,  englischen  Formatio- 
nen  ganz  verschieden  sind,  Kurella  hat  nur  einige  Fascisten 
und  viele  aktive  und  passive  Genossen  gesehn  und  gesprochen. 
Fiir  ihn  steht  es  fest,  daB  in  nachster  Zeit  in  Italien  die  end- 
gultige  proletarische  Revolution  ausbrechen  wird.  Keine  der 
vielen  Tatsachen,  die  er  so  lebhaft  und  so  genau  berichtet, 
schlieBt  andre  Moglichkeiten  aus.     Kurella  prophezeit  einfach, 

49 


wie  irgend  ein  Prophet,  nicht  einmal  als  Marxist  (denn  er 
untersucht  nur  die  Klassenlage,  nicht  aber  die  Klassenkrafte), 
sondern  als  Hegelianer  —  und  selbst  Hegels  Regel,  die  ja 
nicht  eine  mathematische  oder  physikalische  Formel,  sondern 
ein  Prinzip  sein  soil,  endet  doch  mit  der  Synthese,  Kurella 
prophezeit,  weil  er  Hegelianer  —  vielleicht  wider  Willen  — 
ist,  und  weil  er,  wie,  ach  wir  a  He,  gern  glaubt,  was  er  will. 
In  jedem  Sinne  „wiir*;  was  er  glauben  will,  und  was  er  nahe 
wiinscht.  Gefahrlich  iiber  alles  MaB  wird  die  Verwirrung, 
wenn  er  das  mehrmals  geschilderte  Gefiihl  im  italienischen 
Volke/  nur  ein  Krieg  konne  der  unlosbaren  Situation  ein  Ende 
machen,  in  ein  Vprstadium  der  Revolution  —  „Krieg"  ohne 
weiteres  und  ohne  jeden  AnlaB  gleich  „Burgerkrieg"  setzend  — 
umeskamotiert  und  von  der  f  ascistischen  Kriegspropaganda  so 
ablost,  daB  er  nicht  mal  darauf  kommt,  die  konne  es  miB- 
brauchen,  Hier  wird  wieder  der  Hegelianismus  unfreiwillig 
konservativ,  und  in  diesen  wenigen  Satzen,  die  nicht  marxi- 
stisch,  sondern  abersinnig  sind,  verschwindet  die  Klarheit,  die 
sonst  ein  Vorzug  seines  wichtigen  Buches  ist. 

Das  ware  eine  einzelne  Entgleisung,  wenn  eben  nicht 
wir  alle  immer  dense  lb  en  Fehler  machten;  wenigstens  weiB 
ichf  ich  will  vorsichtig  sein,  von  mir  und  meinen  nahen  Freun- 
den,  daB  wir  ihn  machen,  Jeder  von  uns  kennt  ein  paar  tau- 
send  Menschen;  aber  wir  rechnen  immer  nur,  und  nicht  nur 
in  richtiger  Kenntnis  von  der  mangelnden  Aktivitat  dieser 
Tausende,  mit  einem  Bruchteil  dieser  Menge*  Wir  lassen  von 
dieser  Rechnung  nicht  abt  obwohl  wir  doch  1918  und  in  den 
nachsten  Jahren  schmerzhaft  erleben  muBten,  wie  sehr  wir 
uns  verrechnet  hatten.  Eine  der  Lahmungen  unsrer  Arbeit 
ist,  daB  wir  immer  nur  fiir  Leute  schreiben,  die  ja  schon  wis- 
sent  was  wir  ihnen  entwickeln,  nur  fiir  Menschen  und  vor 
Menschen  publizieren,  die  unsrer  Sache  langst  gewonnen  sind. 
Weniger  fiihlbar,  aber  urn  so  gefahrlicher  ist  der  Umstand,  daB 
wir  fast  nur  mit  Menschen  verkehren,  die  auf  demselben  Bo- 
den  stehen  wie  wir  selbst.  Wir  wirken  nur  auf  —  und  nur 
mit  Genossen  und  Gesinnungsgenossen,  AuBer  ihnen  kennen 
wir  nur  noch  Personifikationen  des  Feindes,  ein  paar  schlag- 
wortmaBige  Generale  und  groBgesichtige  Industrielle,  und 
einen  Haufen  Leute,  die  zwar  nicht  neutral  sind,  denn  das  gibt 
es  nicht,  die  wir  aber  sich  einreden  lassen,  daB  sie  neutral 
sind.  Wir  streiten  iiber  Hundertprozentigkeit  oder  Siebzig- 
prozentigkeit  des  Marxismus  und  iiber  die  richtige  Gewerk- 
schaftstaktik,  und  ubersehen  vollig,  daB  es  auch  die  Hirsch- 
Dunckerschen  und,  wenig  erschiittert  leider,  die  Christlichen 
Gewerkschaften  noch  immer  gibt.  Auch  wir  erliegen  ganz  der 
Suggestion  der  russischen  Revolution;  fur  die  es,  in  einem 
Staate,  der  sich  als  burgerlicher  noch  nicht  hatte  konstituieren 
kdnnen,  nur  mehr  oder  weniger  revolutionare  Parteien,  aber 
keinen  eigentlichen  Gegner  mehr  —  vielmehr:  noch  keinen 
eigentlichen  Gegner  gab.  Wir  arbeiten  im  Kreise  heruin,  der 
immer  mehr  ein  circulus  vitiosus  zu  werden  droht. 

Wir  vergessen,  wie  Kurella,  die  freilich  vollig  unbegreif- 
liche  Tatsache,  daB  es  die  Sozialdemokratie  noch  immer  gibt 


50 


Wer  weiter  liest,  wird  erschossen! 

von  Axel  Eggebreeht 

Moch  kurze  Zeit  Geduld:  Wef  dann  in  Deutschland  noch  von 
1  ^  geistiger  Frciheit  spricht,  der  halt  Leichenreden.  Denn 
schon  licgt  cr  klaglich  im  Sterbcn,  der  vielgeliebte  Held,  dcr 
freie  Geist.  Eigcntlich  gibt  es  ihn  schon  gar  nicht  mehr  — 
machcn  wir  uns  doch  nichts  vor.  Und  bci  allcm  geriihrten 
Gedenken  an  den  nahezu  Verblichenen  miissen  wir  zugeben, 
daB  er  selber  an  seinem  Ende  schuld  ist.  Er  wartet  in  Frie- 
den  ab,  ob  er  an  Entkraftung  eingehen  oder  ob  man  seinen 
Kopf  auf  legale  Weise  rollen  lassen  wird. 

Wir  wissen,  daB  die  Notverordnung  jede  MaBnahme  jeder 
Regierung  gegen  alle  Art  von  geistiger  Arbeit  erl'aubt.  Wir 
wissen,  daB  alle  Schreibenden,  Redakteure,  Setzer,  Drucker 
und  Botenjungen  unter  verscharfte  Aufsicht  gestellt  sind.  Wir 
wissen,  was  die  Filmzensur  treibt.  Wir  wissen,  dafl  amRund- 
funk  seit  Monaten  die  seltsame  Operation  der  sukzessiven 
Kastration  vollzogen  wird.  Wir  wissen  von  ungezahlten  Fal- 
len der  Bed ruckung,  der  Verge  waltigung,  der  Einschrankung, 
Ach   —  wir  wissen  ja  uberhaupt  alles,  nicht  wahr? 

Entschuldigen  Sie  die  Pedanterie.  Das  eben  ist  es  ja. 
Darum  handelt  sichs.  Wir  sind  dabei,  uns  selber  aufzugeben. 
Es  gibt  fast  keinen  gemeinsamen  Lebenswillen  der  Geistigen 
mehr.  Wir  sind  gelangweilt  durch  das  —  wie  man  nun  schon 
iiberall  hort  und  liest  —  veraltete,  liberalistische  Ideal  der 
geistigen  Freiheit.  Unsre  Verbande  qualen  sich  selbst  bei 
bosartigsten  Vorkommnissen  kaum  noch  mal  eine  lenden- 
lahme  Erklarung  ab,  wie  das  Beispiel  des  Schriftstelter-Schutz- 
verbandes  zeigt.  Es  ist  vorbei.  Man  legt  die  Hande  in  den 
SchoB  und  wartet  a*uf  Hitler, 

Das  Verriickte,  das  Perverse  dabei  istf  daB  immer  noch, 
bei  allem  muntern  Gerede  iiber  die  Diktatur,  die  Wenigsten 
sehen,  wie  sehr  sie  schon  Wirklichkeit  geworden  ist.  Immer 
davon  reden  —  nie  drauf  achten,  wie  sie  eigentlich  gemacht 
wird.  Deshalb  erlaube  ich  mir  als  Musterbeispiel  darzubieten: 
Verbot  und  Beschlagnahme  des  Jllustrierten  Arbeiterkalen- 
ders\  ' 

Dieser  AbreiBkalender  erscheint  seit  neun  Jahren  jeden 
Herbst  im  kommunistischen  Verlage  Carl  Hoym  Nachfolger. 
Und  alle  Jahre  wieder  folgt,  ein  paar  Tage  nach  dem  Er- 
scheinen,  das  Verbot,  Nur  zwei  Jahrgange  hat  der  Verlag 
freibekommen  konnen,  darunter  den  vorletzten,  Der  hatte  dann 
freilich  eine  Auflage  von  100  000. 

In  jeder  Buchhandlung  kann  man  volkische,  militarische, 
nationale,  religiose,  naturschwarmerische  und  was  weiB  ich 
sonst  noch  fur  Kalender  bekommen.  Die  sind  natiirlich  alle 
ohne  Interesse  ftir  Staatsanwalte  und  Amtsrichter,  So  was 
haben  sie  selber  zu  Hause  hangen.  Aber  dieser  verdammte 
Kommunismus,  den  man  jeden  Tag  im  Jahre  auffrischen,  von 
der  Wand  ablesen  kann  —  nein,  das  geht  zvl  weit.  Da  wird 
eingegriffen.  Nun  ist  es  in  fruhern  Jahren,  bis  zur  Einfiihrung 
der  segensreichen  Notverordnungen,  gar  nicht  so  leicht  gewesen, 

51 


triftigc  Gnin.de  fiir  diese  Vcrbote  auszuknobeln.  Dicser  Ka- 
lender ist  namlich  alles  andre  als  eine  platte  Parteimache,  als 
ein  bloBes  Propagandastuckchen.  Natiirlich  verleugnet  er  auf 
keiner  Seite  s ein  en  Zweck:  In  der  Stube,  in  dcr  Wohnkiiche 
des  kommunistischen  Arbeitcrs  zu  hangen,  damit  er  an  ihm  die 
Tage  abzahle,  die  ihn  der  Erfiilhmg  seiner  Hoffnungen  naher 
bringen.  Im  Obrigen  handelt  es  sich  um  ein  ungemein  sorg- 
faltig  gearbeitetes,  lebendiges,  mit  groBen  Kenntnissen  zu- 
sammengestelltes  Werk,  Jeder  dieser  Kalender  ist  eigentlich 
ein  kleines  Kompendium  des  revolutionaren  Sozialismus.  Die 
Bilder   sind   vortrefflich   ausgewahlt. 

Peter  Panter  hat  an.  dieser  Stelle  yor  etwa  einem  Jahr  einen 
dieser  Kalender  besprochen.  Und  wie  dieser,  so  sind  sie  alle: 
Wirkungsvoll  und  inhaltsreich. 

Viele  Monate  Schufterei.  Druck,  Korrektur.  Die  ersten 
Exemplare  gehen  hinaus.  Drei,  vier  fiinf  Tage  vergehen.  Dann 
kommt  so   ein  Brief: 

,,128   G.   2609/31. 

BeschluB! 

In  dem  Verfahren  gegen  die  unbekannten  Verbreiter  der  Druck- 
schrift     .Illustrierter    Arbeiterkalender    1932' 

wegen  Vorbereitung  zum  Hochvcrrat 
wird  die  Druckschrift:  .Illustrierter  Arbeiterkalender  1932'  —  ver- 
antwortlich  fiir  den  Inhalt:  August  Creutzburg,  Berlin;  Gesamt- 
redaktion:  Grau;  Verlag:  Carl  Hoym  Nachfl,,  Hamburg-Berlin;  Druk- 
ker:  R.  Boll,  Buchdruckerei  G.  m.  b,  H.t  Berlin  NW,  gemaB  §§  41, 
73,  81  Ziffer  2,  86  StGB,f  4  Ziffer  1  Reichsgesetzes  zum  Schutze  der 
Republik  vom  25.  Marz  1930  RGBL  I,  S.  91,  —  27  Reichsgesetzes 
iiber  die  Presse  vom  7.  Mai  1874  RGBl.  S.  65,  94  ff.  StPO.  beschlag- 
nahmt,  weil  sie  der  Einziehung  unterliegt  Der  Verdacht  einer  straf- 
baren  Handlung  ergibt  sich  aus  Seite  26,  54,  55  (Bild),  95  (Bild  mit 
Text),  104,  177  (Bild  mit  Text),  205  (Bild  mit  Text),  206,  216,  237 
(Bild  mit   Text),   242. 

Berlin  NW  40,  den  22.  10.   1931.     Alt-Moabit  11. 
Das  Amtsgericht  Berlin-Mitte,  Abt  128.  gez.  von  Noel,  Amtsger.-Rat." 

Der  biedere  Laie  wird  sich  zunachst  wundern  iiber  die 
freilich  unwiderlegliche  Begriindung:  Der  Kalender  wird  be- 
schlagnahmt,  weil  er  der  Einziehung  unterliegt.  Auch  die 
Anziehung  eines  57  Jahre  alten  Pressegesetzes  zum  Verbot 
eines    AbreiBkalenders    wird   ihn    befremden. 

Das  sind  aber  nur  kleine  Schonheitsfehler.  Die  ganze 
Zauberkraft  dieses  Dokuments  kann  man  namlich  nur  ver- 
stehen,  wenn  man  jede  einzelne  angefiihrte  Seite  und  jedes 
beanstandete  Bild  nachpriift.  Und  das  eben  ist  ja  durch  die 
flinke  Beschlagnahme  (aus  Griinden  der  Einziehung)  vorlaufig 
unmoglich. 

Als  anstoBig  sind  da  zunachst  einmal  alle  Stellen  an- 
gefiihrt,  die  Ausdriicke  wie  ,,Zerschlagung  der  Staatsmaschine, 
Eroberung  der  Macht,  bewaffneter  Aufstand"  enthalten.  Es 
handelt  sich  dabei  um  Zitate  aus  Marx  und  Lenin.  Offenbar 
sind  unsre  Gerichte  zurzeit  mit  einer  durchgreifenden  Reini- 
gung  marxistischer  Schriften  beschaftigt. 

Das  sind  natiirlich  keine  juristischen  Begriindungen  mehr. 
Da^  ist  simple  Willkiir.  Eigentlich  sollte  es  noch  -sozial- 
dernokratische  Funktionare  und  vielleicht  sogar  Zeitungen  ge- 

52 


ben,  die  sich  schamerfiillt  an  die  freiheitHchen  wilhelminischen 
Zeiten  erinnern,  in  denen  dergleichen  alle  Tage  gedruckt  wer- 
den durfte  . . . 

Das  alles  ist  aber  noch  harmlos  gegen  die  Grtinde,  die 
fur  die  Beanstandungen  von  Bildern  in  diesem  Kalender  auf- 
gefiihrt  werden,  Zeichnungen,  die  Figuren  des  hamburger 
Aufstandes  von  1923  oder  auch  der  pariser  Kommune  zum 
Gegenstand  haben,  sind  nicht  erlaubt.  Auch  eine  Aufnahme 
bewaffneter,  offenbar  russischer  Arbeiter  in  Marschkolonne 
ist  staatsgefahrdend  —  wobei  zu  bemerken  istf  daB  der- 
gleichen in  den  verschiedensten  Publikationen  biirgerlicher 
Verlage  fortwahrend  ungestort  verbreitet  wird.  In  einer  kiirz- 
lich  erschienenen  Biographie  Hitlers  in  Photos  wird  die  Nazi- 
Bewaffnung  vor  dem  mxinchner  Putsch  in  alien  Einzelheiten 
gezeigt.     Das  ist   natiirlich   ganz   was   andres. 

Aber  keine  noch  so  ausschweifende  Phantasie  wird  er- 
raten  konnen,  worum  es  sich  bei  den  beiden  verbotenen  Bil- 
dern auf  den  Seiten  95  und  237  handelt:  Um  die  Reproduk- 
tion  einer  Kathe-Kollwitz-Radierung;  und  um  das  Photo  eines 
lesenden    Knaben.  . 

Die  Werke  der  Kathe  Kollwitz  hangen  in  staatlichen 
Sammlungen.  Den  beruhmten  Zyklus  ,,Bauernkrieg"  kann  je- 
der  Mensch  in  jeder  Buch-  oder  Kunsthandlung  erwerben. 
Hier  aber  ist  das  wunderbare  Bild  des  Verzweif lungszuges,  iiber 
dem  Hande,  Fahnen  und  Sensen  gegen  den  fahlen  Himmel  ge- 
schwenkt  werden,  verboten.  Vielleicht  wegen  der  Unterschrift: 
,,Ausgebeutete  Bauern,  kampft  unter  der  Fahne  der  Revolu- 
tion". Aber  die  sagt  ja  doch  nur  in  diirren  Worten,  was  jeder 
Betrachter  sowieso  aufs  starkste  empBndet.  Ein  deutscher 
Richter  braucht  freilich  nicht  zu  wissen,  dafi  Aussprechen 
manchmal  auch  Abschwachen  bedeutet. 

Das  letzte  der  verbotenen  Bilder  aber,  diese  Seite  237, 
sie  konnte  einmal  klassisch  werden  in  einer  Geschichte  der 
geistigen  Bevormundung.  Da  sitzt  ein  Proletarierjunge  im 
Wollsweater  und  liest,  mit  einem  Finger  folgt  er  den  Zeilen 
eines  dickea  Buohes,  das  vor  ihm  liegt.  Das*  sieht  ganz  brav 
und  harmlos  aus.  Wahrscheinlich  ein  Band  Heldensagen  oder 
ein  Abenteuerschmoker?  Nein,  die  Unterschrift  des  Bildes 
verrat  den  Verworfenen:  ,,Ohne  revolutionare  Theorie  keine 
revolutionare  Praxis".  Der  Lausejunge  liest  offenbar  ein  ver- 
botenes  Buch.  Die  Abbildung  einer  derartigen  Handlung  ist 
selbstverstandlich  ebenfalls  zu  verbieten. 

Wahrscheinlich  hat  sich  der  Herr  Amtsgerichtsrat  fair 
einen  Augenblick  ins  bereits  periekte  -Dritte  Reich  getraumt. 
Dort  wird  ja  die  hitlersche  Parole  gelten:  Griibeln  und  den- 
ken  ist  jiidisch,  der  Deutsche  glaubt  und  handelt.  Der  Fiihrer 
selbst  hat  in  der  Vorrede  seiner  vorhin  erwahnten  Bildbio- 
graphie  das  Lesen  als  unerheblich  bezeichnet. 

Wir  nahern  uris  offenbar  der  Zeit,  in  der  die  gute  alte 
Arbeiterparole:  Wissen  ist  Macht  an  sich  den  Tatbestand  des 
Hochverrats  bilden  wird.  Zu  lange  haben  wir  gezogert,  Zu 
gleichgiiltig  haben  wir  zugesehen.  Nun  ist  es  zu  spat.  Der 
Geist  wird  verboten.     Wer  weiter  liest,  wird  erschossen! 

3  53 


Fraulein  Nietzsche  von  ignaz  wrobei 

Vom  Wesen  des  Tragischen 
Zwei  Hamburgerinnen  kamen  einst  aus  dem  Thalja-Theater, 

nach  einer  Auffuhrung  von   „Kabale   und  Liebe". 

Da   blieb   die   eine  auf    der   Treppe   stehn,   uberdachte   den 

Inhalt  des  Stiicks  und  sprach;  „Gottl  Was  Missvers-tandnisse  — !" 

l^enn  Sie  Nietzschken?"  fragt  einer  in  der  Komodie  „So- 
W  zialaristokraten"  von  Arno  Holz.  Es  gibt  Namen,  die 
werden  durch  Hinzuf  iigung  eines  einzigen  Buchstabens  komisch. 
Es  ist  wie  die  Moglichkeit  einer  magischen  Rache;  mit  dem 
Namen  Goethe  kann  man  dergleichen  nicht  machen, 

Neulich  stand  hier  einmal  ein  Nadelstichlein  gegen  Elisa- 
beth Forster-Nietzsche . . .  nein,  nicht  einmal  gegen  sie,  son- 
dern  gegen  das  wahnwitzige  Urheberrecht,  das  die  Rechte  des 
Geistes  wie  einen  Kaseladen  vererbt.  Mogen  die  Erben  eines  . 
groBen  Schriftstellers  Tantiemen  schlucken;  solange  es  ein 
Erbrecht  gibt,  ist  das  naturlich.  DaB  aber  die  meist  inferioren 
Erben  das  Recht  haben  sollen,  iiber  hinterlassne  ungedruckte 
Manuskripte  des  Erblassers,  frei  zu  verfiigen,  sie  zu  veroffent- 
lichen  oder  nicht,  und  — -  was  am  schlimmsten  ist  —  sie  zu 
verfalschen:  das  ist  ein  unertraglicher  Gedanke.  Wonach 
werden  sie  ihre  EntschlieBungen  einrichten?  Nach  Familien- 
Interessen,  was  in  den  meisten  Fallen  etwa  dem  Gedanken- 
gang  entsprechen  wird:  „Es  darf  doch  nicht  an  die  Offentlich- 
keit  kommen,  daB  Max  mit  Truden  ein  Verhaltnis  gehabt  hat"? 
Von  den  politischen  Oiberzeugungen  dieser  Kreise  schon  gar 
nicht  zu  reden.  Und  so  bekommen  wir  in  literarischen  Nach- 
lassen  meist  die  Meinung  von  Onkel  Oskar  zu  horen.  Es  ist, 
wie  wenn  Christiane  Vulpius  daruber  zu  entscheiden  gehabt 
hatte,  was  von  Goethe  gedruckt  werden  sollte  und  was  nicht. 

Was  hat  das  Nietzsche-Archiv  mit  Nietzsche  getrieben! 
Das  Archiv  und  seine  Leute  sind  schuld'  daran,  daB  die  Welt- 
meinung  Nietzsche  fur  einen  der  deutschen  Kriegsanstifter  ge- 
halten  hat,  zu  welcher  Auslegung  allerdings  die  Verschwom- 
menheit  seiner  Diktion  beigetragen  hat.  Dieses  Archiv  ist  ein 
UngHick. 

Man  schrieb  mir  von  dort,  meine  Satze  iiber  Frau  For- 
ster-Nietzsche seien  durch  Tatsachen  widerlegbar;  dem  Brief 
waren  einige  Drucksachen  und  einige  maBig  stilisierte  Be- 
schimpfurigen  angefiigt,  Ich  habe  beides  ad  acta  gelegt.  DaB 
Frau  Forster-Nietzsche  Briefe  und  Manuskripte  ihres  Bruders 
vergeblich  mehreren  Universitaten  angeboten  hat,  beweist 
nichts  gegen  das,  was  sie  spater  mit  diesen  Skripturen  ge- 
trieben hat.     Was  hat  sie  getrieben  — ? 

Man  lese  das  in  den  beiden  Nietzsche-Publikationen 
E.  F.  Podachs  nach:'  MNietzsches  Zusammenbruch"  (erschienen 
bei  Niels  Kampmann  in  Heidelberg)  und  „Gestalten  um 
Nietzsche"   (erschienen  bei  Erich  Lichtenstein  in  Weimar), 

Von  zwei  Dingen  soil  hier  kaum  gesprochen  werden. 

Nicht  von  dem  tiefen  Gegensatz,  der  zwischen  Nietzsche 
und  seiner  Schwester  best  and  und  bestanden  haben  muB:  viele, 
viele  Briefstellen  zeigen  ihn  auf.  Die  Frau  hat  den  Kranken 
sicherlich  aufopfernd  gepflegt;  in  Brief  en  an  Freunde  schreibt 

54 


jeder  einmal  harte  Wortc  iiber  seine  Familie  . .  ,  das  geht  die 
Offentlichkeit  zunachst  nichts  an.  Ernster  wird  das  schon, 
wenn  eben  dieselbe  Schwester,  iiber  die  der  Bruder  gestohnt, 
geschimpft  und  gejammert  hat,  sich  als  seine  geistige  Testa- 
mentsvollstreckerin  aufspielt.  Und  noch  ernster  wird  esf  wenn 
sich  die  Frau  des  Rauscbebarts  Bernhard  Forster,  eines  Radau- 
antisemiten,  der  die  Urwalder  Sudamerikas  durchbriillen 
wollte,  aber  nur  Pleite  machte  —  wenn  sie  sich  anmafit,  ihren 
Bruder  im  Sinne  muffiger  Familientradition  zu  monopolisieren, 
wie  sie  es  jahrzehntelang  beinah  ungestraft  hat  tun  konnen. 
Sie  hat  aus  .guten  Griinden  den  Gegensatz  zwischen  sich  und 
dem  Bruder  verhiillt;  sie  muBte  es  tun* 

Sie  hat,  zweitens,  versucht,  die  wahrscheinliche  Ursache 
der  Krankheit  Nietzsches,  die  Peter  Gast  oft  beim  Namen  ge- 
nannt  hat,  zu  verhullen;  das  mag  verstandlich  sein.  Damals 
gait  Syphilis  noch  als  eine  Schande,  man  sprach  nicht  gern 
davon,  hatte  sie  infolgedessen  hauliger  als  heute . . .  die  Tricks 
der  ehemaligen  Archivleiterin  waren  armselig,  Spirochaten  der 
Tugend  wimmelten  durch  die  heiligen  Hallen,  und  es  war  recht 
kindisch.  Die  H-erren  Gegner,  die  ihren  geistigen  Wasser- 
mann  an  dem  groBen  Toten  ausprobierten,  waren  auch  nicht 
erquicklicher  —  gehen  wir  iiber  diesen  Streit  der  verschieden 
gefarbten  Burger  zu  wichtigerem  iiber; 

Unertraglich  bleiben  die  grauenvollen  Predigttexte  der 
Schwester,  die  dem  Werk  Nietzsches  voranprangten, 
das  herzinnige  und  neckisch-heroische  Geschwafei  einer  im 
Irrgarten  der  Philosophic  herumtaumelnden  Dame.  Schwestern- 
liebe  — ?  Erzahlt  doch  nichts!  Wie  ganz  anders  klingt  das, 
wenn  zum  B-eispiel  die  Mutter  spricht.  Die  begriif  ihren  Sohn 
zwar  auch  nicht,  doch  wie  elementar  und  ruhrend  ist  sie! 

Nietzsche   hat   einmal  geschrieben; 
Du  liefst  zu  rasch: 
jetzt    erst,    wo   du   miide    bist, 
holt  dein  Gliick  dich  ein  — 

Die  Mutter,  die  dies  aus  der  Hands chrift  entzifierte,  setzte 
hinzu:  „Ja,  er  ist  zu  rasch  gelaufen  in  seinem  ganzen  Leben, 
das  Hebe,  liebe  Kind!"  - —  Ich  habe  etwas  Ahnliches  mit  der 
Mutter  von  Toulouse-Lautrec  erlebt.  Mutter  brauchen  nicht 
studiert  zu  haben,  urn  ihr  Kind  zu  verstehen.    Sie  lieben. 

Viele  Nietzsche-Forsch^r  klagen  dariiber,  daB  das  Archiv 
es  ihnen  nicht  leicht  gemacht  habe.  Sie  bekommen  nicht  alles 
zu  sehn  —  vielleicht  schon  deshalb  nicht,  weil  gar  nicht  mehr 
alles  da  ist.  Fraulein  Nietzsche,  wie  die  ehemalige  Leiterin 
in  den  alten  Briefen  genannt  wird,  hat  aus  ihrem  Bruder  mit 
Gewalt  das  machen  wollen,  was  sie  an  ihm  begriff  —  und  viel 
war  das  nicht.  Schaden  genug  hat  sie  durch  schiefe  Auswahl, 
durch  einseitige  Heranziehung  von  Mitarbeitern  und  durch 
Ztichtung  einer  Schar  verziickter  Adepten  angerichtet.  Sie 
gibt  auch  zu,  Teile  des  „Ecce  homo"  vernichtet  zu  haben,  sie 
erschienen  ihr  krankhaft.  Und  so  gesund  wie  der  Urwaldteut 
Bernhard  Forster  aus  Bayrisch-Walhall  waren  sie  ja  wohl 
nicht.  Doch  wer  hat  sie  danach  gefragt?  Wir  wollen  nicht 
die  Werke  Lieschen  Forsters,  sondern  die  Werke  Friedrich 
Nietzsches  lesen.     Ich  kann  mir  denken,  dafi  eine  Schwester 

55 


gewisse  Schriften  ihres  Bruders  fiir  dreifiig  Jahre  in  den 
Schrein  legt...  was  aber  bedeutet  ihre  dreiste  Kritik?  Dieses 
Urheberrecht  ist  eine  Schande. 

Nun  tragt  Fraulein  Nietzsche  die  Schuld  nicht  allein. 

Seid  miBtrauisch,  wenn  sich  urn  einen  Kiinstler  weibliche 
und  mannliche  alte  Jungfern  scharen!  MWir  schaffen  erst  die 
Luft(  in  der  das  Werk  des  Kiinstlers . . ."  ich  weifi  schon, 
Theodor  Fontane  hat  einmal  gesagt;  Mir  sind  Erzahler  von 
Gespenstergeschichten  sehr  suspekt,  die  erst  die  Lampen  her- 
unterschrauben  und  die  Tiir  verschlieBen,  damit  kein  mit 
Apfelsinensalat  eintretendes  Dienstmadchen  die  Pointe  ver- 
dirbt  —  und  er  hat  sehr  recht  gehabt.  Aufgeblahtes  Mittel- 
mafi  braucht  sein  Bayreuth;  ein  GroOer  kann  auf  einem  offe- 
nen  Markt  wohl  deplaciert  wirken,  aber  auf  die  Verstehenden 
wirkt  er  liberalL  Nur  Schwachlinge  tun  esoterisch.  Seid  miB- 
trauisch!  Denn  es  kristallisiert  sich  ja  um  einen  Kern  stets  was? 
Das  ihm  Wesensverwandte,  Eine  Bach-Gemeinde  von  tob- 
siichtigen  und  augenverdrehenden  Narren  ist  nicht  denkbar. 
Schon  um  George  qualmt  und  schwarmt  es  verdachtig;  was 
sich  um  das  Nietzsche-Archiv  gruppiert  hat,  ist  eine  Bitternis. 

Padach  zeigt  sehr  gut,  was  Peter  Gast  fiir  Nietzsche  ge- 
wesen  ist.  Er  war  ihm  ein  Freund,  der  sich  seiner  zweiten 
Rolle  stets  bewuBt  gewesen  ist.  Nun  liebte  Nietzsche  die 
Draperie;  zum  Teil  war  er  selbst  eine.  Ein  merkwxirdiges  Par- 
fum  weht  da  heriiber. 

Peter  Gast  hiefi  gar  nicht  Peter  Gast;  er  hieB,  so  Ieid  es 
mir  tut,  Koselitz.  Warum  soil  einer  nicht  Koselitz  heiBen?  DaB 
er  aber  auch  ein  Koselitz  gewesen  ist,  zeigt  seine  Kriegshal- 
tung.  Der  Mann  ist  im  Jahre  1918  gestorben,  hat  also  die 
groBe  Zeit,  wo  die  Franzosen  ohne  den  Faust  im  Tornister  den 
Krieg  gewonnen  haben,  noch  miterlebt.  Der  Dreck,  den  Gast 
danials  unter  Musik  setzte;  seine  Brief e,  aus  denen  die  Kriegs- 
begeisterung  eines  nicht  eirigezogenen  Mannes  iiber  f unfund- 
vierzig  schaumt,  quillt  und1  mit  Verlaub  zu  sagen  herausbricht — : 
also  fiir  Nietzsche  spricht  ein  solcher  Freund  kaum.  Aber 
Nietzsche  wollte  keinen  Koselitz  sehn,  sondern  nur  einen  Peter 
Gast;  so  wie  Stefan  George  von  seinem  ersten  Macen  Karl 
August  Klein  urns  Verrecken  nicht  anders  als  von  „Carl 
August"  spricht.     Nehmen  Sie  klassisch  —  das  hebt  Ihnen. 

Was  nun  vor  all  em  aus  diesen  beiden  sehr  lehrreichen 
Biichern  Podachs  hervorgeht,  ist  die  Aufblahung  aller  Ereig- 
nisse  und  Menschen,  auf  die  Nietzsche  traf.  Fast  alles  hat  in 
diesem  Leben  einen  fetten  Anilinglanzj  vieles  ist  um  drei 
Nummern  zu  groB,  es  schlappt  um  den  Philosophen  herum . . . 
und  wenn  man  genauer  hinsieht,  war  es  alles  halb  so  schlimm. 
Nietzsche  hat  Freunde  gehabt,  die  seinem  Flug  nicht  zu  folgen 
vermochten,  doch  sahen  sie,  in  welcher  Weise  er  flog.  ut)er 
Philister",  sagt  Hebbel,  „hat  manchmal  recht,  aber  nie  in  den 
Griinden." 

Zerwiirfnisse  und  Freundschaften,  Auseinander  und  Zu- 
einander ...  sie  sind  von  Nietzsche  stets  behandelt  worden  wie 
kleine  Weltgeburten  und  groBere  Weltuntergange.  Das  meiste 
wurde   tiberwertig  aufgefaBt,   mafilos  iiberhitzt,  bis  zur  klaren 

56 


Luge.     Von    der    verlognen    Unkiarheit    ganz    zu    schweigen. 

Man  lcse  etwa  jene  bekannte  Vita,  die  Nietzsche  an  Brandes 

geschickt  hat: 

„Vita,  Ich  bin  am  15.  Oktober  1844  geboren,  auf  dem 
Schlachtfelde  von  Liitzen.  Der  erstc  Name,  den  ich  horte,  war 
der  Gustav  Adolfs,  Meine  Vorfahren  waren  polnische  Edel- 
leute  (Niezky);  es  scheint,  dafi  der  Typus  gut  erhalten  ist, 
trotz  dreier  deutscher  ,Miitter\  Im  Auslande  gelte  ich  ge- 
wohnlich  als  Pole;  noch  diesen  Winter  einzeichnete  mich  die 
Fremdenliste  Nizzas  comme  Polonais.  Man  sagt  mir,  daB 
mein  Kopf  auf  Bildern  Matejkos  vorkomme,  Meine  Grofimut- 
ter  gehorte  zu  dem  Schiller-Goetheschen  Kreise  Weimars;  ihr 
Bruder  wurde  der  Nachfolger  Herders  in  der  Stellung  des 
Superintendenten   Weimars. 

...Von  Ostern  1869- — 1879  war  ich  in  Basel;  ich  hatte 
notig,  mein  deutsches  Heimatrecht  aufzugeben,  da  ich  als  Offi- 
zier  (reitender  Artillerist)  zu  oft  einberufen  und  in  meinen 
akademischen  Funktionen  gestort  worden  ware*  Ich  verstehe 
mich  nichtsdestoweniger  auf  zwei  Waffen:  Sabel  und  Kanonen 
—  und  vielleicht  noch  auf  eine.  dritte . . .  Auch  bin  ichf  meinen 
Instinkten  nach,  ein  tapferes  Tier,  selbst  ein  militarisches." 
Dazu  Erwin  Rohde  am  10.  April  1890: 

„Seltsam   ist,   dafi   er    (Brandes)    als   Personalnotizen  z.   T. 

Sachen   bringt,    die   an  Nietzsches   kranke   Einbildungen  unmit- 

telbarvor  dem  Ausbruch  des  Ubels  erinnern:  so  die  Sage  von  den 

,polnischen     Edelleuten'     (die     dann     protestantische     Pastoren 

werden!),  die  eigentiimliche  Wichtigkeit,  die  der  Artilleriedienst 

angeblich  in  Nietzsches  Leben  gehabt  haben  soil  (woran  ja  tat- 

sachlich   gar    nichts    ist:     er    wurde    nach    einem    gefahrlichen 

Sturz  mit  dem  Pferde  als   Invalide   entlassen,   und  damit  war 

es  aus)." 

Gegen  das   geblahte  Pathos  der  Vita  gehalten,  ist  solche 

Briefstelle  gradezu  erfrischend.  Der  Berliner  Nikolai  vermochte 

gegen     den    Werther    nichts,     aber   es    gibt     Darsteller   ihres 

eignen  Lebens,  denen  der  Zuruf  gut  tate,   der   einst   von  der 

Galerie    des    berliner    Schauspielhauses    einer    Lady    Macbeth 

entgegenscholl,    als   sie   unvorsichtig    mit    einer   Kerze   umging: 

fIMacbethn,  Sie  drippen  ja!"    Nietzsche  drippte. 

Fiir  diese  Erkenntnis  leistet  ein  Heft  der  Siiddeutsohen 
Monatshefte,  die  ich  nur  mit  aufterster  Oberwindung  zitiere, 
gute  Dienste.  Josef  Hofmiller,  einst  ein  guter  Europaer,  heute 
ein  guter  Bayer,  bringt  reichliches  und  authentisches  Mate- 
rial. So  wenn  er  erzahlt,  wie  Brandes  einmal  an  Nietzsche  vier 
Adressen  gab:  Strindberg,  die  Witwe  Bizetst  die  Furstin  Teni- 
scheff,  den  Fiirsten  Urussow.     Darauf  Nietzsche: 

„Ich  babe  meine  Leser  uberall,  in  Wien,  in  St.  Petersburg, 
in  Kopenhagen  und  Stockholm,  in  Paris,  in  New  York."  In 
jeder  Stadt  einer,  zusammen  sechs,  fiigt  Hofmiller  mit  Recht 
hinzu. 

Schon  manche  Freunde  Nietzsches  haben  ihn  gut  erkannt, 
sehr  gut  Erwin  Rohde.  Wieviel  Ressentiment  da  im  Spiel  ge- 
wesen  ist,  mogen  andre  untersuchen,  und  es  ist  Ressentiment 
im  Spiel  gewesen.  Was  aber  geschieht  auf  der  Welt  ohne 
das!  Fiir  Rohde  war  Nietzsche  eine  Art  Mahnung  ah  ein  Le- 
ben, das  Rohde  ersehnt  hat,  aber  zu  leben  nie  gewagt  hatte, 

57 


vielleicht  hatte  er  es  auch  gar  nicht  konnen,  und  darum  blcndct 
manchmal  ein  Strahl  HaB  auf;  es  gibt  solche  Freundschaften. 

Rohde  iiber  ,Jenseits  von  Gut  und  Bose':  ,,Dabei  ist  mir 
die  ewige  Ankiindigwng  ungeheurei?  Dinge,  haarstraubender 
Kiihnheiten  der  Gedanken,  die  dann,  zu  langweiliger  Enttau- 
schung  des  Lesers,  gar  nicht  kommen  —  das  ist  mir  unsagbar 
wider  wart  ig."  Und  spa  ten  t,Alles  rinnt  ein  em  wie  Sand  durch 
die  Finger."     So  ist  es. 

Rohde  stand  mit  dieser  Beurteilung  nicht  allein.  Man  be- 
schimpfe  solche  Kritiker  nicht,  etwa  dadurch,  daB  man  sie  als 
SpieBer  abtut  —  sie  waren  es  nicht. 

Auch  Karl  Hillebrand  war  keiner.  Dieser  Hillebrand,  der 
einst  in  Paris  Sekretar  Heinrich  Heines  gewesen  war,  schreibt 
am   16.   September   1883  iiber  den  Zarathustra: 

MIch  schrieb  ihm  (Nietzsche)  sofort  ein  paar  Zeilen  nach 
Rom,  wo  er  sich  grade  aufhielt,  und  dachte,  sein  Buchlein  mit 
auf  die  Reise  zu  nehmen;  aber  meine  Frau  hatte  es,  in  ihrer 
Weise,  versteckt,  weil  sie  fiirchtete,  es  mochte  mich  aufregen. 
Das  tats  nun  gar  nicht.  Ich  finde  wirklich  Bewundernswertes, 
gradezu  GroBes  darin;  aber  die  Form  lafit  keine  rechte  Freude 
aufkommen.  Ich  hasse  das  Aposteltum  und  die  Apostel- 
sprache;  und  gar  diese  Religion,  als  der  Weisheit  letzter  Spruch, 
bedarf  der  Einfachheit,  Niichternheit,  Ruhe  im  Ausdruck." 
Der  falsche  Klang  auf  der  Orgel  des  Philosophen  ist  gut 
herausgehort;    es   gibt   auch   Klangreichtum   aus   Schwache. 

Fraulein  Nietzsche  hat  den  Bruder  verniedlicht  —  es 
rachte  sich  bitter. 

Einige  Analphabeten  der  Nazisf  die  wohl  deshalb  unter 
die  hitlerschen  Schriftgelehrten  aufgenommen  worden  sind, 
weil  si-e  einmal  einem  politischen  Gegner  mit  dem  Telephon- 
buch  auf  den  Kopf  gehauen  haben,  nehmen  Nietzsche  heute 
als  den  ihren  in  Anspruch.  Wer  kann  ihn  nicht  in  Anspruch 
nehmen!  Sage  mir,  was  du  brauchst,  und  ich  will  dir  dafiir 
ein  Nietzsche-Zitat  besorgen.  Bei  Schopenhauer  kann  man 
das  nicht  ganz  so  leicht;  man  kann  es  gar  nicht.  Bei 
Nietzsche  ... 

Fur  Deutschland  und  gegen  Deutsohland;  fur  den  Frieden 
und  gegen  den  Frieden;  fur  die  Literatur  und  gegen  die  Lite- 
ratur  —  was   Sie  wollen.     Wir  wollen  aber  gar  nicht. 

Podach  hat  das  groBe  Verdienst,  trotz  den  Verneblungs- 
versuchen  des  Archivs  die  Gestalt  Nietzsches  klar  hervortre- 
ten  zu  lassen.  Und  je  klarer  sie  hervortritt,  um  so  klarer  wird: 
Ein  groBer  Schriftsteller  mit  groBen  literarischen  Lastern. 
Ein  schwacher  Mensch.  Ein  verlogener  Wahrheitssucher:  ein 
Freuntd  der  Wahrheit  und  ein  Schwippschwager  der  Luge.  Ein 
Jahrhundertkerl,  der  in  seiner  etwas  kokett  betonten  Einsam- 
keit  gewaltige  Prophezeiungen  niedergeschrieben  hat.  Aber 
grade  das,  um  dessentwillen  er  heute  so  tausendfaltig  zitiert 
wird,  grade  das  kann  ich  nicht  f inden,  dieses  -erne  nicht  : 
Kraft  nicht. 

Kraft  — ?  Er  prahlt  mit  der  Kraft,  er  protzt  mit  ihr, 
er  stellt  den  GipsabguB  eines  Biceps  ins  Schaufenster.  Geh 
nicht  in  den  Laden;  das  Aushantgeschild  ist  seine  ganze  Ware, 
mehr  hat   er   nicht.     Es  ist   einmal  da  von  die  Rede   gewesen, 

58 


daB  jcncr  Satz:  „Wenn  du  zum  Weibe  gehst . ,  /'  auch  so  auf- 
gefaBt  werden  konnte,  daB  der  Frauenbez  winger  einen  Wa- 
gen  zieht,  auf  dem  peitschenschwingend  die  Fran,  eine  Frau 
seines  Lebens,  steht . . .  dieser  Nietzsche  ware,  tausend  Grade 
tiefer,  ein  treuer  Kunde  der  Salons  gewesen,  in  denen  altere 
Bankdirektoren  von  stellungslos  gewordenen  Nahmadchen  fur 
gutes  Geld  ungeheure  Priigel  beziehen.  Er  hat  aus  der  Sehn- 
sucht  nach  der  Peitsche  eine  Weltanschauung  gemacht. 

Er  war  fiir  die  Entfaltung  von  Kraft  sehr  empfindlich, 
aber  er  hatte  keine,  der  flotte  Manische.  Ein  berauschtes 
Gehirn.  Kein  trunknes  Herz.  In  einem  Teil  seines  Wesens 
auch   er;   Fraulein  Nietzsche. 

Unterdriickte  Stellen  und  verbrannte  Brief e;  verloren 
gegangne  Karten  und  nicht  mehr  auffindbare  Zettel . . ,  und 
das  alles,  weil  das  Urheberrecht  die  Verfiigung  iiber  Chao- 
tisches  Tante  Minchen  anheimgibt.  Die  Unterschrift,  mit 
der  die  Mutter  Nietzsches  die  Urheberrechte  auf  die  Tochter 
ubertragen  hat,  ist  ihr,  wie  geschrieben  steht,  „blutsauer"  ge- 
worden,  Dann  war  da  rioch  dier  Doktor  Langbehn,  ein  SchweiB- 
fuB  und  Nebelkonig,  der  drauf  und  dran  war,  sich  der  Person 
und  der  Werke  Nietzsches  zu  bemachtigen . . .  um  ein  Haar  ist 
das  vorubergegangen.  Solchen  Znf alien  sind  die  posthumen 
Werke  Geistiger  ausgesetzt. 

Frau  Forster-Nietzsche  aber  versinkt  im  Dunst  ihrer  bil- 
ligen  Opferschalen.  Wenn  ihr  MiBwirken  zur  Folge  haben 
sollte,  daB  es  keinem  braven  Familienvater  und  keiner  Tante 
Minchen  mehr  moglich  sein  wird,  wie  heute  noch  im  Falle 
Oskar  Panizza,  ungedruckte  Handschriften  fiir  immer  zu 
unterdnicken  — :  dann  ist  ihr  Leben  nicht  umsonst  gewesenf 
und  wir  diirfen  der  alten  Dame  herzlichst  danken. 

Betriibliche  Filme  von  Rudolf  Amheim 

In  einer  der  stimmungsvollen  Schilderungen,  die  von  den 
-  Pressebureaus  der  Filmgesellschaften  als  captatio  bene- 
volentiae  in  die  Zeitungen  lanciert  werden,  noch  bevor  der  Kri- 
tiker  sein  herzloses  Wort  spricht,  war  zu  lesen,  daB  der  Schau- 
spieler  Werner  KrauB  sich  wegen  des  Films  ,,Yorck"  habe  graue 
Haare  wachsen  lassen,  Wir  haben  einige  Ursache,  diesem 
Beispiel  zu  folgen,  Zwar  besteht  kein  Grund,  den  Kunstwert 
eines  Films  deshalb  besonders  sorgfaltig  zu  priifen,  weil  er  zur 
Spitzenproduktion  einer  groBen  Gesellschaft  gehort;  denn  es 
kummert  uns  wenig,  wen  die  Industrie  als  FUigelmann  prasen- 
tiert.  Die  Avantgarde  ist  uns  zumeist  wichtiger  als  die  Garde. 
Ein  unbeachteter  und  unrentabler  Film,  den  eine  kleine  AuBen- 
seiterfirma  fiir  hunderttausend  Mark  hergestellt  hat,  kann  uns 
bemerkenswerter  scheinen  als  eine  ganze  Jahreslieferung  der 
Pommerschen  Meierei.  Aber  selbst  wenn  man  sich  von  dieser 
kiinstlichen  Rangordnung  fernhalt,  die  durch  glanzvolle  Aus- 
stattung  und  Galapremiere  die  MaBstibe  falscht,  noch  eh^  sie 
angelegt  werden,  muB  man  berxicksichtigen,  welche  Macht  iiber 
das  Publikum  ein  solcher  Film  einfach  dadurch  hat,  daB  eine 
groBe  Firm  a  ihn  in  ihr  en  groBen  Theatern  herausbringt.  Einem 

59 


Ufa-Film  beispielsweise  ist,  ganz  gleich  ob  er  schlecht  oder 
gut i  publikumswirksara  oder  -unwirksam  ist,  cine  bestimmte, 
hohe  Besucherzahl  ziemlich  sicher  garantiert  Und  deshalb 
ist  er  wichtig. 

Das  Thema  des  Yorck-Films  ist  mit  ungewohnlichem  Ge- 
schick  ausgesucht.  Am  geschicht lichen  Beispiel  wird  gezeigt* 
wie  man  Vertrage  brechen  und  der  Regierung  ungehorsam  und 
trotzdem  ein  echter  deutscher  Mann  sein  kann.  Wer  sich 
iiber  den  preuBischen  Pflichtbegriff  zu  informieren  wiinscht, 
fallt  von  einem  Erstaunen  ins  andre.  Tausend  Meter  lang  wird 
mil  Nachdruck  verkiindet,  daB  der  Soldat  nur  zu  gehorchen, 
nicht  zu  denken  habe,  aber  siehe,  sobald  es  ernst  wird,  ge- 
horcht  der  Soldat  nicht  mehr  und  verfallt  in  die  semitisch-de- 
struktive  Untugend,  selbst  zu  denken.  Die  Maxime,  daB  man 
sich  den  Entschliissen  der  Gemeinschaft,  der  man  dient,  unter- 
zuordnen  habe1  solange  man  es  mit  seinem  Gewissen  verein- 
baren  kann,  ist  keine  preufiische  Erfindung  sondern  selbst- 
verstandliche  Voraussetzung  jeder  Kollektivarbeit.  Darauf 
hinzuweisen  ist  wichtig,  weil  der  beste  Propagandatrick  der 
Rechtsradikalen  darin  besteht,  immer  wieder  zu  behaupten, 
die  menschlichen  Grundtugenden  wtirden  nur  in  ihren  Reihen 
gepflegt. 

Yorck  also  singt  jedem,  der  noch  reichsbannerische  Skrupei 
in.  sich  hegt,  das  Hohelied  der  Illegalitat,  Er  kiindigt  seinem 
Konig,  weil  er  das  Leben  von  ein  paar  tausend  Menschen  nicht 
unmitz  aufs  Spiel  setzen  will.  Ein  ketzerisch-pazifistisches 
Motiv:  nicht  dann  zu  kamplen,  wenn  der  Konig  ruft  und  aile, 
alle  kommen,  sondern  nur  dann,  wenn  es  einen  verniinitigen 
Sinn  hat.  Gliicklicherweise  scheint  es  Yorck  sinnvoll,  gegen 
statt,  wie  bisher,  fiir  Frankreich  zu  kampfen,  denn  hatte  ihn 
politischer  Weitblick  davon  iiberzeugt,  daB  der  eine  Krieg  ge- 
nau  so  unheilvoll  und  zwecklos  sei  wie  der  andre,  so  hatte  er 
folgerichtig  Sab  el  und  Uniform  fiir  immer  ablegen  und  fiirder- 
hin  mit  Grete  Mosheim  auf  dem  Lande  leben  miissen  —  was 
manchem  von  uns  erstrebenswert  scheinen  mag,  aber  fiir  die 
Ufa  k  einen  passenden  Films  toff  abgegeben  hatte. 

Hugenberg  darf  darauf  rechnen,  daB  die  Kinobesucher  sich 
nicht  auf  solche  abwegigen  Oberlegungen  einlassen  werden. 
Sie  werden  von  der  Leinwand  ablesen,  daB  es  zweckmaBig  ist, 
aus  privater  Initiative  gegen  Frankreich  zu  mobilisieren,  wenn 
die  Regierung  sich  zu  lange  damit  befaBt,  mit  dem  Erbfeind 
diplomatische  Papiere  auszutauschen.  Von  vornherein  ist  aller- 
dings  nicht  ausgemacht,  daB  PreuBen  gegen  Frankreich  im 
Recht  und  daB  das  unblutige  Verfahren  der  Diplomaten  ver- 
kehrt  ist;  deshalb  vereinigen  sich  Autor,  Regisseur  und  Mas- 
kenbildn<er  in  dem  Bestreben,  die  yorckischen  Soidaten,  im 
Gegensatz  zu  ihren  Feinden,  vor  Gott  und  Menschen  angenehm 
zu  machen.  Was  der  Vernunft  des  Zuschauers  bewiesen  wer- 
den miiBte,  wird  seinem  Auge  durch  eine  Schiebung  plausibel 
gemacht:  durch  tendenziose  Auswahl  der  Physiognomien  und 
Gebarden. 

Die  Franzosen  werden  als  unehrlich,  weichlich  und  ver- 
spielt   geschildert,    und  das    gibt    dem  Produktionsleiter    eine 

60 


willkommene  Gelegenheit,  den  sonst  allzu  ernsthaften  Kriegsfilm 
durch  fiinfzig  Meter  Balletteusenbeine  und  eine  prunkvolle  Po- 
lonaise zu  wtirzen,  Bei  den  Yorckischen  hingegen  wird  nur  der 
Barlach  imMenschen  gezeigt,  und  das  macht  sie  unlebendig  und 
leicht  komisch.  Denn  ebenso  wie,  auf  viel  hoherem  Niveau, 
Ernst  Barlachs  Bildhauerei  daran  krankt,  daB  sie  den  Men- 
schen  auf  ein  einseitiges,  beschranktes,  unzureichendes  Form- 
schema  bringt  und  also  ihrem  Gegenstand  nicht  gerecht  wird, 
so  ergibt  es  keine  Soldaten  von  Fleisch  und  Blut,  wenn  die 
Schauspieler  wie  der  steinerne  Komtur  den  Atelierboden 
stampfen,  unaufhorlich  duster  blicken  und  mit  zusammenge- 
preOten  Lippen  schweigen.  Diese  kiimmerliche  Stilisierung 
fuhrt  nicht  nur  zu  einer  gefahrlichen  Verfalschung  des  deut- 
schen  wie  des  franzosischen  Volkscharakters,  sie  vermitieU 
auch  iiber  den  besondern  Fall  hinaus  ein  knotiges,  amusisches 
Korporalsweltbild.  Denn  indem  durchgangig  Leicht  igkeit,  Be- 
hendigkeit,  Liebe  zu  Tanz  und  Musik,  Schonheit,  Witzigkeii 
und  Geist  mit  Unehrlichkeit,  Durchtriebenheit  und  Unernst 
gepaart  werden,  hingegen  derbe  Handgreiflichkeit,  rustikale 
Anspruchslosigkeit  und  wortkarge  Ungewandtheit  mit  Ehrlich- 
keit,  Treue,  Tatkraft  und  Geradheit,  wird  in  sehr  iibler'Weise 
an  die  antikulturellen,  der  Brachialgewalt  zuneigenden  In- 
stinkte  des  Massenpublikums  appelliert,  Der  Proletarier  muB 
lernen,  daB  geistige  Verfeinerung,  gegen  die  er  eine  gefiihls- 
maBige  Abneiguhg  hat,  nicht  mit  Geistreichelei  identisch  und 
mehr  wert  als  ein  massiver  Bizeps  ist.  Ein  nationalistischer 
Film  wie  „YorckM  hemmt  diese  Erkenntnis,  'teils  weil  man  den 
Proletarier  auf  die  Seite  der  Landsknechte  zu  ziehen  wtinscht, 
teils  weil  Herr  Hugenberg  und  die  zahlreichen  ehemaligen 
Offiziere,  die  seinen  babelsberger  Musentempel  befehligen,  von 
Natur  amusisch  und  ungeistig  sind  und  infolgedessen  das  Prin- 
zip;  ,,Wo  man  singt,  da  rauche  ruhig  Pfeife"  fur  urstammig- 
deutsch  statt  fiir  unmanierlich  halten. 

Auf  dieselbe  Weise  wird  fiir  die  Faustkampfer  gegen  die 
Manner  der  Feder  Stimmung  gemacht,  Schwergewicht  gegen 
Federgewicht  —  Boxerbegrine!  Der  intrigante  Kanzler  Har- 
denberg  und  der  charakterlose  Konig,  den  man  kiinstlich  noch 
unsympathischer  macht,  indem  man  verschweigt,  dafi  er  durch 
die  franzosische  Besatzung  in  Berlin  gehemmt  war,  —  diese 
beiden  reprasentieren,  gegeniiber  der  Kriegspartei,  die  Diplo- 
matic, also  die  fortschrittlichere  Methode,  Internationale  Fra- 
gen  zu  regeln.  Der  gerissene,  unzuverlassige  Federfuchser  halt 
auf  unterschriebene  Vertrage;  der  Ehrenmann  hingegen  zer- 
reiBt  jedes  Papier,  das  er  in  die  Finger  bekommt.  Diese  Pro- 
paganda gegen  Geist,  Fortschritt  und  Humanitat  wendet  sich 
wiederum  sehr  geschickt  an  das  Massenpublikum,  Das 
Ressentiment  der  Volksschiiler  gegen  die  Bildung  der  herr- 
schenden  Klasse,  die  Undurchsicht igkeit  einer  diplomatischen 
Verhandlung  gegeniiber  der  drastischen,  maierischen  Aktion 
eines  Sturmangriffs  oder  einer  Parade  wird  zu  politischer  Ver- 
hetzung  und  Verdummung  benutit 

Ober  die  kiinstlerische  Form  des  Films  ist  wenig  zu  sagen. 
Man  hat  groBartige  Schauspieler  aufgeboten,  aber  auch  ihnen 

61 


gelingt  es  kaum,  durch  Mienenspiel  und  Stimmklang  zu  er- 
setzen,  was  die  Autoren  schuldig  bleiben,  Man  kann  einen 
solchcn  Film  entwedcr  ganz  auf  das  Wort  stellen  oder  durch 
gcschicktc  filmisohe  Episoden  charakterisieren.  Beide  Me- 
thoden  stehen  den  Herren  Ucicky  und  Hans  Miiller  offenbar 
nicht  zur  Verfiigung.  Der  Text  ist  nicht  nur  diirftig  sondern 
auch  vollig  unsicher  und  uneinheitlich  im  Ton.  Rudolf  Forster 
als  Konig,  der  aus  den  paar  Abfallen  trotzdem  eine  herrliche 
Figur  zusammenbaut,  muB  sich  mit  einem  kindischen  Stern- 
heim-Deutsch  behelfen.  Werner  KrauB  spricht  die  Scherl- 
Epigramme,  die  man  ihm  fur  die  hochpolitischen  Szenen  in  die 
Rolle  geschrieben  hat,  notgedrungen  mit  Schillerscher  Feier- 
lichkeit.  Seine  schone,  klare  Sprache  entlarvt  das  kummer- 
liche  Papierdeutsch  besonders  schonungslos.  Daneben  hat  er 
fiir  mehr  familiare  Situationen,  wenn  er  ein  Kind  aufs  Knie 
oder  mit  den  Leutnants  eine  Molle  hebt,  einen  Umgangston. 
Aber  Wilhelm  Tell  kann  nicht  plotzlich:  „Na,  Jungs"  sagen 
und  gemutlich  die  Konsonanten  verschlucken.  Die  Aufgabe 
war  fiir  die  Schauspieler  unlosbar.  Ungetriibt  schon 
nur  Grete  Mosheim  in  einem  gestammelten  Angstmonolog  und 
ein  paar  schlicht  gesprochenen  Szenen,  die  vom  Drehbuch  aus 
ganz  leer  sind.  Selbst  wo  nichts  ist,  hat  diese  Schauspielerin 
ihr  Recht  noch  nicht  verloren. 


Fiir  jeden,  der  Josef  von  Sternbergs  Filme  liebt,  muB 
es  ein  fast  tragisches  Erlebnis  sein,  seinen  neuesten  Marlene- 
Dietrich-Film  ,,X  27"  („Dishonoured")  zu  sehen.  Es  ist,  als 
wenn  man  einen  Menschen,  den  man  gesund  gekannt  hat,  in 
Wahnsinn  verfallen  sieht:  alle  gefahrlichen  Elemente  seines 
Charakters,  die  bisher  zuruckgedrangt,  von  andern  ausbalan- 
ziert  waren,  gewinnen  plotzlich  unheimliche  Macht,  ergreifen 
Besitz,  und  nur  noch  hier  und  da  spurt  man  gespenstische 
Reste  des  einstigen  Wertes.  Man  darf  hoffen,  daB  Sternberg 
uns  nicht  endgiiltig  verloren  ist  sondern  daB  ,,Dishonorued", 
dieser  reichlich  unangenehme  Film,  nur  ein  gelegentliches  Aus- 
gleiten  bedeutet.     Aber  der   Schreck  sitzt. 

Sternbergs  ganze  Begabung  ruht  in  den  Nerven  und  im 
Verstande.  Sein  meisterliches  Gefiihl  fiir  die  Bildsprache  und 
die  Schonheit  des  gestaltenden  Lichts  betatigt  sich  immer  nur 
an  der  Oberflache  des  Geschehens.  Es  ist  ein  kluges,  virtuoses 
Spiel  mit  den  Dingen.  Sternberg  gehort  zu  den  drei  oder  vier 
Menschen  auf  der  Welt,  die  sich  die  neue  Kunstfofm  des  Films 
bis  zur  Vollendung  dienstbar  gemacht  haben.  Auch  diesmai 
beobachtet  man  wieder  mit  atemloser  Bewunderung,  wie  er 
die  Handlung  zu  raffen,  im  Fluge  anzudeuten  versteht,  wie  er 
eine  Schlacht  hinskizziert  und  dann  andrerseits  Szenen,  auf  die 
es  ihm  ankommt,  mit  der  gelassenen  Breite  der  Wirklichkeit 
ausspielt.  Prachtvoll  trifft  er  das  unruhige  Geflimmer  eines 
Maskenfestes,  das  Dunkel  einer  Gefangniszelle,  zeichnet  er  in 
nebligen,  abgestuften  Grauflachen  ein  Fiugzeug  im  Morgenlicht. 
Wieder  ist  das  Manuskript  ohne  die  geringste  leere  Stelle;  je- 
den  Augenblick  fiihrt  die  Handlung  dem  Schauspieler  die  Hand. 
Aber  dies  Uberwuchern  der  Oberflache  mit  Kleinzeug,  das 
62 


Neugier  und  Schaulust  anregt,  wird  stelieaweise  zur  Manier; 
so  wcnn  er  das  Arbcitszimmcr  des  Geheimpolizisten  kindisch 
mit  chemischen  Retorten  und  riesigen  Wandkarten  iiberhauft 
oder  wenn  die  Schauspieler  nervos  an  allerlci  Puppchen  her- 
umfingern.  Weil  die  spielerische  Lust  an  der  Erfindung,  nicht 
der  ehrliche  Drang,  ein  Stuck  Wirklichkeit  optisch  zu  gestal- 
tenf  die  Atelierarbeit  diktiert,  -d'eshalb  wird  allzu  leicht  die 
Grenze  iiberschritten,  wo  das  Mittel  sich  selbstandig  macht. 

Hollywood  ist  eine  Kolonie  entwurzelter  Menschen.  Kei- 
nem  Ding  auf  der  Welt  gehort  ihr  Herz,  jedem  gehort  ihr  Auge. 
Fern  von  allem,  worum  die  Menschen  kampfen,  leben  sie  auf 
den  Golfplatzen  des  Paradieses.  Aber  in  Paradiesen  gedeihen 
keine  Kiinstler.  Sie  kennen  das  Elend  aus  den  abgezehrten 
Gesichtern  der  Filmkomparsen,  sie  kennen  die  malerischen 
Konturen  zerbrockelnder  Mauern  und  den  Glanz  einer  nassen 
StraBe  zur  Nachtzeit.  Ihnen  dienen  die  herrlichsten  Photo- 
graphen  der  Welt.  Die  zaubern  ihnen  den  Rauch  der  Ge- 
schiitze  ins  Atelier,  den  Dunst  einer  Hafenkneipe,  das  Jam- 
mem  eines  einsamen  Tieres  in  der  Wiiste,  Aber  es  ist  alles 
nicht  wahr,  alles  nicht  notwendig,  Es  raiiBte  nicht  sein,  wenn 
der  Produktionsleiter  nicht  Wert  darauf  legte.  Diese  Men- 
schen spielen  Schopfung,  so  wie  sie  Goli  spielen.  Sie  machen 
es  fast  ebenso  geschickt  wie  Gottvater,  sie  bezaubern  uns,  aber 
plotzlich  wird  uns  eiskalt,  und!  wir  haben  etwas  gemerkt. 

Was  kiimmert  Josef  von  Sternberg  die  osterreichische 
Spionage  wahrend  des  Weltkrieges?  Ihn  interessiert  das  Spiel 
mit  den  Leidenschaften,  die  mondane  Kiihle  im  Kampf  um  Le- 
ben und  Tod,  der  Glanz  der  Frauenhaare  und  Uniformen,  das 
optische  Bonmot.  Die  schone  Spionin  bittet  den  jungen  OfH- 
zier,  fiinf  Minuten  bevor  sie  erschossen  wird,  um  einen  Spiegel. 
Er  zieht  seinen  Sabel  und  halt  ihn  ihr  vors  Gesicht.  Er  will 
ihr  mit  dem  schwarzen  Tuch  die  Augen  verbinden;  sie  nimmt 
es  ihm  aus  der  Hand  und  wischt  ihm  die  Tranen  ab.  Wie  ge- 
schickt sind  diese  Motive,  aus  der  Handlung  heraus  erf  und  en, 
wie  gut  waren  sie,  wenn  sie  nicht  so  auBerordentlich  wider- 
wartig  und  geschmacklos  waren!  Hier  verrat  sich  Sternberg. 
Hier  verrat  er,  daB  der  Tod  und  die  Liebe  ihn  nicht  inter- 
essieren  sondern  nur  ihr  funkelndes  Lichtbild.  Und  die  Frau, 
die  seine  Gottin  geworden  ist,  weil  sie  in  Vollendung  vor  aller 
Augen  fiihrt,  was  sein  eignes,  eigenstes  Wesen  ist,  die  Kiihle, 
die  marmorne  Indolenz,  das  Jenseits  von  Gut  und  Bose,  die  ge- 
lassene  Frivolitat  —  diese  Frau,  die  sein  Werk  und  sein  Werk- 
zeug  ist,  versagt,  sobald  er  versagt.  Noch  niemals  war  sie  so 
monoton  und  so  kunstlich.  Sie  kullert  mit  den  Augen,  sie  si- 
muliert  ein  Bauernmadchen,  sie  schiittelt  die  Mahne,  wenn  sie 
Beethoven  spielt,  sie  schreitet  unbewegten  Gesichts  iiber 
Leichen,  ein  wandelnder  Frigidaire  auf  zwei  beruhmten  Beinen, 
die  dem  Zuschauer  so  lange  entgegengereckt  werden,  bis  er 
sich  wie  ein  Voyeur  vorkommt  und  Obelsein  verspiirt. 

Ein  labiler  Mensch  wie  Sternberg  miiBte  in  einer  Gemein- 
sohaft  leben,  die  ihm  ein  intensives  Verhaltnis  zur  Wirklich- 
keit aufzwange.  Lebte  er  in  RuBland,  er  wiirde  die  herrlich- 
sten Filme  der  Welt  machen.  Aber  leider  lebt  er  in  Holly- 
wood. 

63 


Zurich    von  Hans  Reimann 

O  egula  und  ihr  Brudcr  Felix  sollen  312  hingerichtet  worden 
sein,  ihre  Haupter,  statt  sie  rollcn  zu  lassen,  in  die  Hand 
genommen  und  vom  Flusse  Lindoniac  einen  Berg  hinauf  getra- 
gen  haben,  und  Exuperantius  schlofi  sich,  einem  on  dit  zufolge, 
diesem  heroischen  Beispiel  an,  weshalb  wir  heutigentags  auf 
dem  Staatssiegel '  der  Stadt  Zurich  drei  Heilige  erblicken  mit 
den  dazugehorigen  Kopfen  vor  der  Brust.  Zum  Gedenken  an 
die  Geschwister  ward  eine  Kapelle  errichtet  und  hernach  eine 
Kirche,  die  bereits  im  dreizehnten  Jahrhundert  einen  Kreuz- 
gang  aufwies,  ein  Juwel  romanischer  Architektur.  Aus  der 
Kirche  entstand  das  GroBiminster  mit  Glockenttirmen,  die  Ende 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  ihre  jetzige  GestaLt  erhielten, 
einschlieBlich .  des  lustig  proportionierten,  genieBerisch  dahok- 
kenden,  wie  von  Wackerle  fiir  Brauns  Marionettentheater  ent- 
worfenen  Charlemagne  mit  einem  harmlosen  Schwert  auf  den 
Knien.  .  Wer  eine  Kamera  bei  sich  fiihrt,  versaume  nicht,  die 
zahlreichen,  vom  strengsten  Ornament  bis  zur  tollsten  Karika- 
tur  sich  steigernden  Plastiken  der  Kapitale  im  Kreuzgang  zu 
knipsen.  Da  gibt  es  die  Salome  als  Varietenummer  und  eine 
versteinerte  Parodie  auf  Samson  und  Delila.  Und  gleich  neben- 
an  die  Handelsa'bteilung  einer  Tochterschule.  Und  im  Miinster 
ein  Taufbecken  vom  Jahre  1598.  Und  dem  Miinster  gegen- 
iiber  das  ebenfalls  knipsenswerte  Haus  zum  Loch.  Das  eigent- 
lich  zum  Lochli  heiBen  miiBte,  weil,  wenn  man  das  „li"  ab- 
schaffte,  die  ganze  Schweiz  nackig  dastiinde.  Eine  Leiter  ist 
ein  Leiter lif  und  was  bei  uns  schiechthin  lfLudewich"  betitelt 
wird,  ist  ein  ^Hurlimann",  und  eine  Firma  inseriert  Berner 
Rippli  und  Wienerli  und  Frankfurterli  und  SchweinswiirstH, 
und  in  einem  hygienischen  Tiitli  befinden  sich  NuBknackerli. 
Und  wie  allerwarts,  wo  die  Mundart  allzu  schelmisch  um  die 
Ohren  flattert,  wird  der  Fremdling  dazu  verfiihrt,  den  Charak- 
ter  der  Eingeborenen  zu  verschelmeln  und  zu  verappetitlichen, 
Aber  man  lausche  etwas  scharfer  in  diese  Sprache  hinein, 
die  keine  Sprache  ist  sondern  eine  aus  dem  Alemannischen  ge- 
borene  Mundart.  Ein  boser  Mensch  hat  das  Geriicht  ausge- 
sprengt,  Schweizerisch  sei  eine  Halskrankheit.  Er  meinte  die 
harten,  knochigen  Worter  mit  dem  gegurgelten  ch,  Abgesehen 
vom  ch  finde  ich  die  Vokalisation  der  Schweizer  ebenso  kniff- 
lig  und  verkniffen  wie  ihren  Sinn  und  Geschmack.  Und  mag 
sie  gern.  Schon,  weil  sie  den  Philologen  in  mir  nicht  zur  Ruhe 
kommen  lassen.  Vermittels  der  Firmenschilder  wird  gratis 
Sprachunterricht  erteilt.  Links  steht  „Holz  und  Fourniere", 
rechts  steht  die  Obersetzung:  Bois  et  placag.es.  Im  Cafe  Hu- 
guenin  werden  folgende  Getranke  verabreicht:  Cafe  cr^me 
avant  14%  heures  . . .  — ,80,  apres  14^  heures  . . .  1. — ,  apres 
14K  heures  les  samedis,  dimanches  et  jours  de  fete...  1.25; 
Cafe  Hag  creme  avant  143^  heures...  1. — ,  apres  14H  heures 
...  1.50;  Cafe  parisien  1.25;  Cafe  f  iltre  . . .  2. — ;  Cafe  lurque  .  <. 
2. — ;  Cafe  quick  a  la  glace  Vaniile  . .  2.50.  Und  wenn  man 
bezahlt,  bekommt  man  auf  einen  20-Franken-Schein  niemals 
und  unter  keinen  Umstanden  einen  10-Franken-Schein  heraus 
sondern  zwei  gewaltige  5-Franken-Stiicke  mit  dem  Zwingli. 
64 


Im  Baur  au  Lac  wagen  sich  die  Spatzen  bis  auf  den  Tisch. 
Innerhalb  cincr  zu  sechzig  Minutcn  gerechneten  Stundc  er- 
blickt  man  mchr  teure  Wagen  als  in  Paris  binnen  vier  Wochen. 
Es  ist  laut  und  gerauschvoll  und  turbulent,  aber  um  zwolf  muB 
man  im  Bett  Hegen,  denn  die  Viertelmillionen-Stadt  verzichtet 
auf  jegliches  Nachtleben.  Im  Cafe  Sihlporte  gastierte  eine 
ausgezeichnete  Kapelle;  kurz  vor  elf  war  das  Konzert  zuEnde; 
nach  dem  letzten  Ton  verlieBen  die  Zuhorer  panikartig  das 
Lokal,  und  eine  Minute  nach  elf  saB  ich  einsam  und  verlas- 
sen  und  wuBte  mit  meinem  Kummer  nicht,  wohin.  Und  wie 
herrlich  ist  die  Stadt  bei  Nachtl  Schwane  und  Tauben  am 
Limmat-Kai  schlummern  den  Schlaf  des  Gerechten;  das  unter- 
halb  des  Lindenhofs  stationierte  Schulschiff,  ein  wahrhaft 
groteskes  Rudiment  aus  jenen  Tagen,  da  die  Schweiz  mit  Eng- 
lands  Marine  wetteifertc  um  den  schlupfrigen  Lorbeer  Nep- 
tuns,  schaukelt  besinnlich  in  den  Wellen;  die  Tonhalle,  tags- 
(iber  ein  unbenutztes  Objekt  fiir  Brisanzwirkungen,  tut  so,  als 
sei  sie  monumental;  aus  dem  Seidenhaus  Grieder  locken  ver- 
wunschene  Kostlichkeiten;  die  Blumenladen  Kramer  und  Mar- 
sano  ruhen  sich  aus;  das  Minister,  das  angestrahlte,  plaka- 
tiert  sich  selbst;  und  dort,  wo  eben  noch  die  fremde  Kapelle 
musizierte  und  das  Sechserlauten  als  Draufgabe  spendete,  ra- 
gen  die  Hochhauser,  als  standen  sie  in  Hamburg;  der  Schmid- 
hof,  der  Handelshof,  das  Bakohaus  und  das  Kaufhaus  Epa, 
das  taglich  bis  18  000  Frank  en  Umsatz  hat  und  an  Samstagen 
mehr  als  20  000  trotz  friihen  Geschaftsschlusses, 

Bitte?  Nicht  moglich!  Ein  Herr  mit  Monokel?  Das  war 
entweder  ein  Grieche  oder  ein  versprengter  Deutscher.  Hier 
haben  wir  andre  Eigentiimlichkeiten,  und  das  Monokel  fallt 
unter  die  Rubrik  „Humor  des  Auslands".  Wir  haben  dafiir 
die  Mundharmonika  und  das  SchieBgewehr.  Die  Mundhar- 
monika,  von  der  Firma  Hohner  in  Trossingen  (Wurttemberg) 
geliefert,  wird  dem  freien  Kinde  der  Schweiz  sozusagen  in  den 
Mutterleib  beigegeben.  Mundharmonizierend  gelangt  es  zur 
Welt,  benutzt  bis  zum  Laufenlernen  die  Einloch-Harmonika, 
bis  zur  Schule  die  Zweiloch-Harmonika  und  wird  alsdann  Mit- 
glied  eines  Mundharmohika-Orchesters.  Hohner  hat  anno  1928 
rund  25  Millionen  Mundharmonikas  hergestellt,  Dreiviertel 
seiner  Produktion  wandert  nach  der  Schweiz  und  nach  Kanada, 
Bitte  werden  Sie,  geehrter  Leser,  Abonnent  der  Zeitschrift 
^ohner-Klange',  die  Ihnen  als  Gegengewicht  zur  ,Weltbuhne' 
dienen  mag.  Neb  en  der  Mundharmonika  wird  auch  die  Zieh- 
harmonika  (meist  von  Silvestrini  oder  von  den  Gebriider  Giu- 
stozzi)  vereinsweise  gebandigt,  und  das  ist  wohl  das  Oberwal- 
tigendste,  das  Grandiosestc  an  Wirkung:  einen  Klub  von  hun- 
dert  und  mehr  Mann  ein  derartiges,  immerhin  durchschnitt- 
lich  funfhundert  Mark  kostendes  Instrument  meistern  zu  horen. 
Das  SchieBgewehr  hingegen  beweist  das  starke  Vertrauen,  das 
der  auf  den  Autos  mit  CH  (Confoederatio  Helvetica}  ab- 
gekiirzte  Staat  in  seine  Biirger  setzt.  Die  Axt  im  Haus  erspart 
den  Zimmermann  und  das  SchieBgewehr  Herrn  Seldte.  Im 
ziircher  Hauptbahnhof,  der  die  Sperre  nicht  kennt,  stehn  die 
Flinten   als   Handgepack   wie   in   Munchen   die   Regenschirme, 

65 


und  alljahrlich  im  September  steigt  das  KnabenschieBen,  wo 
keineswegs  in  Befolgung  der  Tell-Sage  jeweils  em  Eidgenosse 
senior  auf  einen  Eidgenossen  junior  schleBt  sondern  die  Schul- 
kinder  ihre  Patronen  in  Richtung  Uetli  verpulvern,  das  mit- 
unter  seewarts  abgezirkt  wirdt  weil  die  Amateursoldaten  in 
friedlichen  Gefilden  herumknallen.  Im  iibrigen  sollte  man  das 
Uetli  nicht  per  Babn  erklimmen.  Es  fiihrt  da  ein.  Pfad  hinauf, 
der  die  Bezeichnung  „marchenhaft"  verdient:  der  Linderwegt 
von  Heuried  aus  einundeinviertel  Stunde  (und  nach  Regen- 
wetter  das  Zehnfache),  Dann  krabbelt  man  liber  die  Serie  an- 
genehm  miteinander  verbundener  Kamme  und  saust  zurlick  mit 
der  Sihltalbahn,  nicht  ohne  vorher  unter  Nummer  143  an- 
gefragt  zu<  haben,  ob  und.wannein  Ziigli  startet.  Droben  auf 
dem  Uetli  begibt  sich  etwas  Nettes;  eine  Freiluftschule  mit 
blutjungen  Lehrerinnen  und  mit  erholungsbediirftigen  Schwe- 
stern  jenseits  der  60  sammelt  nach  dem  Motto;  „Jeder  einmal 
auf.  dem  Uetli"  immer  wieder  andre  Buben  und  Madchen.  Vom 
Aussichtsturm  wird  man  gewahr,  daB  einerseits  die  Stadt  am 
See,  andrerseits  der  See  in  der  Stadt  liegt,  und  daB  beide  so- 
zusagen  eine  Hochehe  miteinander  eingegangen  sind.  Der  See 
ist  Meter  fur  Meter  umsied>elt  und  mit  gewerblichem  FleiB 
verziert.  Driiben  protzt  der  ebenso  vornehme  wie  langweilige 
Dolder,  das  Parodies  fiir  stellungslose  Millionare  mit  Golf- 
betrieb,  und  das  ewige  Surren  in  der  Luft  lafit  auf  den  idyllisch 
gelegenen  Flugplatz  schlieBen.  Sooft  der  Zeppelin  erscheint, 
heben  die  Einheimischen  kaum  ihren  Blick:  das  kommt  davon, 
wennf  man  sich  nicht  rar  macht. 

Paradiesisch  locken  um  den  Kern  der  Stadt  gelagerte 
Siedlungen  mit  den  uppigsten  Blumengarten  Europas.  Statt 
auf  Politik  werfen  sich  die  Schweizer  auf  deren  Gegenteil, 
auf  Sauberkeit,  und  in  Emmenthal,  der  Zentrale  des  prominen- 
ten  Kases,  kann  man  adrette  Misthaufen  bewundern,'  die  mit 
Flechtwerk  umgiirtet  sind.  Das  graubiindner  Fleisch,  hoher 
als  in  1200  m  geboren,  wird  hauchdumn  geschnitten  und  luft- 
trocken  verzehrt.  Im  Corso-Restaurant  probiere  man  Mist- 
kratzerli  und  in  der  Paradies-Bar  die  diversen  Frappees,  ohne 
sich  durch  das  mehrfach  plakatierte  Geschrei  HWahen"  ab- 
schrecken  zu  lassen,  die  in  Obstwahen  und  Kasewahen  zer- 
fallen,  Gnagi  jedoch  ist  identisch  mit  Eisbein.  Das  feinste 
Cafe  ist  Neumann  (ohiie  Musik),  das  zweitfeinste  das  Odeon. 
Kellnerinnen  werden  Serviertochter  oder  Saaltochter  gerufen, 
und  schulentiassene  Frauleins,  die  fiir  ein  Geschaft  die  Boten- 
gange  besorgen,  sinid  Postkinder.  Man  kann  echte  ameri- 
kanische  und  englische  Schallplatten  kaufen;  die  Marke  MGram- 
mophon"  segelt  als  „Polydor",  und  t,Electrola"  hat  sich  in 
,,His  masters  voice"  verwandelt,  woraus  hervorgeht,  daB  Kapi- 
tal  eine  internationale  Sache  ist.  In  der  englischen  Kirche 
(■St.  Andrew's  Church)  amtiert  ein  Prediger,  der  mit  unglaub- 
licher  Nonchalance  die  Verbindung  mit  Tschihses  (Jesus)  auf- 
recht  erhalt,  mehr  Kabarett  als  Ritus.  Ruhigster  Winkel  der 
Stadt  mit  lie  b  lie  hem  IRundbilick  und  einem  Jeanne  d'Arc- 
Brunnen  ist  der  Lindenhof;  im  Museum  wimmelts  von  Bocklin, 
Hodler,  Segantini  und  Welti;  die  Brief kasten  wirken,  als  seien 

66 


sie  ausschlieBlich  £iir  getrennte  Liebespaarc  angebracht,  denn 
sic  rutschen  vor  Diskretion  in  die  Wande;  im  verborgenen, 
schwer  zu  erspahenden  Belvoir-Park  traumen  die  erlcsenstcn 
Baumgruppcn  und  rakelt  sich  die  siiBeste  Plastik;  Samstags 
neunzehn  Uhr  drohnen  die  Kirchenglocken,  daB  sich  Dort- 
mund, wo  auch  nicht  iibel  gelautet  wird,  dahinter  verkrauchen 
mufl,  abcr  ich  finde  es  wunderschon,  weil  ich  cin  musikalischer 
Dissident  bin;  zur  Wonne  samtlicher  Herrenfahrer  bietet  Zurich 
mustergultige  Parkplatze;  selbst  der  reiche  Mann  verzehrt  tag- 
aus,  tagein  seine  Rosti  mit  Kaffee;  die  Ruderer  auf  dem  See 
arbeiten  kreuzweise;  manchmal  erhebt  der  Rigi  (regina  mon- 
tium)  seine  Krone;  mit  dem  seharmantesten  Burger  Ziirichs, 
dem  Doktor  Korrodi  von  der  Ziiri-Zitig,  im  „Kropf"  beim  best- 
gepflegten  Bier  zu  plaudern,  ist  nicht  jedermann  beschieden; 
von  den  Plakatwanden  leuchtet  frisch-frohliches  Kunstgewerbe 
(Ernst);  eine  Hochzeitskutsche  rattert  durch  die  StraBen,  und 
ihre  Schimmel  tragen  Kopfputz  wie  bei  der  Paula  Busch;  den 
Chauffeuren  zehn  Prozent  Trinkgeld  zu  stiften,  ist  Brauch;  wer 
Gliick  hat,  begegnet  auf  der  Dolder-Seite  unten  am  See  der 
seltsamsten  Kar-awane:  Sauglinge  und  Hemdenmatze  werden  in 
Riesenkorben  offiziell  spazieren  gefahren;  zum  Jodeln  beno* 
tigt  man  einen  Stimnlbruch,  den  d'Moserbuebe  sogar  den 
Herrschaften  in  Philadelphia  vorgefiihrt  haben;  sowas  Buntes 
wie  den  Franziskaner  (Stiissihofstatt)  hab  ich  noch  nicht  er- 
lebt;  aber  in  der  Brunnengasse  gehts  gegeniiber  dem  Haus 
zum  Brotkorb  ein  wenig  bunter  zu;  der  spruchgezierte  Erker 
an  der  Gabelung  Lindau-Kai  und  NiederdorfstraBe  ist  langerer 
Betrachtung  wiirdig;  links  ab  verirrst  du  dich  an  Ziirichs 
Si  Pauli  und  labst  dich  an  Lacrimae  Chris ti  statt  an  Kohm; 
der  Palast,  darinnen  das  Reformhaus  Egli  untergebracht  ist, 
ruft  Erinnerungen  wach  an  den  Zwinger  in  Dresden;  am  Bau- 
schanzli  sind  es  immer  die  gleichen  Angler,  die  hier  ihre  Lei- 
denschaft  abreagieren;  die  Gedeckte  Brucke  brauchst  du  nicht 
zu  photographieren,  denn  anstandiger  als  auf  den  vorhandenen 
Ansichtskarten  gelingt  dirs  kaum;  C.  Bockli  vom  „Nebelspal- 
terM  (Rorschach)  grenzt  zuweilen  an  Rudolf  Wilke;  und  Gott- 
fried Keller? 

Hast  du  geniigend  uber  die  Drahtseilbahn  gestaunt,  die  da 
in  der  Nahe  des  Hauptbahnhofs  rump  und  stump  mitten  durch 
ein  gewohnliches  Mietshaus  wackelt  —  hast  du  das  italienische 
Viertel  (gleichfalls  in  Bahnhofsnahe)  genieBerisch  durchschlen- 
dert  —  hast  du  zum  zwahzigsten  Mai  deine  Augen  in  die  Aus- 
lagen  der  BahnhofstraBe  grasen  geschickt  —  hast  du  dich  von 
den  naiven  Beleuchtungseffekten  in  den  Kinos  erholt  —  dann 
frage  dich  zurecht  nach  dem  „Goldenen  Winkel",  nach  der 
aiten  ZunftstraBe  nebst  ihren  reichhaltigen  Antiquitaten-Laderi, 
nach  dem  Rindermarkt  und  seinen  Blumen-Erkerlis,  nach  der 
Chorgasse,  nach  der  obern  Kirchgasse  und  nach  dem  „Thal- 
eck"  am  Zeltweg.  Und  falls  dir  dies  zu  viel  Scherereien 
macht,  du  fauler  Tropf,  dann  kauf  das  bei  Oreli  Fiissli  erschie- 
nene  Btichlein  iiber  Keller,  eingeleitet  vom  Doktor  Korrodi  und 
mit  fiinfundsiebzig  Abbildungen,  Und  schlieBlich  darfst  du  so- 
gar in  Kellers  Schriften  schmokern.  Es  wird  dir  ein  Gewinn 
Furs  ohnehin  immer  schaler  werdende  Leben  sein. 

67 


Bausparkassen 

i 

Das  System  von  F.  R.  BScklin 

T  eute  ohne  jedes  Vermogen,  Leute,  die  den  Offenbarungs- 
w  eid  geleistet  haben,  oder  gegen  die  Haftbefehl  erlassen 
istf  konnen  heute  Bausparkassen  grxinden  und  haben  Bau- 
sparkassen gegriindet .  ,  /'  So  wetterte  die  grofite  deutsche 
Bausparkasse,  die  „Gemeinschaft  der  Freunde",  gegen  die  un- 
angenehme  Konkurrenz  der  „zinslosen"  Kassen,  und  der  Ge- 
heime  Regierungsrat  Ponfick  auBerte,  daB  von  den  ihm  be- 
kannten  210  Unternehmen  180  betriigerisch  oder  dilettantisch 
arbeiteten,  und  nur  sechs  seien  iiberhaupt  empfehlenswert. 

Der  ungeheure  Zulauf,  den  die  Bausparkassen  nach  dem 
Kriege  in  DeutschLand  aufzuweisen  haben,  erklart  sich  in  der 
Hauptsache  daher,  daB  hier  mit  einer  bis  ins  Kleinste  ge- 
schickt  ausgearbeiteten  Methode  auf  Kundenfang  ausgegan- 
gen  wurde.  Ein  besonderes  Kapitel  bilden  die  Bestimmun- 
gen  uber  die  sogenannte  Wartezeit.  Hier  heiBt  es:  nDie 
Mindestwartezeit  betragt  3,  6f  8  oder  10  Monate  —  je  nach 
Tarif  — ,  sofern  der  Sparer  in  dieser  Zeit  10,  15  oder  20  Pro- 
zent  eingezahlt  hat".  Das  sieht  so  aus,  als  brauche  jeder 
Einleger  sich  nur  diese  (,Mindestwartezeit"  zu  gedulden,  weim 
er  die  daran  geknxipften  Bedingungen  erfiillt.  Nun  haben  ja 
auch  einige  Sparer  ihr  Geld  bekommen,  aber  das  war  im 
Anfang,  derm  es  ist  klar,  daB  man  zuerst,  wo  ja  die  Einnah- 
men  noch  reichlich  flieBen,  gut  zuteilen  kann.  DaB  die  Ver- 
treter  mit  alien  Mitteln  versuchen,  die  Opier  zum  Abschlufl 
des  Vertrages  zu  uberreden,  versteht  sich  am  Rande.  Und 
es  ist  ja  auch  in  hohem  MaBe  gelungen,  diesen  das  Geschaft 
mundgerecht  zu  machen,  Wenn  nur  Einer  von  ihnen  sich 
hingesetzt  und  unter  Beriicksichtigung  der  versprochenen 
„Mindestwartezeiten"  und  „Festzusagenu  ein  kleines  Rechen- 
exempel  aufgemacht  hatte,  das  Resultat  ware  so  ausgefallen, 
dafl  er  den  Vertreter  hinauskomplimentiert  hatte. 

Nehmen  wir  der  Einfachheit  halber  eine  Durchschnitts- 
sparsumme  von  zehntausend  Mark  an,  die  jedem  Sparer  nach 
sechs  Monaten  ausgezahlt  werden  solL  Hat  er  nun  wirklich 
zwanzig  Prozent  vorausgezahlt  und  die  sechs  Monate  lang  je 
zwanzig  Mark  an  Beitragen  abgeliefert,  so  stehen  also  fiir  ihn 
2120  Mark  zur  Verfiigung.  Verwaltungskosten  sind  hier  ganz 
unberiicksichtigt  gelassen  worden.  Die  restlichen  7880  Mark 
miissen  doch  nun  durch  —  in  unserm  Fall  vier  —  andre  Spa- 
rer aufge.bracht  werden,  die  natiirlich  ebenfalls  nach  sechs  Mo- 
naten „zugeteilt"  werden  wollen.  Sie  sollen  in  unserm  Beispiel 
einmal  ein  Vierteljahr  spater  eingetreten  sein.  Am  SchluB  des 
ersten  Halbjahres  ergibt  sich  dann  folgendes  Bild: 

Leistung  des  ersten  Sparers 2 120  M. 

Leistung   der  vier   spateren  Sparer 

(je  2000  M.   und  drei   Monate  Beitrage  a   20  M.)         8  240  M, 

Einnahmen 10  360  M. 

Auszahlung   an  den    ersten    Sparer      .      .      .  10  000  M» 

Vortrag 360  M. 

68 


Um  am  Ende  des  dritten  Vierteljahres  den  Vieren  ihr  Geld 
auszahlen  zu  konnen,  braucht  die  Kasse  40  000  Mark,  An  Ein- 
nahmen  stehen  ihr  zur  Verftigung  die  360  Mark  des  Vortrags 
und  die  Tilgungsbeitrage  des  ersten  Sparers  in  Hohe  von  180 
Mark,  da  er  auf  Grund  des  Vertrages  nach  der  Zuteiiung  60 
Mark  im  Monat  zuriickzuzahlen  hat,  und  die  Beitrage  der  Vier 
in  Hohe  von  240  Mark.  Das  macht  zusammen  780  Mark,  also 
fehlen  39  220  Mark,  zu  deren  Auibringung,  immer  nach  unserm 
Beispiel,  zwanzig  neue  Sparer  gewonnen  werden  miiBten.  Der 
Zugang,  der  erforderlich  ware,  laBt  sich  dann  leicht  errechnen: 
1.  Vierteljahr       .  1  Sparer 


2.  Vierteljahr 

3.  Vierteljahr 

4.  Vierteljahr 

5.  Vierteljahr 

6.  Vierteljahr 

7.  Vierteljahr 

8.  Vierteljahr 


4  Sparer 

20  Sparer 

96  Sparer 

462  Sparer 

2  218  Sparer 

10  651  Sparer 

51  149  Sparer. 


DaB  ein  solches  System,  wie  es  tatsachlich  bei  vielen  in- 
zwischen  verkrachten  Bausparkassen  zur  Anwendung  gelangen 
sollte,  unweigerlich  zum  Ruin  fiihren  mufi,  ist  klar.  Dabei  ist  ganz 
unberiicksichtigt  geblieben,  daB  Jene,  die  gleich  grofiere  Sum- 
men  einzahlen  konnen,  in  der  Ausnahme  sind  und  daB  die  mei- 
sten  Sparer  mit  Monatsraten  von  nur  funf  oder  zehn  Mark 
trotzdem  die  Auszahlung  des  Darlehens  nach  sechs  Monaten 
erhofften.  Und  wieviele  sind  zwischendurch  abgesprungen,  da 
sie  bei  der  allgemeinen  Wirtschaftslage  die  Betrage  einfach 
nicht  mehr  aufbringen  konnten! 

Die  allein  bei  dieser  Methode  verdienten,  sind  die  Direk- 
toren  und  die  Vertreter.  Manche  von  ihnen  liefen  mit  dem 
Vertrag  in  der  Tasche  von  einer  Kasse  zur  andern,  und  wer 
die  hochste  Provision  zahlte,  der  bekam  den  Geworbenen, 

Das  neue  Bausparkassengesetz  wird  in  seinen  Auswirkun- 
gen  zwar  dafiir  sorgen,  daB  viele  der  Kassen  verschwinden 
und  die  meisten  verkiimmern  werden,  denn  sie  mussen  sich  den 
iatsachlichen  Verhaltnissen  anpassen.  Und  wo  keine  Ver- 
sprechungen  mehr  sind,  da  kommen  auch  keine  neuen  Ein- 
leger.  Aber  Millionenbetrage  sind  diesem  Geschaftsgebaren 
bereits  geopfert  worden,  ein  paar  leitende  Herren  haben  die 
Profite  geschluckt,  und  wenn  einmal  keine  dieser  Kassen  wei- 
ter  kann,  dann  wird  sich  erst  errechnen  lassen,  was  fiir  einen 
Schaden  sie  angerichtet  haben. 

II 

Die  Praxis  von  Bernhard  Citron 

Der  gesunde  Kern  des  Bausparwesens  ist  die  Kombination 
des  Spar-  und  Abzahjungssystems,  das  die  Sparer  gegenseitig 
Hnanzieren,  um  so  Eigenheime  fiir  breite  Bevolkerungsschich- 
ten  zu  schaffen.  Dieser  Gedanke  ist  in  Deutschland  heillos 
diskreditiert  worden,  weil  ein  grofier  Teil  der  deutschen  Bau- 
sparkassen das  Vertrauen,  das  ihnen  entgegengebracht  wurde, 
in  schandlichster  Weise  miBbraucht  hat.  Die  Reichsaufsicht 
trat  aber  erst  in  dem  Augenblick  in  Kraft,  als  bereits  viele 
Kassen  vollkommen  zahlungsunfahig  geworden  waren.    In  dem 

69 


ersten  von  sachverstandiger  Seite  verfaBten  Artikel  wcrden 
die  unwahrhaftigen  Versprechungen,  die  den  Bausparern  viel- 
fach  gemacht  worden  sind,  ad  absurdum  gefiihrt.  Wcnn  man 
jedcm  Bausparer  innerhalb  einer  halbjahrigen  Frist  zu  seineni 
Heim  verhelfen  wolltc,  miiBte  man  unter  Bercchnung  eines  be- 
stimmten  Normalkapitals  und  gewisser  Anzahlungs-  und  Amor- 
tisationsbedingungen  im  Laufe  von  zwei  Jahren  fiinfzigtausend 
Sparer  werben.  Natiirlich  sind  derartige  Bedingungen  niemals 
eingehalten  worden,  sonst  hatte  keine  Bausparkasse  langer  als 
ein  Jahr  existieren  konnen.  In  der  Praxis  hat  man  die  Warte- 
zeit  beim  Anwachsen  der  Bausparvertrage  langsam  herauf- 
gesetzt.  Dabei  ergab  es  sich,  daB  die  ersten  zehn  Bausparer 
bereits  nach  wenigen  Monaten  in  ihrem  eignen  Hause  saBen, 
die  nachstfolgenden  sich  mehrere  Jahre  gedulden  muBten  und 
der  Rest  seine  Erspamisse  in  den  Schornstein  —  aber  nicht  in 
den  eignen  —  schreiben  kann.  Einige  Bausparkassen,  deren 
Geschaftsbetrieb  das  Reichsaufsichtsamt  geschlossen  hat,  be- 
dienten  sich  dabei  eines  sehr  einfachen  Betrugsmanovers.  Die 
Vprstandsmitglieder  figurierten  selbst  als  die  ersten  Bausparer, 
die  sich  vom  Geld  der  Dummen,  die  sie  oder  ihre  Agenten  ein- 
zufangen  wuBten,  schone  Siedlungshauser  bauten.  Derartige 
Schwindeleien  sind  vermutlich  in  zahlreichen  Fallen  vorge- 
kommen.  Der  Sachverstandige  Beckerath  berechnet  als  durch- 
schnittliche  Wartezeit  acht  bis  zehn  Jahre.  Sehr  interessant 
ist  der  Plan,  der  von  einer  in  Hamburg  ansassigen  Bauspar- 
kasse dem  Reichsaufsichtsamt  zur  Genehmigung  vorgelegt 
worden  ist.  Der  Gedanke  dieses  Vorschlages  ist  die  Schaffung 
eines  gerechten  Ausgleiches  zwischen  dem  Bausparer,  der  eine 
fnihe  Zuteilung  erhalt,  und  jenem,  der  jahrelang  warten  muB. 
Das  wird  dadurch  erreicht,  daB  der  Tilgungsbeitrag  nach  der 
Zuteilung  etwa  neunzig  Prozent  hoher  ist  als  zuvor.  Die  Last 
des  Sparens  soil  gegen  die  Last  des  Wartens  abgewogen  wer- 
den-  So  lange  man  fiir  den  spatern  Erwerb  des  Hauses  spart,, 
erhalt  man  Zinsen,  die  in  der  ErmaBigung  des  Sparbeitrages 
zum  Ausdruck  kommen;  wenn  man  aber  das  Haus  bezogen  hat, 
so  muB  man  Zinsen  zahlen,  die  in  den  erhohten  Tilgungsbei- 
tragen  enthalten  sind.  Je  langer  man  sparen  oder  tilgen  muB, 
desto  billiger  ist  der  Einzeltarif.  Da  dieser  Plan  vom  Reichs- 
aufsichtsamt moglicherweise  als  Muster  gewahlt  wird,  sei  er 
hier  auszugsweise  wiedergegeben. 


Darlehnssumme 
in  Mark 

Einmalige  Unkosten 
bei 
Eintritt     Zuteilung 

Abwicklungszeit 

12  Jahre 
Sparen       Tilgen 

Abwicklungszeit 

17  Jahre 
Sparen       Tilgen 

1000,— 

3000,— 

5000,— 

10  000,— 

15,—        5,— 

45,—       15,— 

75,—      25,— 

150,—      50  — 

5,50         10,50 
16,50        31,50 
27,50        52,50 
55,—       105,— 

4,—        7,50 
12,—      22,50 
20,—      37,50 
40,—      75,— 

Zweif ellos  wird  das  Auf sichtsamt  noch  im  Besitz  zahl- 
reicher  andrer  Vorschlage  sein.  Wesentlich  ist  nur,  daB  end- 
lich  ein  solides  System  dekretiert  wird.  Denn  das  ..Gesetz  iiber 
die  Beaufsichtigung  der  privaten  Versicherungsunternehmun- 
gen  und  Bausparkassen  vom  6,  Juni  1931"  gibt  nur  ganz  all- 
gemeine  Richtlinien,  Ober  die  Wartezeit  heiBt  es  nur:  „Der 
Geschaftsplan   hat  den   Zweck   und  die  Einrichtung  der   Bau- 

70 


sparkasse  und  den  Bczirk  des  beaufsichtigteh  Geschaftsbetriebs 
anzugeben,  sowie  die  Staffeln  unter  Hervorhebung  der  langsten 
und  ktirzesten  Wartezeit  vollstandig  anzugeben."  Das  Reichs- 
aufsichtsamt  sieht  sich  einer  schwierigen  Aufgabe  gegeniiber, 
wenn  es  neben  den  umfangreichen  Priifungen,  die  sich  min- 
destens  ein  Jahr  hinziehen  werden,  noch  die  unbedingt  not- 
wendigen  Ausfiihrungsbestimmungen  zum  Bausparkassengesetz 
in  Vorschlag  bringen  soil. 

Man  gewinnt  den  Eindruck,  daB  der  Beirat  fur  das  Bau- 
sparwesen  beim  Reichsaufsichtsamt  seine  Aufgabe  bitter  ernst 
nimmt;  urn  so  erstaunlicher  muB  es  anmuten,  dafi  die  Liga 
deutscher  Bausparkassen  die  Beschliisse  des  Beirats  zu  ent- 
werten  sucht,  indem  einem  Teil  der  gegenwartigen  Beiratsmit- 
glieder  ungeniigende  Sachkenntnis  zum  Vorwurf  gemacht  wird. 
Ebenso  wie  in  das  Reichsaufsichtsamt  fiir  Privatversicherung 
ist  auch  in  den  Beirat  fiir  Bausparkassen  ein  sachverstandiger 
Journalist  berufen  worden.  Gegen  diesen  durchaus  objektiven 
Handelsredakteur,  Robert  Hafferberg  von  den  fMiinchener 
Neuesten  Nachrichten',  wendet  sich  die  Opposition  der  Bau- 
sparkassen in  erster  Linie.  Bemerkenswert  ist  vor  all  em  die 
Tatsache,  daB  der  President  der  Liga  deutscher  Bausparkassen, 
Finanzminister  a.  D,  Siidekum,  bisher  stets  behauptet  hat,  er 
sei  Anhanger  einer  wirksamen  Kontrolle  durch  die  Organe  des 
Staates  und  der  Bausparer.  Wie  die  Bausparer-Korrespondenz 
Ploetz,  die  wohl  als  offizios  bezeichnet  werden  kann,  mitteilt, 
hat  die  Liga  Deutscher  Bausparkassen  „bei  dem  Reichswirt- 
schaftsminister  einen  Antrag  auf  Erganzung  des  Beirats  bei 
dem  Reichsaufsichtsamt  eingereicht.  Das  Gesuch  wird  damit 
begriindet,  daB  zahlreiohe  in  der  Beiratsliste  aufgefuhrte  Per- 
sonlichkeiten  bisher  in  wenig  oder  gar  keiner  Beziehung  zur 
praktischen  Ausubung  des  Bauspargedankens  standen,  so  daB 
die  Mitarbeit  dieser'zum  Beispiel  aus  der  Lebensversicherung 
und  dem  Hypothekenbankwesen  kommenden  Personlichkeiten 
die  Forderung  der  Aufsichtstatigkeit  seitens  des  Reichsauf- 
sichtsamtes  nicht  gewahrleisten.  Es  wird  die  Erweiterung  der 
Beiratsliste  auf  die  vom  Gesetzgeber  vorgesehene  Zahl  von 
25  Mitgliedern  vorgeschlagen".  Ausgeiibt  haben  den  Bauspar- 
gedanken  nur  Direktoren  der  Kassen  selbst.  Wenn  aber  die- 
sen  im  Beirat  ein  maBgebender  Platz  eingeraumt  wiirde,  so 
ware  die  ganze  Aufsicht  fast  illusorisch.  DaB  die  Forderung 
der  Aufsichtstatigkeit  jetzt  nicht  gewahrleistet  seit  kann  Herr 
Siidekum  wohl  nur  aus  dem  Verbot  von  zwolf  Kassen  her- 
leiten,  die  allerdings  von  dem  Propagandaleiter  der  Liga,  Dok- 
tor  August  Voelker,  vertreten  wurden.  Wenn  infolge  einer 
Erganzung  des  Beirats  nach  dem  Vorschlage  des  Liga-Vertre- 
ters  die  jetzt  verbotenen  Kassen  genehmigt  worden  waren, 
dann  miiBte  man  allerdings  von  einer  Sabotage  des  Bauspar- 
gedankens sprechen.  Bei  der  sozialdemokratischen  Partei  ist 
Siidekum,  der  in  standiger  Fehde  mit  der  gewerkschaft lichen 
„Gehag'\  Gemeinnutzige  Spar-  und  Bau-A.-G.,  liegt(  auBer- 
x>rdentlich  schlecht  angeschrieben.  Es  ware  endlich  Zeit  fiir 
die  Partei,  einen  Mann,  der  ihrem  Prestige  schon  bei  dem 
Verkauf  des  deutschen  Ziindholz-Monopols  sehr  geschadet  hat, 

71 


abzuschiitteln,  zumal  die  SPD  zu  diesem  fruhern  Finanzmini- 
ster  langst  keine  innere  Fiihlung  mehr  hat. 

Das  zunehmende  MiBtrauen  hat  die  Leitung  zahlreicher 
Bausparkassen  schon  vor  geraumer  Zcit  auf  den  Gedanken 
gebracht,  die  Sparer  durch  Vortauschung  einer  gar  nicht  vor- 
handenen  treuhanderischen  Verwaltung  in  Sicherheit  zu  wie- 
gen.  Einzelne  Bausparkassen  haben  sich  bei  hiesigen  Grotf- 
banken  Sonderkonten  fur  die  eingehenden  Sparbetrage  ein- 
gerichtet.  Ihren  Sparern  gegeniiber  haben  sie  nun  behauptet, 
dafi  es  sich  dabei  um  „Sperrkonten"  handelt,  die  kein  Ver- 
waltungsmitglied  ohne  die  Zustimmung  der  Sparer  angreifen 
kann.  Die  Banken  sahen  sich  genotigt,  energisch  gegen  die 
Behauptung  Stellung  zu  nehmen,  daB  Sperrkonten  eingerichtet 
worden  sind;  gleichzeitig  wurde  mitgeteilt,  daB  es  bei  den  vor- 
handenen  Sonderkonten^  kein  beschranktes  Verfiigungsrecht 
gibt  und  auch  im  Falle  des  Konkurses  der  betreffenden  Bau- 
sparkasse  das  Sonderkonto  in  die  Masse  geht,  Einige  Kassen 
—  so  auch  die  der  Liga  Deutscher  Bausparkassen  angehori- 
gen  —  sind  dazu  iibergegangen,  eigne  Treuhandgesellschalten 
zu  schaffen,  um  dort  die  Bausparbetrage  sicherzustellen.  An 
sich  ist  der  Treuhandgedanke  gesund;  ob  allerdings  Treu- 
handgesellschaften,  die  den  betreffenden  Bausparkassen  selbst 
ge-horen,  immer  die  geeigneten  Kontrollorgane  sind,  muB  da- 
hingestellt   bleiben. 

Zu  den  S linden  der  Bausparkassen  gehoren  auch  die  von 
Vorstandsmitgliedern  auf  Kosten  der  Sparer  vorgenommenen 
Terrainspekulationen,  Die  Bausparkassen  stehen  im  allge- 
meinen  auf  dem  durchaus  berechtigten  Standpunkt,  dafi  man 
den  Grundstxicksankauf  nicht  dem  Sparer  allein  iiberlassen 
kann,  da  sonst  vollkommen  unbeleihbare  Objekte  erworben 
werden  konnten.  Nun  haben  aber  in  manchen  Fallen  die 
Bausparkassen  Grundstiicke  angekauft,  die  den  Direktoren 
hohe  Provisionen  brachten,  wahrend  der  Sparer  einen  viel  zu 
hohen  Preis  zu  zahlen  hatte.  Die  enge  Verbindung  zwischen 
Bausparkasse  und  Terrainspekulation  hat  auch  zu  dem  in  die- 
sen  Tagen  erfolgten  Zusammenbruch  der  „Ehag"  in  Hamburg 
gefiihrt. 

In  der  gegenwartigen  Lage  wird  die  Weiterfiihrung  des 
Geschaftsbetriebes  nur  einer  geringen  Zahl  von  Bausparkas- 
sen ermoglicht  werden  konnen.  Fiir  die  Sparer  muB  gerettet 
werden,  was  zu  retten  ist.  Andrerseits  darf  aber  auch  nicht 
offentliches  Geld  in  Kassen  h^neingesteckt  werden,  die  nicht 
bereits  die  Kontrolle  des  Reichsaufsichtsamts  passiert  haben. 
So  muB  zum  Beispiei  energisch  gegen  die  Versuche  Stellung 
genommen  werden,  fiir  die  wiirttembergische  MGemeinschaft 
der  Freunde"  von  PreuBen  Subventionen  herauszuschlagen. 
Wir  sind  gewifi  nicht  partikularistisch  gesinnt,  aber  wir  kon- 
nen durchaus  nicht  einsehen,  warum  der  reichste  deutsche 
Freistaat,  Wiirttemberg,  nicht  selbst  fiir  seine  Kasse  einsprin- 
gen  kann-  Die  vom  preuBischen  Wohlfahrtsministerium  zu 
zahlende  Unterstiitzung  soil  angeblich  dazu  dienen,  die  10-Mil^ 
lionen-Anleihe  der  Gemeinschaft  der  Freunde  zu  vefbilligen. 
Da   es    als   ganz    ausgeschlossen    angesehen   werden  muB,    daB 

72 


diese  Bausparkasse  eine  solche  Anlcihe  erhalt,  muB  man  be- 
fiirchten,  daB  entweder  PreuBen  die  ganze  Summe  vorstrcckt 
oder  fiir  die  Riickzahlung  garantiert.  Wollte  man  versuchen, 
die  einzelnen  Locher  bei  den  Bausparkassen  zuzustopfen,  dann 
wiirden  viele  hundert  Millionen  zu  diesem  Zweck  benotigt 
werden.  Man  kann  daher  nur  hoffen,  daB  vom  Reichsauf- 
sichtsamt  weiter  rasche  Arbeit  geleistet  wird,  und  daB  man 
das  Bausparwesen,  soweit  es  noch  gesund  ist,  auf  juristisch 
und  materiell  befestigtem  Fundament  wiederaufbatit 


EufOpa  von  Theobald  Tiger 


Am  Rhein,  da  wachst  ein  stiff  iger  Wein  - — 
'*■'  der  darf  aber  nicht  nach  England  hinein  — 

Buy  British* 
In  Wien  gibt  es  herrliche  Torten  und  Kuchen, 
die  haben  in  Schweden  nichts  zu  suchen  — 

Kop  svcnska  varor! 
In  I  tali  en.  verfaulen  die  Apfelsinen  — 
laBt  die  deutsche  Landwirtschaft  verdienen! 

Deutsche,   kauft   deutsche  Zitronen! 
Und  auf   jedem   Quadratkilometer   Raum 
traumt  einer   seinen  volkischen   Traum. 
Und   leise   fliistert   der   Wind  durch  die   Baurae . . . 

Raurae   sind   Schaume. 

Da  liegt  Europa.    Wie  sieht  es  aus? 
Wie    ein   bunt    angestrichnes    Irrenhaus. 
Die  Nationen  schuften  auf  Rekord: 

Export!   Export! 
Die  andern!    Die  andern  sollen  kaufen! 
Die    andern  sollen   die   Weine    saufen! 
Die  andern  sollen  die  Schiffe  heuern! 
Die  andern  sollen  die  Kohlen  verfeuern! 
Wir? 

,  Zollhaus,   Grenzpfahl   und   Einfuhrschein: 
wir  lassen  nicht   das   geringste  herein. 
Wir  nicht,     Wir  haben  ein  Ideal: 
Wir  hungern.      Aber    streng    national. 

Fahnen  und   Hymnen   an   alien   Ecken. 

Europa?    Europa  soil  doch  verrecken! 

Und   wenn   alles  der   Pleite   entgegentreibt : 

dafi  nur  die  Nation  erhalten  bleibtl 

Menschen  braucht  es  nicht  mehr  zu  geben. 

England!     Pol  en!     Italien  mufi  leben! 

Der  Staat    friBt   uns   auf.  Ein  Gespenst.  Ein   Begriff. 

Der  Staat,  das  ist  ein  Ding  mitm  Pfiff. 

Das  Ding  ragt  auf  bis  zu  den  Sternen  — 

von  dem  kann  noch  die  Kirche  was  lernen, 

Jeder   soil   kaufen.     Niemand  kann   kaufen. 

Es  rauchen  die  volkischen  Scheiterhaufen. 

Es   lodern  die   volkischen   Opferfeuer: 

Der  Sinn   des  Lebens  ist   die  Steuer! 

Der  Himmel  sei  unser  Konkursverwalter ! 

Die  Neuzeit  tanzt  als  Mittelalter. 

Die  Nation  ist  das  achte  Sakrament  — ! 
Gott  segne  diesen  Kontinent. 

73 


Bemerkungen 

Berliner  Polizeigefangnis 

C*  in  grofier  Organismus  ist  das 
"  bcrliner  Polizeiprasidium.  Be- 
amte,  die  schon  mehr  als  zehn 
Jahre  dort  tatig  sind,  finden  sich 
in  dem  Gewirr  von  Bureauabtei- 
lungen  nicht  zurecht.  Die  alte 
Stadtvogtei  dient  als  Polizei- 
gefangnis, Unauffallig  ist  es 
mit  dem  Polizeiprasidium  verbun- 
den,  Durch  lichte  Korridore,  gut 
eingerichtete  Bureauraume  ge~ 
langt  man  tiber  Treppen  in  einen 
der  Gemeinschaftsraume.  Raum 
Nummer  4.  Ein  gewolbeartiger 
Saal,  nur  mit  schmalen  Ober- 
fenstern  ausgestattet,  die  das 
Licbt  sparlich  hineinlassen.  Die 
Luft,  obgleich  der  Raum  unbelegt, 
ist  dumpf.  Inmitten  des  Raumes 
der  Abort,  nur  durch  eine  diirf- 
tige,  spanische  Wand  gegen  die 
Sicbt  verstellt.  Holzpritschen, 
auf  die  abends  Matratzen  gelegt 
werden,  dienen  als  Schlafgelegen- 
heit.  Kein  Schrank,  kein  Tisch 
befindet   sich   hier. 

Dann  geht  es  eine  halbe 
Treppe  tiefer  uber  die  Einfahrt 
zu  andern  Raumen.  Der  Saal  1 
wird  aufgeschlossen.  Der  Raum 
ist  noch  dunkler  als  der  erste, 
die  Luft  schlecht.  Einige  Polizei- 
gefangene  liegen  auf  den  Banken 
(keine  Holzpritschen),  die  quer 
aneinandergestellt  als  Schlaf- 
statte  dienen.  Zur  Nacht  gibt  es 
nur  eine  Decke,  Ein  junger 
Mensch  steht  an  einer  Saule.  Ver- 
hungerte  Gesichter,  Menschen, 
die  durch  Not  und  Pein  mit  den 
Gesetzen  in  Konflikt  gerieten. 
Kein  Wort  wird  gesprochen.  Die 
Meisten    liegen    erinattet   auf   den 


holzernen  Banken.  Der  Saal  ist 
denkbar  unfreundlich.  Er  soil  nur 
ein  Warteraum  sein,  aber  oft  ge- 
nung  dient  er  als  Schlafraum.  Er 
ist  unbrauchbar  zum  Aufenthalt 
fur  Menschen,  auch  fur  Men- 
schen, die  gemeinhin  Verbrecher 
genannt  werden.  Die  andern 
Raume  sind  etwas!  freundlicher, 
zumindest  sind  Pritschen  vorhan- 
den.  In  alien  diesen  Raumen 
aber  die  gleiche,  dumpfe,  muffige 
Luft.  Kein  Sonnenstrahl  verirrt 
sich  dorthin.  Und  hier  werden 
auch  oft  genug  politische  Gefan- 
gene  eingeliefert,  die  zwei,  auch 
drei  Tage  in  solchen  Raumen 
verbleiben.  Kriminelle  und  poli- 
tische Gefangene  kommen  zu- 
sammen,  Das  laBt  sich  nicht  ver- 
meiden,  wie  mir  der  Direktor  des 
Polizeigefangnisses  sagt.  Gewifi 
kanri  sich  der  politische  Gefan- 
gene selbst  verpflegen,  aber  die 
meisten  haben  ja  kein  Geld  dazu. 
Rauchzeug  gibt  es  nur  Dienstags 
und  Freitags  zu  kaufen.  „Die 
Beamten  sind  doch  keine  Boten", 
bemerkt  entriistet  der  Vorsteher, 
als  man  ihn  darauf  hinweist,  dafi 
ein  politischer  Gefangener,  der 
am  Sonnabend  eingeliefert  wird, 
immerhin  drei  Tage  warten  mufi, 
bis  er  sich  Rauchzeug  kaufen 
kann.  Und  was  bedeutet  im  Ge- 
fangnis  eine  Zigarette! 
* 

Wie  ich  von  der  Kuche  zu  den 
Abstellraumen  gehe,  sehe  ich 
eine  Anzahl  Polizeigefangener 
Kartoffeln  schalen.  Am  obern 
Ende  sitzt ...  ein  Kind.  Ein 
pausbackiger  Junge.  Ich  frage: 
1st    er    auch    ein    Polizeigefange- 


Sie  durfen  uns  glauben 

dafi  wir  nicht  Geld,  Zeit  und  Miihe  an  eine  Sache  verschwenden,  die  wir 
nicht  kennen!    Bevor  wir 

die  Biicher  von  B6  Yin  Rd 

in  unserm  uber  hundert  Jahre  bestehenden  Verlag  ubernahmen,  batten 
wir  uns  lange  schon  uberzeugt,  daB  jeder  Kaufer  dieser  Bttcher  uns  dafiir 
danken  wiirde.  Einftihrungsschrift  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin 
kostenlos.  Jede  ernst  zu  nehmende  Buchhandlung  fiihrt  B6  Yin  Ra-Biicner. 
Der  Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816),  Basel-Leipzig. 

74 


ner?  Verlegenheit.  Der  Junge 
wird  gefragt.  Und  siehe  da,  es 
stellt  sich  heraus,  daB  er  funf- 
zehn  Jahre  alt  ist  und  wegen 
PaBvergehens  seit  nahezu  drei 
Monaten  im  Polizeigefangnis 
sitzt.  Er  hat  nicht  gestohlen.  Er 
hat  kein  Haus  in  Brand  gesteckt. 
Auch  niemanden  betrogen  oder 
Schaden  zugefugt.  Ich  bitte,  es 
richtitf  zu  verstehen.  Scin  Ver- 
brechen  ist  kein  Verbrechcn.  Dcr 
Junge  ist  Pole,  zumindest  will 
ihm  das  die  deutsche  Behorde 
nachweisen.  Und  da  ist  er  iiber 
die  Grenze  gekommen,  ohne  zu 
wissen,  daB  nach  der  PaBbekannt- 
machung  aus  dem  Jahre  1924 
jede  Person  fiber  vierzehn  Jahre 
verpflichtet  ist,  einen  Pafi  bei 
sich  zu  tragen.  Den  hatte  er  nicht. 
Und  da  ist  er  eines  Tages  auf- 
gegriffen  worden.  Damals  begriff 
er  wohl  nicht  warum.  Heute  weiB 
er,  daB  er  wegen  PaBvergehens 
im   Polizeigefangnis   sitzt. 

Die  Polizeibehorde  behauptet, 
er  sei  Pole.  Und  hat  das  auch 
dem  polnischen  Konsulat  tnit- 
geteilt.  Die  Polen  aber  bestrei- 
ten  es.  Die  Nachforschungen  sind 
noch  nicht  beendet.  Man  sucht  die 
El  tern.  Und  wahrend  die  Bureau- 
kratie  ihren  schwerfalligen  Appa- 
rat  in  Bewegung  setzt,  urn  nach 
dem  Willen  der  Polizeibehorde 
den  Jungen  uber  die  Grenze  zu 
schicken,  nach  dem  Willen  der 
Polen  ihn  in  Deutschland  zu  be- 
lassen,  sitzt  dieses  fimfzehnjahrige 
Kind  innerhalb  all  deir  schiff- 
briichigen  Existenzen  sage  und 
schreibe  den  dritten  Monat, 

Der  Herr  Dezernent  wuBte  gar 
nicht,  daB  der  Junge  noch  immer 
im.  Gefangnis  sitzt.  Er  sei  zu- 
erst  in  Polizeifursorge  gewesen, 
aber  er   war   zu   unbequem.      Er 


hatte  sich  nicht  gut  benommen, 
und  da  hat  man  ihn  einfach  ins 
Gefangnis  gesteckt.  Einen  jungen 
Menschen,  ein  Kind,  wegen  PaB- 
vergehens! Kann  ein  Hirn  sich 
einen  solchen  Irrsinn  ausdenken? 
Und  es  gibt  Menschen,  die  sich 
nicht  schamen,  das  mit  ihrem  Na- 
men  zu  decken,  das  Fraulein  von 
der  Polizeifursorge  —  wo  er  nun 
wohl  wieder  ist  —  und  der  Herr 
Regierungsrat  vom  Fremdenamt. 
Nur  um  einer  Unbequemlichkeit 
halberf 

Ist  das  das  einzige  Kind,  das 
wegen  PaBvergehens  hinter  Ge- 
fangnismauern  gesperrt   ist? 

Kurt   GroBmann 

Geschichte  in  Bildern 

Cs  ist  tiberall  dasselbe,  nur  in 
*-*  den  Nuancen  unterscheidet 
sich  das  historische  Geschehen  in 
dem  einen  Lande  von  dem  des 
andern ;  Nuancen,  bedingt  durch 
das  verschiedenartige  Tempera- 
ment von  Land  und  Leuten. 

Dies  der  starkste  Eindruck,  den 
man  bei  der  Betrachtung  zweier 
Photobiicher  gewinnt:  lf20  Jahre 
Weltgeschichte  in  700  Bildern" 
(Transmare-Verlag,  Berlin)  und 
HWehrlos  hinter  der  Front"  (So- 
cietats-Verlag,    Frankfurt    a.  M.) . 

Friedrich  Sieburg,  der  zu  jenem 
die  Einleitung  schrieb,  ist  sich 
der  Grenzen  bewuBt,  die  der 
Wirkung  von  Dokumenten  auf 
Leser,  Horer  oder  Betrachter  ge- 
zogen  sind.  Er  weiB,  daB  eine 
verderbliche  Idee  nicht  dadurch 
auszurotten  ist,  daB  ihre  Folgen 
aufgezeigt  werden,  Er  weiB,  daB 
nur  eine  andre  Idee  sie  wird  ver- 
nichten  konnen.  Der  H.  Th.  B.  sig- 
nierende  VorredneV  des  andern 
Buches    dagegen   glaubt,    daB    die 


T  F  ^TT*  Das  Ladieln  der 

l^JLjk3  J_  •  Mona  Lisa  •  26.  Tausend 
Ein  weiterer  Sammelband  von  KURT  TUCHOLSKY 

(THEOBALD  TIGER  ^  PETER  PANTER  -  IGNAZ  WROBEL  KASPAR  HAUSER) 
Neuer  verbilligter  Preis:  Kartoniert  4.80  ■•  Leinenbd.  6.50 
la  Jeder  guten  Buchhandlung  vorratiff  •  EUNSTROWOHLT  VERLAG  BERLIN  W  50 

75 


von  ihm  gesammelten  Photo- 
graphien  aus  dem  Hinterland  die 
neue  Generation  vor  die  Entschei- 
dung  stellen  konnten,  „ob  sie  die 
Segnungen  eines  wirklichen  Frie- 
dens  oder  den  Jammer  eines 
neuen  Krieges  kennenlernen  will". 
Die  Kriegsbegeisterung  sitzt  zu 
tief,  als  daB  sie  durch  noch  so 
eindringliche  Demonstrierung  des 
von  ihr  angerichteten  Unheils  ent- 
wurzelt   werden  konnte. 

Mit  dieser  Einschrankung  ange- 
sehn,  sind  beide  Bucher  wertvoll, 
weil  sie  unser  Wissen  urn  die  Ge- 
schehnisse  durcb  Dokumente  be- 
reichern,  an  denen  sich  nicht 
drehen  und  deuteln  laBt.  „Wehr- 
los  hinter  der  Front"  zeigt  die 
grausigen  Wunden,  die  Krieg  und 
Inflation  Denen  schlugen,  die 
machtlos  das  Geschehen  uber  sich 
ergehen  lassen  mufiten.  Gute, 
sehr  deutliche  Photographien,  mit 
schlagkraftigen  Unterschriften  ver- 
sebn;  eine  saubere  Arbeit,  die 
dem  Letzten  leider  ausweicht.  Es 
war  noch  schlimmer  als  es  hier 
gezeigt  wird.  Der  bewufite  und 
aus  den  angegebenen  Griinden 
auch  zu  verteidigende  Verzicht 
auf  „KriegsgreuelM  und  „Kriegs- 
verbrechen"  hat  den  Rcdaktor 
verfuhrt,  solche  Vorkommnisse 
auch  dann  beiseite  zu  lassen, 
wenn  sie  durchaus  einer  Regie- 
rung  zur  Last  zu  legen  und  nicht 
nur  aus  der  Psyche  von  Einzel- 
personen  zu  verstehen  sind. 

Die  beiden  Verfasser  des  andren 
Werkes,  Sandor  Marai  und  Laszlo 
Dormandi,  haben  sich  eine  solche 
Einschrankung  nicht  auferlegt, 
und    es    ist    gut    so.     Denn    hier 


rollt  nun  ein  Film'  ab,  der  fast 
liickenlos  die  letzten  zwanzig 
Jahre  des  Erdgeschehens  umfaBt 
und  mit  der  nicht  zu  bestechen- 
den  Linse  Falten  und  Faltchen 
dieses  Irrsinns,  genannt  Weltge- 
schichte,  abtastet.  Uberraschend, 
wie  manchmal  die  Photographie 
ein  Ereignis,  einen  Menschen,  uns 
anscheinend  gut  bekannt,  in  ein 
ganz  andres  Licht  stellt.  Grotesk 
die  Reihe  „Hitler  spricht":  die 
Linse  entlarvt  den  Aufwand,  und 
es  bleibt  ein  armlicher  Schmie- 
renkomodiant,  dessen  verbogene 
Seele  sich  aus  jeder  Geste,  aus 
jeder  Miene  offeriert. 

Vorkriegszeit,  drohender  Krieg, 
Zusammenbruch,  f,Friede"t  stur- 
zende  Throne,  an  deren  Stelle  die 
„Wirtscha!tsfuhrer"  andre  errich- 
ten,  neue  Staatsformen,  Reste, 
die  wie  Fossilien  aus  alter  Zeit 
wirken:  das  alles  stellt  das 
scharfe  Auge  des  Objektivs  vor 
uns  hin,  nichts  beschonigend. 
nichts  verzerrend,  und  doch  dem 
Objekt  einen  bestimmten,  eben 
seinen  Sinn  verleihend.  Abge- 
sehen  von  einigen  Fallen,  wo  eine, 
wahrscheinlich  aus  Billigkeits- 
grunden,  schlechte  Reproduktion 
leichte  Maskenhaftigkeit  zeitigte, 
sind  diese  Bilder  lebendiger  als 
manche  Schilderung.  Und  man 
hat  dabei  noch  das  sichere  Ge- 
fuhl:  So  war  es  und  nicht  anders. 
Walther  Karsck 

Allez  hoppl 

|7riedrich  Hollanders  neue  Re- 
^  vue,  die  sich  und  uns  uber 
vielerlei  lustig  macht,  hat  einen 
angenehmen    Conffirencier,    Herrn 


Marlene  Dietrich 

in 

X.  27 

Manuskript  und  Regie:  Josef  von  Sternberg 

Ein  Paramount  Tonfilm 
Taglioh  Capitol  am  Zoo,  7  und  918  Uhr 

76 


von  Schipinsky.  In  seiner  Gemiit- 
lichkeit  und  guten  Laune  liegen 
die  Nummern  der  Revue  watte- 
weich  gebettet.  Und  ein  wahres 
Vergniigen  bereitet  dieser  Con- 
ferencier  durch  die  schlechten  Be- 
rufseigenschaften,  die  er  nicht 
hat,  Er  ist  nicht  suffisant,  er 
quatscht  nicht,  er  tut  nicht  iiber- 
legen,  sein  Antlitz  ist  nicht  mit 
zerlassener  Ironie,  die  sich  in 
den  Mundwinkeln  staut,  gefettet, 
und  er  verschmaht  es,  durch 
Frechheiten  gegen  das  Publikum 
sich  bei  diesem  einzuschmeicheln. 
Kurz,  er  hat  alien  Takt  seiner 
nebensachlichen  Aufgabe. 

Hedi  Schoop  tritt  auf  als  spa- 
nische  Tanzerin,  die  weder  Tan- 
zerin  ist  noch  Spanierin  und  die- 
sen  Tatbestand  gesangstextlich 
ohne  Riickhalt  einbekennt,  Der- 
lei  Verspottung  des  Vari6t6s  ist 
schon  oft  vorgeulkt  worden,  aber 
selten  noch  in  so  wirkungsvoller 
Dreieinigkeit  von  Temperament, 
Drolligkeit  und  Grazie,  mit  so 
lebhaftem  korperlichem  Witz  und 
so  saftig  im  Parodistischen.  Es 
ist  das  Nette  an  Hollanders 
Truppe,  daB  da  keiner  seine  Ba- 
gatellaufgabe  bagatellisiert,  jeder 
den  SpaB,  den  er  zu  machen  hat, 
ernst  nimmt.  Humor  auf  der 
Biihne  ist  auch  eine  Arbeit  und 
nicht  die  leichteste.  Nur  wenn  er 
so  geiibt  und  prazisiert  ist  wie  im 
Tingel-Tangel,  kommt  dieser  Ein- 
druck  der  Leichtigkeit  und  Miihe- 
losigkeit  zustande,  der  alles  wie 
eine  iibermutige  Augenblicks-Im- 
provisation  erscheinen  laBt.  Also, 
zumindest  101  Prozent  ihres  Wil- 
lens  zur  Wirkung  und  des  Tem- 
pos, das  sie  in  sich  hat,  wendet 
die  zarte  Hedi  Schoop  an  Gran- 
danutta,  die  spanische  Tanzerin. 

Annemarie  Haase  ist  Meisterin 
vieler  Arten    und   Spielarten    ge- 


lassener  Vulgaritat.  Das  Lacher- 
liche  folgt  ihr  auf  den  leisesten 
Wink;  und  sie  winkt  nicht  nur 
leise.  Mit  wenigen  scharfen 
Strichen  gelingen  ihr  Karika- 
turen,  deren  Witz  so  trocken  ist, 
daB  kein  Auge  es  dabei  bleibt. 

Hermann  Schaufufi  gibt  als 
Bauchredners  Puppe  ein  artisti- 
sches  Glanzstiick.  Den  Bauch- 
redner  hiezu  mimt  der  sehr  an- 
genehme  und  sichere  Schauspie- 
ler  Kurt  Daehn,  wobei  seine  Lip- 
pen  den  Text  der  Puppe  lautlos 
mitbilden.  Aber  das  tut  kein 
Bauchredner.  Dessen  Trick  ist  es 
vielmehr,  daB  er  den  Mund  gar 
nicht  bewegt,  also  scheinbar  ohne 
zu  sprechen  spricht,  dafi  man  ihm 
zu  gleicher  Zeit  reden  zuhoren 
und  schweigen  zusehen  kann. 

Das  Beste  des  guten  Abends: 
Ellen  Schwanneke  als  Madchen 
auf  dem  Drahtseil.  Sie  singt  ein 
Lied  vom  armen  Artistenkind. 
Mit  vollendeter  Zartheit  des  Aus- 
drucks,  iiber  Riihrendes  mit  so 
Ieichtem  Schwebeschritt  hintiber- 
gleitend  wie  iiber  ihr  vorgetausch- 
tes  Drahtseil  (und  eben  deshalb 
sehr  riihrend) ,  voll  Delikatesse 
und  Bescheidenheit  im  Gebrauch 
der  Vortragsmittel,  die  Stimmung 
machen  (und  eben  deshalb  diese 
voll  erzeugend). 

Es  gibt  auch  ein  paar  schwache 
Stiicke  im  Programm,  ein  ganz 
schwaches:  der  gezuchtigte  Mili- 
tarfilm,  und,  leider,  auch  Philo- 
sophic: drei  Affen,  die  sich,  von 
Hermann  SchaufuB  bedeutsam 
kommentiert,  vor  der  Welt  ver- 
schlieBen.  Recht  haben  sie  ja, 
aber  immerhin.  Doch  die  soge- 
nannte  ernste  Nummer  gehort  nun 
einmal  zum  Frohsinn  des  Kaba- 
retts;  ohne  sie  ware  es,  was  ein 
Tingel    ware    ohne   Tangel. 

Alfred  Polgar 


FRIEDEN  UND  FRIEDENSLEUTE 

Genfereien  v.  Walther  Rode.     Schutzumschl.  v.  GULBRANSSON 

Das  Elend  kommt  von  dertraplschen  Beftlssenheit,  den  Bock  derZetten  zu  melken,  ob 
er  Milch  geben  kann  oder  ntcht.   Niemand  wei6.  wohin  die  Menscn- 
heit  steuert,  ob  sie  leben  oder  sterben  will;  gewiB  ist  nur,  daB  sie 
das  nicht  will,  was  ihr  die  Oberlehrer  der  GlOckseligkeitzudenken, 

TRANSMARE  VERLAQ  A.-G-,  BERLIN  W  10 


Kartoniert 

3 — RM 


77 


Rosig 

Tn  Vers  und  Prosa  hat  man  auch 
*  diesen  Silvester  gefeiert.  Reime 
und  Sprache  hatten  das.  Goethe- 
j  ahr  noch  vor  sich.  Die  Stim- 
mung  war  nicht  musisch,  man 
fiihlt  sich  wie  vor  1914-  Aber 
am  Silvester  1913  war  die  Stim- 
mung  gar  nicht  so  libel.  Da  sah 
man  beispielsweise  auf  der  Titel- 
seite  der  Illustrierten  einen  hiib- 
schen  jungen  Mann  mit  zwei  Da- 
men,  sie  halten  je  ein  kleines 
Schwein  in  den  Armen  und  unter 
ihnen  steht  das  Gedicht: 

1914 
Neujahr  —  Prosit!   Mit  lustigen 

Schnorkelchen 
Die  Zahl  eines  neuen  Jahres  sich  ftigtl 
Moge  es  sein  wie  unsere  drei  Ferkelchen: 
Rosig,  gesund  und  quietschvergntigt  I 

Leider  blieb  es  damit  beim 
bloBen  Vater  dieses  Gedankens. 
Nunmehr  sieht  man  schwarz,  oder 
braun,  Vielleicht  aber  gibt  es  eine 
prophetische  Gerechtigkeit,  und 
es  kommt  wiederum  das  Uner- 
wartete,  das  Entgegengesetzte, 
Gliick,  sagt  ein  grofierer  Dichter, 
ist  der  voreilige  Vorteil  eines 
nahen  Verlustes;  prophezeien  wir 
voreilig  Verlust,  damit  wieder 
Gluck  folgt. 

.  Ein  kleines  Schwein  war  auch 
diesmal  zu  sehn,  nicht  nur  im 
Bilde;  ein  Mann  trug  es  durch 
die  Wirklichkeit  der  berliner 
StraBe,  und  wer  es  beriihrte, 
sollte  Gluck  haben;  es  brachte 
viel  Geld  ein.  Auch  beim  Anblick 
eines  andern  Silvester-Tiers 
konnte  man  nachdenklich  werden: 


In  einem  exotischen  Restaurant, 
wo  die  charlottenburger  Kellne- 
rinnen  iiber  Kasak  und  turkischer 
Bauschhose  ihre  berliner  Schurze 
trugen,  liefl  man  einen  in  der 
Kiiche  bereit  gehaltenen  lebenden 
Hammel  f rei  herumlauf en ;  man 
hatte  ihm  semen  voraussichtlichen 
Todestag,  2,  Januar  1932f  aufs 
Fell  gemalt,  und  die  Gaste  blick- 
ten  zwischen  dem  Hammel  auf  der 
Speisekarte  und  dem  Hammel  im 
Leben  hin  und  her,  Auch  das 
Schlachttier  blickte  indessen  auf 
sie.  1932  leuchtete  rot  in  seinem 
Fell.  Und  am  Boden  lag  wieder 
ein  illustriertes  Blatt  mit  einem 
Gedicht  auf  der  Titelseite;  darin 
hielt  man  es  mit  alien  Farben, 
auBer  mit  der  einen: 

Ha,  wieviel  graues.  wieviel  schwarzes 
Hat  uns  das  alte  Jahr  gezollt! 
En t halt  im  Kern  des  braunen  Quarzes 
Das  neue  auch  so  wenig  Gold  ? 
Bald  hebt  sich  aus  der  braunen  Erde 
Das  Griin,  WeiB  scbmilzt,  und  Blau 

erloht : 
0,  dafl  das  neue  J&hrchen  werde 
Recht  rosig,  aber  nicht  zu  rot, 

Alfred  Wolfenstein 

Menagerie 

Formen  zum  GieBen  v.  N.S.D.- 
A.P.-,  S.A.-  und  S.S.-Manner, 
Standarten-  und  Fahnentrager 
usw.  (Braunschweiger  Tagung 
treffend  aufzustellen)  sowie 
Bleisoldat.,  Indianer,  Tiere  usw. 
Unterhaltend  f.  die  ganze  Fa- 
milie.  Verlangen  Sie  sofort  Ka- 
talog  kostenlos. 

,Volkischer  Beobachter' 


M.  Jahrgang 


78 


DIE  ENTE 


Die  llnke  satlrische  Wochenschrlft  gegen  Kultur- 
reaktlon  und  SpIeBertum.  Standlge  Rubriken: 
„Hlnter  den  RedaktlonstQren"  und  „Elns 
in    die    Fresse,    meln    H  e  rz  b-l  Sttchen?  " 


10  Pfennig 


Bel  alien  Zeltungshandlern,  Probenummern  gratis 
vom  Verlag  der  ENTE,  Berlin  W  30,  Haberlandstr.7. 


Steigerung 

A  uch  im  Westen  Berlins  gibt  es 
**  eine  Krise.  In  einem  Cafe 
am  Fehrbelliner  Platz  war  ich 
unfreiwilliger  Ohrenzeuge  eines 
Gesprachs  zwischen  zwei  Damen,  . 
denen  man  die  bessern  Tage  an- 
sah:  ,tUnd  denken  Sie  sich,  weil 
meine  Schwester ,  das  Zimmer 
nicht  langer  leerstehen  lassen 
konnte,  hat  sie  es  an  einen  Juden 
abffegeben!"  —  „Das  ist  noch 
gar  nicbts:  Seit  dem  Ersten  babe 
ich  an  eine  Dame  vermietet!" 
Ernst  Bekrendt 

Wahre  Geschichle 
Din  hoherer  polnischer  Konsu- 
*-1  larbeamter  ist  in  einer  deut- 
schen  Klinik  zweimal  auf  Leben 
und  Tod  operiert  worden  und 
Hegt  mit  vierzig  Grad  Fieber, 

In  dieser  Situation  besucht  ihn 
der  diensttuende  Arzt  und  sagt 
folgendes: 

„Guten  Tag,  Herr  Korfanty, 
wie  gehts  Ihnen,  Herr  Pilsudski? 
Es  ist  doch  eigentlich  fabelhaft, 
wie  wir  Sie  hier  behandeln! 
Glauben  Sie  nicht,  daB,  wenn  ich 
beispielsweise  in  einer  Klinik  in 
Warschau  lage,  man  mir  gehack- 
tes  Glas  ins  Essen  tate?" 

Uberschrift:  Am  deutschen 
Wesen, 


Guter  Zuspruch 

Cie,  Herr' Kollege,  tun  mir  Ieid : 

Sie  haben  in  den  linken  Kreisen 
Nicht  viel  Erfolge  aufzuweisen. 
War  es  fur  Sie  nicht  an  der  Zeit, 
An  Hitler  sich  heranzuschmeifien  ? 


Links  bleiben  Sie  Ihr  Lebenlang 
Doch  immer  nur  ein  Liickenbufier. 
Rechts  waren  Sie  nicht  der  und  dieser, 
Da  hatten  Sie  Gewicht  und  Rang-! 
Sehn  Sie  doch  Ewers  an  und  Kyser  .  . 

Jetzt  ist  zum  Absprung  der  Moment  I 
Noch  stehn  die  Ding-e  auf  der  Kippe. 
Hat  Hitler  Deutschland  an  der  Strippe 
Und  ist  er  richtig  President, 
Rennt  alles  an  die  Futterkrippe  1 

Ich  sehe  Sie  schon  obenauf 
Und  einen  Heldenvatersegen 
Auf  deutsche  Buhnenbretter  legen, 
Dafi  jeder  sagt:  Der  Joseph  Lauff 
War  ein  Rot -Front- Agent  dagegen ! 

Die  Chancen  sind  doch  wirklich  gut 
Und  stehen  unter  guten  Sternen. 
Wenn  die  Talentspur  Sie  entfernen, 
Fehlt  nur  das  deutschbewuflte  Blut: 
Doch  das  lafit  sich  ja  leicht  erlernen! 


Hans  Bauer 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Deutsche  Liga  fitr  Menschenrechte.   Dienstag  20-30.  Reichswirtschaftsrat,  Bellevuestr.  15: 

Ein  Querschnitt  durch  SowjetruBland,  Fritz  Schirokauer.  In  der  Diskussion:  Theodor 

Dan,  Alfons  Goldschmidt. 
Gesellschaft  der  Freunde  der  Sozialistischen  Monatshefte,  Schadowstr.  8;     Deutsche 

Gesellschaft.    Dienstag  20.00:  Die  Sozialdemokratie  in  der  deutschen  Polltik,  Felix 

StxSsstnger.    Kontradiktorische  Diskussion. 

Hamburg-Altona 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Dienstag  (19)  20.00.  Volksheim,  Eichenstr.  61 :  Ueber 
den  historischen  Materialismus. 

Rundfunk 

Dienstag.  Mtihlacker  16.00:  Schiller  und  Mannheim,  Heinz  Dietrich  Kenter. —  Leipzig 
19.00:  Forum  der  jungen  Generation.  —  Berlin  21.10:  Also  sprach  Zarathustra, 
Tondichtung  von  Richard  StrauB.  —  Mittwoch.  Berlin  17.10:  Rudolf  Kayser  liest.  — 
Langenberg  18.10:  Erinnerungen  an  Rilke,  Alfred  Wolfenstein.  —  Munch  en  19.30: 
Der  Weiberkrieg,  nach  Aristophanes.  —  Berlin  20.30:  Michael  Kramer  von  Gerhart 
Hauptmann.  —  Langenberg  20.50  Der  grime  Kakadu  von  Arthur  Schnitzler.  — 
Leipzig  21.10:  Wehe  dem,  der  lUgt  von  Grillparzer.  —  Donnerstag.  Breslau  19.05: 
Religiose  Spannungen  in  der  Arbeiterschaf t,  Hans  Hartmann.  —  Berlin  19.10  :Georg 
Heym,  Leo  Menter.  —  Konigsberg  21.00:  Peter  Squenz  von  Andreas  Gryphius.  — 
Freitag.  Breslau  17.20  Johannes  R.  Becher  liest  —  Berlin  18.10  Heinz  Liepmann 
liest.  —  Mfihlacker  1930:  In  tyrannos  (Schillers  Rauber).  —  Berlin  20.30:  Querschnitt 
durch  Freund  Hein  von  Emil  Straufl,  Hermann  Kasack  und  Edlef  Koppen.  —  Leipzig 
21.30:  Strafienrondo  von  Arno  Schirokauer.  —  Sonnabend.  Breslau  17.20:  Fur 
Georg  Heym.  —  Berlin  18.35:  Der  politische  Publizist,  Kurt  Hiller. 

79 


Antworten 

Dr.  Hans  Wollenberg,  Die  in  Nr.  52  erschienene  Schilderung  der 
Filmwirtschaft  hat  peinliches  Aufsehen  bei  alien  erregt,  die  auf  die 
Industrie  nicht  gern  etwas  kommen  lassen.  Dazu  gehort  auch  die 
von  Ihnen  geleitete  ,Lichtbildbuhne',  Wie  machen  Sie  Ihrem  Kummer 
Luft?  A.  Kraszna-Krausz,  der  Verfasser  unsres  Aufsatzes,  ist  der 
Herausgeber  der  besten  deutschen  Filmzeitschrift  ,Filmtechnik/Film- 
kunsf  (Verlag  Wilhelm  Knapp,  Halle),  die  grade  weil  sie  ohne  Kon- 
zessionen  und  im  guten  Sinne  exklusiv  arbeitett  nicht  leicht  zu  halten 
ist  Worauf  Ihre  .Lichtbildbuhne':  t,Und  wenn  der  sehr  geschatzte 
Verlag  Knapp,  der  von  Halle  (Saale)  aus  das  berliner  Terrain  wohl 
nicht  ganz  richtig  iibersieht,  einmal  wissen  mochte,  wo  die  Fehler- 
quellen  seiner  filmverlegerischen  Arbeit  zu  suchen  sind,  so  empfehlen 
wir  ihm  angelegentlichst  die  Lektiire  der  letzten  Weltbiihnen-Ausgabe, 
in  der  er  einige  Ausfiihrungen  seines  berliner  Exponenten  finden  wird, 
die . .  ."  Allerlei  faire  und  unfaire  Methoden  der  Polemik  hatten  Sie 
zur  Verfiigung  gehabt.  Aber  einen  Kollegen  bei  seinem  Verlag  zu 
denunzieren,  das  ist  ja  wohl  das  Unappetitlichste,  was  man  machen 
kann. .  Wir  gratulieren. 

Student.  Die  auBerordentlichen  Erhohungen  der  Studiengebfihren 
treffen  in  erster  Linie  natiirlich  die  mittellosen  Studenten.  Und  es 
sieht  auch  so  aus,  als  verfolge  man  damit  den  Zweck,  die  Arbeiter- 
studenten  und  die  radikalisierten  Studenten  aus  den  ehemaligen 
Mittelschichten  auf  diese  Weise  von  den  Hochschulen  zu  entfernen. 
Hinzukommt,  daC  das  Disziplinarverfahren  vereinfacht  werden  soil, 
was  darauf  hinauslaufen  wird,  dafi  die  geringste  Widersetzlichkeit  so- 
fort  mit  Relegation  bestraft  werden  kann.  Es  mufi  uns  daran  liegen, 
die  Hochschulen  nicht  den  nationalistischen  Studenten  zu  uberlassen, 
und  deshalb  bittet  die  Rote  Studentengruppe,  ihre  Mitglieder  bei  der 
Arbeitssuche  zu  unterstiitzen.  Wer  Nachhilfestunden,  Obersetzungen 
oder  ahnliche  Arbeiten  zu  vergeben  hat,  schreibe  an  die  Rote  Stu- 
dentengruppe, Waiter  Plitt,  Berlin  C  2,  Burgstr.  30, 

Kate  Kollwitz,  Sie  teilen  zur  Kritik  Peter  Panters  uber  das 
Mutterbuch  von  Frau  Louise  Diel  mit;  „Das  Erscheinen  des  Buches 
von  Frau  Diel  wurde  im  Borsenblatt  des  Buchhandels  mit  den  Wor- 
ten  angekiindigt,  dafi  die  Bildbeigaben  von  Kathe  Kollwitz  eigens  flir 
dieses  Werk  geschaffen  worden  seien.  Diese  Behauptung  entspricht 
durchaus  nicht  den  Tatsachen.  Wahr  ist  vielmehr,  daB  Frau  Diel 
vor  einiger  Zeit  an  die  Kiinstlerin  mit  dem  Auftrage  herangetreten 
ist,  fiir  einen  privaten  Geschenkzweck  eine  Zeichnung  ihres  Kindes 
zu  machen.  Von  einer  Veroffentlichung  dieser  Zeichnung  war  dabei 
gar  keine  Rede.  Die  Wiedergaben  in  dem  Buche  der  Frau  Diel  sind 
h  inter  dem  Ruck  en  von  Frau  Kollwitz  gegen  ihren  Willen  vorgenom- 
men  worden.  Frau  Kollwitz  hat  hiervon  erst  erfahren,  als  das  Buch 
bereits  erschienen  war.  Der  Verleger  durfte  die  Zeichnung  (en)  in 
dem  guten  Glauben  gebracht  haben,  dafi  Frau  Diel  im  Besitz  der  Ver- 
offentlichungs-Rechte  sei," 

Westdeutscher  Rundfunk.  Dieser  Tage  sandtet  ihr  eine  Stunde: 
„Der  junge  Goethe  tanzt.  Musik  von  1760."  Anno  1760  war  Goethe 
elf   Jahre.     Ein  wildes   Kind. 

M&nuskripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten ;  es  wird  g-ebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann. 
Das  Auf f  Uhrunffsrecht,  die  Verwertung  von Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik-  ^ 
mechanische  Wiederg^abe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radio  vor  trBgen 
bleiben   fur   alle  in  der  WeltbUhno  erscheinenden  Bei tr age  ausdrQckiich  vorbehatten. 

Die  Weltbahne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
uoter  Mitwirkung  von    Kurt  Tucholsky   geleitet-  —  Verantwortlich :    Carl  v.  OBsietzky,   Berlin; 

Verlag  der  Weltbiihne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  CI,  Steinplatz  7767.   —   Postscheckkonto :  Berlin  11968. 
Bankkonto:     Darm&tadter    u.    Nationalbank.       Depositenkasie     Charlottenburg,    Kantstr.    112. 


XXVIIUahrgaog  19.Jantur  1932  NammerS 

UlTl  Hindenburg  van  Carl  v.  Ossietzky 

T\  ie  Auseinandersetzung  iiber  die  Verlangerung  von  Hinden* 
burgs  Amtszeit  fiihrt  zu  Erscheinungen,  wie  sie  sonst  katun 
in  der  hohcn  Politik  won!  aber  in  den  innern  Kampfen  provin- 
zicller  Sparvereine  zuhause  sind.  Diese  Tricks,  mit  denen  die 
Gegner  sich  gegenseitig  mattzusetzen  suchen,  sind  bemitleidens- 
wert,  ihre  Intrigen  stammen  aus  der  unbegabtesten  Schmiere. 
Die  Rankeschmiede  tuscheln  durch  Lautsprecher,  sie  schleichen 
auf  dreifachen  Holzsohlen  polternd  durch  die  Kulissen,  und  die 
Tranke,  die  sie  sich  kredenzen,  tragen  die  sichtbare  Aufschrift 
,,Gift".  Selten  haben  sich  Kabalen  vor  so  viel  Offentlichkeit 
abgespielt. 

Briining  lieB  also  zunachst  erklaren,  der  Reichsprasident 
wiinsche  die  Verlangerung  seiner  Amtszeit  nur  auf  parlamen- 
tarischem  Wege  und  nicht  die  Volkswahl.  Damit  sollte  die 
Nationale  Opposition  iiberrumpelt  und  Hitler  zugleich  als  der 
Mann  der  Loyalitat,  des  Burgfriedens,  als  der  Verteidiger  der 
Hindenburglinie  empfohlen  werden.  Der  Coup  miBlang  mit 
Pauken  und  Trompeten.  Der  rauhbeinige  Adolf  denkt  gar 
nicht  daran,  sich  zum  Vergniigen  von  Briinings  linker  Gefolg- 
schaft  demokratische  Reizwasche  anzuziehen.  Es  stellte  sich 
denn  auch  bald  heraus,  dafi  die  N^S.DA.P.  nur  aus  taktischen 
Griinden  in  die  von  Groener  vermittelten  Verhandlungen  ge- 
gangen  war.  Wenigstens  behauptete  das  Blatt  der  Christlichen 
Gewerkschaften,  die  Nationalsozialisten  hatten  die  Verhand- 
lungen iiberhaupt  nicht  ernst  genommen,  sondern  nur  mit- 
gespielt,  urn  Briining  desto  besser  in  die  Zange  nehmen  zu 
konnen,  Heute  erklaren  die  fascistischen  Oberhaupter,  sie 
wurden  wohl  fiir  Hindenburg  votieren,  aber  Briining  miisse 
fort;  nie  wieder  Briining,  Und  Frick,  eine  der  angenehmsten 
Figuren  aus  der  nationalsozialistischen  Mythologie,  lehnt  sogar 
Hindenburg  ab  und  propagiert  eine  eigne  Nazikandidatur,  So 
ist  alles  wieder  hiibsch  vernebelt,  die  Fascisten  haben  die  bes- 
sern  Triimpfe  in  der  Hand,  Briining  ist  mit  seinem  Plan  ganz 
unten  durch,  und  ein  Herr  aus  der  Umgebung  des  Reichsprasi- 
denten  soil  sogar  als  Suhneprinz  bei  Hitler  erschienen  sein. 
Von  republikanischer  Seite  wird  dem  Reichskanzler  sein 
Versuch,  den  groBen  Adolf  ins  Geschaft  zu  ziehen,  wenig  ver- 
iibelt,  eher  als  staatsmannische  Leistung  angekreidet  und  sein 
Scheitern  kaum  vermerkt.  Was  fiir  Ungliick  muB  wohl  noch 
geschehen,  urn  das  Axiom  von  Briinings  Unfehlbarkeit  zu  er- 
schiittern?  Die  guten  Leute  sollten  sich  deshalb  nicht  weiter 
entriisten,  wenn  jetzt  kolportiert  wird,  der  Botschafter  einer 
fremden  Macht  habe  Briining  den  Ratschlag  gegeben,  sich  Hit- 
lers Beihilfe  zu  versichern,  um  fiir  die  schwierige  Zeit  der  Kon- 
ferenzen  im  Riicken  gedeckt  zu  sein.  Seitdem  offenkundig  ist, 
daB  die  Reichsregierung  sich  nur  in  Horigkeit  von  Hitler  wohl- 
befindet,  eine  Einladung  nach  der  andern  an  ihn  richtet,  einen 
Backenstreich  nach  dem  andern  mit  Lacheln  quittiert,  seitdem 
kann  es  nicht  wunder  nehmen,  daB  ein  wachsamer  auslandi- 

1  81 


scher  Bcobachter  cinen  solchcn  Rat  erteilt  Nach  dem  ,Vor- 
warts'  soil  es  der  Italiencr  gewesen  sein,  Orsini-Baroni,  aber 
auch   Francois-Poncet  denkt   und  wirkt  nicht  anders. 

So  ergibt  sich  das  groteske  Bild,  dafi  die  Linke  diesmal 
hinter  dem  alt  en  Marschall  aufmarschiert,  den  sie  vor  sieben 
Jahren  als  ein  Petrefakt  aus  der  Kaiserzeit  verhohnte.  Dabei 
ist  auf  die  Bonitat  der  Kandidatur  Hindenburg  nicht  viel  zu 
geben,  wenn  etwa  Hitler  selbst  als  Gegenkandidat  auftreten 
sollte.  Denn  die  Hindenburgwahler  von  1925  sind  lange  zum 
Fascismus  iibergelaufen.  Die  verwirrten  Mittelschichten,  die 
damals  den  „Rettcr"  Hindenburg  emportrugen,  haben  inzwi- 
schen  nicht  nur  den  Kopf  verloren,  sondern  auch  ihre  Zechi- 
nen,  und  ihre  Desperation  ist  entsprechend  gewachsen. 

Die  Sozialdemokratie  fiigt  sich  still  und  gottergeben;  sie 
fordert  nur,  daB  Briining  sich  auf  keine  ,,Bedingurigen"  Hitlers 
einlaBt,  Als  ob  es  darauf  ankame!  Als  ob  die  Gefahr  nicht 
darin  lage,  daB  Hitler  durch  einen  solchen  Pakt  offizieller  Teil- 
haber  wird!  Was  spielen  hier  Stipulationen  eine  Rolle,  hinter 
dem  Nationalfascismus  steht  eine  organisierte  Totschlager- 
armee  von  300  000  Mann!  Es  laBt  sich  noch  nicht  absehen, 
ob  die  sozialdemokratische  Mitgliedschaft  die  mit  national- 
sozialistischem  61  gesalbte  Kandidatur  Hindenburg  als  f,klei- 
neres  Obel"  hinnimmt;  schon  vor  sieben  Jahren  haben  Kern- 
truppen  der  Partei  gemeutert,  als  sie  die  fromme  alte  Rosen- 
kranzjungfer  Wilhelm  Marx  Mals  kleineres  Obel"  wahlen 
sollten.  Denn  damals  war  Herr  von  Hindenburg  noch  das 
groBere.  Natiirlich  hat  die  kommunistische  Zentrale  so- 
fort  in  der  allerunmoglichsten  Weise  reagiert:  sie  hat 
ohne  die  Befragung  irgend  einer  Parteiinstanz  augenblick- 
iich  Thalmann  nominiert  und  damit  alle  Diskussionen 
iiber  gemeinsames  Vorgehen  kurzerhand  abgeschnitten.  Wird 
dieser  torichte  EntschltiB  nicht  schnell  riickgangig  gemacht, 
so  ist  der  Sieg  des  Fascismus  oder  die  Wahl  Hindenburgs  mit 
iascistischer   Hilfe,  was   ziemlich  dasselbe   ist,   gesichert. 

Die  kommunistische  Zentrale  wird  sich  wahrscheinlich 
einbilden,  ganz  besonders  schlagfertig  gehandelt  zu  haben,  in 
Wahrheit  hat  sie  die  Arbeiterklasse  nur  tiefer  gespalten. 
Thalmann  ist  fur  Sozialdemokraten  ebenso  wenig  tragbar  wie 
etwa  Severing  fur  Kommunisten,  um  nur  ein  Beispiel  zu  nen- 
nen.  Arbeiterkandidat  kann  kein  Parteihaupt  seint  keiner,  der 
in  den  tausend  Handgemengen  des  Bruderkrieges  abgestempelt 
ist,  sondern  nur  eine  Personlichkeit,  die  in  beiden  Lagern  ge- 
niigend  geachtet  wird.  Die  K.P.D,  setzt  ihre  larmende  Un- 
tatigkeit  fort  und  verhindert  damit  ernsthafte  Aktionen  ebenso 
wie  die  S<P.D,  mit  ihrem  Opportunismus.  Von  sachkundiger 
Seite  wird  versichert,  daB  es  heute  in  Deutschland  nicht  weni- 
ger  als  siebzehn  kommunistische  Gruppen  gibt.  Das  ist  der 
Humor   davon, 

Das  ist  eine  ziemlich  tragische,  ^a  hoffnungslose  Situation. 
Deutschland  sucht  nicht  einen  Staatsprasidenten,  der  doch  nur 
ein  oberster  Beauftragter,  ein  Instrument  des  Gesetzes  von  be- 
schranker  Vollmacht  ist.  Deutschland  sucht  einen  Diktator, 
einen  Unterdriicker;  nicht  einen  Mann,  sondern  einen  Kuras- 
sierstiefel.  Fiinfzig  Millionen  Lakaien  suchen  eine  Peitsche. 
82 


LailSanne   von  Haniis-Erich  Kaminski 

YV7  as  braucht  das  deutsche  Volk?  Erleichterung  und  Hoffnung. 
"  Was  braucht  die  deutsche  Regierung?  Einea  Erfolg.  Die 
Konferenz  von  Ouchy  aber  beginnt  unter  Voraussetzungen,  die 
eine  Enttauschung  fur  das  Volk  und  einen  MiBerfolg  der  Re- 
gierung  unvermeidlich  machen.     Es  ist   erschutternd! 

DaB  Deutschland  jetzt  keine  Reparationen  und  nicht  ein- 
mal  seine  privaten  Auslandsschulden  bezahlen  kann,  wird  von 
niemand  in  der  Welt  bestritten.  Die  Regierung  hatte  diese 
Einsicht  mit  gutem  Grund  als  einen  Sieg  der  AuBenpolitik 
feiern  konnen,  die  seit  dem  Zusammenbruch  des  passiven 
Widerstands  an  der  Ruhr  im  groBen  und  ganzen  alle  Kabinette 
durchgefiihrt  haben.  Statt  dessen  halt  sie  den  Augenblick  fur 
gekommen,  die  Erftillungspolitik  aufzugeben  und  den  Youngplan 
endgiiltig  zu  zerreiBen. 

Selbstverstandlich  gibt  es  keinen  Deutschen,  der  nicht 
wiinscht,  daB  ein  fur  allemal  SchluB  mit  den  Reparationen  ge- 
macht  wird,  Wir  miissen  sie  ja  alle  aufbringen,  gleichgiiltig, 
ob  wir  der  nationalen,  der  schwarzen,  der  griinen,  der  roten 
oder  der  eisernen  Front  angehoren.  Die  Einheitsfront  aller 
Deutschen,  auch  wcnn  sie  aus  Oesterreich  stammen  oder  sich 
als  Russen  fiihlen,  besteht  also,  wenigstens  in  der  Reparations- 
frage,  und  der  Versuch,  sie  noch  dadurch  zu  demonstrieren,  daB 
man  Hitler  nach  Berlin  berief  und  ihn  bat,  in  aller  Eile  fiir  die 
Amtsverlangerung  des  Reichsprasidenten  zu  stimmen,  war  ganz 
uberfliissig.  WAr  sind  auch  so  ein  einig  Volk  yon  Briidern  und 
von  dem  Willen  beseelt,  nicht  zu  zahlen.  Hitler  oder  Thal- 
mann  konnten  ebensogut  wie  Briining  an  den  Genfer  See  fah- 
ren;  auch  sie  wurden  sich  dort  gewiB  des  ausgezeichneten  Ar- 
guments bedienen,  daB  die  Reparationen  bisher  ausschliefilich 
aus  Anleihen  bezahlt  sind,  daB  sie  den  internationalen  Zah- 
lungsverkehr  nur  in  Verwirrung  gebracht  haben  und  daB  sie 
aufhoren  miissen,  damit  die  Weltwirtschaft  wieder  normal 
funktionieren  kann, 

Ungliicklicherweise  genugt  es  in  der  Politik  nicht,  daB 
man  recht  hat  und  iiber  gute  Argumente  verfiigt,  Fiir  Hugen- 
berg  ist  die  Sache  freilich  sehr  einfach,  Wir  verbiinden  uns 
eben  mit  Nordamerika,  Italien  und  andern  weiBen  Volkern 
gegen  Frankreich  und  die  iibrigen  Neger,  und  dann  konnen 
wir  uns  bald  Briey  und  Longwy,  das  Baltikum  und  noch  ein 
paar  andre  Gebiete  angliedern,  Aber  was  will  eigentlich  die 
Regierung  Briining,  die  ja  wohl  die  Behauptung  der  ,Times'» 
sie  bestehe  aus  gemaBigten  Nationalsozialisten,  mit  Entrustung 
zuriickweisen  wird?  Glaubt  Briining  im  Ernst,  er  werde  in 
Berlin  ein  jahrelanges  Moratorium  fiir  die  Privatschulden,  in 
Ouchy  den  Verzicht  auf  alle  politischen  Zahlungen,  in  Genf 
die  deutsche  Riistungsgleichheit  und  hinterher  in  Paris  wo- 
moglich  noch  eine  Anleihe  erreichen? 

Mehr  als  je  ist  Deutschland  diesmal  gezwungen,  seinen 
guten  Willen  zu  beweisen,  mehr  als  je  ist  seine  einzige  Waffe 
diesmal  der  Appell  an  die  Vernunft  seiner  Verhandlungspart- 
ner,     Wiirde  die  Reichsregierung  etwa  einseitig  erklaren,  daB 

83 


sie  den  Youngplan  als  ungiiltig  betrachtet,  so  wiirden  hochst- 
wahrscheinlich  nicht  nur  die  der  Reichsbank  gegebenen  Kre- 
dite  zuriickgezogen  werden,  sondern  es  wiirde  auch  das  Still- 
haltekonsortium  fiir  die  Privatschulden  abbrockeln,  und  was 
dann  aus  dem  noch  vorhandenen  Rest  des  deutschen  Wirt- 
schaftslebens  werden  miiBte,  mag  sich  jeder  vorstellem 

Im  Parlament  der  Vereiriigten  Staaten  hat  der  amefika- 
nische  Staatssekretar  den  Brief  Hindenburgs  an  Hoover  ver- 
lesen,  der  unmittelbar  zur  Verkiindung  des  einjahrigen  Mora- 
toriums fur  alle  politischen  Zahlungen  fiihrte.L  Der  Brief  is't 
schlieBlich  auch  in  Deutschland  veroffentlicht  worden,  aber 
leider  ziemlich  unbeachtet  geblieben.  Man  hatte  ihn  offent- 
lich  anschlagen  sollen!  Er  ist  ein  gradezu  ergreifendes  Doku- 
ment,  vergleichbar  nur  den  Noten,  in  denen  1918  die  letzte 
kaiserliche  Regierung  Wilson  urn  die  Anwendung  seiner  vier- 
zehn  Punkte  bat.  Hindenburg  schildert  die  wahre  Lage 
Deutschlands,  und  von  seinen  niichternen  Worten  werden  alle 
kraftmeierischen  Deklamationen  wie  Spreu  in  den  Wind  ge- 
blasen.     Und  dieser  Brief  wurde  vor  dem  13.  Juli  geschrieben! 

Trotzdem  wird  das  deutsche  Volk  durch  lauter  starke 
Gesten,  die  doch  nur  Lufthiebe  sind,  irregefiihrt,  und  wieder 
einmal  begleitet  es  seine  Delegierten  mit  einem  fatalen  Opti- 
mismus  und  einer  vollendeten  Unkenntnis  (iber  das  Erreichbare. 

Zunachst  lasen  wir,  die  Reichsregierung  wiirde  unter  kei- 
nen  Umstanden  Lausanne  oder  seinen  Vorort  Ouchy  als  Kon- 
ferenzort  akzeptieren;  nur  Bern,  Zurich  oder  der  Haag  kamen 
in  Frage.  Vermutlich  spielte  dabei  der  alte  diplomatische 
Aberglaube  von  der  Atmosphare  eine  Rolle,  Aber  dann 
stimmte  England  der  Wahl  von  Lausanne  zu,  und  damit  war  die 
Sache  erledigt,  Spater  tauchte  die  Idee  von  der  Front  der  euro- 
paischen  Schuldner  gegen  Amerika  auf,  doch  da  sich  nur  Musso- 
lini und  ein  paar  englische  Zeitungen  zur  Teilnahme  meldeten, 
wurde  auch  dieser  Plan  bald  wieder  aufgegeben.  Noch  spater 
wurde  eine  Statistik  veroffentlicht,  aus  der  hervorging,  daB 
Deutschland  schon  mehr  an  Frankreich  gezahlt  Kabe  als  der 
Wiederaufbau  der  zerstorten  Gebiete  gekostet  hatte.  Frank- 
reich antwortete  mit  einer  Gegenstatistik,  die  bei  uns  nicht 
veroffentlicht  wurde,  und  ubrigens  sollen  die  Reparationen 
auch  gar  nicht  nur  dem  Wiederaufbau  der  zerstorten  Gebiete 
dienen.  Gleichviel,  die  Stimmung  fiir  die  Konferenz  muBte 
vorbereitet  werden,  wenn  auch  nur  in  Deutschland. 

Und  dann  kamen  die  Pressestimmen.  Es  war  wie  im 
Krieg,  Tag  fiir  Tag  erhielt  der  deutsche  Leser  die  Meinungen 
der  britischen  Liberalen  und  der  franzosischen  Radikalsozia- 
listen  vorgesetzt,  die  in  ihren  Landern  zur  Opposition  gehoren, 
wahrend  die  Zeitungen,  die  den  Regierungen  nahestehen,  als 
Hetzblatter  abgetan  werden;  DaB  Lloyd  George,  der  Fuhrer 
der  englischen  Liberalen,  erklart  hatte,  so  wie  die  Pihge  in  den 
Vereinigten  Staaten  lagen,  halte  er  die  Beendigung  der  Repa- 
rationszahlungen  vorlaufig  fiir  unmoglich,  daB  Herriot,  der  vor 
kurzem  wieder  einstimmig  zuin  Fuhrer  der  Radikalsozialisten 
gewahlt  wurde,  geschrieben  hatte,  Frankreich  konne  ohne  po- 
litische  Kompensationen  nicht  auf  den  Youngplan  verzichten, 
84 


dicse  und  ahnliche  Kleinigkeiten  erfuhren  wir  nicht  oder  hoch- 
stcns  ganz  nebenbei. 

Die  Welt  ist  leider  noch  nicht  reif  fur  die  Beseitigung  der 
finanziellen  Kriegsfolgen,  Wenn  es  noch  eines  Beweises  da- 
fur  bedurft  hatte,  so  Jhat  ihn  das  Echo  auf  die  AuBerung 
Briinings  geliefert,  Deutschland  werde  nicht  mehr  zahlen.  Diese 
AuBerung  soil  der  Reichskanzler  gegeniiber  dem  englischen 
Botschafter  getan  haben.  Sie  ist  nicht  dement  iert  word  en, 
und  man  darf  vielleicht  noch  sagen,  daB  es  eine  merkwiirdige 
diplomatische  Methode  ist,  derartig  weittragende  Erklarungen 
abzugeben,  wenn  man  nicht  wiinscht,  daB  sie  bekannt  und  dis- 
kutiert  werden.  Aber  ob  der  Reichskanzler  diese  Worte  nun 
gesprochen  hat  oder  ob  sie  miBverstanden  oder  falsch  weiter- 
gegeben  sind,  ihr  Widerhall  ist  in  jedem  Fall  sehr  aufschluB- 
reich.  Kaum  ein  Politiker,  kaum  eine  Zeitung  in  den  Landern, 
auf  die  es  ankommt,  hat  sie  gebilligt,  und  nicht  zuletzt  hat  sich 
gegen  sie  der  ,Daily  Telegraph'  gewandt,  der  dem  britischen 
AuBenamt  nahesteht.  Die  einzigen,  die  sich  den  deutschen 
Standpunkt  zu  eigen  gemacht  haben,  sind  die  new  yorker 
Bankiers,  deren  Politik  im  amerikanischen  KongreB  soeben 
erst  eine  klare  Niederlage  erlitten  hat. 

Tatsachlich  ist  die  Entscheidung  iiber  die  Konferenz  von 
Ouchy,  schon  bevor  sie  einberufen  wurde,  gefallen,  und  zwar 
zunachst  im  amerikanischen  KongreB  und  dann  in  den  eng- 
lisch-franzosischen  Verhandiungen. 

In  Washington  hat  Hoover  mit  Ach  und  Krach  Indemnitat 
fur  die  Erklarung  seines  Moratoriums  erhalten.  Jeden  Ver- 
zicht  auf  die  Zahlungen  der  ehemaligen  Alliierten  hat  der 
KongreB  dagegen  abgelehnt.  Begriindet  aber  hat  er  diesen 
Standpunkt  nicht  nurt  wie  friiher  mit  der  Behauptung,  die 
Europaer  wiirden  das  Geld,  das  sie  nicht  mehr  an  Amerika  zu 
zahlen  brauchten,  doch  nur  fiir  Riistungen  verwenden,  sondern 
mit  einer  noch  viel  zugkraftigeren  Parolet  die  zweif elios  schon  der 
Vorbereitung  fiir  die  kommenden  Prasidentschaf tswahlen  dienen 
soil,  „Die  europaischen  Lander",  so  ungefahr  sagten  die  meisten 
Redner,  „konnen  nicht  gleichzeitig  ihre  politischen  und  ihre  Pri- 
vatschulden  bezahlen,  Glaubiger  fiir  die  privaten  Schulden  sind 
die  Bankiers,  die  allzu  leichtsinnig  ihr  Geld  angelegt  haben, 
Glaubiger  fiir  die  politischen  Schulden  aber  ist  der  Staat.  Die 
Frage  ist  also,  ob  die  Bankiers  oder  der  Staat  zu  ihr  em  Geld 
kommen  sollen.  "Bekommen  es  die  Bankiers,  so  fehlt  es  dem 
Staat,  und  das  amerikanische  Volk  muB  hohere  Steuern  zah- 
len. Also  sollen  die  Bankiers,  die  sowieso  an  der  Krise  schuld 
sind,  sehen,  was  aus  ihren  Forderungen  wird,  die  politischen 
Zahlungen  miissen  jedenfalls   geleistet  werden." 

Die  Reparationsglaubiger,  die  ja  alle  Schuldner  Amerikas 
sind,  miissen  demgemaB  weiter  politische  Zahlungen  an  die 
Vereinigten  Staaten  leisten,  und  es  ist .  vollkommen  ausge-: 
schlossen,  daB  sie  unter  diesen  Umstanden  auf  die  politischen 
Zahlungen  verzichten,  die  sie  von  Deutschland  zu  bekommen 
haben.  Die  deutsche  Propaganda  gegen  die  Reparationen 
miiBte  folgerichtig  ihren  Hebel  in  Amerika  ansetzen  und  sich 
dort  gegen  die  interalliierten  Schulden  wenden! 

85 


Nun  konnen  sich  die  Schuldner  der  Vereinigten  Staaten 
freilich  zahlungsunfahig  erklaren.  Aber  cinmal  haben  Frank- 
reich  und  auch  England  wenig  Neigung,  Deutschland  zuliebe 
ihrcn  Bankrott  anzumelden,  Zum  andern  sind  die  Vereinigten 
Staaten  allenfalls  bereit,  ihre  Zahlungsunfahigkeit  fur  eine  ge- 
wisse  Zeit  anzuerkennen,  mit  andern  Wort  en:  ihnen  ein  Mo- 
ratorium zuzubilligen.  Und  damit  haben  die  Reparations- 
glaubiger  die  Moglichkeit,  ihrerseits  auch  Deutschland  ein  Mo- 
ratorium zu  gewahren  —  aber  eben  nur  ein  Moratorium! 

Erst  in  zweiter  Linie  kommt  dazu  der  Wille  Frankreichs, 
wenigstens  an  der  Theorie  des  Youngplans  festzuhalten.  Denn 
Frankreich  hat  von  Deutschland  mehr  zu  bekommen  als  es  an 
Amerika  zu  zahlen  hat,  und  es  ist  kerne  franzosische  Regie- 
rung  denkbar,  die  auf  diesen  OberschuB  ohne  politische  Gegen- 
gaben  verzichten  konnte.  Die  Unterstiitzung  des  deutschen 
Standpunkts  durch  England  aber  ist  nur  ein  alter  Wunsch- 
traum  der  Wilhelm-StraBe,  England,  in  dessen  Parlament  die 
franzosenfreundlichen  Konservativen  eine  ungeheure  Mehrheit 
haben,  will  und  kann  nicht  einen  Konflikt  mit  Frankreich  und 
Amerika  riskieren,  durch  dessen  Folgen  das  Pfund  in  die 
schlimmste  Gefahr  geraten  wiirde.  In  Wirklichkeit  hat  sich 
England  auch  bereits  damit  abgefunden,  dafi  das  Prinzip  der 
Reparationen  voriaufig  unangetastet  bleibt,  Auch  der  eng- 
lische  Sachverstandige  Layton  hat  sich  zwar  gegen  ein  Mora- 
torium und  iiir  eine  definitive  Losung  ausgesprochen,  aber 
nicht  etwa  fur  eine  Streichung  sondern  lediglich  fiir  eine  Her- 
absetzung  der  politischen  Zahlungen. 

Aus  alien  diesen  Griinden  wird  sich  Briining,  wenn  er  in 
Ouchy  die  endgiiltige  Aufhebung  der  Reparationen  fordert, 
derselben  geschlossenen  Abwehrfront  gegeniibersehen  wie  vor 
kurzem  erst  in  der  Frage  der  Zollunionv  Die  Frage,  ob  man 
im  Tiefpunkt  der  Krise  die  Zahlungsfahigkeit  Deutschlands 
feststellen  kann  oder  ob  die  Reparationszahlungen  die  Haupt- 
schuld  an  der  Krise  tragen,  wird  sicher  noch  einmal  in  zahl- 
reichen  Reden  gestellt  —  und  nicht  beantwortet  werden. 
Doch  das  wichtigste  Ergebnis  ist  bereits  entschieden:  Deutsch- 
land erhalt  ein  Moratorium.  Verhandeln  wird  man  lediglich 
dar liber,  ob  es  zwei,  drei  oder  funf  Jahre  dauern  soil 

Man  kann  freilich  sagen:  der  deutsche  Standpunkt  ist  gut 
und  richtig  und  die  Regierung  muB  ihn  verfechten,  auch  wenn 
sie  die  GewiBheit  hat,  ihn  nicht  durchzuseteen.  Aber  ist  es 
auch  gut  und  richtig,  daB  Deutschland  sich  nach  der  Nieder- 
lage  der  Zollunion  bewuBt  von  neuem  isoliert,  unmittelbar  vor 
der  Abriistungskonferenz? 

Das  Schlimmste  jedoch  ist,  daB  die  Reichsregierung  den 
Eindruck  hervorruft,  sie  habe  sich  das  Programm  Hitlers  und 
Hugenbergs  zu  eigen  gemacht.  Im  Ausland  hat  sie  dadurch 
ihre  Position  geschwacht.  Im  Innern  dagegen  wird  sie  als  Be- 
siegter  erscheinen,  wenn  sie  jetzt  nicht  die  Aufhebung  aller 
Tributlasten  erreicht. 

Konferenzen  enden  immer  mit  Kompromissen,  und  man 
kann  sie  dann,  je  nach  Bedarf,  als  Erfolg  oder  MiBerfolg  aus- 
geben.     Wie  schwierig  es  im  iibrigen  ist,  Glaubiger  auch  nur 

86 


zum  zeitweiligen  Verzicht  auf  Zahlungen  zti  bewegen,  bewei- 
sen  die  berlincr  Verhandhmgen  mit  den  auslandischen  Privat- 
bankiers  iiber  die  Verlangerung  des  Stillhaltekonsortiums. 
Diese  Herren,  die  ja  erheblich  mehr  Handlungsfreiheit  als  alle 
Staatsmanner  besitzen  und  denen  in  ihren  Interviews  keine 
Losung  groBziigig  genug  ist,  brauchen  Wochen,  urn  das  Mora- 
torium fur  die  deutschen  Privatschulden  fur  die  verhaltnis- 
maBig  kurze  Zeit  eines  Jahres  zu  verlangern.  Warum  wird 
das  deutsche  Volk  eigentlich  nicht  iiber  die  Langwierigkeit  die- 
ser  Verhandhmgen  unterrichtet? 

Die  Reichsregierung  hatte  mit  Recht  darauf  hinweisen 
konnen,  daB  schon  die  Abhaltung  einer  neuen  Reparations- 
konferenz  einen  Erfolg  bedeutet  Sie  hatte  weiter  erklaren 
konnen,  welch  gewaltigen  Fortschritt  die  Bereitschaft  der 
Glaubigerstaaten  zu  einer  Verlangerung  des  Hoover-Mora- 
toriums darstellt.  Wenn  sie  dann  ein  zehnjahriges  Moratorium 
gefordert  und  ein  fiinfjahriges  oder  auch  nur  ein  dreijahriges 
nach  Ha  use  gebfacht  hatte,  so  ware  das  im  ganzen  Land  als 
ausgezeichnetes  Ergebnis  betrachtet  worden.  Denn  auch  ohne 
besondern  Hinweis  der  Regierung  hatte  jedermann  begriffen, 
daB  der  Youngplan  zu  existieren  aufgehort  hat,  wenn  er  erst 
einmal  aufier  Kraft  gesetzt  ist,  und  daB  nach  Jahren  die  Re- 
parationsfrage  vollig  anders  aussehen  wird,  sofern  man  dann 
iiberhaupt  noch  von  ihr  sprechen  wird. 

Die  Reichsregierung  hat  es  vorgezogen,  unerfiillbare  Hof f- 
nungen  zu  erwecken  und  womoglich  die  ganze  Konferenz  zum 
Scheitern  zu  bringen.  Wenn  das  deutsche  Volk  jetzt  durch  die 
Enttauschung,  die  unvermeidlich  ist,  einer  neuen  Nervenprobe 
unterworfen  wird  und  wenn  die  wahren  Sieger  von  Ouchy  die 
Nationalsozialisten  sein  werden,  so  wird  sich  die  Regierung 
das  selber  zuzuschreiben  haben.  Manchmal  ailerdings  hat  man 
den  Eindruck,  die  gesamte  Politik  Briinings  sei  nur  eine  letzt- 
willige  Verfiigung  zugunsten  Hitlers.  In  Berlin  hat  er  ihn  mit 
der  Toga  bekleidet,  mit  der  man  auf  dem  Forum  auf treten 
darf,  und  in  Ouchy  wird  er  ihm  das  Stichwort  liefern,  mit  dem 
der  legale  Revolutionar  dann  die  Rostra  besteigen  kann. 

Heilmann  sucht  Zeugen  von  k.  l.  oerstortf 

D  ei  den  Massen  der  sozialdemokratischen  und  der  freigewerkschaft- 
*-'  lichen  Arbeiter  gart  es  immer  mehr.  Der  Bankrott  des  Refor- 
mismus  laBt  sich  immer  weniger  verheimlichen.  Durch  die  Politik, 
die  Briiningregierung  zu  tolerieren,  suchte  man  sich  vor  dem  „gro- 
Bern  ttbel"  zu  retten.  In  der  Zeit  der  Tolerierungspolitik  haben  wir 
das  auBerordentlich  starke  Wachsen  der  Nazis  auf  der  einen  Seite, 
den  standigen  Wahlverlust  der  Sozialdemokratie  auf  der  andern  Seite. 
Das  wird  den  sozialdemokratischen  Arbeitern  immer  deutlicher;  und 
den  linken  Sozialdemokraten,  die  glaubten,  noch  immer  innerhalb  der 
fartei  arbeiten  zu  konnen,  zeigen  die  immer  starkern  nationalisti- 
schen  Zuge  der  Fuhrerschaft,  daB  die  Spitzenftihrung  der  Sozialdemo- 
kratie und  der  Gewerkschaften  so  verbiirgerlicht  ist,  daB  man  selbst 
Hitler  tolerieren  will,  wenn  er  nur  die  „parlamentarischen  Spiel- 
regeln"    innehalt. 

DaB  innerhalb  der  Sozialdemokratie  die  Linken  in  letzter  Zeit 
starker  rehellieren,  geht  auch  daraus  hervor,  daB  der  Vorsitzende  der 
sozialdemokratischen  preuBischen  Landtagsfraktion,  Heilmann,  in  der 

87 


letzten  Nummer  seiner  Zeitschrift  ,Das  Freie  Wort'  vom  10.  Januar 
mit  scharfstem  Geschiitz  gegen  diese  Linken  vorgeht.  Diese  Linken 
haben  cine  Zeitschrift  .Marxistische  Tribune',  Sie  werden  in  einer 
Glosse  von  Heilmann,  der  er  die  schone  Uberschrift  „Parteiverleura- 
der"  gegeben  hat,  heruntergerissen,  und  Heilmann  schreibt  dort: 
„Doch  wenn  ich-  mich  gegen  alle  personlichen  Verleumdungen  vertei- 
digen  wollte,  auch  gegen  die  von  solchen  Leuten,  die  aus  mir  uner- 
klarlichen  Griinden  ein  Partehnitgliedsbuch  besitzen,  kame  ich  schon 
seit  Jahren  zu  keiner  vernttnftigen  Arbeit/'  Heilmann  aber  begniigt 
sich  nicht  mit  dieser  Bannbulle  gegen  die  Linken,  die  noch  in  der 
Partei  sind.  Er  hat  ja  die  positive  Aufgabe,  die  Tolerierungspolitik 
zu  begrunden,  und  da  ihr  volliges  Debakel  nicht  mehr  verheimlicht 
werden  kann,  sucht  er  seine  Schwurzeugen  auBerhalb  der  Sozialdemo- 
kratie  und  findet  sie  in  den  Broschuren  yon  Trotzki,  in  einem  Aufsatz 
von  Rosenfeld  und  in  einem  Aufsatz  von  mir,  der  in  der  Nummer  52 
vom  29.  Dezember  der  ,Weltbiihne'  publiziert  wurde  unter  dem  Titel: 
,,Illusionen  tiber  Hitler".  In  diesem  Aufsatz  ist  St  el  lung  genommen 
worden  gegen  ultralinke  kommunistische  Parolen,  die  Brtining  einfach 
mit  Hitler  gleichsetzen,  und  ist  auseinandergesetzt  worden,  daft  der 
Terror  der  Nazis,  wenn  sie  einmal  an  der  Macht  sind,  ungleich  bluti- 
ger  sein  wird  als  in  Italien.  Die  Konsequenz  ist:  man  mufi  gegen  den 
Fascismus  kampfen,  bevor  er  an  die  Macht  kommt,  weil  hinterher, 
nach  der  Zerschlagung  der  gesamten  Arbeiterorganisationen,  die  Be- 
dingungen  weit  ungunstiger  sind;  und  es  ist  dann  —  und  nicht  nur  in 
diesem  Artikel  allein  —  auseinandergesetzt  worden,  dafi  der  entschei- 
dende  Kampf  gegen  Hitler  zugleich  gegen  Lohnraub,  gegen  die  Not- 
verordnung,  gegen  Tolerierung  der  Zerschlagung  des  Tarifrechts  geht. 

Es  bedarf  einiger  Falscherkunststtickchen,  den  klaren  Sinn  dieses 
meines  Aufsatzes  zu  verdunkeln,  so  dafi  er  zur  Begrundung  der  Tole- 
rierungspolitik hergezogen  werden  kann,  Herr  Heilmann  zitiert  folgen- 
den  Passus  aus  meinem  Aufsatz: 

„Man  muB  in  immer  breitere  Arbeiterkreise  die  Erkennt- 
nis  tragen,  daB  sie  dem  Kampf  mit  dem  Fascismus  nicht 
aus  dem  Wege  gehen  konnen.  Immer  weitere  Kreise  miissen 
mit  dem  Gedanken  erfiillt  werden,  daB  die  Abwehr  gegen  den  drohen- 
den  Fascismus  vor  der  Machtergreifung  der  Nationalsozialisten  vor- 
bereitet  werden  muB-  Sind  die  Fascisten  einmal  an  der  Macht,  haben 
sie  erst  einmal  den  Vorsprung  gewonnen,  so  wird  die  Arbeiterschaft 
den  Kampf  nur  mit  viel  schwerern  Opfern  fiihren  konnen,  so  wird 
der  Fascismus  sich  durch  ein  Blutmeer  an  der  Macht  zu  halten 
suchen,  so  wird  die  Entwicklung  leicht  fur  langere  Zeitraume  ver- 
schiittet   werden   konnen. 

Von  der  Entwicklung  bei  tins  wird  es  abhangen,  ob  in  der  ganzen 
Welt  der  Fascismus  siegen  und  ob  damit  in  der  ganzen  Welt  die 
finsterste  Reaktion  herrschen  wird . . .  Die  Arbeiterschaft  mufi  daftir 
sorgen,  daB  die  drohende  Machtergreifung  des  Fascismus  verhindert 
wird/' 

Nach  den  Worten:  „verschuttet  werden  konnen"  hatte  ich  ge- 
schrieben:  „Der  Weltkapitalismus  ist  im  Abstieg,  der  deutsche  Kapitalis- 
mus  ist  zur  Zeit  sein  schwachstes  Glied,  die  Weltgeschichte  wird  ihr 
Zentrum  in  nachster  Zeit  in  Deutschland  haben."  Herr  Heilmann  hat 
nicht  einmal  angegeben,  daB  er  diesen  Satz  weggelassen  hat. 

Nach  den  Worten:   , .Reaktion  herrschen  wird"  hatte  ich  geschrie- 

ben:   oder  ob   die  Ketten  des  Kapitalismus  an  ihrem  entscheiden- 

den  Gliede  durchbrochen  werden.  Bisher  marschierte  der  Fascismus 
noch  schneller  als  die  Sammlung  der  Linken." 

Nachdem  Herr  Heilmann  diese  entscheidenden  Satze  weggelassen 
hat,  versucht  er  in  die  Satze,  die  er  zitiert,  das  hineinzuinterpretie- 
ren,  was  er  zur  Begrundung  seiner  sozialdemokratischen  Tolerierungs- 
politik braucht.  Wenn  der  Niedergang  des  Kapitalismus  nicht  analy- 
siert  wird  und  nicht  gesagt  wird,  daB  der  deutsche  Kapitalismus  im 
88 


Niedergang  das  schwachste  Glied  ist,  wenn  iiberhaupt  von  der  prole  - 
tarischen  Revolution  nicht  gesprochen  wird,  wenn,  mit  andern  Wor- 
ten,  man  so  hoffnungslos  parlamentarisch-kretinistisch  ist,  wie  es  Herr 
Heilmann  in  diesen  Satzen  zu  sein  vorgibt,  dann  folgt  aus  der  Fest- 
stellung,  daB  Hitler  schlimmer  ist  als  Bruning,  daB  man  Bruning  tole- 
riert.  Denn  —  so  argumentiert  Herr  Heilmann  —  wenn  man  Bruning 
stiirzt;  so  hat  Bruning  mit  Hitler  eine  parlamentarische  Majoritat,  die 
man  wiederum  nur  parlamentarisch  bekampfen  kann,  und  so  wiirde 
statt  des  kleinern  Obels  Bruning  ein  grofieres  Ubel  entstehen.  Fiir 
Trotzki,  fur  Rosenfeld,  fiir  mich  stand  und  stent  aber  die  Frage  an- 
ders.  Die  Regierung  Bruning  ist  nicht  die  Regierung  Hitler,  Die 
Regierung  Bruning.  ist  noch  nicht  eine  fascistische  Regierung.  Aber 
sie  ist  eine  Regierung,  die  dem  Fascismus  den  Weg  bereitet,  die  ihm 
den  Weg  bereitet  durch  den  immer  starkern  Abbau  des  Parlaments 
und  der  noch  ubrig  gebliebenen  Reste  der  Demokratie  auf  der  einen 
Seite,  durch  den  Lohnraub,  durch  den  Bruch  des  Tarifrechts,  durch 
die  Aufhebung  des  Kollektiyvertrages  auf  der  andern  Seite*  Der  so- 
zialdemokratische  Abgeordnete  Aufhauser  hat  diese  Funktion  der  Re- 
gierung Bruning  selbst  ausdriicklich  zugegeben.  Der  Kampf  gegen  den 
Fascismus  kann  nur  gleichzeitig  als  Kampf  gegen  Bruning  geftihrt 
werden. 

Als  die  Sozialdemokraten  die  erste  Brtiningregierung  tole- 
rierten,  machten  sie  gleichzeitig  eine  Versammlungscampagne  gegen 
den  Fascismus:  die  Nazis  nahmen  zu,  die  Sozialdemokraten  nahmen 
ab.  Heute,  gleichzeitig  mit  der  Tolerierung  der  Notverordnung,  ver- 
suchen  sie  eine  „Eiserne  Front"  zu  organisieren.  Aber  durch  die 
Tolerierung  der  Notverordnung  und  durch  die  damit  Hand  in  Hand 
gehende  immer  starkere  Aushohlung  der  Gewerkschaften  ntitzen  sie 
der  Ausbreitung  des  Fascismus  zehn  mal  mehr,  als  sie  ihr  durch  die 
,  Eiserne  Front  schaden*  Herr  Heilmann  gibt  vor,  das  nicht  zu  begrei- 
fen.  Er  darf  es  nicht  begreifen.  Jeder  wirkliche  Stofi  gegen  den 
Fascismus  ist  heute  ein  Stofi  gegen  das  Zentrum  des  kapilalistischen 
Systems,  ist  ein  StoB  in  der  Richtung  der  proletarischen  Revolution. 
Sie  hafit  der  Kleinbtirger  Heilmann,  wie  seinerzeit  Ebert,  wie  die 
Siinde,  Sozialismus  als  Festtagsrede,  warum  nicht.  Sozialismus  als 
Forderung  der  heutigen  Stunde,  als  Forderung,  die  sich  bewuBt  ist, 
daB  heute,  nachdem  die  letzten  demokratischen  Fratzen  yon  alien 
biirgerlichen  Parteien  fallen,  der  kapitalistischen  Diktatur  die  Dikta- 
tur  des  Proletariats  gegenubergestellt  werden  muB,  ist  fiir  Herrn 
Heilmann  eine  unvbrstellbare  Angelegenheit.  Daher  falscht  er  die 
Satze  aus  meinem  Aufsatz,  daher  falscht  er  den  Sinn  der  Ausfuhrun- 
gen  Rosenfelds  und  Trotzkis, 

Er  zitiert  folgenden  Satz  Trotzkis;  „Auf  die  StraBe  gehen  mit 
der  Parole  ,Nieder  die  Regierung  Bruning-Braun',  wenn  nach  dem 
Krafteverhaltnis  nur  die  Regierung  Hugenberg-Hitler  diese  ablosen 
kann,  ist  reinstes  Abenteurertum."  Trotzki  aber  hatte  im  unmittel- 
baren  AnschluB  an  diesen  Satz  geschrieben:  „Die  gleiche  Parole  be- 
kommt  jedoch  einen  ganz  andern  Sinn,  wenn  sie  die  Einleitung  zum 
unmittelbaren  Kampf  des  Proletariats  um  die  Macht  ist,"  Diesen 
Satz  hat  Herr  Heilmann  nvergessen",  wie  er  vergessen  hat,  daB 
Trotzki  seine  Broschiire  gegen  den  Fascismus  geschrieben  hat  mit 
dem  Ziel,  die  rote  Einheitsfront  des  Proletariats  herzustellen,  die 
Voraussetzung  fiir  den  Sied  iiber  Bruning  und  Hitler  ist, 

rlerni  Heilmann  gemigt  seine  eigne  Begriindung  der  sozialclemo- 
kratischen  Tolerierungspblitik  nicht  mehr;  uns  auch  nicht,  Herr 
Heilmann  braucht  Schwurzeugen,  und  wenii  er  keine  findet,  so  fslscfrt 
er  solange^  wie  es  geht.  Um  das  Bild  noch  zu  yervollstandigen,  sei 
bemerkt,  daB  die  ,Rote  Fahne'  fteilmanns  f,FestsieJlung"  zustimmend 
iiber nimmt.  Wenn  es  gegen  die  Verwirklichung  cTer  Voten  Einheits- 
front geht,  reichen  sich  Heilmann  und  die  jRote  Fahne*  die  Hattde. 

2  89 


flitlef  in  Paris  von  Johannes  Stickler 

T\  as  1st  dcr  Titcl  ernes  Leitartikels  von  Leon  Daudet  in  der 
.Action  francaise'  vom  19.  Dezember.  Daudet  stellt  darin 
emige  Betrachtungen  an,  die  uns,  da  sie  von  einem  wiisten 
Nationalisten  stammen,  nicht  sonderlich  tangieren.  Die  Tat- 
sachen  aber,  die  ihnen  zugrunde  liegen,  sind  doch  auBerordent- 
lick  interessant  und  verdienen  hier  aufgezeichnet  zu  wcrden, 

Daudet  zitiert  den  Schriftsteller  Henri  Danjou,  der  in 
,  Voila',  einer  illustrierten  f ranzosischen  Wochenschrif t  am 
12.  Dezember  also  berichtet; 

,,Ich  habe  soeben  ein  bier  vollig  unbekanntes  Deutschland  be- 
sucht.  Ein  Deutschland,  das  in  demselben  Paris  lebt,  das  nichts  mehr 
vom  Krieg  wissen  will.  Ich  habe  einen  Rundgang  dutch  Hitler- 
deutscbland  gemacht,  das  gewifi  nicht  ganz  Deutschland  reprasentiert, 
aber  das  als  Feind  mitten  in  unsrer  Stadt  lebt.  Ich  habe  Albert 
Koerber  besucht,  den  treuen  Freund  Hitlers  und  Korrespondenten  des 
YVolkischen  Beobachters*.  In  ihm  sehen  gutinformierte  Leute  den 
Nachfolger  des  Herrn  von  Hoesch  auf  der  deutschen  Botschaft  in 
Paris,  wenn  Hitler  erst  Diktator  ist.  Im  vorigen  Jahr  bewohnte  er 
noch  eine  einsame  Villa  in  Saint-Cloud,  weit  ab  von  bewohnten 
Gegenden.  Jetzt  sitzt  er  in  einem  Hauschen  in  Rueil  —  ausgerechnet 
in  der  ,Allee  der  Gottinnen'!  Eine  kleine,  einsame,  dunkle  StraBe, 
ringsherum  unbebautes  Terrain,  wohl  versteckt.  Er  dirigiert  von  hier 
aus;  greift  Frankreich  vom  eignen  Land  aus  an,  als  korrekter,  aber 
entschiedener  Feind.  Er  verlafit  sein  Haus  nie:  seine  Adjutanten 
arbeiten  fur  ihn  an  tausend  pariser  Informationsquellen.  Dank  ihm 
weiB  Deutschland,  dafi  wir  kriegslustig  und  unerbittlich  sind.  Als 
sein  Adjutant  uns  empfing,  hielt  er  eine  drohende  Dogge  am  Hals- 
band  fesi.  Albert  Koerber  grunzte  wenig  begeistert,  als  man  ihm 
sagte,  daB  ein  Franzose  ihn  sehen  wollte,  Ich  bestand  aber  darauf. 
Ich  wurde  in  ein  kleines  Arbeitszimmer  gefiihrt,  das  iiber  und  iiber 
mit  Hakenkreuzfahnen  besat  war,  Der  ehemalige  Pastor  Koerber  und 
zukunftige  Botschafter  Hitlers  trug  im  Knopf  loch  das  breite  Band  des 
Eisernen  Kreuzes.  Vielleicht  hat  er  geglaubt,  daB  ich  ihm  ans  Leben 
wollte;  denn  wahrend  der  ganzen  Unterhaltung  hielt  er  eine  riesige 
danische  Dogge  f est  am  Halsband  zwischen  uns,  wahrend  der  Ver- 
trauensmann,  der  uns  eingefuhrt  hatte,  die  ganze  Zeit  mit  einer  Hand 
in  der  Tasche  an  der  Tur  stand  und  jede  meiner .  Beweguhgen  und 
die  meines  Photographen  uberwachte.  Ich  sprach  von  seiner  dem- 
narbstigen  Ernennung:  er  dementierte  nicht ... 

,Das  wird  sich  in  zwei  Monaten  zeigenf 

Ich  wollte  von  ihm  wissen,  wie  Hitler  sich  die  Machtergreifung 
vorstellt, 

,Er  wird  nicht  mit  Bruning  zusammengehn,  Er  wird  auch  nicht 
mit  Hugenberg  gemeinsam  arbeiten.  Er  wird  die  Macht  allein  er- 
greifen,  wenn  seine  Stunde  gekommen  ist../ 

Seine  Hand  streichelte  den  .Napoleon*  von  Bainville,  der  als 
heller  Fleck  auf  dem  Tische  lag. 

tWir  werden  uns  wiedersehnl . .  .* 
90 


Von  da  bin  ich  zum  Deutschnationalen  Handlungsgehilfenverband 
gegangen,  der  in  Paris  eine  Anzahl  Mitglieder  hat,  von  denen  er  in 
der  ganzen  Welt  vierhunderttausend  zahlt.  Der  D.H.V.  besitzt  in 
Joinville  ein  Schlofi,  eine  Schule,  einen  groBen  Park,  in  dem  sich 
jeden  Sonnabend  und  Sonntag  das  junge,  exaltierte  Deutschland 
trifft,  urn  sich  in  sportlichen  und  andern  Ubungen  und  im  Glauben  zu 
starken.  Auch  da  taucht  der  Schatten  Hitlers  auf.  Direktor  Voelker 
vom  D.H.V.  hat  mir  stolz  gesagt: 

,Ich  bin  kein  Hitlennann,  aber  Nationalist.  Aber  Hitler  ist  notig 
fiir  Deutschland  wie  Mussolini  fur  Italien  notig  war.  Wir  erkennen 
ketne  Kriegsschuld  an.  Wir  wollen  nicht  sechzig  Jahre  lang  fur  einen 
Krieg  bestraft  werden,  dessen  Ursache  wir  nicht  waren.  Wir  wollen 
den  Frieden,  ihr  denkt  nur  an  Krieg.  Wenn  ihr  eure  Reparationen 
wollt,  miiflt  ihr  sie  euch  in  Berlin  holenf , .  / 

Sind  das  nur  zufallige  Begegnungen,  fluchtige  Eindnicke?  Ich 
finde  sie  uberwaltigend! . .  /' 

An  diescn  Bericht  Danjous  knupft  Daudet  einige  Liebens- 
wiirdigkeiten  und  iibertriebene  Forderungen  an  dieAdresse  dcs 
Quai  d'Orsay  und  der  pariser  Polizeiprafektur,  sowie  grobe 
Verdachtigungen  Deutschlands,  die  wir  bei  ihm  gewohnt  sind 
und  die  wir  nicht  ernst  nehmen.  Es  bleibt  aber  die  Neuigkeit 
der  Hitlerkolonie  in  Paris. 

Ich  mochte  hinzufiigen,  daB  der  Vertreter  Hitlers  in  Paris, 
Herr  Koerber,  sich  durchaus  nicht  so  versteckt  halt,  wie  der 
Berichterstatter  des  ,Voila*  es  aus  Sensationsgriinden  gern 
mochte.  Fiinf  Tage  nach  Erscheinen  des  aufsehenerregenden 
Artikels  —  am  17.  Dezember  —  fand  in  der  ,,Ecole  de  la  Paix" 
der  verdienstvollen  Leiterin  der  , Europe  Nouvelle',  Louise 
Weifi,  ein  Diskussionsabend  statt,  bei  dem  eigentlich  der  ver- 
flossene  franzosische  Botschafter  in  Berlin,  Herr  Pierre  de 
Margerie,  den  Vorsitz  fiihren  sollte.  Er  war  im  letzten  Augen- 
blick  daran  verhindert.  Ich  hatte  Gelegenheit,  an  dieser  Ver- 
sammlung  teilzunehmen.  Graf  Wladimir  d'Ormesson  hielt  in 
einem  bombenvollen  Saal  einen  einleitenden  Vortrag ,, Hitler  und 
Briining",  der  auOerordentlich  ihteressant  und  fiir  Franzosen 
sehr  instruktiv  gewesen  ist.  In  der  Diskussion  sprach  zunachst 
ein  Vertreter  Hugenbergs,  Herr  von  Heimburg,  so  geschickt,  so 
taktvoll  und  mafivoll,  wie  es  nie  in  Hugenbergblattern  erlaubt 
ist.  Dann  nahm  das  Wort  Herr  Albert  Koerber.  Mit  einer 
unerhorten  Demagogie  versuchte  er  den  Franzosen  zu  erzahlen, 
dafi  seine  Partei  und  besonders  der  „Meister"  nie  etwas  andres 
gewollt  hatten  als  „Friede,  Gerechtigkeit,  gleiches  Recht  fiir  alle 
Volker"  etc.,  etc.  Kurz  und  gut,  der  radikalste  Pazifist  kann 
nicht  mehr  friedfertige  Worte  im  Mund  fiihren  als  der  ,,zu- 
kiinftige  Botschafter"  Hitlers.  Leider  fand  der  nun  folgende 
Redner,  Vertreter  der  .Germania'  und  der  ,Kolnischen  Volks- 
zeitung',  Graf  Podewiels,  es  nicht  fiir  notig,  Herrn  Koerber  zu- 
rechtzuweisen.  Das  tat  erst  —  soweit  es  Frankreich  angeht  — 
der  junge  Radikalsozialist  Jacques  Kayser,    dessen  Name    mit 

91 


denen  von  Pierre  Cot  und  Bergery  in  den  nachsten  Jahren  in 
der  franzosischen  Politik  cine  Rolle  spielen  wird,  und  - —  so- 
weit  es  Deutschland  angeht  —  der  zufallig  im  Saal  anwesende 
deutsehe  Anwalt  und  politische  Schriftsteller  Bruno  Weil. 
Weil  sprach  unter  sehr  starkem  Beifall  von  dem  immerhin 
noch  vorhandenen  repuiblikanischen  Willen  in  Deutschland,  von 
der  intakten  Gewerkschaftsfront  und  kennzeichnete  Koerbers 
Verlogenheit  an  dem  einen  Beispiel;  ,tWie  kann  ein  National- 
sozialist  es  wagen,  hier  in  Frankreich  von  einem  ,gleichen 
Recht  fiir  alle  Volker*  zu  sprechen,  wenn  seine  Partei  im  eig- 
nen  Land  nicht  einmal  gleiches  Recht  fiir  alle  Volksgenossen 
haben  will?"  Es  sei  selbstverstandlich,  daB  kein  Mensch  einen 
Krieg  „woIle"(  aber  gewisse  Farteien  trieben  eine  Politik,  die 
dahin  ftihren  miisse.  f,Nur  Verriickte  konnen  einen  Krieg 
wollen." 

Wie  gesagt,  der  rednerische  Erfolg  Weils  war  groB,  Und 
das  war  sehr  gut  so-  Es  trifft  atich  sicher  zu,  daB  die  breite 
Masse  kein  en  Krieg  will  Aber  da  ist  erstens  die  private 
Riistungsindustrie  aller  Lander,  die  bestimmt  nicht  verriickt 
ist-  Und  dann  hat  es  zum  Beispiel  mal  einen  Bismarck  ge- 
geben,  von  dem  keiner  behaupten  wird,  daB  er  verruckt  war. 
Aber  es  wird  auch  kaum  einer  bestreiten  wollen,  daB  <er  zum 
mindesten  zwei  Kriege  ...tfewollt"  hat 


ZoOlOgie  von  Theobald  Tiger 


J7  in  Borvaselinchen  lief,  von  Gott  gesandt, 
durch   deutsches   Land. 

Es  glanzte  fettig-heli  im  Sonnenscheine 
und  ruhrte  emsig  seine  kleinen  Beine. 

Doch  gestern  morgen  in  der  Abendstunde, 
verschwand  es  still  in  Adolf  Hitlers  Monde. 

Dieweil  der  Junge  alle  Welt  befehdet, 
hat  er  sich   namlich  einen  Wolf  geredet. 

Jetzt  aber  geht  es  schon  hedeutend  glatter. 
Es  kritzeln  emsig  die  flerichterstatter. 

Und  einer  lauscbt,  und  er  notiert; 
,J)er  Tschormen  redet  \yie  :geschmiert " 

Da  hat  er  recht     Un«  hleibt  nurdi^s  Problem: 
Geschmiert? 

Von  wem? 


92 


Die  Furcht  der  Intellektuellen  vor  dem  Sozialismus 

von  Beia  Baldzs 
I 

C  in  Teil  des  „gebildeten  Mittelstandes"  ist  mit  seiner  Weltanschau- 
*-*  ung  in  Unordnung  geraten  und  durch  Widerspriiche  und  Gewis- 
senskrisen  vollkommen  gelahmt.  Es  ist  eine  groBe .  Not  und  ein  gro- 
6er  Schaden.  Und  es  ist  ganz  besonders  unsre  Angelegenheit,  denn 
es  betrifft  unsre  Kollegen,   Freunde,  Bekannten. 

Gemeint  sind  jene  linksbtirgerlichen  Intellektuellen,  die  den  Kapi- 
talismus  bereits  of  fen  ablehnen  und  auch  vom  Reformismus  der  So- 
zialdemokratie   nichts   halten.     Aber!   ... 

Sie  sind  alle  mit  einer  radikalen  Umwalzung  zum  Sozialismus 
neigentlich    prinzipiell"    einverstanden.      Aber    , . . 

Aber  tatsachlich  konnen  sie  die  Konsequenzen  aus  diesem  an- 
geblichen  Einverstandnis  nicht  ziehen,  weil  sie  hundert  Bedenken, 
Sorgen  und  Hemmungen  haben.  Daher  ihre  Unsicherheiten  und 
Widerspriiche.  Undeutlich  und  passiv  zweifeln  sie  zwischen  zwei 
deutlichen  und  kampfenden  Lagern.  Mit  geistiger  und  moralischer 
Gewissenhaftigkeit  entschuldigen  sie  ihre  ^Unentschiedenheit.  Sie 
sagen;  „Es  ware  nicht  so  einfach"  und  machen  gelegentlich  unklare 
Theorien,  um  ihre  Widerspriiche  zu  verdecken,  Doch  sie  ftihlen 
sich   nicht  wohl    dabei. 

Allerdings  gibt  es  noch  burgerliche  Intellektuelle  genug,  die  sich 
wohl  ftihlen,  Deren  Weltanschauung  ist  standhaft  und  unproblema- 
tisch  geblieben.  Es  sind  die  ganz  cynischen  oder  die  ganz  bidden 
oder  die  Bildungsmumien  aus  dem  vergangenen  Jahrhundert.  Nicht 
um  diese  geht  es  hier,  sondern  um  die  links  Abbrbckelnden,  um  die 
Ehrlichen  und  Lebendigen,  die  sich  qualen,  weil  sie  etwas  wissen  und 
es  doch  nicht  wahr  haben  wollen,  namlich:  daB  ihr  Platz  in  der 
Reihe  des  revolutionaren  Proletariats  ist.  So  geht  es  heute  schon 
einer  sehr  breiten  Schicht.  Sie  ist  geistig  und  moralisch  wertvoll 
und  zu  wichtigen  Aufgaben  beruferi.  Wenn  sie  trotzdem  vollkom- 
men bedeutungslos  und  ohne  Einwirkung  durch  das  Sieb  der  Ge- 
schichte  fallt,  so  liegt  das  zum  groBen  Teil  an  ihrer  ideologischen 
Unklarheit. 

Von  dieser  Unklarheit  Soil  hier  gesprochen  werden:  von  der 
ideologischen  Krise  der  linksbiirgerlichen  Intellektuellen.  Also  nicht 
von  ihrer  wirtschaftlichen  Krise,  wiewohl  die  beiden  ursachlich  zu- 
sammenhangen.  Denn  es  gehort  mit  zur  Ideologic  der  Intellektuellen, 
diese  Zusammenhange  zu  leugnen,  Wirtschaftliche  Analysen  wiirden 
ihnen  daher  nichts  beweisen.  Wenn  man  sie  fragt,  so  sind  es  immer 
ideelle  Griinde  *—  etwa  moral ische  — ,  aus  denen  sie  den  Kapi- 
talismus  ablehnen,  und  ebenso  aus  ideellen  Grunden  —  natiirlich  mora- 
lischen  —  zogern  sie,  die  Konsequenz  ihrer  Ablehnung  zu  ziehen, 
die  einzige  Konsequenz:  sich  vorbehaltlos  in  die  Kampf front  des 
revolutionaren   Proletariats    zu   stellen. 

Um  ganz  genau  zu  sein:  wer  sind  diese  Intellektuellen?  Es  sind 
die  Trager  der  burgerlichen  Bildung.  Der  Begriff  deckt  sich  also 
nicht  ganz  genau  mit  dem  des  gerstigen  Arbeiters.  Denn  es  gibt  gei- 
stige  Arbeiter,  etwa  Schalterbeamte  und  Spezialfachleute,  die  keine 
Intellektuellen  sind.  Auch  gibt  es  Intellektuelle,  die  keine  geistigen 
Arbeiter,  weil  uberhaupt  keine  Arbeiter  sind.  Die  Hauptrolle  spie- 
len  aber  jene,  die  die  burgerliche  Ideologic  vielfach  berufsmafiig 
—  als  Denker,  Dichter,  Kunstler,  Lehrer,  Journalisten  —  produzieren 
und   gestalten. 

Bezeichnend  ist  fiir  diese  linken  Intellektuellen,  daB  sie  den 
Sozialismus  als  okonomische  Ordnung,  als  Gesellschaftsordnung  be- 
grfiflen.  Nut  vor  seiner  Ideologic,  heiBt  es,  haben  sie  Angst.  Vor 
allem  wehren  sie  sich  gegen  die  proletarische  Ideologic  des  Klassen- 

92 


kampfes  und  der.  Revolution,  die  turn  Sozialisrous  fuhren  soil-  Ste 
sind,  wenn  man  sie  fragt,  absolut  fur  eincn  gerechten  sozialen  Aus- 
gleich,  sie  wollen  gar  keihe  wirtschaftliche  Sonderstellung,  zumal  «e 
froh  sind,  wenn  sie  uberhaupt  eine  Stellung  bekommen.  Nur  urn  „die 
Kulturwcrtc"  ist  ihnen  bange.  Je  naher  der  soziale  Umsturz  kommt, 
urn  so  mehr.  Je  dringender  sie  vor  die  Entscheidung  gestellt  werden, 
urn  so  gereizter  wird  ihr  ideologischer  Gegenangriff*  (Siehe  Werfel, 
Doblin,  Hitler.)  Merkwtirdigerweise  fuhlen  sie  sich  in  ihrer  morali- 
schen  Existenz  bedroht  und  verbocken  sich.  GewiB,  sie  wollen  schon. 
Aber.  sie  mochten  nicht,     Ja...  aberl 

Wir  legen  hier  eine  kleine  Sammlung  dieser  „Abef"  an,  Wir 
beginnen  bei  den  Bedenken  des  rechten  Fliigels  der  „prinzipiell  Ein- 
verstandenen"  und  wollen  sie  ordentlich  numerieren  bis  zu  den 
Zweifeln,  die  auch  noch  fiir  die  ganz  Linken  bestehen.  Wir  wollen 
sehen,  ob  sich  nicht  vernunftige  und  beruhigende  Antworten  finden 
lassen.  Nur  die  nachstliegenden  kommen  dabei  in  Betracht,  ohne 
wissenschaftlich  weit  auszuholen.  Wir  berufen  uns  auch  auf  keine 
Parteithesen.     Wir  sprechen   diesmal  hier  ganz  unter  uns. 

Der  freundliche  Leser  wird  gebeten,  sich  seinen  eignen  Fall  aus- 
zusuchen.  A    . 

I.  Etliche  sind  besorgt  um  die  Sonderstellung  und  Sonderbewer- 
tung  der  gei&tigen  Arbeit,  weil  dies©  in  der  sozialistischen  Gesell- 
schaft  der  Handarbeit  gleichgesetzt  werden  soil. 

GewiB,  in  einer  sozialistischen  Gesellschaft  gilt  der  geistige  Ar- 
beiter  als  Facharbeiter  und  nicht  mehr  als  die  andern  qualifizierten 
Arbeiter,  Einen  Standesunterschied,  einen  gesellschaftlichen,  wird  es 
zwischen  ihnen  nicht  geben.  Wenn  aber  solche  Unterschiede  iiber- 
haupt  nicht  mehr  existieren  werden,  so  wird  das  ja  keine  Degrada- 
tion bedeuten,  Stufen  gibt  es  nur,  wo  es  eine  Stufenleiter  gibt.  Und 
wenn  die  Bildung  kein  Monopol  einer  herrschenden  Klasse  mehr  sein 
wird,  nach  welchem  Zeichen  sollte  denn  da  die  Absonderung  einer 
geistigen   Schicht  uberhaupt  geschehen? 

Die  Perspektive  der  sozialistischen  Gesellschaft  zeigt  uberhaupt 
eine  Aufhebung  des  kraseen  Unterschieds  zwischen  geistiger  und  phy- 
sischer  Arbeit.  Denn  die  Betriebsarbeiter  als  Fuhrer  und  Kontrolleure 
offentlicher  wirtschaftlicher,  politischer  und  administrativer  Organi- 
sationen,  sind  ja  zugleich  geistige  Arbeiter.  So  ist  es  beretts  in  der 
Sowjetunion,  Auch  wird  der  kulturelle  Unterschied  zwischen  Stadt 
und  Land  mit  der  Agrarindustrie  der  ,,Brotfabriken"  aufhoren. 

Die  geistige  Arbeit  wird  als  Arbeitsgattung  kein  Sonderprestige 
genieBen.  Um  so  mehr  die  persdnliche,  geistige  Leistung.  Denn  je 
durchorganisierter,  einheitlicher,  planmaBiger  eine  Gesellschaft  ist,  um 
■so  groBere  Bedeutung  bekommen  naturgemaB  in  ihr  Plan  und  Leitung. 
Also  der  Geist. 

Auf  die  Bedeutung  fur  die  Allgemeinheit  wird  es  dabei  ankom- 
men.  Alleinganger  werden  sicherlich  nicht  hoch  im  Kurs  stehea  Ob 
das  ein  groBer  Verlusf  sein  wird,  dariiber  wollen  wir  spater  sprechen. 
Aber  stehen  sie  denn  jetzt  so  hoch  im  Kurs?  Bei  wem?  Vornehm- 
lichi  bei  einander.  Wie  uberhaupt  das  Prestige  der  Geistigkeit  eine 
der  grotesken  Liigen  und  Illusionen  der  burgerlichen  Ideologic  ist. 
Weil  namlich  die  Produzenten  dieser  Ideologic  es  sich  selber  einreden. 
Sie  singen  sich  selber  in  Schlaf.  Sagt  denn:  wann  und  wo  hat  die 
Geistigkeit  besonderes  Ansehen  genossen?  Einzelne  sind  aus  ver- 
schiedenen  Grunden  beruhmt  geworden,  Dann  hatte  ihr  Ruhm  An- 
sehen. Aber  doch  nie  ihr  Stand  oder  gar  die  Geistigkeit  im  allge- 
meinen,  Jedenfalls  ist  die  Geschichte  des  Geistes  eine  Geschichte  der 
Demutigungen  ihrer  besten  Vertreter. .  Haben  sich  nicht  die  Intellek- 
tuellen  vorsichtshalber  als  Ruckversicherung  auch  die  Ersatzideologie 
von  der  poetischen  Armut  und  der  Hoffnung  auf  die  Nachwelt  ge~ 
schafien,  falls  das  Prestige  des  Geistes  nicht  funktionieren  sollte? 
94 


Wo  ist  denn  die  gesellschaf  tliche  Sonderstellung,  die  Ihr  zu  ver- 
heren  habt?  Wo  habt  Ihr  je  als  Stand  den  Vortritt  gehabt  vor  Adel, 
Bureaukratie,  Militar,  Finanz-  und  Industriekapitanen?  Lieber 
von  diesen  gnadig  auf  die  Schulter  geklopft  als  den  Arbeitern  die 
Hand  gereicht?  £s  ist  doch  nicht  etwa  die  gemeinsame  Bildung,  die 
Euch  an  diese  Banausen  von  Geldplebejern  bindet?  Bestenfalls  noch 
an  ihreFrauen,  die  viel  Zeit  zum  Lesen  haben.  Oder  ist  es  vielleicht 
die  hohe  Ehre,  daB  diese  Herren  der  Wirtschaft  und  Wirklichkeit 
doch  noch  einen  Unterschied  zwischen  Euch  und  den  Proleten  machen? 
Diesen  Vorzug  teilt  Ihr  mit  der  gesaxnten  Amiisier-Suite  der  Bour- 
geoisie, die  Huren  mit  inbegriffen.  Aber  auch  mit  Polizei  und  Militar, 
solange  Ihr  geneigt  seid,  die  Waffen  Eures  Geistes  kapitalistischen 
Interessen  zur  Verfugung  zu  stellen. 

Freilich  werden  nicht  alle  einfach  umsteigen  konnen.  Zumal  etwa 
Schriftsteller  ja  nicht  bloB  Passagiere  des  geistigen  Zuges  sind,  son- 
dern  zugleich  die  Lokomotive  und  Geleise,  Je  ausgepragter  sie  sind, 
urn  so  wahrscheinlicher,  daB  sie  in  jener  ganz  andern  Umwelt  trotz 
derselben  Begabung  substanzlos  und  unwesentlich  werden.  Das  ist  es 
auch  zumeist,  wovor  sie  bewufit  oder  unbewuBt  Angst  haben.  Aber 
spricht  das  gegen  die  zu  erwartende  Bedeutung  der  geistigen  Produk- 
tion  uberhaupt?  Eine  Erfahrung  haben  wir  schon  jedenfalls.  In  der 
Sowjetunion  werden  Schriftsteller,  Kiinstler,  geistig  hervorragende  Per- 
sonlichkeiten  mit  einer  Warme  und  Begeisterung  gefeiert,  wie  das  in 
den  burgerlichen  Kul turstaa ten  ganz  unvorstellbar  ware,  Zur  Volks- 
tumlichkeit  gehort  eben  vor  allem  Volk, 

II.  Die  Angst  vor  der  Vulgarisierung  des  Geistes,  Diese  alte 
Bildungsideologie  geht  noch  immer  urn:  die  Anschauung,  dafi  es  zum 
Wert  und  zur  Wiirde  des  Geistes  gehort,  aristokratisch  isoliert  und 
einsam  zu  sein.  Nach  dieser  Anschauung  ist  „unverstanden"  ein  Adels- 
pradikat  und  Ideen,  die  sehr  popular  werden,  sind  notwendigerweise 
f lach,     Massenkultur  konne  also  nur  oberflachlich  sein. 

Das  war  die  Anschauung,  die  geistige  Haltung  der  gesaxnten 
groBen  burgerlichen  Dichtung  in  den  Zeiten  seiner  Oberreife  und  be- 
ginnenden  Decadence.  (Defoe,  Fielding,  Dickens,  Balzac  kannten  sie 
noch  nicht.)  Sie  gab  die  Weihe  den  letzten  Stunden  der  tragischen 
Helden:  das  groBe  Pathos  des  heroischen  Alleinbleibens.  Sie  gab  den 
breiten  SchluBakkord  den  klassischen,  burgerlichen  Romanen:  die  Re- 
signation der  schicksalhaf ten  Einsamkeit.  In  dieser  Dichtung  spiegelte 
sich  auf  hochster  Stufe  bereits  der  Todeskeim  der  burgerlichen  Gesell- 
schaft:  ihre  Atomisierung.  Mit  diesem  Individualismus  begann  zu- 
gleich der  Verfall  der  burgerlichen  Kultur.  Denn  Kultur  ist  doch 
geistige  Gemeinschaft.  Das,  was  sich  summiert,  was  sich  durch  Gene- 
rationen  weiter  entwickeln  kann,  weil  es  eine  uberpersonliche  Kon- 
tinuitat  hat.  Einsamkeit  ist  das  Gegenteil  von  Kultur,  Was  also  ist 
an  ihr  so  sonderlich  wertvoll,  daB  man  an  ihr  festhalten  mdchte? 

Es  ist  gewiB  die  groOte  menschliche  Not,  aus  der  hier  die  Dichter 
eine  Tugend  gemacht  haben.  Und  sie  haben  damit  vernichtende  Kri- 
tik  an  der  burgerlichen  Gesellschaft  geubt,  Denn  wie  unmenschlich 
muB  eine  Klasse  sein,  in  der  der  Mensch  nur  als  Einsamer  sich  voll- 
enden  kann,  Wie  seelenlos  raufi  sie  sein,  wenn  in  ihrer  Dichtung  Seele 
gleichbedeutend  wird  mit  Einsamkeit,  Wie  geistlos  muB  die  Klasse 
sein,  in  der  unverstanden  zu  sein  eine  Qualitat  bedeuten  kann.  Und 
wie  muB  der  Geist  dieser  Klasse  auf  den  Hund  gekommen  sein,  wenn 
sie  den  Sinn  selbst  fur  dieses  letzte  Qualitatszeichen  bereits  verloren 
hat.    Wie  es  namlich  heute  der  Fall  ist, 

In  den  Zeiten  der  George,  Rilke,  der  Rudolf  Kassner  steigerte 
sich  diese  Isolation  der  Geistigkeit  zu  einer  bewuBten  Abgrenzung  ge- 
gen die  stupide.  burgerliche  Umwelt,  zu  einer  sektiererischen  Oppo- 
sition, die  absichtlich  eine  Geheimsprache  fuhrte,  Diese  Flucht  in  die 
«,hangenden  Garten*  war  bereits  eine  Art  Auflehnung  gegen  die  bur- 
OS 


gerliche  Wirklichkeit.  Sie  war  eine  negative  Rebellion.  Wie  auch 
die  Boheme,  entfernte  sie  sich  selber  aus  der  Gesellschaft,  gegen 
die  sie  nicht  anzukampfen  wuBte.  Begreiflich  in  einer  Zeit,  in  der  die 
Intel lektuellen  sich  noch  in  keine  positive  Kampf front  einreihen  konn- 
teri,     Aber  heute? 

Also:  der  Wert  einer  aristokratischen  Geistigkeit  besteht  nur  im 
Unwert  einer  Gesellschaft,  die  solche  Isolation  notwendig  macht.  In 
einer  klassenlosen  soziallstischen  Gesellschaft  braucht  das  Niveau  der 
Geistigkeit  mit  seiner  Verbreitung  nicht  zu  sinken,  denn  der  Geist  der 
Masse  wird  dann  von.  derselben  Art  sein.  Das  groBere  Wasser  schlagt 
die  groBern  Wellen. 

III.  Sehr  allgemein  ist  die  Sorge  um  „die  Innerlichkeit  der  Seele". 
Viele  beftirchten,  daB  die  sozialistische  Gesellschaft  eine  restlose 
Mechanisierung  und  Versachlichung  des  menschlichen  Lebens  bringen 
wird, 

Mechanisierung  und  Versachlichung  des  Lebens  sind  typische  Er- 
scheinungen  der  kapitalistischen  Entwicklung.  Es  ist  jene  MVerding- 
lichung",  die  Marx  als  eine  Erscheinungsform  der  Ausbeutung,  als 
einen  Fluch  der  biirgerlichen  Gesellschaft  bezeichnet.  DaB  namlich 
der  Arbeiter  zu  einem  unpersonlichen  Maschinenteil  wird  wie  irgend 
ein,  Hebel  und  daB  aus  jeder  menschlichen  Beziehung  eine  ,,sachliche" 
Funktionsbeziehung  wird,  in  dem  vollkommen  abstrakten  Gesellschafts- 
betrieb.  Wer  nur  eine  Ahnung  von  der  sozialistischen  Theorie  hat, 
der  welB,  daB  Marx  grade  diesen  Fetischismus  enthtillt  hat,  daB  das 
revolutionare  Proletariat  grade  gegen  diese  unmenschliche  Versach- 
lichung  kampft,   wenn  es   fur    die   sozialistische  Gesellschaft   kampft, 

Im  ubrigen  geheh  in  der  biirgerlichen  Entwicklung  sachliche  Me- 
chanisierung und  reine  Innerlichkeit  Hand  in  Hand.  Beide  sind  nam- 
lich Zerfallsprodukte  ein  und  desselben  Auflosungsprozesses.  Wenn. 
die  Wirklichkeit  geistlos  wird,  so  wird  der  Geist  gleichzeitig  wirk- 
lichkeitslos.  Aus  einem  seelenlosen  Leben  fliichtet  die  Seele  in  gegen- 
standslose  Traume  und  verdunstet.  Also  ist  es  ein  Widersinn,  die 
reine  „musikalische"  Innerlichkeit  vor  der  mechanisierten  Sachlichkeit 
schiitzen  zu.  wollen.  Denn  es  sind  bloB  zwei  Erscheinungsformen  des* 
selben  Prozesses, 

Fortsetzung  rolgi 
i     . 

Kleine  Orestie  von  Arnold  zweig 

Der  TSter 

r\icsc  Zeit  ist  der  Erkenntnis  nicht  giinstig,  dariiber  braucht 
man  nicht  zu  streiten.  Und  so  bemerkt  man.  nicht,  was 
sich  eigentlich  in  den  schauderhaften  Einzelf  alien  abspielt,  die 
im  Gerichtssaal  das  fin-den,  was  man  heute  Siihne  nennt,  Es 
mag  s  eh  wer  sein,  klar  zu  machen,  warum  ich  mich  hier  noch 
uber  ein  endgtiltig  abgeurteiltes  Verbrechen  ergehe;  vielleicht 
liest  man  mich  trotzdem  zuende.  In  technischen  Zeiten  wird  matt 
eatschuldbar  find  en  und  in  so  kriegerischen  wie  den  unsren,  wenn 
ein  Mann  nervos  wird,  weil  die  gerichtlich  zugelassene  Wis- 
senschaft  mit  Ziindnadelgewehren  schieBt,  wahrend  ihr  langst 
em  Arsenal  schwerer  Maschinengewehre  zur  Verfiigung  steht. 
Dem  jungen  Thielecke  wird  zehn  Jahre  lang  der  Vater 
yorenthalten.  Von  wem?  Von  der  Mutter.  Es  ist  unvorsich- 
tig,  einem  Kindc  vorzureden;  d ein  Vater  ist  tot.  Das  Kind 
(und  der  Wilde,  der  Indianer  zum  Beispiel)  denken  in  Formen 
der  magischen  Geistesstufe,  auf  der  das  Wort  totet  oder  le- 
bendig  macht,   Wer  das  Wort  ausspricht,  der  tut  die  Tat;  wer 


sagt;  „Dein  Vatcr  ist  tot,"  der  totet  ihn.  Die  Mutter  also, 
eine  noch  junge  Frau.  Da  sind  die  mannlichen  Freunde  nicht 
weit.  Das  Kind  Thielecke  setzt  den  verheimlichten  Vater  einenv 
von  der  Mutter  ermordeten  gleich,  denn  er  ist  ja  nicht  da;  die 
Manner,  die  der  Mutter  nahe  sind,  nehmen  in  der  Phantasie  des 
phantastischen  Kindes  die  Form  von  Mittatern  an;  phantastisch 
aber  ist  jedesKind.  Die  Phantasie,  gottliche  Gabe,  aus  der  alle 
Kunst  lebt,  ist  eins  der  Haupterkenntnisorgane  der  Kinder  und 
somit  der  Menschheit.  Selbst  wenn  dem  jungen  Thielecke 
alies  Griechische  meilenfern  lage,  findet  man  hier  die  Vor- 
aussetzung  einer  Orest-Tat  gegeben,  dargestellt  und  wahr- 
getraumt  von  jenem  genialen  Psychologenvolke,  das  ja  nicht: 
nur  den  Mythos  vom  Oedipus  erdacht  hat  Da  ist  Agamem- 
non, Klytemnastra  und  Aegisthos.  Wann  wird  Orest  erstehen? 
Aber  er  ist  schon  da.  Der  Name  Kalistros  und  die  Erziehung 
in  Wickersdorf  stoBen  den  jungen  Menschen  in  gleicher  Weise 
auf  das  Hellenische  hin.  Da  es  aber  der  Welt  des  verheim- 
lichten Vaters  angehSrt  und  auch  der  der  Mutter,  verfallt  es 
dem  Protest  gegen  beide,  es  wird  durch  das  Indianische  ersetztv 
das  der  magischen  Stuf e  angehort:  aus  Orest  wird  zunachst 
einmal  Sujamani.  Ein  Junge  ist  es,  der  diese  Verdrangungen, 
diesen  Aufruhr,  diesen  Protest  erleidet.  Da  er  ein  literarischer 
Junge  wird,  bleibt  er  nicht  bei  Karl  May  und  Winnetou 
stehen,  er  baut  vielmehr  diese  indianische  Ersatz-  und  Tiefen- 
welt  ,,wissenschaftlich"  aus.  Dann  wird  er  selber  Vater  —  der 
ermordete  Vater  ersteht  in  ihm  wieder.  Seine  junge  Frau  er- 
setzt  ihm  die  Sch western,  die  er  im  Mythos  hatf  bald  als 
Elektra,  bald  als  Chrysotemis,  denn  in  der  wachen  Welt  bleibt 
er  der  Sohn.  Und  wann  geschieht  die  Tat,  und  wie?  Das 
Gebrodel  falsch  gehemmter,  falsch  enthemmter  Triebe  bricht 
los,  als  ihn  die  Mutter,  auch  ihn,  entmannen  will,  indem  sie 
ihm  einen  Dolch  entwihdet.  Da  er  sie  immer  den  MVormund*' 
nennt,  ist  nun  auch  Klytemnastra  und  Aeghist  in  eine  Person: 
aufgeschmolzen,  und  der  SchluBstein:  er  ermordet  sie  im  Bade, 
wie  Agamemnon  im  Bade  ermordet  wurde,  mit  zahllosen  Dolch- 
stichen,  statt  mit  zahllosen  Beilhieben,  und  wie  Agamemnon  in 
ein  Netz  geschmirt  und  weggeschleppt  wurde,  treibt  es  ihn, 
den  getoteten  Korper  einzuschniiren  und  wegzuschleppen.  Aus. 
der  ganz  und  gar  ungeformten  Kernschicht  seines  verwahr- 
losten  Wesens  aber  bricht  jene  verhangnisvolle  Antwort  het- 
auf,  die  man  nur  in  Verse  zu  setzen  braucht,  damit  sie  antike^ 
Unbefangenheit  und  Starke  erhalte: 

Nicht  konnte  ich  sie  doch,  oh  ihr  Richtert 
Daliegen  lassen  wie  eine  gebruhte  Sau. 

Pylades  rettet  den  Freund  nicht 

Diese  Dinge  dem  UnterbewuBtsein  zu  enthebenf  war 
eigentlich  nicht  meine  Sache.  Der  arme  Mensch,  der  zu  einem 
Totschlager  wurde,  war  umgeben  von  falschen  Literaten,  sehr 
strengen  Catonen.  Ja,  wenn  das  nicht  so  ungebildet  ware, 
Wenn  diese  Bedauernswerteh  nicht  vor  alien  Dingen  selber 
atis  einem  Buhdel  Neurosen  bestunden  und  im  Leben  ebenso 
schuehterri  uiid  gehemmt  waren  wie  losgelassen  am  Schreib- 
tisch,  hatten  sie  den  Grundkern  einer  Muttermordsituation  her- 

97 


ausschalen,  dem  Opfer-  einer  Zwangsneurose  cine  leichtere 
Strafe  erkampfen  konnen.  Aber  dazu  ist  Pylades  eben  un- 
fahig.  Man  braucht  gar  nicht  tief  zu  graben,  urn  die  Genese 
eines  solchen  Schreibmenschen  mit  all  ihren  Wurzeln  auszu- 
heben,  Gesetzt  den  Fall,  ein  schwieriger  Vater  vertrate  den 
Geist,  noch  dazu  den  der  hebraischen  Literatur,  den  biblischen 
also,  den  gottlichen,  und  mache  Angst,  eine  zum  Nachbilden 
in  deutscher  Sprache  begabte  Mutter  iibernahme  Rang  und 
Rolle  der  Muttersprache.  Dann  wird  ein  kleiner  zarter  Junge 
tief  beeindruckt  vor  der  ungeheuren,  Biicherwand  sitzen  und 
von  Vater-  und  Mutters eite  her  in  den  Hohlweg  der  Literatur 
getrieben  werden,  Hohlweg?  Sackgasse;  weil  ihm  die  Fraget 
ob  er  eigentlich  begabt  ist  und  wozu,  vor  diesem  Nachahmungs- 
verhangnis  gar  nicht  gestellt  werden  kann.  Da  ihm  nichts 
Machtigeres  ersteht  als  der  Vater,  bleibt  seine  Bildungsmog- 
Iichkeit,  die  Entwicklung  literarischer  Urteilskraft  ganz  und 
gar  stecken  in  dem  gewift  mittlerh  Niveau  der  Zeit  zwischen 
1905  und  dem  Weltkrieg,  wie  er  sie  spater  in  den  Jahrgangen 
der  fNeuen  Rundschau  nachlesen  kann.  Nichts  Ahnliches  darf 
den  Vater  iiberleben,  iiberschatten,  fortsetzen  oder  gar  be- 
erben;  darauf  steht  der  Tod,  die  literarische  Hinrichtung.  Von 
den  Freunden  des  Vaters  nehmen  die  Verstorbenen,  etwa 
Moritz  Heimann,  den  Rang  kanonischer  Heiliger  an;  die  kum- 
merliche  Sprachkraft  des  Kindes,  aufgesogen  von  ungeklar- 
ten  Komplexen,  bevor  sie  noch  Worte  aufs  Papier  treibt, 
bleibt  der  Mutter  horig.  Da  sie  in  der  paradoxen  Lagerung 
seiner  Voraussetzungen  als  Verdeutscherin  des  Vaters  Deutsch- 
heit  verkorpert,  stiitzt  er  seine  nur  zu  durchsichtigen  Ver- 
neinungen  heute  schreibender  Juden  durch  die  Bejahung  von 
Nichtjuden,  die  einfacher  schreiben  als  zum  Beispiel  unser- 
einer.  Das  Ganze  hat  einen  Bil  dungs  firms,  den  reaktionaren 
HaB  auf  alles  Vorwartsdrangendef  wie  es  sich  gehort, 
den  Hang  zur  Bildung  einer  Sekte,  in  der  die  fres- 
senden  Angstkomplexe  tiberhoht  werden:  Pylades  ret- 
tet  die  Literatur.  Armes  Kind,  du  yerbrennst  dir  an  ihr  nur 
die  Finger*  Dort  namlich,  wo  wir  sie  hintreiben,  ist  sie  heiB, 
stoCt  sie  ins  Ungeformte  vor,  bricht  sie  Tabus,  wird  sie  zum 
Muntwalt  des  Verdrangten  und  der  Verleugneten.  Lachend 
sehn  wir  zu,  wie  hier  und  dort  ein  kleines  Lehrerchen  irgend- 
welche  Fehler  mit  roter  Tinte  anstreicht.  Den  berufenen  Kri- 
tiker  namlich  erkennt  man  an  andern  Dingen:  an  seiner 
Klarsicht,  die  Aufgaben  der  Kunstformen  betreffend,  die  Ge- 
setze  des  Epischen,  die  Grundrolle  der  Dichtung  im  Seelen- 
haushalt  der  Mens ch en  uberhaupt;  an  seinem  Wissen  um  den 
Kontrapunkt  von  Personen,  Schicksalen,  Grundmotiven  im 
Roman,  um  die  Schwachen  und  Starken  von  Dichtern  und  Ge- 
staltern  eben,  die  man  erst  einmal  mu£  sehen  konnen,  ehe 
man  sie  offentlich  beredet. 

Odysseus  Freud 

Um  zur  Sache  selbst  zuruckzukehren:  die  Mythologie  der 
Griechen  hat,  wie  uns  alle  Pauker  belehrtenf  allgemein  mensch- 
liche  Giiltigkeit  —  wie  sehr,  wie  tief  und  wie  durchbohrend 

98 


freilich  weiB  man  erst  scit  den  wissenschaftlicheh  Expeditionen 
in  den  Hades,  die  der  einsame  Sicgmund  Freud  angestellt  hat. 
Nur  urn  auf  seine  machtige  Gestalt  wieder  einmal  hinzuweisen, 
wende  ich  mich  fur  einen  Augenblick  von  meiner  Arbeit  weg. 
Ita  Psychoanalytischen  Verlag  ist  eben  ein  Band  Theoreti- 
scher  Schriften  erschienen1  die  Gedankenarbeit  jener  funfzehn 
Jahre  zusammenfassend,  die  zwischen  den  Arbeiten  der  Man- 
nesjahfe  und  deii  herrlichen  letzteh  des  greisen  Meisters 
stehen.  Dies  sind,  in  zwanzig  Jahren  nehme  man  mich  beim 
Wort,  Naturbeschreibungen  der  Menschenseele,  jener  wilden, 
erhabenen  und  grausigen  Unterwelt,  die  wir  alle  in  uns  tra- 
gen.  Ununterbrochen  gehen  von  ihr  die  Taten  der  Menschen  aus, 
von  ihr  nicht  allein  bestimmt,  aber  immer  raitbestimmt  und 
uberwiegend  von  ihr  bestimmt  bei  Primitiven,  Kindern  und 
jenen  Neurotikern,  von  denen  man  oben  zwei  fliichtige  Skiz- 
zen  las.  Es  ist  unmoglich,  auch  nur  aufzuzahlen,  was  die  zu- 
kunftige  Psychologie  —  -  fur  uns  die  gegenwartige  —  diesem 
Band  von  400  Seiten  entnehmen  wird.  Die  Beschreibung  des 
Narziflmus,  der  Verdrangung,  die  grofle  Darlegung  des  Un- 
bewufiten  —  dies  nur  als  Beispiele;  die  70  Seiten  ,Jenseits  des 
Lustprinzips",  die  110  Seiten  ,,Massenpsychologie  und  Ich- 
Analyse",  und  jene  Schrift  „Das  Ich  und  das  Es'\  ohne  die 
man  nicht  weiO,  wer  man  ist.  Langst  ward  ja  klar,  wer  heute 
als  miflverstandenster  Denker  der  Welt  gelten  darf,  wer  in 
dieser  Beziehungt  und  nicht  nur  in  dieser,  den  Friedrich 
Nietzsche  unsrer  Jugendjahre  abgelost  hat.  Ja,  Siegmund 
Freud,  hier  spricht  er  als  der  Denker;  aus  dem  naturforschen- 
den  Arzte  hat  er  sich  zwanghaft,  unlustig,  fast  mit  Widerwillen 
dazu  entwickelt.  Daher  er  als  Schrifts teller  des  Denkens  die 
Schmucklosigkeit  selbst  ist  —  und  ein  Meister.  Denn  die 
Wortkargheit,  die  ihn  uberall  dazu  treibt,  Satz  fiir  Satz  mit 
Bedeutung  vollzupressen,  einen  auf  den  anderen  zu  mauern, 
die  herrliche  Dichte  und  Folgerichtigkeit  seiner  Theorie  aus 
ihnen  erstehen  zu  lassen  wie  einen  Quaderbau  aus  gewichtigen 
St  einen;  das  hat  heute  nicht  seiriesgleichen.  Die  Wahrheit  ist 
das  Kennzeichen  ihrer  selbst  und  des  Falschen,  pragt  Spinoza 
seinen  Grundbeitrag  zum  Problem  der  Evidenz.  Noch  nie,  so 
lange  die  Menschheit  iiber  sich  nachdenkt,  hat  eine  wissen- 
schaf tliche  Lehre  das  Innere  des  Menschen  so  in  sich  zusam- 
menhangend  ausgedeutet  wie  die  Freudsche,  im  Menschen 
gleichsam  einen  organisierten  Raum  aufhellend.  Tief  ins  Irra- 
tionale  hinein  macht  sie  die  Gesetze  von  Ursache  und-Folge 
geltend,  benennt  eine  begrenzte  Anzahl  von  Prinzipien,  eines 
aiis  dem  anderen  durch  Beobachtung  entwickelt,  und'  dies 
nicht  etwa  in*  kontemplativer  Schau,  sondern  am  lebendigen 
Objekt  festgestellt,  am  realen  Menschen,  der  durch  diese  Er- 
kenntnisse  verandert  ward,  erleichtert,  geheilt.  Der  Leser 
dieser  Studien,  Bemerkungen  und  Aufsatze  muB  den  Eindruck 
haben,  daB  diese  Naturerforschung  der  menschlichen  Seele, 
diese  dynamische  Kraft,  mit  der  Schicht  fur  Schicht  ihres 
Aufbaues  abgetastet  wird,  nicht  einen  erdachten  Menschen 
betrifft,  sondern  den  wirklichen(  den  von  heute  und  immer. 
Und  wenn  gar  dieser  Denker  den  Widerstand  der  Welt  gegen 

99 


seine  Lehre  als  zum  System  dieser  Triebe  gehorig  aufdeckt, 
gilt  der  Satz  des  Spinoza  wiederum,  nur  einmal  umgekehrt: 
das  Falsche  bestatigt  die  Wahrheit  und  seine  eigne  Irrigkeit. 
So  mogen  sich  also  die  Geisteswissenschaftler  von  1931  an- 
gegrault  von  diesen  apollinischen  Berichten  iiber  die  Urgrunde 
des  Dionysischen  abwenden;  es  ist  zu  lange  her,  daB  sie  die 
Grtinde  ihrer  Meinungen  erlebten.  Dieser  Band  Theoretische 
Schriften  aber  heiBt  nur  darum  nicht  philosophische,  weil  der 
Mann  dieses  Wort  nicht  liebt,  der  heute  vor  drei  Kontinenten 
die  Herme  des  europaischen  Denkens  darstellt.  Mit  75  Jah- 
ren  noch  herrlich  umkampft,  darf  er  die  GewiBheit  hegen,  daB 
die  Leistung  seines  Lebens  die  Grundlagen  unsrer  Welt  mit 
einer  gesiinderen  Kanalisation  versehen  werden,  einer  ada- 
quateren  Erkenntnis  der  Menschennatur,  dank  jener  Reini- 
gung  der  Leidenschaften,  die  das  befreiende  Wort  der  Analyse 
neben  das  gestaltende  der  Dichtung  reiht. 


Cyiliker?  von  Peter  Panter 


A  uf  meinem  Nachttisch  haben  viele  Biicher  gelegen,  in  denen 
^"^  waren  Schilderungen  von  Zeitungsredaktionen  zu  finden. 
Da  ging  es  hoch  her.  Dideldumdei,  bin  nicht  dabei,  aber  dies 
ware  zu  sagen: 

Die  geschilderten  zigarettenrauchenden  und  schnapstrin- 
kenden  Redakteure  sind  gar  groBe  Cyniker,  Sie  scheinen 
ihren  Berui  nicht  ernst  zu  nehmen,  Sie  hauen  ihren  Umbruch 
hin;  sie  streichen  und  sie  schmierent  und  was  sie  zu  vermelden 
haben,  ist  ihnen,  wie  unser  Feldwebel  zu  sagen  pflegte,  reiB- 
pipeneengal. 

Ja,  sollen  denn  Redakteure  eine  Zeitung  wie  einen  Gottes- 
dienst  celebrieren?  Sind  wir  nicht,  wenn  wir  klug  sind,  im  Be- 
ruf  allesamt  Cyniker?  Kann  man  einen  Alltagsberuf,  der  in 
den  meisten  Fallen  keine  Berufung  ist,  anders  ausiiben  als;  aus 
dem  Handgelenk,  mit  der  Zigarette  im  Mundwinkel,  routiniert, 
halb  gleichgiiltig.,  halb  interessiert . . .  ist  das  nicht  iiber  all  so? 
Es  ist  iiberall  so. 

Wie  wird  denn  operiert?  Wie  wird  denn  eingekauft?  Wie 
werden  denn  Fahrplane  tfemacht?  Feierlich?  Nur  Dumm- 
kopfe  sind  im  Beruf  feierlich.  Wer  auch  nur  ein  wenig  Ver- 
stand  hat,  weiB(  daB  die  Welt  nicht  von  Heiligen  bevolkert  ist, 
und  daB,  wie  Ludwig  Marcuse  in  seiner  Heine-Biographie  so 
gut  sagt,  nur  Heilige  oder  pekuniar  unabhangige  Menschen 
ganz  kompromiBios  leben  konnen.  Wodurch  es  sich  denn 
vielleicht  erklart,  dafl  sich  mancher  wohlhabende  Literat  als 
Heiliger  -aufspielt 

DaB  Redakteure  Cyniker  sind,  unterscheidet  sie  nicht  von 
andern  Leuten.  Ach,  wenn  sie  nur  Cyniker  waren  ...!  Im 
Grunde  zeigt  diese  Kritik,  daB  der  Kritiker  die  Zeitung 
iiberschatzt:  er  sieht  in  ihr  die  vom  Himmel  geflatterte  Bot- 
schaft,  die  ihm  Befehl  und  Gesetz  ist  —  und  nun  ist  er  ent- 
tauscht.  Wie !  Die  himmlischen - Heerscharen  glauben  nicht 
ganz  und  gar  an  das,  was  sie  durch  die  Posaune  blasen?  Diese 
Cyniker! 

100 


Ganz  abgesehen  davon,  daB  <ier  cynische  Journalist  immer 
noch  angenehmer  ist  als  der  feierliche  Zeitungsfachmann,  der 
sich  fur  das  Zentrum  der  Welt  halt,  scheint  mir  einc  solche 
Kritik  nicht  etwa  unerlaubt  —  Berufsreligionen  habe  ich  nie 
mitgemacht.   Abcr  schief  ist  sic,  diese  Kritik. 

Was  ist  denn  der  Rcdakteur?  Ein  Angestellter,  Traurig 
genug,  daB  crs  immer  nur  zu  fiihlen  bekommt,  es  aber  nicht 
recht  wahr  haben  will.  Wer  macht  die  Zeitung?  Der  Herr 
Cyniker?    Ach,  du  lieber  Gott.    Er  macht  nur  den  Umbruch. 

Die  Zeitung  wird  vom  Verleger  gemacht.  Den  solite  man  kri- 
tisieren  —  nicht  durchaus  und  durchum  mit  Betonklotzern  bewer- 
fen,  aber  einmal  schildern,  wie  er  ist.  In  seiner  ewig  schielenden 
Angst,  die  er  fur  Witterung  halt;  in  seiner  BeeinfluBbarkeit; 
in  der  Verflechtung  seiner  geschaftlichen  Interessen  mit  denen 
andrer  Leute  . . .  ich  hore  immer:  Korruption.  In  Deutschland 
wird  nicht  bestochen.  In  Deutschland  wird  beeinfluBt.  Und 
was  in  der  Zeitung  steht,  ist  nicht  halb  so  wichtig  wie  das, 
was  nicht  drin  stent. 

DaB  aber  die  Abfassung  der  Nachrichten  tiber  Feuers- 
bninste  und  Erdbeben  von  fettigen  Witzen  begleitet  wird, 
ist  noch  lange  nicht  das  schlimmste  an  der  Zeitung.  Diese 
Redaktionsschilderungen  sind  so  alt  wie  die  Zolaschen  Ro- 
mane;  wir  kennen  das.  Ich  vermisse  etwas  andres,  Namlich 
ein  Postulate 

Die  Zeitung  solite  geistigen  Leuten  gehoren,  die  sich  ge- 
schaftliche  Mitarbeiter  halten.  Das  Umgekehrte  diirfte  nicht 
ganz  das  richtige  sein. 


Jobfl  Maynard  vbn  Bernhard  Citron 

W/cgen  seines  Kampfes  gegen  den  Versailler  Vertrag  ist 
W  John  Maynard  Keynes,  der  englische  Linksliberale  und 
Finanztheoretiker,  ein  beliebtes  Aushangeschild  fur  den  deut- 
schen  Nationalismus  geworden.  Ihm  selbst  ist  das  Problem 
des  Goldstandards  gewifi  wichtiger  als  die  deutsche  Kriegs- 
schuldenfrage.  Uber .  beide  Themen  sprach  Keynes  kiirzlich 
im  hamburger  Oberseeklub  vor  einem  Parkett  von  Politikern, 
Diplomaten  und  Wirtschaftsfuhrern.  Doktor  Carl  Melchior, 
der  die  Versammlung  leitete,  erklarte  nach  der  Rede  des  eng- 
lischen  Gastes,  daB  er  von  dessen  Goldtheorie  nicht  iiberzeugt 
worden  sei  und  ihm  eine  Stellungnahme  zum  Reparationsproblem 
x\s  deutschem  Delegierten  nicht  gestattet  ist.  Was  Keynes 
von  den  Kriegsschulden  gesagt  hat,  paBt  alierdings  nicht  ganz 
jn  das  Klischee,  das  man  sich  seit  dreizehn  Jahren  von  dem 
\Tprkampfer  der .  Kriegsschuldenstreichung  in  Deutschland 
macht,  Wphl  kann  der  fqlgende  Satz  John  Maynards  in  alien 
dftiitschen  Rlattem  tfedruckt  werden: 

Kein  vcrantwortlicher  Mensch  iu  England  wunscht  heute  die 
Fortsetzung  der  Reparations-  und  Kriegsschuldenzahlungen  in  lrgend 
einer  Gestalt  oder  Form.  Mein  Land  — r  alle  Parteien  und  alle  Inter- 
essengruppen  eing^schlossen —  tfitt  tineingeschrankt  fttr  yollige  Auf- 
hebung  eim 

101 


Aber  dies  ist  nur  cine  grtindsatzliche  Haltung,  der  ganz 
andre  praktische  Schltisse  folgen: 

1st  es  besser,  die  ganze  Angelegenheit  (Reparationsschulden) 
ohne  weitere  Abmachung  zu  widerrufen  oder  durch  Obereinkunft  zu 
einer  Regelung  zu  kommen,  selbst  auf  Kosten  eines  bescbeidenen 
Kricgsschuldenrcstes?  In  mancber  Stimmung  ist  man  sehr  der  ersten 
Alternative  zugeneigt.  Wenn.ich  Deutscber  ware,  so  wiirde  ich  wohl 
recht  haufig  der  ersten  Stimmung  sein,  Es  mag  aber  nichts  desto 
weniger  sein,  daB  diese  Stimmung  eher  der  Schwache  als  der  Kraft 
entspringt,  und  dafi  es  doch  der  Weg  ruhiger  Klugheit  ist,  eine  frei- 
willige  Regelung  zu  sichern. 

Als  Keynes  diese  Satze  sprach,  hatte  Briining  bereits  die 
auslandischen  Machte  von  dem  deutschen  Verlangen  nach  vor- 
behaltloser  Kriegsschulden-Streichung  und  der  Ablehnung  je- 
der  KompromiBformel  in  Kenntnis  gesetzt.  Die  Cffentlichkeit 
erhielt  die  Nachricht  erst  spater,  sonst  hatte  der  hofliche  Herr 
Keynes  gewifl  nicht  der  Reichsregierung  Schwache  vorge- 
worfen,  die  einer  Augenblicksstimmung  entspringend  den 
i.Weg  ruhiger  Klugheit"  verlassen  hat,  Drei  Losungen  der  Re- 
parationsfrage  erblickt  Keynes;  1.  den  Versuch,  ein  endgiil- 
tiges  Abkommen  zu  erzwingen  und  dabei  das  Scheitern  der 
Lausanner  Konlerenz  zu  riskieren,  (So  handelt  die  Reichs- 
regierung.) 2.  Aufschub  der  Endregelung  um  zwei  oder  drei 
Jahre,  wahrend  in  der  Zwischenzeit  ein  Moratorium  erlassen 
wird.  (Dies  ist  der  Standpunkt  Frankreichs,)  3.  Kurze  Ver- 
tagung,  bis  sich  die  Lage  etwas  geklart  hat,  das  soil  Ende  die- 
ses Jahres  sein.  (Diesen  Vorschlag  befiirwortet  Keynes,  wah- 
rend er  die  beiden  andern  ablehnt.) 

Keynes  Anschauung  laBt  sich  ganz  einlach  analysieren:  die 
piotzliche  ZerreiBung  der  Vertrage  konnte  im  gegenwartigen 
Augenblick  fiir  Deutschland,  dessen  private  Schulden  viei 
driickender  als  die  politischen  sind,  die  bosesten  Folgen  haben. 
Die  Verzogerung  der  Reparationskonferenz  um  einige  Jahre 
wiirde  die  deutsche  Wirtschaft  standig  unter  dem  Druck  vollig 
uniibersehbarer  Zahlungsverpflichtungen  halten.  Auch  konnte 
sich  Deutschland  im  Jahre  1934  oder  1935  grade  am  Anfang 
einer  Konjunktur  oder  auch  nur  in  einer  Scheinbliite  befinden, 
die  dann  ein  falsches  Biid  von  der  Leistungsfahigkeit  des 
Reiches  geben  wiirde.  Warum  ist  aber  Keynes  fiir  Vertagung 
bis  zum  Dezember?  Er  beteuert,  daB  er  von  der  sogenannten 
deutschen  Erfuliungspolitik  keine  hohe  Meinung  gehabt  habe, 
aber: 

Da  diese  Politik  so  viele  Jahre  hindurch  und  so  bestandig  ver- 
folgt  worden  ist,  wiirde  es  da  nicht  bedauerlich  sein,  die  Fruchte 
jetzt,  wo  sie  zu  reifen  beginnen,  nicht  zu  ernten,  jetzt,  wo  Deutsch- 
lands  Ausdauer  und  Beharrlichkeit  es  vielleicht  in  die  Lage  bringen, 
den  Lohn  eines  Abkommens  zu  ernten,  dessen  Bedingungen  noch  vor 
einem   Jahre  mit   enthusiastischem   Triumph   begriifit   worden  .waren? 

Aus  dieser  Meinung  eines  vorurteilslosen  Deutschenfreun- 
des  geht  hervor,  daB  der  Reichskanzler  seine  diplomatischen 
Fahigkeiten  so  stark  in  der  innern  Politik  einsetzen  muB,  daB 
sie  in  der  Behandlung  des  Ausiandes  zuweilen  versagen. 

In  vielen  Punkten  miBversteht  John  Maynard  Keynes  die 
deutsche  Politik  vollstandig.     So  ist  er  der  Meinung,  daB  die 

102 


Deflationspolitik,  die  in  Deutschland  teils  zwangslaufig  teils 
absichtsvoll  getrieben  wordcn  ist,  nur  eine  notwendige  ^De- 
monstration" gewesen  sei.  Diese  Unterstellung  ist  abwegig. 
Die  Schrecken  der  Inflation  von  1923  sind  unvergessen.  Bis 
vor  einem  Jahre  hatte  kein  deutscher  Staatsmann  mit  dcm 
Gedanken  einer  Inflation  spielen  diirfen.  Auch  beute  noch 
stehen  den  Wiinschen  verschuldeter  Wirtschaftskreise  die 
Interessen  weiter  Sparerschichten  gegeniiber,  auf  die  jede  Re- 
gierung  Rucksicht  nehmen  muB.  Aber  Keynes  kann  sich  nun 
einmat  den  deutschen  Standpunkt  nur  vorsteilen  als  eine  De- 
monstration vor  dem  Auslande,  denn  die  von  ihm  verfochtene 
Abkehr  vom  Goldstandard  soil  ja  den  Volkern  Erlosung  von 
goldenen  Fesseln  bringen.  Seit  Jahren  bekampft  der  be- 
rtihmte  „fellow  of  king's  college**  in  Cambridge  die  Vormacht 
des  Goldes.  Kurz  nach  Beendigung  der  deutschen  Inflation, 
als  auch  England  sich  anschickte,  zum  •  Goldstandard  zurtick- 
zukehren,  begann  Keynes  seinen  Feldzug.  Man  begriff  seine 
Theorie  um  so  weniger,  als  zu  jener  Zeit  auch  unter  der  Herr- 
schaft  des  Goldes  keine  typischen  Deflationserscheinungen 
sichtbar  wurden.  An  Stelle  der  Noten-  war  die  Kreditinflation 
getreten.  Im  HerbsV  1930  veroffentlichte  Keynes  sein  funda- 
men tales  Werk  f)A  treatise  on  money",  das  soeben  in  ^einer 
ausgezeichneten  Obersetzung  .unter  dem  Titel  f)Vont  Gelde" 
bei  Duncker  &  Humblott  Miinchen,  erschienen  ist.  1930 
horchte  die  Welt  schon  auf,  die  Leiden  der  Depression  wurden 
von  Tag  zu  Tag  grofier,  und  die  Sirenengesange  der  Gold- 
losigkeit  fanden  willig  Gehor.  Im  vierten  Buche  dieses  Wer- 
kes  werden  die  Wege  gezeigt,  auf  denen  die  Diskrepanz  zwi- 
schen  Auslandsbilanz  und  Auslandsanleihen  beseitigt  wird. 
Unter  der  Zuchtrute  des  Goldstandards  wird  das  gelbe  Metall 
ausgefiihrt,  wahrend  gleichzeitig  im  Lande  eine  Erhohung  der 
Zinssatze  und  damit  Sinken  der  Preise  und  Verkleinerung  der 
Anlagen  eintritt.  Ohne  Goldstandard  wirkt  sich  der  gleiche 
Vorgang  in  einem  Absinken  des  intervalutarischen  Kurses  aus. 
Dadurch  wird  dann  die  Kauftatigkeit  nicht  gelahmt  sondern 
im  Gegenteil  angeregt.  Man  konnte  also  sagen,  daB  sich  im 
ersten  Falle  die  Dynamik  des  Goldes,  im  zweiten  die  Dynamik 
des  Preisniveaus  bewahrt  hat.  Auf  die  Hochhaltung  der 
Preise  und  auf  die  Anregung  der  Invcstitionen  kommt  es 
Keynes  an;  denn  er  ist  auch  Hauptvertreter  der  „Verschwen- 
dungstheorie".  Die  Quintessenz  seiner  wissenschaftlichen  Be- 
griindung  iiber  Spar  en  und  Investieren  dtirfte  der  Satz  sein: 

Kurz,  die  Vermehrung  oder  Verminderung  des  Kapitals  hangt 
von  der  Hohe  der  Investitionen  und  nicht  von  der  Hohe  der  Er- 
sparnis  ab. 

Man  sieht,  dafi  die  wahrungspolitischen  und  nationalokono- 
mischen   Grundsatze   hier   deutliche   Beriihrungspunkte   haben. 

In  dem  Vorwort  zur  deutschen  Ausgabe  darf  Keynes  den 
Triumph  feiern,  daB  England  und  mit  ihm  eine  groBe  Reihe 
andrer  Staaten  die  Abkehr  vom  Goldstandard  vollzogen  haben. 
Er  betrachtet  die  Aufgabe  des  Goldes  als  Zeichen  der  Starke. 
London  wird  wieder  Kapitalzentrum,  wenngleich  vorerst  nur 
eines  Teiles  der  Welt,  werden: 

103 


Es  erscheint  mir  jetzt  als  cine  Moglichkeit  der  nahen  Zukunft, 
dafl  die  Lander  der  Welt  in  zwei  Gruppen  zerf alien  werden:  die  einen 
werden  fur  eine  Zeitlang  weiter  an  der  starren  Goldwahrung  festhal- 
ten,  wahrend  die  andern  auf  irgend  eine  Form  der  Preisstabilitat  ab- 
zielen  werden,  unter  Wahrung  einer  bestimmten,  wenn  auch  unstarren 
Relation  zum  Golde. 

In  seinem  hamburger  Vortrag  bezeichnete  er  die  Lander, 
die  Grofibritannien  noch  folgen  werden,  namlich  Deutschland, 
Siidafrika,  die  zentraleuropaischen  Lander  und  Holland.  Bis- 
her  schied  sich  die  Welt  in  zwei  Gruppen,  die  Glaubigerlander, 
die  das  Gold  anziehen,  und  goldlose  Schuldnerstaaten,  die  un- 
ter dem  Deflatiqnsdruck  leiden  miissen: 

Die  Abkehr  der  zweiten  Gruppe  vom  Gold  bedeutet  den  Anfang 
eines  Prozesses  in  Richtung  auf  Wiederherstellung  des  wirtschaftlichen 
Gleichgewichts. 

Weiter  meint  er,  werde  der  Augenblick  kommen,  da  die 
laufende  Freisetzung  des  Goldes  in  Siidafrika  und  Indien  den 
Aktivsaldo  der  Goldlander  iibertreffen  werde.  1st  dies  nicht 
ein  circulus  vitiosus?  Dann  wird  vermutlich  das  Britische  Im- 
perium,  das  nun  plotzlich  vom  goldarmsten  zum  goldreichsten 
Wirtschaftsgebiet  geworden  ist,  den  Goldstandard  wiederauf- 
richten,  Eine  Machteverschiebung  wiirde  eintreten,  aber 
keine  wirkliche  Trennung  der  Welt  vom  Golde.  Immer  deut- 
licher  fiihlt  man,  dafi  auch  dieser  fanatische  Bekampfer  des 
Goldes  schlieBIich  keinen  andern  Weg  aus  dem  Dilemma  weiB, 
als  das  Gold  der  andern  selbst  an  sich  zu  ziehen.  Er  schlagt 
— *  wieder  im  Vorwort  des  Buches  —  eine  neue  international 
Wahrung  vor,  deren  Kern  „ein  Warenbiindel  ist,  das  aus  den 
wichtigsten,  fur  die  Mitglieder  der  neuen  Wahrungsunion 
hauptsachlich  in  Betracht  kommenden  Welthandelsgutern  be- 
stehen  wiirde".  Aber  nach  auBen  soil  auch  diese  Wahrungs- 
union  am  Goldstandard  fe_sthalten,  mit  dem  alleinigen  Unter- 
schied,  daB  Goldeinfuhr-  und  Goldausfuhrpunkte  weiter  ausein- 
ander  gelegt  werden  miifiten.  Warum  dies  eine  revolutionise 
Tat  sein  soil,  begreift  kein  niichtern  denkender  Mensch. 
Warum  —  wie  Keynes  in  Hamburg  pathetisch  ausrief  —  die 
Abkehr  Englands  vom  Goldstandard  ein  Segen  fur  die  ganze 
Welt  bedeutet,  diirfte  erst  recht  unverstandlich  sein.  In  Grofi- 
britannien sind  die  Nominalpreise  bei  verschlechterter  Wah- 
rung stabil  geblieben,  folglich  hat  dort  die  Abkehr  vom  Gold- 
standard  einen  tatsachlichen  Preisverfall  gebracht.  Wenn  Eng- 
land glaubt,  bei  seinem  Export  zusetzen  zu  konnen,  so  ist  dies 
seine  Sache,  obwohl  dieses  Vaiutadumping  Errichtung  von 
Zollschranken  und  Einfuhrkontingente  in  andern  Landern  zur 
Folge  hat.  Aber  Deutschland  kann  sich  weder  Verschleude- 
rung  seiner  War  en  nach  englischem  Vorbild  noch  die  Herauf- 
setzung  der  Nominalpreise  nach  altem  jnflatipnsmuster  leisten. . 
Unsre  V  olkswirtschaf t  vertragt  keine  weitern  Erschutterungen, 
sie  kann  nicht  heute  dieseri,  morgeii  jenen  neuen  Halt  fihden. 
Warum  soil  experimentiert  und  eine  rieue  Wahrung  gesucht 
werden,  die  in  eineni  bestimmten  Verhaltriis  zutri  Golde  stent, 
wenn  der  Goldstandard  schlieBIich  dddk  die  f  es  teste  Stutze 
isl,  an  der  wir  uns-  aufrichteh  kftrineri i  und  die  England  nuf  so- 
lange  verschmaht,  als  sie   ihm  nicht  erreichbar  scheint. 

104 


Der  Ktimnierer  von  Erich  Kistner 


F^er  Kiimmerer  ist  zwar  ein  Mann, 

■^  doch  seine  Mannlichkeit  halt  sich  in  Grenzen. 

Er   nimmt  sich   zwar  der   Frauen   an, 

doch   andre   Manner  ziehn   die   Konsequenzen, 

Der  Kiimmerer  ist  ein  Subjekt, 

das  Frauen,  wenn  es  sein  muB,  zwar  bedichtet, 

hingegen  auf  den  Endeffekt 

von   vornherein   und    iiberhaupt  verzichtet. 

Er  dient   den  Frauen  ohne  Lohn. 

Er  liebt  die  Frau  en  gros,  er  liebt  summarised 

Er  liebt  die  Liebe  mehr  als  die  Person. 

Er  liebt,  mit  einem  Worte,  vegetarischl 

Er  wiehert  nicht.     Er  wird  nicht  wild. 
Er  hilft  beim  Einkauf,  denn  er  ist  ein  Kenner. 
Sein  Blick  macht  aus  der  Frau  ein  Bild. 
Die  andren  Blicke  werfen  andre  Manner, 

Wenn   eine  Dame   Angst   vor   Dieben  hat 
und  wenn  ihr  Mann  Hals  uber  Kopf  verreiste, 
bezieht  er  dessen  Lagerstatt. 
Er  spielt  den  Hausherrn,     Aber  nur  im  Geiste. 

Er  stellvertritt  die  Brautigams. 
Er  ist   der  Double  fur  die  Kleinigkeiten. 
Und  zu  Beginn  des  Hauptprogramms 
wird  er  gebeten,  eiligst  zu  entschreiten. 

Die  Kiimmerer  sind  nicht  ganz  neu. 

Auch  von  von  Goethe  wird  uns  das  bekraftigt. 

Sein   Clarchen  war    dem   Egmont  treu, 

Doch  der  war  meistmit  Heldentum  beschaftigt. 

So  kam  Herr  Brackenburg  ins  Haus, 
vertrieb  die  Zeit  und  half  beim  Waschelegen, 
Am  Abend  warf  sie  ihn  hinaus. 
Wer  Goethes  Werke  kennt,  der  weiB,  weswegen. 

Auch  mit  dem  Werther  war  das  so. 
Sie  alle  kennen  ihn  durch  seine  Leiden. 
Er  war  ein  Kiimmrer  comme  il  faut 
und  half  der  Lotte,  Stullen  schneiden. 

Die  Kiimmerer   sind  sehr  begehrt, 

weil   sie  bescheiden  sind  und  nichts  begehren, 

Sie  wollen  keinen  Gegenwert. 

Sie  wollen  nichts  als  da  sein  und  verehren, 

Sie  heben  Euch  auf  einen  Sockel, 

Der  Euch  zum  Denkmal  macht  und  formlich  weiht. 

Dann  blicken  sie  durch  ihr  Monokel 

und  wundern  sich,  daB  Ihr  unnahbar  seid, 

Dann  knien  sie  hin  und  beten  an. 
Ihr  gahnt  und  haltet  Euch  mit  Miihe  munter, 
Zum  Gliick  kommt  dann  und  wann  ein  Mann 
und  holt  Euch  von  dem  Sockel  runterl 

105 


Bemerkungen 

Warum  gerade  Breslau? 

VV7 ir  haben  f  iinf  Kunstakade- 
*^  mien  in  Preufien.  Drei  sol- 
len  jetzt  stillgelegt  werden:  Kas- 
sel,  Konigsberg,  Breslau.  Es  blei- 
ben  dann  Berlin  und  Diisseldorf. 
Durch  die  SchlieBung  Breslaus 
wiirden  etwa  160  000  Mark  er- " 
spart  werden,  Lohnt  es  wegen 
dieser  Summe  ausgerechnet  die 
lebendigste  unsrer  Akademien 
zu  schlieBen,  ausgerechnet  j  ene, 
an  der  unter  Oskar  Moll  Johan- 
nes Molzahn,  Georg  Muche,  Os- 
kar Schlemmer  auf  einer  sehr  ge- 
sunden  Basis  gemeinsam  wirken? 
Ob  es  nicht  Mittel  und  Wege 
gibt,  160  000  Mark  im  Etat  der 
preuftischen  Akademien  einzu- 
sparen,  ohne  die  in  Breslau  be- 
gonnene  Arbeit  abzubrechen? 
Ganz  bestimmt  gibt  es  "solche 
Moglichkeiten;  die  Situation 
konnte  sogar  im  Sinne  einer  In- 
tensivierung  der  Leistung  aus- 
genutzt      werden.  Hindernisse 

machen  nur  die  heiligen  Gren- 
zen  der  Ressorts.  Fur  die  bres- 
lauer  Kunsischulen  (aufier  der 
Akademie,  Kunstgewerbeschule 
und  Baugewerksschule)  sind  zu- 
standig:  das  Kultusministerium, 
das  Handelsministerium  und  die 
Stadt,  Bleibt  jedes  Ressort  in 
seinen  vier  Pfahlen,  so  wird  der 
SchlieBung  der  Akademie  in  ab- 
sehbarer  Zeit  auch  das  Ende  der 
andern  Schulen  folgen.  Einigen 
sich  die  Ressorts  auf  eine  syste- 
matische  Zusammenarbeit,  so 
konnen  die  160  000  Mark  gespart 
und  die  Leistungen  zugleich  ver- 
bessert     werden.      Solche     Plane 


hat  schon  Polzig  verfolgt,  als  er 
Direktor  in  Breslau  war,  und 
jetzt  hat  Rading  detaillierte  Pro- 
gramme eines  Schulaufbaues  vor- 
gelegt,  der  die  gewunschten  Er- 
sparnisse  bringen   wiirde. 

Es  gibt  aber  auch  noch  einen 
andern  Weg.  Berlin  (Akademie 
und  Staatliche  Kunstschule  zu- 
sammen)  hat  etwa  achtzig  Lehr- 
krafte.  Breslau  und  Konigsberg 
zusammen  haben  etwa  dreiftig. 
Ware  es  unmoglich,  durch  Ver- 
zicht  auf  einige  Klassen  in  Ber- 
lin und  Diisseldorf  die  ganzliche 
SchlieBung  der  beiden  Akademien 
im  Osten  zu  vermeiden?  Berlin 
und  Diisseldorf  konnen  zur  Not 
am  ehesten  auch  ohne  Akademie 
existieren,  sehr  viel  eher  jeden- 
falls  als  Breslau  und  Konigsberg, 
fur  die  die  Existenz  der  Akade- 
mie eine  absolute  Voraussetzung 
des  ktinstlerischen  Lebens  ist. 
Am  Rhein  sind  viele  leistungs- 
fahige  Schulen  nahe  beieinander, 
von  Berlin  gar  nicht  zu  reden. 
Aber  im  Osten  sieht  es  anders 
aus,  t,Nimmt  man  uns  die  Aka- 
demie", schrieb  mir  aus  Konigs- 
berg eine  Kunstlerin,  „dann 
sollte  man  uns  lieber  gleich  in 
den  Sarg  legen."  Wir  wollenuns 
in  bessern  Zeiten  iiber  die  Funk- 
tion  der  Akademien  kritisch  un- 
terhalten.  In  diesem  Moment 
miissen  wir  uns  gegen  ihre 
SchlieBung  wenden,  besonders 
gegen  die  SchlieBung  beider  Aka- 
demien im  Osten  —  und  ganz 
besonders  gegen  die  SchlieBung 
der  zukunftsvollsten:  der  bres- 
lauer.  Adolf  Behne 


II.  Jahrgang 


106 


DIE  ENTE 


Die  linksgerlchtete  satirise  he  Wochenschrlft  gegen 
Kulturreaktlon,  SpleBertum  und  Presse.  Aus  dem 
Inhalt  der  2.  Nummer:  Alfred  Braun-hemd  /  Grau- 
slger  Selbstmord  Im  Ullstelnhaus  /  Dr.  Goebbels 
und   seln  Wolf    /    Hlnter  den   RedaktionstOren. 


10  Pfennig 


Bel  alien  Zeitungshandlern.  Probenummern  gratis 
vom  Verlag  der  ENTE,  Berlin  W  SO,  Haberlandstr.7. 


Strafvollzug 

ps  gibt  auch  weiBe  Raben.  Der 
"  Strafanstaltsdirektor  Fritz 

Kleist  in  Celle  ist  einer. 

Man  lese  seine  ,tJugend  binter 
Gittern" ;  man  bewundere  den 
Mut  dieses  Mannes,  der  zu  sagen 
wagt,  daB  das  Elend  der  obdach- 
losen  Jugend  Deutschlands  genau 
so  groB  wie  das  der  russischen 
ist  —  und  man  spende,  wenn 
man  kann  und  wo  man  kannf  an 
die  Stadtische  Sparkasse  Celle 
auf  das  Konto  A,  2362  fur  die 
Strafanstalt  Celle. 

Hier  ist  die  Garantie  gegeben, 
daB  das  Geld  verniinftig  ver- 
wandt  wird. 

Ignaz  Wrobel 

Viel  zu  viel  und  viel  zu  wenig 
Larm 

LJat  sie  wirklich  niemand  be- 
*  *■  scbrieben,  die  Situation  der 
Schweiz  wahrend  des  Weltkrie- 
ges?  „Dieses  Grausen,  dieses 
Herzklopfen  auf  der  einen  Seite 
—  und  die  strenge  Abgesperrt- 
heit  auf  der  andern . . ."  Viel- 
leicht  gibt  es  daruber  doch  ein 
Bucb,  vielleicht  ein  schweizeri- 
sches?  Jedenfalls  ist  es  beute, 
dreizehn  Jahre  nach  Kriegsende, 
ahnlich  wie  im  Kriege:  kaum  hat 
man  die  letzte  deutscbe  Grenz- 
station  binter  sich,  fallt  erst  ein- 
mal  der  Druck,  der  im  Vaterland 
auf  jedem  von  uns  mehr  oder 
weniger  lastet,   herunter. 

Wenig  Englander  aber  baben 
ihr  country  verlassen.  Es  gilt 
allgemein  als  schieberhaft,  ins 
Ausland  zu  reisen,  und  man  bleibt 
besser  zu  Hause,    Auch  von  dem 


unendlichen  Deutschenzustrom  in 
die  Schweiz  ist  vorerst  wenig  zu 
merken.  Ein  paar  uberzeugte 
Luganesen  und  Asconauten,  die 
bereits  vor  fiinf,  sechs  Jahren  ihre 
Ruhe  haben  wollten  und  sich 
mehr  oder  weniger  bescheiden  im 
Tessin  angesiedelt  haben,  und  die 
paar  Trikotagenindustriellen  aus 
Stiddeutschland  oder  Chemnitz, 
die  ihre  jahrelangen  Geschafts- 
verbindungen  mit  der  Schweiz 
ausmitzten  und  sich  zumeist  um 
Luzern  herum  niedergelassen 
haben,  sie  alle  machen  noch  lange 
keine  deutsche  Invasion,  von  der 
bei  uns  gemunkelt  wird.  Eine 
deutsche  Invasion  besteht  hier 
vorerst  einmal  in  deutschen  Fil- 
men.  Von  Adalbert  uber  KrauB 
bis  Wallburg  ist  alles  da,  was  in 
Berlin  in  den  letzten  Wochen 
liber  die  Leinwand  gegangen  ist. 
Aber  neben  diesen  Hauptfilmen 
laufen  hier  immer  noch  eine 
Reihe  Beifilme,  und  da  gibt  es 
allerhand  zu  sehen,  was  bei  uns 
verboten  ist  oder  aus  irgend 
einem  Grunde  den  Weg  zu  uns 
nicht  findet.  Neben  wunderbaren, 
neuen  amerikanischen  Trickfil- 
men  zum  Beispiel  die  Fox- 
Wochenschau,  die  immer  ganz  be- 
sonders  klug  zusammengestellte 
Bilder  zeigt.  Erst  ein  paar  all- 
gemein interessierende  Aufnah- 
men:  Empfang  pariser  Kinder  im 
Elysee,  irgend  eine  technische 
Neuheit,  dann  GroBaufnahme  und 
in  verschiedenen  Phasen:  eine 
neue  und  von  zehntausend  Per- 
sonen  besuchte  Friedenskund- 
gebung  in  Paris.  Man  sieht  und 
hort        die       einzelnen       Redner 


Auch  wenn  Sie  es  leugnen 

glauben  Sie  doch  an  ein  ewiges  Leben!  Sie  wissen  aber  noch  nicht,  dafi 
es  auch  Leute  gtibt,  die  nicht  an  ein  ewiges  Weiterleben  ohne  den  irdischen 
Tierleib  mit  seinen  Gelahren  und  Qualen  glauben,  sondern  aus  eigener 
Erfahrung  davon  wis  sen!  Wie  konnten  Sie  nur  annehmen,  daB  die  ewige 
Weltregierung  Sie  zu  einer  Meinungsiibernahme  verpflichten  wtirde,  statt 
Sie  durch  Wissen  zu  iiberzeugen.  In  den  Biichern  von  B6  Yin  Ra,  die 
in  unserm  Verlag  erscheinen,  weist  Ihnen  ein  von  uns  erpriifter  Wissender 
den  Weg,  der  zu  absoluter  Gewifiheit  itthrt.  Hunderttausende  haben 
durch  B6  Yin  R&  bereits  gefunden,  was  sie  vorher  vergebens  tiberall  mit 
heiBem  Verlangen  suchten.  Bestellen  Sie  sich  kostenfrei  die  Broschiire 
„Weshalb  B6  Yin  Ra?"  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin!  Kober'sche 
VerJagsbuchhandhing  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 

107 


sprechen,  man  sieht  und  hort  die 
Friedenshegeisterten  applaudie- 
ren,  besonders  als  der  Trocadero- 
skandal  gegeiBelt  wird,  Endlich 
spricht  der  kriegsblinde  Abge- 
ordnete  Thel>ault,  Er  endet  seine 
ausdrucksvolle  und  eindrucks- 
volle  Rede:  f, Je  vous  dis  un  mot, 
un  simple  mot,  un  petit  mot,  un 
humble  mot , . .    Paix". 

Unmittelbar  auf  diese  Frie- 
denskundgebung  in  Paris  folgen, 
kommentarlos,  Bilder  vom  man- 
dschurischen  Kriegsschauplatz :  An- 
griffe  der  Japaner,  Manover  vor 
dem  Kaiser  von  Japan,  Trommel - 
feuer,  sterbende  Soldaten,  Rauch, 
Tankgeschwader,  Zerstorung  und 
Tod.  Und  dann,  nach  Friedens- 
versammlung  und  Trommelfeuer, 
erscheint  ER. 

Er(  Wilhelm  II.(  ehemaliger 
deutscher  Kaiser,  zur  Zeit  Hol- 
land,  Schlofi  Doom. 

„Dieser '  Film  ist  kein  politi- 
scher  Film,  er  verfolgt  keinerlei 
Tendenz",  sagt  die  geduldige 
Leinwand.  „Er  will  nur  das  Le- 
ben  des  Exkaisers  in  Doom  zei- 
gen.  Das  Publikum  ist  gebeten, 
sich  jeder  Demonstration  zu  ent- 
halten." 

Da  also  ist  er,  Eitel  und  selbst- 
bewuBt  wie  immer.  Vielleicht  hat 
er  Geld  gebraucht  und  deshalb 
dem  Drangen  der  Filmgesell- 
schaft  nachgegeben?  Aber  er  hat 
zur  Bedingung  gemacht,  daB  „er 
und  sein  Film"  niemals  in 
Deutschland  vorgefiihrt  wird. 

Vielleicht  kam  dieser  Wunsch 
aus  jenen  vernunftlosen  Bezirken, 
wo  nur  noch  dunkle  Ahnungen 
regieren  und  eine  solche  ihm 
sagte:  ich  konnte  die  restlichen 
Sympathien  mir  gewogener  Unter- 
tanen  ganz  verlieren,  sahen  sie 
mich   so   nah:   in   Kleidern   nackt, 

Mit  kleinen  Schritten  geht  er, 
mit       Ledergamaschen       bewehrt, 


durch  seine  n  herrlichen  Park, 
zum  Teich,  Dazu  erzahlt  uns  der 
Erklarer  des  Films  in  exaktem 
Franzosisch;  „Sie  sehen  hier  den 
ehemaligen  Kaiser,  wie  er  in 
strammer  Haltung  und  immer 
noch  von  seinem  Gottesgnaden- 
tum  iiberzeugt(  seiner  taglichen 
Beschaftigung  nachgeht.  Er  fiit- 
tert  die  Fische  und  Enten.  Kein 
andrer  als  er  darf  den  Tieren 
Futter    reichen."      Nur    er    allein 

—  welch  ein  Symbol! 

Dann  geht  es  weiter,  zum  Holz- 
platz.  „Er  wird  heute  nicht  wie 
sonst  Holzblocke  zersagen,  heute 
schichtet  er  nur  die  gestern  zer- 
sagten  Holzklotze  auf."  Und  dann 
nimmt  Majestat  mit  der  rechten 
Hand  Klotz  auf  Klotz  aus  einem 
bequem  in  Reichhohe  stehenden 
Karren  und  schmettert  sie  mit 
schonem  Schwung  in  irgend 
welche  Ferae.  „Sie  sehen  hier 
deutlich,  wie  der  linke  Arm  ver- 
kriippelt  zur  Seite  hangt",  sagt 
der  Erklarer, 

Genug  der  korperlichen  Arbeit. 
Vor  dem  SchloB  empfangt  S.M. 
nunmehr  eine  selig  lachelnde  De- 
putation, die  aussieht  wie  ein  Ge- 
sangverein  aus  Hinterpommern, 
Ist  es  wohl  auch.  Majestat  raucht 
eine  Zigarette,  „Starkern  Tabak- 
konsum  hat  ihm  der  Arzt  unter- 
sagt",  bemerkt  der  Erklarer. 
SchlieBlich  gesellt  sich  Frau  Her- 
mine  zu  dem  Gatten.  Freundlich 
schmeichelnd,  dick,  betulich,  Und 
ihre  zwei  nicht  grade  schonen 
Tochter  umhiipfen  Vaterchen 
„wie  seine  eignen  Kinder".  Im- 
merhin,   diese  drei   Damen  lacheln 

—  Vaterchen  dagegen,  unentwegt 
tierisch  ernst  aussehend,  steigt 
wurdevoll  ins  wartende  Auto  und 
entschwindet  griiBend  unsern 
Blicken. 

Strafe  muB  sein!  .  Wir  in 
Deutschland      diirfen     das     nicht 


a 

ANTOON  THIRY 

DAS  SCHONE  JAHR  DES  CAROLUS 

Roman  aus  a  em  Holl&ndischen.    Leinen  5,50  RM 

Dteser  Roman  des  Jugendfroundes  Felix  Tlmmermanns  glbt,  elnzigartig  In  Plastik 

und  Farbtgke.1t  der  Schilderung,  das  Bild   elner  kleinen   hollSndlschen   Stadt,  das 

'Schicksal  threr  Bewohner  und  ihres  stUrmischen  Helden. 

TRANSMAJRE    VERtAG   A.  -  G.,    BERLIN    W    10 

108 


MllllllflllllllflHIIIIIIIIillHIIIIIIIIIIil 


IltHIIIIIIIIIIIIIIIIIIilllfltllllillllllllllllllllillllil 


sehen.  Soviel  Larm  urn  cinen 
Eierkuchen,  sagt  der  Franzose  - . . 

Und  dann,  andern  Tags:  Ho- 
ward Hughes  Thrilling  . . .  ( multi 
million  dollars  film.  „HeH's  an- 
gels." „Engel  der  Holle!"  der 
gewaltigste,  packendste  und 
teuerste  Tonfilm  in  sechzehn  Ak- 
ten.  25  Millionen  Herstellungs- 
kosten.  50  Prozent  deutsch  und 
englisch  gesprochen.  Der  deutsche 
Heldenkampf  in  den  Liiften.  Ein 
Drama  zwischen  drei  Freunden, 
einem  Deutschen  und  zwei  Eng- 
landern.  In  Deutschland,  Frank- 
reich   und  Holland  verboten. 

Im  Kino  viele  junge  Leute,  we- 
nig  Frauen.  Die  Tonfilmappara- 
tur  spielt  vom  „kleinen  Garde- 
offizier"  iiber  den  Song  der  Drei- 
groschenoper  und  „der  kleinen 
Konditorei"  alle  Schlager,  die  un- 
ser  an  bettelnde  Hofsanger  und 
Harmonikaspieler  gewobntes  Ohr 
so  sehr  gut  kennt .  * . 

Der  Film,  von  dem  ich  nicht 
weifi,  in  welcher  Valuta  er 
25  Millionen  gekostet  hatt  ist  ein 
anscheinend  erst  spater  nach- 
synchronisierter,  stummer  Film, 
dessen  Handlung  teilweise  un- 
ertraglich  larmoyant  und  kindisch 
primitiv  konstruiert  ist.  Eine  eng- 
lische  Lady  von  einer  Haarfarbe, 
fur  die  man  das  Wort  himmel- 
blond  erfinden  miiflte,  umgirrt, 
umzirkt  eine  ganze  Kompagnie 
gutmtitiger  und  lusterner  engli- 
scher  Offiziere.  Die  Englander 
sind  alle  Engel,  die  Deutschen 
— (  die  Zeppelinbesatzung,  die 
Fliegeroffiziere  um  den  Flieger- 
konig  von  Richthofen  —  sind  lau- 
ter  Hunnen,     Diese  Hunnen  wer- 


den,  deutsch  sprechend,  von  eng- 
lischen  Schauspielern  gemimt, 
und  bis  auf  kleine  Anglizismen, 
nicht  einmal  schlecht  gemimt. 
Karikaturen  gewifi,  aber  abziig- 
lich  der  Karikatur  bleibt  ein 
Wahrheitsrest  zu  tragen  peinlich. 
Dieser  Film  kann  —  bei  Gott  — 
nicht  in  Deutschland  gezeigt  wer- 
den.  Der  Herr  Friedensfreund 
Howard  Hughes  waren  da  schein- 
bar  etwas  einseitig  friedens- 
freundlich. 

Was  kann  dieser  Film  niitzen? 
Er  appelliert  zwar  an  das  Frie- 
densbediirfnis  der  Massen,  aber 
er  zeigt  die  Ohnmacht  des  Ein- 
zelnen  der  Gesamtheit  gegen- 
iiber,  die  aus  falsch  verstandener 
Ideologic  lieber  stirbt,  lieber  sich 
verkriippeln  laBt,  als  den  Schimpf 
der  „Feigheit"  auf  sich  nimmt 
oder  dagegen  pro tes tier t,  sich 
freiwillig  totschlagen  zu  lassen. 

In  diesem  Film  werden  die 
groflartigsten  Fliegeraufnahmen 
gezeigt,  die  ich  je  gesehen  habe. 
„ Wings"  war  nicht s  dagegen.  Ein 
Zeppelin  stlirzt  brennend  zusam- 
men  wie  ein  Mecanokastenbau- 
werk,  Der  Unterschied  zwischen 
deutscher  und  britischer  Krieg- 
fiihrung  ist  eklatant:  die  Deut- 
schen, verbissen,  verknurrt,  ihrer 
Mission  bewufit,  kampfen  in  der 
Luft  und  auf  der  Erde  mit  To- 
desverachtung;  die  Englander, 
eigentlich  nur  der  Not  gehorchend, 
von  Mord  und  Tod  bald  angewi- 
dert,  bekommen  allmahlich  so 
etwas  wie  Sportbegeisterung  und 
freuen  sich  kindlich  tiber  jeden 
abgeschossenen  deutschen  Flie- 
ger.  Mitten  im  Maschinengewehr- 


der  neueste  sammelband  von  kurt 

TUCHOLSKY  •  PETER  PANTER  •  THEOBALD 
TIGER  •  IGNAZ  WROBEL  •  KASPAR  HAUSER 

Lerne  lachen  ohne  zu  weinen 


15.  TAUSEND  •  NEUE  VERBILLIGTE  PREISE 
KARTONIERT  4.80  :  LEINENBAND  6.50 

ROWOHLT   VERLAG   BERLIN  W  50 

109 


feuer  der  Flugstaffel  trciben  sic  Peinliche  Einladung 

allerhand    Allotria    miteinander,  rVese  Geschichtc  ist  LadyAstor, 

Das     schweizer    Publikum     sah  VJ  der    bekannten  konservativen 

diesem    grofiartig    photographier-  Abgeordneten  passiert. 
ten  Monumentalfilm  hochst  skep-  Ihre     Versammlungen      wurden 

tisch  zu.     Und  als  eins  der  aus-  auf   den  Werften  von  Southamp- 

erkorenen   Opfer    nach    dem    an-  ton     veranstaltet.     Nach     SchluB 

dern      als     abgeworfener    Ballast  solcher  Meetings  hatte  sie  die  Ge- 

durch    die    Falltiir    des   Zeppelin-  wohnheit,  sich  von  Matrosen  zur 

luftschiffes    ins  Bodenlose  versank,  Hausagitation  begleiten  zu  lassen. 

als     uns     Deutschen     ein     kalter  Eines  Tages  kommt  sie  mit  einem 

Schauer  denRiicken  herunterkroch,  strammen     Matrosen      zu      einer 

ob  solcher  scheufilich  realistischer  Hafenarbeiterwohnung   und  lautet 

englischer  Phantasie,    da    begann  an  der  Tiir. 

man  im  Publikum  mehr  oder  we-  (Jst     deine    Mutter     zuhause?" 

niger   laut  zu  lachen.  fragt     Lady     Astor     das     kleine 

Nein,    man    will    keine    Kriegs-  Madchen,  das  ihf  offnet. 
und    Friedensfilme    mehr.       Man  „Nein",    antwortet    die    KIeinet 

will    Ruhe    oder   —   neuen    Mord  itSje    jst    ausgegangen.     Aber    sie 

und    Totschlag.      Uberail    gibt   es  hat  hinterlassen,  daB  das  Zimmer 

viel  zu  viel,   viel  zu  wenig  Larm  bereit  steht.     Sie  mogen  sich  be- 

um   dies   Desastre.  dienen  und  beim  Fortgehen  einen 

Lisa    Matthias  Shilling  auf  den  Kamin  legen." 


Hlnweise  der  Redaktion 

Berlin 

Deutsche  Liga  fur  Menschenrechte.    Montag  Spicherns&le,  Spichernstr.  3.    20.00:  Welt- 
•  abrfistung  oder  Krieg,    Es  sprechen  Marcelle  Capy,  Siegfried  Kawerau,  Otto  Lehtnann- 

RuBbtildt,  Otto  Reinemann,  Toni  Sender  und  Superintendent  Ungnad. 
Akademische    Vereinigung   zum  Studium    sowjetrussischer    Pro bl erne.     Dienstag   20.15. 

MuBiker-Festsale,  Kaiser- Wilhelm-Str.  31 :  Die  Volksgesundheit  im  Ffinfjahresplan, 

Max  Hodann. 
Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten  und  Gesellschaft  fur  politische  Theorie.    Freitag  20.00. 
'   Cafe  Adleram  Donhoffplatz,  Koramandantenstr.  84:  Oeffentliche  Diskussion:  Trotzkis 

Kritik  am  deutschen  Kommunismus,  Dr.  Schwengler  von  der  Lin  ken  Opposition  der 

KPD  'Bolschewiki-Leninisten).     Vorsitz:  Kurt  Hiller. 
Deutsche  Psychoanalytische  Gesellschaft.  Freitag  20.00.  Breitkopf-Saal,  StegIitz«rStr.35 

Erhohung  und  Erniedrigung  der  Frau,  Karen  Homey. 
Internationale  Arbeiter-HUie.  Gruppe  Geistesarbeiter.  Montag(25.)  Palais  des  Z en t rums, 

Rosenthaler  Str.  36,  am  Hackeschen  Markt.   20.00:  Das  Programm  der  N.  S.  D.  A.  P. 

Referent:    Nettelbeck.     In  der  Diskussion:    Wieland  Herzfelde,   Franz  Leschnitzer, 

Peter  MaBlowski,  Resch. 
Galerie  Neumaun-Nierendorf,  Konigin-Augusta-Str.  22.    Ausstellung  Alfred  Dupre-Koln. 

iZflrich 

Weltbuhnenleser.  Montag  (25.)  23.30.  Roter  Saal  (von  Karl  dem  GroBen:  Marx  und 
Freud,  Fritz  Brupbacher. 

Bficher 

Andre  Gide:.  Oedipus.    Deutsche  Verla  gaanstalt,  Stuttgart. 

Rundfunk? 

Dienttay  Hamburg  11.00:  Ernst  Johannsen  liest.  —  Berlin  17.50:  Bticher  iiber  die 
Abrfistung,  Walter  Hagemaun.  —  19  30 :  Erich  Ebermayer  liest.  —  Kdnigswusterhausen 
19.30:  Kann  sich  Deutschland  wirtschaftlich  unabhangig  machen?  M  J.  Bonn  und 
R.  G:  Quaatz.  —  Hamburg  19.30:  Robert  Neumann  liest.  —  20.00:  Paul  Hindemith 
spielt.  —  Berlin.  20.00:  Wilhelm  Furtwangler  dirigiert.  —  Leipzig  21.45:  Eine  Stadt 
wird  geboren,  Arno  Schirokauer,  —  Berlin  22.00:  Das  Ende  des  britischen  Frei- 
bandels,  Horbericht  von  Actualis.  —  Mittwoch.  Langenberg  18.00:  Robert  Neumann 
liest.  —  Kdnigsberg  18.25:  Wird  die  Menschheit  dtimmer  oder  kliiger?  Axel  Egge- 
brecht.  —  Berlin  18.55  :  Von  der  Franzosischcn  Revolution  bis  zum  Wiener  KongreB, 
Valeria  Marcu,  —  Donaerttajr.  Langenberg  18.05:  Der  politische  Publizist,  Kurt 
Hiller.  —  Freitag*  Berlin  17  40:  Gerhart  Pohl  liest  aus  Vormarsch  ins  20.  Jahr- 
hundert.  —  Bresfau  20.15:  Klassische  Fragmente:  Schillers  Demetrius  und  Kleists 
Robert  Guiskard.  —  Leipzig  21.15:  Meister  des  Feuilletons :  Heinrich  von  Kleist.  — 
Sonnabend.  Leipzig  19.30:  Nikisch-Gedenkfeier. 

110 


Antworten 

Jan  Bargenhusen.  Sie  schreiben  uns:  „Liebe  Weltbtihne,  icb  lese 
da  eben  in  deiner  Nummer  2  unter  ,  Ant  wort  en'  in  Sachen  D  ok  tor  Hans 
Wollenberg  den  Satz:  ,. . .  aber  cinen  Kollegen  bei  seinem  Verlag  zu 
denunzieren,  das  ist  ja  wohl  das  Unappetitlichste,  was  man  machen 
kann.'  Schon  und  gut  und  richtig,  Trotzdem  wundcre  ich  mich  etwas 
fiber  das  MaB  deiner  gewiB  gerechtfertigten  Entriistung.  Ich  wundere 
mich  deshalb,  weil  ich  in  den  letzten  Monaten  habe  einsehen  mussen, 
daB  das  Denunzieren  hier  so  des  Landes  Brauch  ist.  Hier  meine  Er- 
fahrungen,  soweit  sie  auch  die  .Weltbuhne'  interessieren.  (Wenn 
C.  v,  O.  diesen  Brief  veroffentlichen  will,  so  muB  er  aller dings  den 
Weltbuhnen-Lesern  zum  bessern  Verstandnis  der  Dinge  mitteilen, 
daB  ich  nicht  nur  im  Griin-Front-Jagerhtitchen  durch  die  Agrarpoli- 
tik  streife,  sondem  im  Hauptberuf  die  zivile  Melone  des  Handels- 
redakteurs  zur  berliner  Borse  trage.)  Also:  vor  einigen  Monaten, 
Ende  August  1931,  habe  ich  da  einmal  in  der  ,Weltbuhne'  iiber  die 
fSchwarze  Front'  geschrieben.  In  dem  Artikel  war  ganz  beilaufig 
eine  gewisse  Bank  erwahnt.  Einige  Zeit  spater,  Anfang  Oktober,  er- 
scheint  in  der  pazifistischen  ,Chronik  der  Menschheit*  eine  offensicht- 
lich  von  dieser  Bank  veranlafite  sehr  eingehende  Erwiderung.  Der 
Verfasser  weist  mit  groBem  Aufwand  an  Worten  und  Bilanzziffern 
nach,  daB  jene  Bank  Ende  1930  nicht  illiquide  war,  was  ich  auch 
niemals  behauptet  hatte;  ich  hatte  lediglich  (August  1931!)  gesagt: 
Die  Einlagen  der  Bank  seien  nicht  liquide  angelegt,  Interessant  an 
dem  Artikel  meines  Kritikers,  der  sicherlich  ,vom  Bau'  ist,  aber  den 
allgemein  unbekannten  Namen  Markowski  tragt,  sind  folgende  Einzel- 
heiten:  erstens,  daB  er  mich  bei  meinem  Verlag  zu  denunzieren  ver- 
suchte,  zweitens,  daB  er  ziemlich  deutlich  weitere  Angriffe  gegen  meine 
engern  Kollegen,  die  Handelsredakteure  meines  Blattes,  ankundigte, 
und  drittens,  daB  er,  vollig  unmotiviert,  eine  ,warme  Lanze*  {(ir  Herrn 
Flick  einlegte,  Wobei  er  aber  seine  unbestreitbare  Kenntnis  in 
Bilanzdingen  vollig  beiseite  lieB  und  den  .Fall*  Flick,  der  ja  eben 
doch  ein  .Fall*  Stahltrust  ist,  in  eine  Angelegenheit  Charlottenhiitte 
zu  verharmlosen  suchte.  Von  diesem  Angriff  in  der  .Chronik  der 
Menschheit'  bekam  weder  mein  Chefredakteur  noch  ich  selbst  etwas 
zu  sehen.  Dafur  gingen  leitenden  Herren  meines  Verlags  drei  Exem- 
plare  jenes  Heftes  zu,  sauber  mit  Blau-  und  Rotstift  angestrichen . . . 
Kurze  Zeit  spater  erfolgte  auch  der  angektindigte  Angriff  gegen  drei 
oder  vier  meiner  Kollegen  von  der  Handelsredaktion,  An  der  gan- 
zen  Geschichte  argerte  mich  besonders  das  Eine;  die  verlogene  Art, 
wie  jener  groBe  Unbekannte  Markowski  die  Angelegenheit  Flick  — 
Stahlverein  behandelt  hatte,  Eine  Polemik,  ein  Hin  und  Her  zwischen 
Bargenhusen  und  Markowski,  .Weltbuhne'  und  .Chronik  der  Mensch- 
heit1 ,  schien  mir  wenig  geeignet,  den  Sachverhalt  aufzuhellen.  Deshalb 
versuchte  ich,  den  Fall  Markowski-Flick  derart  zu  klaren,  daB  ich  in 
meinem  nachsten  Weltbfihnen-Artikel,  in  *Nummer  48  (,Einer  muB 
geschlachtet  werden',  so  hat  ihn  Eure  Redaktion  uberschrieben)  ein- 
mal kraftig  auf  den  Busch  klopfte.  Ich  schrieb  da  etwas  von  ,kor- 
rupten  Elementen  in  der  deutschen  Handelsjournalistik',  die  .wider 
besseres  Wissen  Schonfarberei  betreiben*,  Dieser  Satz,  der  manche 
meiner  Kollegen  verstandlicherweise  befremdet  hat  —  die  allgemeine 
Wendung  war  ja  sicher  nicht  geschickt  gewahlt  —  bezog  sich  also  nur 
auf  einen  Einzigen:  auf  Markowski.  Leider  ist  er  noch  nicht  aus 
seinem  Busch  herausgekrochen,  obwohl  er  aus  den  folgenden 
Satzen  des  Artikels,  in  denen  von  der  Charlottenhiitte  und  dem 
Stahlverein  ausfuhrlicher  die  Rede  war,  deutlich  hatte  entnehmen 
konnen,  auf  wen  ich  gezielt  hatte.  Aber  Folgendes  hat  sich  ereignet: 
wieder  einmal  wurde  einer  der  leitenden  Herren  des  Verlags,  bei  dem 

111 


ich  als  Redakteur  arbeite,  telephonisch  auf  den  ,neuen  Bargenhusen- 
Artikel*  aufmerksam  gemacht.  Der  Anrufende  war  ein  Kollege,  ein 
Redakteur  —  nennen  wir  ihn  Herrn  A.  — ,  der  bei  einem  Borsen- 
Fachblatt  (keiner  politischen  Tageszeitung  also)  leitend  tatig  ist. 
Vorher  hatte  sich  Folgendes  abgespielt:  Der  Leiter  des  berliner  Presse- 
bureaus  eines  dem  Stahlverein  nahestehenden  schwerindustriellen  Kon- 
zerns  hatte  seinerseits  Herrn  A.  angerufen  und  ihn  auf  den  Welt- 
biihnen-Artikel  aufmerksam  gemacht  —  doch  wohl  deswegen,  weil  er 
annahm,  daB  sich  Herr  A.  fur  diese  Publikation,  in  der  von  ,korrup- 
ten  Elementen'  und  .bewuBter  Schonfarberei'  die  Rede  war,  besonders 
interessieren  musse,  Herr  A.  war  sehr  aufgebracht  und  erklarte,  er 
wolle  die  Standesorganisation  gegen  jenen  Bargenhusen  mobilisieren. 
Bei  ruhigerer  Oberlegung  hat  er  aber  darauf  verzichtet.  Es  gibt  ja 
da  ein  Sprichwort  von  der  Jacke,  die  man  anzieht,  wenn  sie  einem 
paBt;  Herr  A.  in  dieser  Jacke  hatte  aber,  das  merkte  er  wohl  selbst, 
eine  zu  schlechte  Figur  gemacht.  Daftir  hat  aber  sein  Informator, 
der  Leiter  der  schwerindustriellen  Pressestelle,  die  Aufmerksamkeit 
der  Handelsredakteur-Vereinigung  auf  die  —  den  Interessen  des  Be- 
rufsstandes  angeblich  abtraglichen  —  AuBerungen  meines  Artikels  ge- 
lenkt;  Herr  A.  blieb  so  im  Hintergrund.  Nicht  lange!  denn  kurze 
Zeit  danach  brachte  Rabold  in  der  ,Welt  am  Montag'  eine  Glosse,  in 
der  meine  kritische  AuBerung  uber  gewisse  Elemente  in  der  Handels- 
journalistik,  die  gegen  jenen  Markowski  gerichtet  war,  zitiert  wurde, 
—  ausgerechnet  in  dem  Sinne,  um  die  Position  des  Herrn  A.  zu 
stutzen,  der  mittlerweile  einen  hitzigen  Streit  mit  der  Handelsredak- 
teur-Vereinigung begonnen  hat  (einen  Streit,  bei  dem  der  Verdacht 
eine  groBe  Rolle  spielt,  daB  Herr  A,  die  seiner  Zeit  von  Markowski 
angekiindigten  Angriffe  gegen  meine  engern  Kollegen  veranlaBt  habe). 
Und  kaum  war  jene  Numraer  der  ,Welt  am  Montag'  auf  der  Strafie, 
da  klingelte  Herr  A.  schon  wieder  bei  einem  Herrn  der  Verlags- 
leitung  meiner  Zeitung  an,  um  ihn  auf  dieses  Bargenhusen-Zitat  auf- 
merksam zu  machen.  Emil  Rabold,  dem  ich  von  dieser  etwas  merk- 
wiirdigen  Auswertung  seiner  Glossen  erzahlte,  war  dariiber  nicht 
wenig  verwundert.  Ob  nun  endlich  das  denunziatorische  Spiel,  bei 
dem  augenscheinlich  nicht  nur  Einer  geschlachtet  werden  soil,  sein 
Ende  findet?  Ich  will  es  hoffen.  Aber  vorher  hatte  ich  doch  gar 
zu  gerne  gewuBt,   wer  nun  eigentlich  jener  Markowski  ist.,." 

Scheringer  -  Komitee,  Das  Verfahren  gegen  Scheringer  hat  das 
Interesse  der  Offentlichkeit  einmal  wieder  auf  den  Begriff  des  lite- 
rarischen  Hochverrats  gelenkt.  Aus  diesem  AnlaB  veranstaltet  ihr 
in  der  nachsten  Woche  je  eine  Schriftsteller-  und  eine  Juristen- 
Konferenz.  Es  sprechen:  Alfred  Apfel,  Herbert  Blank,'  LionFeucht- 
wanger,  Gerhard  Obuch,  Arthur  Samter  und  Frank  ThieB.  Ort: 
„Wilhelmshof",  Anhalter  Strafie  12,  Saal  3.  Die  Konferenz  fur  die 
Schriftsteller  findet  am  Mittwocb  20  Uhr,  die  fur  die  Juristen  am 
Donnerstag  30  Uhr  statt.  .  Angesichts  der  reichsgerichtlichen  Recht- 
sprechung  kann  der  Besuch  nur  empfohlen  werden. 


Manuakripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlottenburgr,  Kantstr.  152,  zu 
richten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Ruckseodunjj  erfolgen  kann. 
Das  Auf  f  iihrunysrecht,  die  Verwertung  t  on  Tit  ein  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  Ton  Radiovortragen 
bleiben   fur  alio  in  der  ValtbOhne  erscheinenden  Beitrag e  ausdrUcklich  vorbehalten. 

Die  W, 
unter 


CMtbuhne   wurde   begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn   und  wird   von  Carl  v.  Ossietzky 
Mitwirkung  von   Kurt  Tucholsky  geleitet  —  Verantwortlich :   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin; 
Verlag  der  Weltbiihne,  Siegfried  Jacobs  oho  &  Co.,  Charlottenburg. 
Telephon:  C  1,  Steinplatz  7757.  —   Postschedckonto:  Berlin  11958. 
Bankkonto:    Darmstadter   u.    Nationalbank.      Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.   113. 


XXVU1  Jahrgaog  26.Jamur  1932  Nnromcr4 

Die  Komodianten  vom  13.  Juli  BemhaVd  citron 

Cin  halbes  Jahr  nach  der  SchalterschlieBung  der  Danatbank 
bcginnen  wir  zu  ermessen,  wie  groB  die  Folgen  jcner  ver- 
hangnisvollen  Julitage  fur  die  dcutsche  Wirtschaft  und  die 
ganze  Nation  gewesen  sind.  Die  Stillhalteverhandlungen  be- 
weisen,  dafl  am  13.  Juli  nicht  nur  das  Schicksal  der  deutschen 
GroBbanken  sondern  das  Schicksal  des  Reiches  auf  Jahre  hin- 
aus  entschieden  wurde.  Die  gleiche  Rolle,  wie  in  den  ver- 
gangenen  dreizehn  Jahren  die  Reparationen,  werden  nunmehr 
die  Stillhaltekredite  spielen.  Es  zeigt  sich,  daB  die  freiwillig 
iibernommenen  Tribute  vie!  schwerer  tragbar  sind  als  die  auf- 
gezwungenen.  Solange  es  Kriegsschulden  gibt,  wird  man  nach 
der  Kriegsschuld  forschen,  solange  das  Wirtschaftsleben  durcb 
die  ans  Ausland  zuriickzuzahlenden  Bankschulden  belastet  ist, 
wird  man  auch  hier  immer  wieder  die  Schuldfrage  aufwer!en* 
Nach  sechs  Monaten  ist  der  Bericht  des  Treuhanders  fiir  die 
Danatbank  noch  immer  nicht  veroffentlicht,  nach  sechs  Mo- 
naten ist  nicht  entschieden,  ob  die  Danatbank  liquidiert,  fusio- 
niert  oder  als  Industriebank  weitergefiihrt  werden  soil.  Dabei 
ist  auch  die  Frage,  welchc  Bankleiter  in  Amt  und  Wiirden 
bleiben  konnen  und  welche  in  der  Versenkung  verschwinden 
mussen,  von  Bedeutung.  Es  ist  nicht  erstaunlich,  daB  sich  alle 
Verantwortlichen  vom  13.  Juli  gegen  Angriffe/  die  in  der 
Offentlichkeit  gegen  sie  gerichtet  werden,  zur  Wehr  setzen 
mussen.  SchlieBlich  geht  es  urn  die  Ehre  und  in  vielen  Fallen 
auch  um  den  Direktorenposten  jedes  Einzelnen. 

Unmittelbar  nach  dem  Zusammenbruch  hatte,  was  an  sich 
erstaunlich  ist,  Jacob  Goldschmidt  die  beste  Presse.  Man 
kannte  ihn  als  liebenswiirdigen,  stets  hilfsbereiten  Menschen. 
In  seiner  Glanzzeit  war  er  der  Heros  der  Bankwelt,  der  sich 
um  eine  fast  philosophische  Begriindung  seiner  Geschaftsprin- 
zipien  bemuhte.  Journalisten  behandelte  er  zuvorkommend, 
fast  kollegial,  was  ihm  besonders  hoch  angerechnet  wurde,  da 
er  seinen  Berufskollegen  gegeniiber  sich  ganz  anders  aufspielte. 
Wenn  er  an  der  Borse  erschien,  dann  pflegte  er  von  dem  er- 
hohten  Platz  seiner  Bank  eine  Ansprache  'an  die  Umstehenden 
zu  halten,  die  viele  Borsenbesucher  anlockte.  Man  hing  an 
seinen  Lippen,  und  wenn  er  am  Tage  der  Herausgabe  des  Ge^ 
schaftsberichts  an  der  Borse  erschien,  dann  konnte  er  die 
Gratulationscour  seiner  zahlreichen  Getreuen  abnehmen.  Aber 
Jacob  Goldschmidt  vermochte  sich  mit  der  gleichen  Wurde, 
mit  der  er  den  gewaltigen  Beherrscher  der  Bankwelt  spielte, 
auch  in  die  Rolle  des  besiegten  Feldherrn  hineinfinden.  Als 
er  am  13.  Juli,  dem  Morgen  nach  der  verlorenen  Schiacht,  die 
Pressevertreter  empfing,  verbliiffte  er  durch  seine  Aufrichtig- 
keit,  durch  das  Eingestandnis  eigner  Fehler  und  hatte  auf  diese 
Weise  die  Sympathien  der  offentlichen  Meinung  zuriickge- 
wonnen. 

So  erklart  es  sich,  daB  man  damals  mit  der  Darmstadter 
und  Nationalbank  Mitleid  empfand,  wahrend  sich  der  Zorn  der 

1  113 


Wirtschaftskritik  vor  allem  auf  die  Deutsche  Bank  und  Dis- 
conto-Gesellschaft  entlud.  Der  bekannte  Finanzschriftsteller 
Alfred  Lansburgh  schrieb  am  18.  Juli  in  seinen  „Briefen  eines 
Bankdirektors  an  seinen  Sohn":  1fDer  StoB,  den  die  DD-Bank 
in  der  kritischen  Nacht  gegen  ihre  groflte  Konkurrentin  gefiihrt 
hat,  muB  moralisch  um  so  mehr  verurteilt  werden,  als  grade 
diese  Bank  —  im  Gegensatz  zu  alien  andern  —  schon  vorher 
erheblich  dazu  beigetragen  hat,  daB  die  Schwierigkeiten  der 
Danatbank  unterstrichen  und  in  Kreisen  bekannt  wurden,  die 
sie  bis  dahin  nicht  sonderlich  ernst  genommen  hatten;  und  als 
grade  diese  Bank  obendrein  die  unbestrittene  und  einzige  Nutz- 
nieBerin  jener  Schwierigkeiten  ist."  Ein  so  heftiger  Angriff 
von  seiten  eines  vorsichtigen,  durchaus  bankenfreundlichen 
Publizisten  muBte  groBtes  Aufsehen  erregen.  Man  erzahlte 
auch,  daB  Reichskanzler  Briining,  der  seit  dem  13.  Juli  sehr 
schlecht  auf  die  Banken  zu  sprechen  war,  Herrn  Wassermann 
nicht  mehr  empfange.  Legenden  bildeten  sich  iiber  die  Wider- 
sacher  Goldschmidt  und  Wassermann,  die  den  Fiihrer  der  Deut- 
schen  Bank  zweifellos  in  ein  schiefes  Licht  riickten.  Es  war 
das  gute  Recht  der  Deutschen  Bank,  wie  die  Dinge  auch  lagen, 
sich  gegen  die  Angriffe  zur  Wehr  zu  setzen.  Aber  die  Zeit 
schien  im  Herbst  noch  nicht  reif  fur  den  Gegenschlag  zu  sein. 
Erst  als  allmahlich  immer  mehr  aus  dem  Untersuchungsbericht 
iiber  die  Darmstadter  und  Nationalbank  in  die  Offentlichkeit 
drang,  konnte  man  mit  einiger  Sicherheit  darauf  rechnen,  daB 
der  Deutschen  Bank  Gerechtigkeit  widerfahren  wtirde.  Die 
Offentlichkeit  sieht  jetzt,  dafi  die  Verhaltnisse  bei  der  Danat- 
bank so  zerriittet  waren,  daB  die  Banken  sich  mit  einer  Solidar- 
haftung  fur  das  bedrohte  Institut  selbst  ruiniert  hatten.  So 
hat  sich  die  Stimmung  gewandelt,  man  ist  einer  neuen  Darstel- 
lung  um  so  zuganglicher  geworden,  je  mehr  die  Angelegenheit 
aus  der  Tageschronik  in  die  geschichtliche  Betrachtung  ge- 
riickt  ist. 

Diese  Darstellungf  die  eine  Entlastung  Wassermanns  wah- 
rend  der  kritischen  Tage  enthalt,  hat  jetzt  Doktor  Hans  E. 
Priester,  der  bekannte  Geldmarkt-Spezialist  des  ,Berliner 
Tageblatts1,  gegeben.  Der  Titel  der  Broschure  heiBt:  „Das  Ge- 
heimnis  des  13.  Juli  —  Ein  Tatsachenbericht  von  der  Banken- 
krise".  Wie  der  Titel  so  ist  der  Inhalt:  eine  Mischung  aus 
Kriminalroman  und  Zeitungsreportage.  Unmoglich,  von  Priester 
nicht  gefesselt  zu  sein.  Fur  einen  modernen  Kriminalroman 
sind  aber  einige  Stellen  zu  unwirklich.  Fur  die  Verfilmung 
eignet  sich  das  Buch  ausgezeichnet.  Aber  auch  dann  miiBten 
einzelne  Stellen  etwas  realistischer  gestaltet  werden.  Da  wird 
zum  Beispiel  in  der  Broschure  erzahlt:  „Tatsachlich  sei  am 
Sonnabend  friih  ein  Kassenbote  der  Reichsbank  (bei  der 
Dresdner  Bank)  erschienen  und  habe  die  ersten  Wechsel  iiber 
zusammen  10  Millionen  Mark  an  der  Kasse  prasentiert.  Er 
habe  dort  erklart,  er  sei  schon  bei  der  Danatbank  gewesen,  sie 
habe  aber  die  ihr  prasentierten  Wechsel  zuriickgenen  lassen." 
Das  soil  Herbert  Gutmann  am  nachsten  Tage  um  3  Uhr  mor- 
gens  dem  Vizeprasidenten  der  Reichsbank  Dreyse  mitgeteilt 
haben.  In  der  Phantasie  der  Beteiligten,  die  den  Verfasser  der 
Broschure  informiert  haben,  mussen  die  Vorgange  so  roman- 
114 


hafte  Formen  angenommen  haben,  daB  sich  ihre  Erzahlungen 
fiir  cinen  rcalistischen  Film  nicht  immer  eignen.  Und  fur  einen 
Tatsachcnbericht?  Die  Anderungen,  die  bereits  jctzt  vorge- 
nommen  wcrdcn  sollcn,  dienen  allerdings  nicht  der  Vorberei- 
tung  des  Filmmanuskripts,  sondern  der  Vermeidung  eines  Ver- 
bots.  Da  Priester  die  Deutsche  Bank  verteidigen  wollte,  ohne 
der  Danatbank  allzu  wehe  zu  tun,  suchte  er  als  Siindenbock 
die  Reichsbank.  Mit  Luther  ist  aber  nicht  zu  spaBen.  So  wird 
sich  der  Verfasser  bei  der  zweiten  Auflage  und  der  Obersetzung 
in  andre  Sprachen  zu  Milderungen  bequemen  miissen. 

Hochdramatisch  wird  die  Nachtsitzung  vom  11.  Juli  ge- 
schildert.  ,,Luther  hatte  sich  in  eine  starke  Erregung  hinein- 
geredet.  Heftig  gestikulierend  stand  er  da,  in  der  Hand  seine 
Bibel,  das  Reichsbankgesetz."  Das  trifft  nach  der  Darstellung 
von  unbefangener  Seite  schon  auBerlich  nicht  zu.  Doktor 
Luther  hat  nicht  gestanden  sondern  gesessen,  er  gestikulierte 
nicht  und  hatte  das  Reichsbankgesetz  wohl  vor  sich  auf  dem 
Tisch  liegen,  aber  er  hielt  es  nicht  „wie  die  Bibel  in  der  Hand". 
Auch  die  sachliche  Darstellung  der  Lutherschen  Thesen  klingt 
in  mancher  Beziehung  unwahrscheinlich.  GewiB  hat  sich  Luther 
in  den  entscheidenden  Besprechungen  darauf  beruien,  daB  es 
schlieBlich  noch  ein  Reichsbankgesetz  gibt,  an  das  er  gebunden 
sei,  und  daB  die  Zentralnotenbank  auf  jeden  Fall  intakt  bleiben 
miisse.  Aber  hatte  nicht  die  Reichsbank  Goldschmidt  und  Bo- 
denheimer  —  dies  diirfte  in  einer  Unterredung  mit  Reichsbank- 
direktor  Friedrich  der  Fall  gewesen  sein  —  auf gef ordert, 
Wechsel  auf  die  Debitoren  der  Danatbank  zu  ziehen?  Die 
Reichsbank  erklarte  sich  bereit  zu  diskontieren,  was  iiberhaupt 
nur  diskontfahig  sei.  (  Aber  Goldschmidt  und  Bodenheimer  er- 
widerten:  t,sie  wissen  nicht,  wortiber  sie  noch  verfiigen 
konnen".  Es  ist  ganz  unerklarlich,  welche  Scheu  die  Danat- 
bank davor  hatte,  der  Reichsbank  Wechsel  zur  Diskontierung 
einzureichen.  Auch  Priester  berichtet  von  einer  im  Juni  statt- 
gefundenen  Besprechung  zwischen  Jacob  Goldschmidt  und 
Nathan  von  der  Dresdner  Bank.  Goldschmidt  meinte,  daB 
man  den  Reichsbankprasidenten  Luther  zwar  fragen  konne,  ob 
er  sich  verpflichte,  jederzeit  Geld  zur  Diskontierung  von 
Wechseln  zu  geben.  Aber  Goldschmidt  hielt  diesen  Versuch 
fiir  so  aussichtslos,  daB  er  viel  lieber  gemeinsam  mit  der 
Dresdner  Bank  die  Zahlungseinstellung  androhen  wollte/  Die 
Abzuge  bei  der  Danatbank  hatten  damals  noch  lange  nicht 
ihren  Hohepunkt  erreicht,  das  Inland  berannte  erst  in  den 
Julitagen  die  Schalter.  Wie  soil  man  sich  dieses  gefahrliche 
Spiel  mit  der  SchalterschlieBung  und  die  merkwiirdiger  Weise 
von  Goldschmidt  selbst  bei  verschiedenen  Gelegenheiten  ge- 
tanen  AuBerungen,  daB  die  Lage  sehr  heikel  sei,  anders  er- 
klaren  als  mit  einer  unglaublichen  Selbstiiberschatzung.  Der 
Leiter  der  Danatbank  dachte,  wenn  er,  der  Konig  unter  den 
Bankdirektoren,  das  Wort  nInsolvent"  in  den  Mund  nehme, 
dann  werden  dem  Reichskanzler  und  der  Reichsbank  die  Knie 
schlottern.  Er  iiberschatzte  bei  weitem  die  Autoritat,  die  er 
in  der  JagerstraBe  genoB.  Doktor  Priester  glaubt  noch  heute, 
daB  Goldschmidts  Figur  in  der  Reichsbankleitung  mit  einer 
Gloriole  umgeben  war.     Dem  Reichsbankdirektorium  war  ein 

115 


Mann  wie  Goldschmidt  stets  verdachtig,  er  paBte  nicht  in  die 
bureaukratische  Atmosphare  dieses  Hauses.  Daher  wirkte  die. 
Demaskierung  auch  gar  nicht  so  sensationell,  wie  Jacob  Gold- 
schmidt sich  das  vorgestellt  hatte.  Im  Mai  fand  nach  der 
Priesterschen  Darstellung  eine  Unterredung  Wassermann-Gold- 
schmidt  statt,  in  deren  Verlauf  Oscar  Wassermann  seinem 
„Freunde"  Goldschmidt  klarmachte,  daB  man  die  Abziehun- 
gen  aus  dem  Auslande  noch  aushalten  konne,  wahrend  es  bei 
einem  Run  der  Inlandskundschaft  erst  wirklich  kritisch  wer- 
d«n  wiirde.  „Immerhin  hat  Wassermann  schon  damals  eine 
Liquiditatssteigerung  der  Banken  fur  notwendig  gehalten,  und 
Goldschmidt  entsprechend  informiert.  Goldschmidt  schlug,  wie 
sich  spater  herausgestellt  hat,  diese  Warnungen  in  den  Wind, 
Wassermann  dagegen  handelte  entsprechend".  Ohne  Zweifel 
ist  die  Deutsche  Bank  vorsichtiger  und  stets  liquider  gewesen 
als  die  Danatbank.  Ware  es  umgekehrt,  dann  hatte  eben  nicht 
die  Danat-  sondern  die  Deutsche  Bank  pleite  gemacht,  Aber 
im  Mai  liefi  sich  wohl  nicht  mehr  viel  andern.  GewiB  war  der 
Rat  des  Herrn  Wassermann  sehr  gut  gemeint,  aber  Gold- 
schmidt hatte  darauf  nur  in  der  Redeweise  seiner  Vorfahren 
antworten  konnen:  „Mit  Ratschlagen  bin  ich  versehen". 
SchlieBlich  blieb  der  Darmstadter  Bank  nichts  andres  iibrig, 
als  Kredite  aufzunehmen,  wo  sie  nur  konnte.  Es  diente  nicht 
grade  zur  Erhohung  ihres  Prestiges;  aber  Priester,  der  dieses 
Verhalteti  scharf  kritisiert,  sollte  immerhin  iiberlegen,  daB  zu 
jener  Zeit  die  Deutsche  Bank.doch  nur  Ratschlage  aber  keine 
nennenswerten  Kredite  gegeben  hat.  Den  andern  Ausweg, 
den  Wechselkredit  der  Reichsbank  in  groBtem  Umfange  in  An- 
spruch  zu  nehmen,  hielt  Goldschmidt  —  wie  bereits  erwahnt 
—  von  vornherein  fiir  ungangbar.  Wassermann  wird  mit  Recht 
gegen  den  Vorwurf  geschutzt,  daB  er  durch  seine  AuBerung 
iiber  die  Danatbank  gelegentlich  der  Bildung  des  Garantie- 
syndikats  dieser  den  TodesstoB  versetzt.  habe.  Wenn  aber 
Wassermann  voraussetzen  durf te,  daB  die  Lage  der  Danatbank 
allgemein  bekannt  war,  dann  ist  auch  der  Vorwurf  gegen  Gold- 
schmidt nicht  berechtigt,  daB  er  seinen  Kollegen  nicht  reinen 
Wein  einschenke,  und  damit  „sein  Sturz  die  Position  der 
andern  Banken  in  besorgniserregender  Weise  tangiert"  habe. 
Menschenfreundliche  Selbstmorder,  die  sich  mit  Gas  vergiften 
wollen,  heften  an  die  Ttir  einen  Zettel:  „Vorsicht!  Explosions- 
gefahr".  Die  Banken,  die  in  guten  Zeiten  kein  Solidaritats- 
gefiihl  bewiesen  haben,  zeigten  es  in  schlechten  auch  nicht. 
Wenn  eine  von  ihnen  sich  wirklich  zum  Schutz  der  andern  auf- 
raffte,  so  geschah  es  lediglich  zur  Vermeidung  unmittelbarer 
eigner  Gefahren.  Nichts  ist  doch  bezeichnender  fiir  die  ego- 
zentrische  Haltung,  als  daB  Jacob  Goldschmidt  am  Sonntag, 
dem  12.  Juli,  zehn  Stunden  in  seinem  Bureau  in  der  Behren- 
straBe  wie  auf  Kohlen  sitzend  auf  den  Anruf  Wassermanns 
wartete,  und  man  schlieBlich  sogar  vergafi,  ihn  zu  der  Sitzung 
in  der  Reichskanzlei  einzuladen,  die  fiir  das  Schicksal  der  Da- 
natbank entscheidend  war.  Bruning  auBerte  sich  iiber  die 
Dresdner  Bank  bei  dieser  Gelegenheit  ahnlich  wie  seinerzeit 
Wassermann  iiber  die  Danatbank.  Warum  war  die  Handlungs- 
weise  des  Kanzlers  so  viel  schlimmer  als  die  des  Herrn  Wasser- 
116 


mann?  War  es  jetzt  nicht  emllich  Zeit,  daB  der  verantwort- 
liche  Leiter  der  Rcichspolitik  das  Kind  beim  rcchten  Namcn 
nannte?  Die  Minister  hatten  in  diesen  Tagen  iiberhaupt  den 
Eindruck,  als  befanden  sie  sich  in  einem  Tollhaus.  Die  Ban- 
kiers  wuBten  iiberhaupt  nicht,  was  sie  wollten,  Sie  lehnten 
den  Vorschlag  des  Kanzlers  ab,  auf  dem  Notverordnungswege 
alle  Kreditinstitute,  die  sich  in  Liquiditatsschwierigkeiten  be- 
fanden, zu  schiitzen  und  die  Gehalter  der  leitenden  Angestell- 
ten  gegebenenfalls  abzubauen.  Die  Banken  fuhlten  sich  durch 
<eine  solche  Regelung  diffamiert. 

Wie  trefflich  wird  die  Geistesverwirrung  unsrer  Wirt- 
schaftsfiihrer  gekennzeichnet  durch  die  von  Priester  wieder- 
gegebene  Erklarung  des  Direktors  Frisch  von  der  Dresdner  Bank: 
<,,Bei  dem  Waffenstillstand"  —  so  sagte  er  —  „habe  er  einem 
franzosischen  General  gegeniiber  gesessen,  aber  seLbst  damals 
seien  ihm  nicht  derartige  diffamierende  Angebote  gemacht 
worden."  Kann  man  sich  in  irgendeinem  andern  Lande  der 
Welt  vorstellen,  daB  ein  Bankdirektor,  der  ohne  Hilfe  des 
Reiches  morgen  bankrott  ist,  den  hochsten  Beamten  dieses 
Reiches  mit  dem  Landesfeind  vergleicht?  Die  Hybris  hat  schon 
grofiere  Regenten  gesturzt  als  die  der  BehrenstraBe, 

Hitler  und  Schleicher 

In  der  .Berliner  Volkszeitung'  vom  21.  Januar  sind  iiber  die  Vorge- 
*  schichte  der  Bemuhungen  um  eine  neue  Kandidatur  Hindenburg 
interessante  Mitteilungen  zu  lesen,  die  eine  Wiedergabe  der  Meinung 
mafigeblicher  nationalsozialistischer  Kreise  sein  sollen.  Danach  hat 
General  von  Schleicher  schon  Ende  Dezember  mit  General  von  Epp 
verhandelt-  Dabei  habe  Schleicher  auf  eigne  Verantwortung  Vor- 
schlage  gemacht,  die  nicht  nur  die  Wiederwahl  Hindenburgs  sondern 
auch  ein  „Aufrustungskabinett"  sichern  sollten.  Dieses  Kabinett  sollte 
so  aussehen:  Reichskanzler:  Groener,  Vizekanzler  und  Inneres:  Frick, 
Reichswehr:  Schleicher,  Wirtschaft:  Hugenberg,  Finanzen:  Schacht, 
Aufieres:  Brtining.  Von  diesen  Vereinbarungen  soil  Herr  von  Schleicher 
seinem  Chef  nichts  gesagt  haben,  so  daB  Groener  glauben  muBte,  die 
Nazis  seien  plotzlich  regierungsfromm  geworden,  und  erst  spater  beim 
Kanzler  platzte  die  Bombe,  als  Hitler  plotzlich  fur  seine  Zustimmung 
die  Umbildung  des  Kabinetts  forderte.  So  entwickelte  sich  der  Wirr- 
warr,  in   dem   die   Besprechungen  schlieBlich  versackten. 

Das  Reichswehrministerium  hat  ebenso  energisch  wie  ungeschickt 
dementiert.  Bisher  wurde  immer  die  Lesart  aufrechterhalten,  Groener 
habe  als  Reichsinnenminister  die  Verhandlungen  gefuhrt,  das  Dementi 
spricht  jedoch  von  den  „beteiligten  Stellen  des  Reichswehrministeriums", 
Friiher  hieB  es,  die  Besprechungen  *  Schleicher-Hitler  gingen  nur  um 
technische  Dinge,  wahrend  jetzt  zugestanden  wird,  das  Thema  sei  Mdie 
Verlangerung  der  Amtszeit  des  Herrn  Reichsprasidenten  durch  ver- 
fassungsanderndes  Gesetz"  gewesen.  Die  Behauptungen  iiber  die  an- 
gebliche  Rolle  des  Herrn  von  Schleicher  nennt  das  Dementi  t1unsinnige 
und  boswillige  Erfindungen1*.  Diese  Entriistung  trifft  daneben,  Un- 
sinnig  sind  nicht  nur  die  Geriichte,  unsinnig  waren  diese  Verhand- 
lungen selbst,  war  die  Hoffnung,  Hitler  mit  ein  paar  Konzessionen 
zum  Partner  machen  zu  konnen.  Man  darf  sich  deshalb  nachher  nicht 
wundern,  wenn  die  tollsten  Versionen  daruber  in  Umlauf  kommen. 
Und  grade  eine  so  offene  und  unkomplizierte  Soldatennatur  wie  Herr 
von  Schleicher  eignet  sich  am  wenigsten  zu  delikaten  diplomatischen 
Missionen  oder  zum  Gesprachspartner  mit  Leuten,  deren  germanische 
Blondheit  die  ausgekochteste  punische  Tucke  deckt, 

2  117 


Abrfistungs-Konferenz  von  secures 

Duchstablich  sieht  „alle  Welt"  dcr  genfer  Abriistungskonfe- 
renz  wie  einem  lange  angektindigten  Theatcrstiick  ent- 
gegen,  wo  das  Spiel  Ernst  bedeutet.  Es  stellt  sich  daher  auch 
die  Erregung  ein,  die  jedem  Schauspiel  vorausgeht.  Eiae 
Wette  darauf,  daB  die  Konferenz  wenigstens  so  normal  ver- 
lauft,  wie  alle  Schopfungen  des  Volkerbundes,  das  heiBt,  daB 
nichts  Entscheidendes  dabei  herauskommt,  ware  riskant  All- 
zuviel  Explosionsstoff  ist  seit  1925  angehauft,  seitdem  sie 
,,vorbereitetM  wurde.  Beim  SchluB  der  j/Vorbereitung",  Ende 
1930,  entstand  ein  RiB  in  der  „Einigung",  der  fugenlos  gekittet 
sein  mtiBte,  noch  ehe  die  endgoiltige  Konferenz  zusammen- 
tritt.  Dieser  RiB  steckt  im  Artikel  53  des  Konventionsentwurfs 
der  fiinf  Jahre.  Er  heiBt  in  der  von  chincsischer  Hoflichkeit 
gesalbten  Sprache  Genfs  so: 

Die  vorliegende  Konvention  beeintrachtigt  nicht  die  Bestimmungen 
friiherer  Vertrage,  in  denen  einzelne  der  Hohen  VertragschlieBenden 
Farteien  eine  Begrenzung  ihrer  Land-,  See-  und  Luftrustungea  an- 
genommen  und  somit  ihre  gegenseitigen  Rechte  und  Pflichten  in  die- 
ser Hinsicht  festgesetzt  haben. 

Das  heiBt  in  der  Sprache  gewohnlicher  Menschen,  daB  die 
Zentralstaaten  Europas  (Deutschland,  Oesterreich,  Ungarnt  Bul- 
garien)  die  ihneh  auferlegten  Riistungsbeschrankungen  weiter 
einzuhalten  haben,  wahrend  die  bisher  riistungsfreien  Staaten 
sich  Beschrankungen  auferlegen,  die  in  den  vorhergehenden 
Artikeln  des  Konventionsentwurfs  festgelegt  sind.  Es  ist  nicht 
notig,  diese  Beschrankungen  im  Einzelnen  zu  priifen,  da  sie 
alle  von  der  Art  sindf  wie  sie  schon  die  Flottenabriistungs- 
konferenzen  in  Washington,  Genf,  London  vortauschten.  Das 
heiBt,  man  schafft  die  Riesenpanzer  mehr  und  mehr  ab.  Aber 
das  dadurch  freiwerdende  Geld  steckt  man  in  U-Boote, 
Schnellkreuzer,  vor  allem  in  Flugzeugmuttersehiffe.  Das  be^ 
deutet  Aufriistung  und  nicht  Abrustung.  Als  im  Mittelalter  be- 
nachbarte  Stadte  in  den  Feuerbereich  der  neuaufgekommenen 
Donnerbiichsen  von  der  nachsten  Stadt  aus  gerieten,  entstan- 
den  die  Stadtebunde.  Der  Volkerbund  entsteht,  weil  der  Luft- 
krieg  genau  denselben  Zustand  fur  Europa  bis  zu  einer  Linie* 
etwa  Riga — Odessa,  schafft.  Die  Kosten  des  Krieges  werden 
auch  dann  groBer  als  der  Ertrag,  selbst  wenn  man  voll- 
kommen  siegt,  vollkommen  kann  man  aber  beim  Cha- 
rakter  der  modernen  Kriegstechnik  nicht  mehr  siegen.  Daher 
die  Resignation  aller  denkenden  Militars,  wie  sie  in  dem 
Sammelwerk  der  Interparlamentarischen  Union  zum  Ausdruck 
kommt:  ,,Wie  wiirde  ein  neuer  Krieg  aussehen?"  (Orel!  FiiBIi, 
Zurich.)  Eine  Reihe  von  deutschen,  englischen,  franzosischen 
und  schwedischen  Offizieren  haben  darin  „kriegsverraterische 
Propaganda"  gegen  die  Armeen  aller  Lander  getrieben,  und 
zwar  so  xiberzeugend,  daB  es  viele  Jahre  Gefangnis  wenn  nicht 
Schlimmeres  im  Dritten  Reich  setzen  miiBte, 

Von  deutscher  Seite  sind  es  nicht  etwa  die  Generale 
v.  Deimling  und  v.  Schonaich  sondern  die  Generale  v.  Metzsch, 
v.  Montgelas,  v.  Haeften.     Auch  aus  den  Werken  v.  Seeckts, 

118 


des  Obersten  K,  v.  Oertzen  und  des  Majors  Soldan  kann  man 
eine  Bliitenlese  iiber  das  ethische  Gesicht  und  die  politische 
Bcdeutung   der   modernen    Kriegstechnik   zusammenstellen. 

* 

Dieser  RiB  dcs  Konventionsentwurfs  geht  aber  durch 
alles,  was  Abriistung  und  Abriistungskonferenz  angeht.  Man 
beachte,  daB  diesc  Konferenz  sich  noch  immcr  in  ihrem  embry- 
onalen  Stadium  befindet.  Ihre  Friihzeit  fallt  in  den  Krieg  hin- 
ein.  Wilson  versprach  mit  dem  Volkerbund  die  Abschaffung 
der  Heere  in  einem  AusmaB,  das  sich  in  der  Phantasie  der 
Volker  in  nichts  von  den  spater  als  utopisch  bespottelten 
russischen  Vorschlagen  von  1927  unterschied.  Wilson  ver- 
suchte  sogar,  den  jetzigen  geheimen  Sinn  des  Krieges,  der  gar 
nicht  mehr  die  ,,Fortsetzung  der  Politik  mit  andern  Mitteln" 
ist  (wie  das  vielleicht  noch  bis  zum  russisch-japanischen  Krieg 
gelten  konnte),  sondern  der  das  Geschaft  am  Krieg  selbst  ist, 
den  Lebensnerv  abzutoten,  indem  er  im  Artikel  21  seines  Vol- 
kerbundsentwurfes  vom  16,  Juli  1918  das  Verbot  jeder  pri- 
vaten  Rustungsindustrie   vorsah. 

Dieser  ahnungslose  President  des  groBten  Industrielandes 
der  Welt  wird  sich  die  Augen  im  Jenseits  reiben,  wenn  ihm 
von  dem  diensthabenden  Friedensengel  der  Konventionsent- 
wurf  vorgelegt  wird.  Darin  steht  von  der  Rustungsindustrie 
iiberhaupt  nichts  mehr,  Zwar  spricht  der  Artikel  8  des  Volker- 
bundsstatuts  noch  von  den  „schlimmen  Folgen"  der  privaten 
Rustungsindustrie,  Die  vorbereitende  Abriistungskommission  ist 
aber  in  fiinfjahriger  Beratung  mit  diesen  ,,schlimmen  Folgen" 
nicht  anders  fertig  geworden,  als  indem  sie  sie  nach  dem 
Muster  der  Parlamente  an  andre  Kommissionen  verwies,  die 
iiber  den  so  verderblichen  internationalen  Waffenhandel,  des- 
sen  Opfer  China  mehr  und  mehr  wird,  soviel  Papier  bedruckten, 
daB  der  Papierberg  sich  neben  dem  Waffenberg  sehen  lassen 
kann.  Es  gibt  aber  dadurch  nicht  eine  einzige  Handgranate 
weniger. 

Das  gleiche  Taschenspielerkunststuck,  namlich  ein  Ding 
einfach  hinwegzuzaubern,  beging  die  Abriistungsvorbereitung 
mit  dem  mysteriosen  MPotentiel  de  guerre".  Auch  hier  hatte 
der  Artikel  8  als  neuzeitliche  Forderung  gegenseitige  Aus- 
kiinfte  iiber  die  „auf  Kriegszwecke  einstellbaren  Industrien" 
verlangt.  Das  „MilitarjahrbuchM  des  Volkerbundes  hatte  zwar 
im  Anhang  Unterlagen  fiir  eine  solche  Auskunft  nicht  nur  iiber 
Heere  und  Flotten,  sondern  auch  iiber  die  Fahigkeit  gegeben, 
Heere  und  Flotten  am  laufenden  Band  zu  produzieren.  Aber 
auch  hieruber  geht  der  Konventionsentwurf  zur  Tagesordnung 
iiber,  obgleich  die  Tabellen  iiber  die  Streitkrafte,  das  heiBt 
iiber  die  Soldaten,  sogar  die  Mtaglichen"  Durchschnittsbestande 
zu  ermitteln  suchen.  Ober  das  Verschwinden  des  ,,Potentiel 
de  guerre"  mag  sich  ebenfalls  Wilson  im  Jenseits  den  Kopf 
zerbrechen. 

* 

Die  Abriistungskonferenz  ist  also  ein  Torso.  Denn  iiber 
zwei  der  wichtigsten  Punkte  des  Artikels  8  wird  man  sagen: 
()Haben   wir  in  der  Schule   (der  Vorbereitung)  nicht   gehabt". 

119 


Sie  enthalt  in  dem  Artikel  53  des  Konventionsentwurfs,  der  die 
Ungleichheit  von  Besiegten  und  Siegern  bestchcn  lafit*  cinen 
Erisapfel,  auf  dem  nicht  steht  „Der  Schonsten"  sondern  „Dem 
Starksten". 

Moglich  jedoch,  daB  dieser  Zankapfel  schon  hintcr  den  Ku- 
lissen  denaturiert  worden  ist.  Die  Mo  wen  kreischten  es  bereits 
im  Sommer  tiber  den  Genfer  See,  daB  die  Deutschen  den 
„Rustungsausgleich'\  wenn  auch  nicht  ganz,  so  doch  mit  Din- 
gen  in  der  Tasche  hatten,  die  die  franzosische  Gruppe  als  zu- 
verlassigste  „Sicherheit"  ansieht,  namlich  militarische  Mittel* 
wahrend  die  Deutschen  sich  bisher  mehr  mit  der  „Sicherheit" 
durch  den  Volkerbundspakt  begniigen  muBten. 

Dieser  Zustand  des  Unterschieds  zwischen  riistungsfreien 
und  riistungsbeschrankten  Staaten  ist  naturlich  auf  die  Dauer 
nicht  haltbar.  Weder  militarisch  noch  „v6lkerrechtlich'\  Des- 
halb  ist  auch,  so  obenhin  betrachtet,  nichts  so  selbstverstand- 
lich  als  der  von  Deutschland  geforderte  cRiistungsausgleich1*. 
Ebenso  selbstverstandlich  ist  es  aber  auch,  daB  es  die  Frage 
von  Tod  und  Leben  fur  Europa  bedeutet,  ob  dieser  Rustungs- 
ausgleich  durch  Aufriistung  der  riistungsbeschrankten  oder 
durch  Abriistung  der  riistungsfreien  Staaten  zustande  koramt, 
Denn  die  von  Weiterblickenden  schon  vor  dem  Kriege  ausge- 
sprochene  Wahrheit  ,fSicherheit  durch  Abriistung",  also  das 
Gegenteil  von  „Willst  Du  den  Frieden,  so  ruste  zum  Krieg!" 
wird  dadurch  nicht  unwahr,  daB  auch  der  deutsche  Reichs- 
wehrminister  sie  sich  in  seinem  amerikanischen  Weihnachts- 
Interview  zu  eigen  machte,  Warum  drohen  dann  aber  seine 
Leute  mit  der  autonomen  Aufriistung  Deutschlands,  wenn  der 
Riistungsausgleich  nicht  zustande  kommt? 

Darin  s  to  Ben  die  beiden  Thesen  aufeinander:  Die  deutsche 
sagt;  ,,Wie  konnt  Ihr  uns  eine  unsrer  Grofie  entsprechende 
Wehrmacht  verweigern,  da  Ihr  selbst  in  der  ,nationalen  Ver- 
teidigung'  die  ,Sicherheit'  sucht?"  Die  franzosische  These  sagt: 
,Jhr  Deutschen  seid  durch  Aufnahme  in  den  Volkerbund  und 
durch  den  Kelioggpakt  mehr  als  durch  jedes  Euch  mogliche 
Heer  gesichert.  Benehmt  Euch  nur  recnt  zuverlassig,  daim 
riisten  wir  auch  ab/' 

Beide  Thesen  sind  richtig  —  aber  welche  erobert  Europa? 


Geschieht  nicht  ein  Wunder,  so  wird  also  die  Abriistungs- 
konferenz  die  Hauptsache  nicht  bringen,  namlich  die  Ab- 
riistung. Die  Deutschen  hatten  es  allerdings  in  der  Hand,  ein 
solches  Wunder  heraufzuzaubern,  indera  sie  wie  die  schone 
Porzia  im  „Kaufmann  von  Venedig"  den  Versailler  Vertrag 
wortlich  nehmen,  und  auf  (,Abriistung  auf  den  gleichen  Stand" 
dringen,  eventiiell  unter  Klagandrohung  "beim  Haager  Welt- 
gerichtshof,  Vor  dem  Tribunal  der  offentlichen  Weltmeinung 
hatte  die  deutsche  Politik  diese  Klage  schon  gewonnen,  ehe 
sie  angestrengt  ware. 

Die  Deutschen  wiirden  durch  eine  solche  Klage  gleich- 
zeitig  das  andre  Weltproblem  der  Reparationen  auf  Kriegs- 
schulden  ins  Rollen  bringen.     Denn  trotzdem  seit  Jahren  alle 

120 


groBen  und  kleinen  Politiker  und  Okonomisten  immcr  wieder- 
holt  habent  daQ  Reparation  und  Abriistung  so  miteinander  ver- 
wachsen  sind,  wie  siamesische  Zwillinge,  wird  grade  in  den 
beiden  Landern,  die  am  meisten  daran  interessiert  sind,  am 
wenigsten  von  diesem  Zusammenhang  gesprochen,  namlich  in 
Deutschland  und  Frankreich.  Der  Grund  der  Hemmung  liegt 
darin,  dafl  man  sich  nicht  zu  helfen  weiB,  oder  die  so  einfache 
Losung  scheut. 

Die  Losung  ist  in  einem  Kopfrechenexempel  gegeben. 
Die  vier  Kriegsjahre  kosteten  mit  Kriegsfolgen  rund  1037 
Milliarden  Mark   (davon  700  Milliarden  unmittelbare  Kosten), 
jedes  Jahr  also  rund  250  Milliarden  Mark. 

Die  heutigen  Riistungen  kosten  (nach  Hoover  ,, nearly" 
5000  Millionen  Dollars  jahrlich)  jahrlich  rund  20  Milliarden 
Mark 

Hierzu  treten  verschleierte  Militarbudgets,  Pensionen, 
strategische  Bahnen,  Rustungsindustrieanlagen,  die  auBerdem 
noch  15  bis  20  Milliarden  Reichsmark  jahrlich  betragen,  die 
wir  aber  nur  mit  5  Milliarden  einsetzen  wollen. 

Das  ergibt  zuaammen  also  25  Milliarden;  an  Riistungsauf- 
wand  jahrlich  8 omit  den  zehnten  Teil  dessen,  was  ein  Kriegs- 
jahr  gekostet  hat, 

Wenn  nun  die  deutsche  Politik  unter  dem  Beifall  der 
Welt  den  Riistungsstand  der  andern  Weltmachte  auf  den 
Riistungsstand  Deutschlands  herbeifuhrt,  wenn  man  weiter  fiir 
den  Riistungsstand  Deutschlands  das  Budget  von  1925  mit  rund 
500  Millionen  Mark  ansetzt,  die  damals  seine  nSicherheit"  so 
erfolgreich  garantiert  haben,  daB  es  an  Machtgeltung  —  aller- 
dings  durch  Stresemanns  Verstandigungspolitik  —  sogar  ge- 
wonnen  hat,  so  wollen  wir  fiir  die  iibrigen  sechs  Weltmachte: 
Amerika,  Frankreich,  England,  Sowjetunion,  Japan,  Italien, 
durchschnittlich  denselben  Betrag  ansetzen  (da  dann  gleiche 
Bewaffnung),  also  sechsmal  500  gleich  3000,  zusammen  3500 
Millionen  Mark.  Wir  wollen  aber  in  Anbetracht  der  Kolonial- 
lander,  wozu  auch  die  Sowjetunion  geh6rt,  die  Gesamtsumme 
von  3500  Millionen  aufrunden  auf  5  Milliarden,  wozu  noch 
Einiges  fiir  die  andern  Staaten  treten  mag. 

Betragt  der  Riistungsauiwand  der  Welt  bisher  jahrlich 
25  Milliarden,  kann  er  jedoch  durch  einen  Schritt  auf  den 
Stand  von  etwa  5  Milliarden  gesenkt  werden,  so  werden  den 
Volkern  jahrlich  bis  20  Milliarden  unproduktiver  Ausgaben 
erspart.  Natiirlich  kann  dieser  Schritt  nicht  von  einem  Tag 
zum  andern  geschehen,  aber  in  ein  bis  zwei  Jahren. 

Nun  betragt  der  Reparations-  und  Schuldendienst  der 
sechs  Machte,  einschlieBlich  Deutschlands,  natiirlich  ausge- 
nommen  die  Sowjetunion,  rund  15  bis  17  Milliarden  Mark,  also 
annahernd  die  Summe  der  Ersparnis,  wenn  man  die  Riistungen 
auf  den  Stand  setzen  wiirde,  den  nach  dem  Versailler  Vertrag 
die  Deutschen  verlangen  konnen,  der  auch  den  Erfordernissen 
des  Artikels  8  auf  Abriistung  entspricht,  das  heiBt  MGarantie 
nationaler  Sicherheit  und  Erzwingung  internationaler  Ver- 
pflichtungen/1  Man  braucht  also  nur  die  ersparten  Riistungen 
gegen  die  Schuldenzinsen  aufzurechnen. 

121 


Werden  erst  einmal  die  praktischen  Konsequenzen  aus 
dem  Kelloggpakt  gezogen,  den  alle  Weltmachte  besiegelt 
haben,  dann  ware  auch  bald  die  noch  iibrig  bleibende  Rustung 
—  auch  die  der  Flotten  —  bis  auf  einige  Polizeitruppen  gegen 
politische  Banditen  und  gegen  Seerauberei   uberfliissig. 

Durch  einen  solchen  Schritt  der  Staaten  wiirden  allerdings 
zwei  Weltmachte  schwer  geschadigt,  die  gar  kein  „geo- 
graphisches  Vaterland"  erkennen  lassen,  die  aber  allein  den 
Nutzen  aus  den  Riistung  en  und  dem  Gewaltsystem  Ziehen.  Das 
sind  die  international  Riistungsindustrie  und  die  Hochfinanz. 
Um  im  Jargon  des  Nationalsozialismus  zu  sprechen:  es  wird  da- 
durch  nur  dem  nraffenden"  Kapital,  dem  unproduktiven 
Riistungskapital  und  dem  Finanzkapital,  die  Blutquelle  ver- 
stopft,  das  „schaffende"  Kapital  aber,  das  Produktionskapital 
bekame  sogar  wieder  freie  Hand.  Es  ist  aber  zu  wetten,  daJB 
grade  die  Nationalsozialisten  die  grimmigsten  Gegner  salcher 
Absichten  sein  wiirden.     Und  Herr  Briining  — ? 

Die  groBte  Gefahr  lage  in  dem  anscheinend  schon  ernst- 
haft  vorbereiteten  ,,Riistungsausgleich"  durch  Aufriistung,  daB 
die  rustungsfreien  Staaten  zwar  ihre  Budgets  etwas  vermin- 
dern,  aber  den  Zentralstaaten  wesentliche  Konzessionen 
machen.  Diese  Gefahr  ware  scheinbar  kleiner  als  eine  andre 
Gefahr,  von  der  noch  nichts  deutlich  sichtbar  ist,  die  aber 
drohender .  im  Hintergrund  steht  als  die  allermeisten  ahnen. 
Das  ist  namlich  die  Moglichkeit,  daB  Deutschland  erklart: 
,,Wenn  ihr  nicht  abriistet  oder  einen  wesentlichen  Rustungs- 
ausgleich  gewahrt,  dann  haben  wir  das  moralische  Recht  auf- 
zuriisten,  indem  wir  durch  Austritt  aus  dem  Volkerbund  sozu- 
sagen  den  Versailler  Vertrag  kiindigen.  Ob  wir  auch  die 
materielle  Macht  dazu  besitzen,  wird  sich  zeigen."  Deutsch- 
land hat  die  beste  Trumpfkarte  zu  jedem  Spiel  in  der  Hand. 

Da  die  Erde  sich  weiter  drehen  wird,  so  werden  wir,  wenn 
der  Flieder  blunt,  schon  deutlich  sehen,  wo  die  deutsche 
Politik  hin  will.     Wo  sie  hinkommt,  ist  eine  andre  Frage. 

Brest  oder  Mein  Vaterland  ist  Pilsudski 

von  Lorenz  Pomeranus 

as  erste  Stadium  des  brester  Prozesses  ist  zu  Ende.  Zehn 
fuhrende  polnische  Parlamentarier  sind,  „unter  Beriick- 
sichtigung  ihrer  friihern  Verdienste  um  das  Vaterland",  zu  Ge- 
f angnis  und  Aberkennung  der  biirg^rlichen  Ehrenrechte  ver- 
urteilt  word  en.  Der  von  ihnen  im  Sommer  1931  aus  sechs  Par- 
teien  der  Linken  und  des  Zentrums,  hinter  denen  die  iiberwie- 
gende  Mehrzahl  der  Bauern  und  der  Arbeit erschaft  steht,  ge- 
bildete  Wahlblock  ^Centrolew"  wurde  als  revolutionar  und 
hochverraterisch  in  Acht  und  Bann  getan.  Es  hangt  von  der 
Laune  des  miirrischen  Diktators  und  von  dem  Anstandsgefuhl 
oder  dem  unbekiimmerten  Zynismus  seiner  Paladine  ab,  ob  die 
Angeklagten  in  der  zweiten  und  dritten  Instanz  freigesprocheri 
werden.  Denn  die  Unbefangenheit  oder  vielmehr  di^  Un- 
abhangigkeit    des    polnischen    Gerichts    ist    heute    nur    noch 

122 


D 


ein  Phantom-  Selbst  das  votum  separatum  eines  der 
drei  Richter,  der  sich  fur  die  Freisprechung  einsetzte, 
durfte  nicht  veroffentlicht  werden.  In  den  Regierungskon- 
vehtikeln  erwagt  man  zum  Zwecke  eincs  vermeintlich  morali- 
schen  Effekts  eine  Amnestie,  die  in  erster  Linie  die  brester 
Angeklagten  betreffen  wiirde, 

Personliche  Ressentiments  Pilsudskis,  der  Wunschf  ifcnen- 
politische  Kalamitaten  zu  verschleiern,  und  nicksichtsloser 
Wahlterror  haben  den  ProzeB  ins  Rollen  gebracht;  was  da- 
bei  aufgerollt  wurde,  konnte  der  Offentlichkeit  schlieBlich  nicht 
^vorenthalten  werden.  Aus  dem  Gerichtsverfahren  der  Dikta- 
tur  wurde  ein  ProzeB  gegen  die  Diktatur,  der  Staatsanwalt  zum 
advocatus  diaboli,  zum  Verteidiger  des  Regimes,  wahrend  die 
Verteidigung  sich  schiitzend  vor  die  Verfassung  st  elite.  Ob- 
wohl  eine  Reihe  eklatanter  Tatsachen  nur  angedeutet  werden 
durfte,  erschien  die  Diktatur  in  gespensterhaft  giftiger  Be- 
leuchtung  vor  den  Gerichtsschranken. 

Mit  beneidenswerter  Offenheit  wurde  festgestellt,  daB  alle 
legalen  Wege,  die  Regierung  von  Pilsudskis  Gnaden  zu  stiirzen, 
verschlossen  seien  und  daB  somit  jeder  propagandistische,  par- 
lamentarische  oder  auBerparlamentarische  Versuch  zur  Xnde- 
rung  des  Regierungssystems,  beileibe  nicht  der  Staatsordnung, 
als  Hochverrat  geahndet  werde.  Also  gibt  es  in  Polen  auBer 
dem  Regierungsblock  und  wo  hi  der  Mehrzahl  der  burgerlichen 
judischen  Minoritat,  die  allezeit  bereit  ist,  eine  mimikry- 
hafte  Politik  zu  treiben,  lauter  revolutionise  Parteien. 

Die  Pilsudski-Diktatur  ist  eine  halbe,  eine  verschamte 
Diktatur.  Sie  hat  den  Sejm  und  die  demokratischen  In- 
stitutionen  beibehalten,  um  sie  nach  Bedarf  zu  vergewaltigen. 
Ohne  falsche  Scham  aber  bekennt  sie  durch  den  Staatsanwalt: 
„Wer  wie  wir  in  der  Revolution  siegt;  den  trifft  keine  Strafe. 
Nur  miBlungene  Auflehnung  ist  Verbrechen.    Vae  victis!" 

Fiir  Pilsudski  ist  das  polnische  Volk,  wie  er  sich  selbst  aus- 
driickte,  ein  Idiotenvolk.  Die  schlimmsten  Idioten  sind  die  un- 
ruhigsten;  die  Sozialisten.  So  wurde  dieP.P-S.,  die  Polnische  So- 
zialistische  Partei,  in  der  Pilsudski  einst  groB  geworden  ist,  zur 
Hauptangeklagten.  Ein  Unstern  scheint  uber  ihr  zu  schweben. 
Sie  hatte  den  jetzigen  Herrschern  die  Prazedenzfalle  geliefert, 
indem  sie  sich  selbst  des  Zuchthauses  als  eines  Instrumentes 
im  politischen  Kampf  gegen  die  Kommunisten  bedient  hatte. 
Sie  hatte  die  Offentlichkeit  an  die  iiberfiillten  Gefangnisse  ge- 
wohnt,  ohne  zu  bedenken,  daB  sie  selbst  bei  einem  System- 
wechsel  die  Insassen  wiirde  liefern  miissen.  Sie  hatte  mit  der 
Eisenbahnergewerkschaft  zusammen  den  Sieg  Pilsudskis  ent- 
schieden,  als  er  im  Mai  1926  die  Regierung  Witos  stiirzen 
wollte.  Sie  hatte  seinen  Umsturz  legalisiert,  indem  sie  ihn 
zum  Staatsprasidenten  wahlte.  Die  Fiihrer  der  P.P.S.  hatten 
aber  ganz  genau  wissen  miissen,  daB  sie  von  ihm  weder  fiir  sich 
selbst  npch  ftir  die  von  ihhen  vertretene  Arbeiterklasse  etwas 
zu  erwarteh  hatten.  Noch  kurz  vor  dem  Maiumsturz  erteilte 
Pilsudski  zwei  sozialistischen  Abgeordneten  eine  hohnisch- 
hochmiitige  Abfuhr,  als  sie  ihm  ein  vertrauliches  Angebot 
machten.     Als   die  P.P.S/ all   ihre    unbegruhdeten  Hoftriuhgen 

f23 


vernichtet  sah,  ging  sie  mit  den  verschlagenen  Reaktionaren* 
den  GroObauernfiihrern  Witos  und  Kiernik  ein  Biindnis  ein,  das 
sie  zwar  nicht  ins  gleiche  Paradies  fiihren  konnte,  wohl  aber 
in  die  gleiche  Holle  gebracht  hat.  Hatte  die  Diktatur  sicb 
selbst  nicht  so  erschreckend  bloBgestellt,  es  ware  ihr  bestimmt 
weit  besser  gelungen,  die  P.P.S.  zu  kompromittieren. 

GewiB  kann  man  an  der  Taktik  der  polnischen  Sozialistea 
keine  Freude  haben.  Aber  immerhin  setzten  sie  sich  ant 
energischsten  fur  die  Wahrung  der  kiimmerlichen  Reste  demo- 
kratischer*  Freiheiten  ein.  Die  hochste  Wut  der  Anklage  war 
gegen  ,,Hersch  vel  Hermann  Liebermann,  das  Herz  der  P.P.S. 
und  des  Centrolew"  gerichtet.  Liebermann,  dem  Pilsudski  per- 
sonlich  und  bei  der  Bildung  seiner  Legionen  im  Kriege  viel  ver- 
dankte,  hatte  sich  erdreistet,  im  Staatsgerichtshof  den  Diktator 
mittelbar  der  rechtswidrigen  Aneignung  von  offentlichen  Gel- 
dern  zur  Finanzierung  des  Wahlkampfes  zu  beschuldigen  und 
die  Kontrolle  liber  Pilsudskis  Heeresbudget  zu  verlangen.  Lie- 
bermann war  es  vor  allem,  an  den  Pilsudski  dachte,  als  er  in 
einer  seiner  Reden  die  Verteidiger  der  ,,Konstitution-Prostitu^ 
tion",  die  besch  , „ ,  Abgeordneten,  von  seinen  Soldaten  zur 
Hebung  der  offentlichen  Moral  verprtigeln  zu  lassen  drohte.  Das 
Versprechen  wurde  gehalten,  und  die  Moral  sank  noch  tiefer. 

Zu  einem  Symbol  beinahe  wurde  die  Aktion,  als  Lieber- 
mann, dieser  nicht  immer  glucklich  inspirierte,  aber  chrliche 
und  mutige  und  sehr,  sehr  patriotische  Demokrat,  in  den  Kase- 
matten  von  Brest  dem  rachenden  Arm  Pilsudskis,  dem  Oberst 
Kostek-Biernacki  gegeniiberstand.  Wer  ist  dieser  Offizier? 
Als  Gehdafm  in  den  Legionen  erwarb  er  sich  dank  seiner  Vor- 
liebe,  mit  den  Gefangenen  eigenhandig  kurzen  ProzeB  zu 
machen,  den  Beinamen  „Wjeschatel",  der  Henker.  Er  fiel  in 
Ungnade,  als  er  in  einem  Anfall  von  krankhaftem  MiBtrauen 
und  Blutrausch  einen  Geheimkurier  von  Pilsudski  aufkniipfte, 
Im  neuen  Staat  tauchte  Kostek  dann  uberall  dort  auf,  wo  es 
nach  Blut  roch.  Als  wahrend  des  krakauer  Arbeiteraufstandes 
1923  bekannt  wurde,  daB  Kostek  aus  eigner  Machtvollkommen- 
heit  sich  zwischen  den  Kampfenden  herumtrieb,  erfaBte  ein 
Grauen  die  Arbeiter  und  selbst  die  Offiziere.  „Dunkler  Satan'* 
wurde  sein  zweiter  Beiname  nach  Krakau.  Bis  1931  betatigte 
er  sich  in  der  Heeres-Gendarmerie;  in  Ansehung  seiner  beson- 
dern  Qualitaten  wurden  ihm  die  brester  Gefangenen  anver- 
traut,  und  er  fiihrte  das  blutige  Intermezzo  mit  der  vollendeten 
Regiekunst  eines  Sadisten  durch.  Nach  der  Entlassung  der  Ge- 
fangenen konnte  man  in  den  noblen  warschauer  Nachtrestau- 
rants  einen  gebxickten  Offizier  mit  tiefliegenden,  mystisch  auf- 
flackernden  Augen  und  galligem  Teint  sehen,  der  mit  trunkenen 
Tranen  seinen  Freunden  anvertraute:  „Ich  habe  kein  Vater- 
land  mehr,  mein  Vaterland  ist  Pilsudski!"  Das  war  Kostek- 
Gleichzeitig  erschien  von  ihm  eine  literarisch  nicht  einmal 
wertlose  Novellensammlung  unter  dem  Titel  „Der  Sieger  Teu- 
fel",  in  der  sich  Kostek  zum  Primat  des  Bosen  und  aller  dunk* 
len  menschlichen  Machte  bekannte. 

Als  er  im  Sejm  angegrif  fen  wurde,  veranstaltete  Frau  Mar- 
schall  Pilsudski  einen  Tee  ihm  zu  Ehren,  und  es  blieb  in  den> 

124 


./ilnaer  amtlichcn  Kreisen  nicht  unbekannt,  daB  bei  diesem 
Tee  Kosteks  Ernennung  zum  Wojwoden  von  Nowogrodek  ent- 
schieden  wurde.  Der  Ministerprasident  Prystor  wurde  da- 
gegen  aus  Anstands-  und  Taktgefiihl  bei  Pilsudski  vorstellig, 
aber  der  Diktator  meinte  gelassen;  dieser  Mann  miiBte  fur  seine 
PHichterfiillung  eine  Genugtuung  bekommen. 

Der  brester  ProzeB  lieferte  ein  geschichtlich-juristisches 
Repetitorium  iiber  die  jiingste  Historie  Polens.  Das  System 
enthiillte  sich  restlos  als  eine  absurde  Mischung  von  Auto- 
kratie,  Polizeistaat,  Heldenverehrung  und  Militarcliquenwirt- 
schaft.  Aus  dem  Belvedere-SchloB,  wo  der  vergramte  Heros 
einsam  haust,  strahlt  das  Gnadenlicht  iiber  das  ganze  System. 
In  den  Ministerien,  in  der  Verwaltung  amtieren  des  Marschalls 
treue  Soldaten.  Sie  selbst  werden  von  den  Vertrauensmannern 
der  II.  Abteilung  des  Generalstabes,  einer  Art  Nebenregierung, 
und  von  der  Polizei-Defensive  tiberwacht.  In  den  Polizei- 
revieren  herrscht  die  Holle,  auf  dem  Dorfe  der  Gendarm,  die 
gedungenen  Terroristen  diirfen  ihre  Honorare  gerichtlich  ein- 
klagen, 

Als  Pilsudski  seine  verschamte  Diktatur  etablierte,  gab  er 
vor,  das  unreife  Volk  erziehen  zu  mussen.  Das  Volk  ist  nie 
reif,  sagt  bei  Goethe  der  Herzog  Alba,  Prototyp  aller  Dik- 
tatoren.  Die  Pilsudski-Diktatur  hat  in  Polen  keine  der  schwe- 
ren  aktuellen  Fragen  zur  Losung  gebracht.  Sie  brachte  nur 
das  Monopol  auf  die  Machtanwendung  und  auf  die  Korruption 
und  die  Verwilderung  des  politischen  Lebens,  Polen  hat  sein 
Brest;  andre  offene  oder  verschleierte  Diktaturen  haben  auch 
ihre  Bresthaftigkeit:'  man  kann  nicht  dauernd  ein  Volk  er- 
niedrigen,  urn  das  Prestige  der  Regierung  zu  heben. 


Offener  Brief  um  Nietzsche  von  Hans  nesch  (Rom) 

Cehr  geehrter  Herr  Wrobel!  Verehrter  Herr  Tucholsky! 
*^  Wenn  ich  mich  der  Hoffnung  hingebe,  Sie  wiirden  meinen 
GegenauBerungen  gegen  Ihren  Artikel  ,,Fraulein  Nietzsche"  im 
vorletzten  Heft  der  ,Weltbuhne'  Raum  und  Gehor  schenken,  so 
geschieht  es  in  der  Erwagung,  daB'  Sie  einem  Mitarbeiter  der 
,Weltbuhne',  dessen  nicht  allzuerfahrene  Stimme  iiber  Hoff- 
manristhal  Ihnen  einmal  genehm  erschien,  auch  dann. nicht  die 
Rede  verweigern,  wenn  sie  sich  Ihnen  im  Fall  Nietzsche  als 
ungenehm  erweist.  Ich  spreche  zu  dem  Thema,  weil  ich  der 
Ansicht  bin,  es  sei  der  Sache  zutraglicher,  daB  ich  an  dieser 
Stelle  meiner  Meinung  maBvollen  Ausdruck  verleihe,  als  daB 
kreischende  Schreihalse  in  freier  Horde  und  volltonende 
Brummbasse  in  kompakten  Carre  zum  Rachechor  antreten, 
was  ohnehin  nicht  zu  vermeiden  sein  wird.  Immerhin  habe  ich 
dann  jenen  Unbedingt-Gekrankten  den  Atem  —  pfui  Teufel! 
—  vor  dem  Mund  weggefangen,  ihnen  gewissermaBen  den  ora- 
torischen  Wind  aus  den  Segeln  genommen. 

3  125 


Ich  spreche  hier,  weil  ich  mich  trotz  krassen  Outsidertums 
in  kulturpolitischen  Dingen  doch  viclfach  legitimiert  fiihle,  legi- 
timiert  durch  meine  langjahrige  Beschaftigung  mit  dem  Problem 
Nietzsche,  durch  meine  andauernde  Abwesenheit  aus  Deutsch- 
land,  die  mich  fur  derartige  deutsche  Probleme  hellhoriger  ge- 
macht  hat  als  die  Eingehorenen,  schlieBlich  durch  meine  innige 
Vertrautheit  mit  dem  ,,Mittelmeer",  ohne  das,  nebenbei, 
Nietzsche  immer  nur  philologisch  zu  verstehen  ist.  Und  so  sei 
es  mir  gestattet,  Ihnen  zu  sagen,  daB  ich  Ihren  Aufsatz  fiir 
ebenso  geistreich  wie  blasphemisch,  fiir  ebenso  witzig  wie  ver- 
derblich  halte. 

Sie  vermengen  vor  allem  ein  paarDinge:  die  Frage  des  nach 
Ihrer  und  vieler  andrer,  so  der  Marxisten  Meinung  zu  Unrecht 
fortbestehenden  Urheberrechts,  die  spezielle  Frage  der  MiB- 
handlung  Nietzsches  durch  seine  Erbin  Elisabeth  Forster- 
Nietzsche  und  Sie  springen  am  SchluB  kuhn  entschlossen 
Nietzsche  personlich  —  wie  man  bei  uns  in  Wien  sagen  wiirde: 
mit  dem  nackten  Hintern.  —  ins  Gesicht. 

Zur  Frage  des  Urheberrechts  geben  Sie  selbst  zu,  daB  sie 
solange  of  fen  bleiben  imisse,  als  es  hmerhalb  unsres  Wirt- 
schaftssystems  noch  ein  Erbrecht  gabe.  Was  Ihrer  Ansicht 
nach  aber  unbedingt  zu  verhiiten  sei,  sei  der  MiBbrauch,  der 
von  unbefugten  und  keinesfalls  dem  Erblasser  ebenbiirtigen 
Erben  mit  nachgelassenen  Schriften  getrieben  werde.  Ich 
glaube,  daB  diese  Verfiigungsberechtigung  uber  den  NachlaB, 
solange  der  Begriff  des  geistigen  Eigentums  und  seiner  Ober- 
tragungsmoglichkeiten  eben  besteht,  den  Erben  nicht  entzogen, 
ja  nicht  einmal  unter  irgend  eine  Kontrolle  gestellt  werden 
kann  —  denn  wie  stellen  Sie  sich  eine  derartige  Eigentums- 
beschrankung  vor?  Sie  wiirde  boswilligen  Erben  einen  nur 
noch  groBern  Anreiz  bieten,  moglichst  rasch  und  radikal  alle 
jene  NachlaBteile  verschwinden  zu  lassen,  von  denen  sie  einen 
personlichen  Schaden  erwarten.  Das  mit  dem  ,,Verhaltnis 
zwischen  Max  und  Trude"  ist  schon  richtig,  stimmt  aber  nun 
grade  bei  Nietzsche  gar  nicht. 

Und  so  wenden  wir  uns  gleich,  heil  zum  tausendsten  Male* 
der  so  beliebten  Frage  nach  dem  MiBbrauch,  der  Vernied- 
lichung,  „Verbiirgerlichung"  von  Nietzsches  Werk  durch  das 
Nietzsche-Archiv,  beziehungsweise  durch  seine  Schwester  zu. 
Ich  habe  vor  zwei  Jahren  das  Archiv  besucht,  ich  habe  mit 
Frau  Forster-Nietzsche  mehrere  Stunden  unter  vier  Augen  ge- 
sprochep,  war  weder  pro  noch  kontra  eingenommen,  jedenfalls 
durch  meine  ,,berlinischeM  Herkunft  und  meine  Mitarbeit  an 
radikalen  Zeitschriften,  so  auch  an  der  .Weltbiihne*  keines- 
wegs  gut  angeschrieben  —  ich  hatte  nur  den  bescheidenen 
Wunsch,  Dinge  der  Literatur  und  Tradition  einmal  mit  eignen 
Augen  zu  sehen  und  zu  erlebcn. 

Es  ist  sicherlich  im  Archiv  nicht  alles  so,  wie  es  sein  soli. 
Es  ist  um  einen  toten  Corpus  eine  allzu  pompose  Hiille  ge- 
schlagen,  Wir  hassen  nach  gewissen  Urgesetzen  der  Historie 
grade  das  vor  dem  unsern  letzte  Zeitalter,  und  dieser  HaB 
farbt  ab  —  wir  sehen  Nietzsche  zwischen  Sezessionstiiren  hin- 

126 


gestellt,  hingelagert  bei  Schlangen  und  Orchideen,  und  wir  sind 
miBtrauisch;  a  priori  polemisch.  Ich  bemcrkc  iibrigens,  daB 
jede  Polemik,  jedcr  Angriff,  auch  der  letzte  von  Doktor  Wurz- 
bach  in  der  .Vossischen  Zeitung'  bis  heute  als  Resultat  niemals 
Klarhcit  gebracht,  sondern  stets  nur  neucn  Staub  aufgewirbelt 
hat.  Mir  wurde  in  dem  Sezessionsarchiv  also  alles  gezeigt, 
was  da  ist.  Ich  habe  die  personlichek  vollkommeri  personliche 
Uberzeugung  gewonncn,  daB  nicht  mchr  da  ist  als  gezeigt  wird, 
und  nichts  beiseite  geschafft  odcr  vcrnichtet  ist,  Ich  habe 
Frau  Forster-Nietzsche  als  eine  alte  Dame  kennen  gelernt,  von 
der  ein  Strahl  der  charmanten  Liebenswiirdigkeit  der  Acht- 
ziger-Jahre  und  ein  leiser  Glanz  der  Nahe  groBer  Dinge  aus- 
geht,  als  einen  klugen,  etwas  zu  hitzigen  Kopf,  ein  Tempera- 
ment, ein  Phanomen.  Was  an  Menschen  um  sie  ist,  ist  teils 
belanglos,  teils  iibel  Sie  selbst  ist  verehrungswiirdig.  Ich 
kann  mir  nicht  helfen,  mich  erfiillt  es  nicht  mit  dem  negativen 
Gefiihl:  ,,Herrgott,  was  fiir  eine  unverschamte  Verniedlichung!", 
wenn  sie  von  Friedrich  Nietzsche  mit  „Der  liebe  Fritz"  spricht, 
sondern  eher  mit  den  Schauern  der  Zeitlosigkeit,  wie  wir  sie 
etwa  empfanden,  wenn  da  einer  herkame  und  sagte:  ,,Und  so 
habe  ich  ihn  also  nie  wieder  gesehn,  den  Holder  — " 

DaB  sie  bemiiht  ist,  Nietzsches  Krankheit  nicht  als  tertiare 
Syphilis  gelten  zu  Jassen,  ist  verstandlich  —  bei  einiger  Tole- 
ranz  fiir  den  moralisch  Andersglaubigen,  Ich  empfehle  Ihnen 
hier  zur  Lektiire  Harald  Landrys  ausgezeichnetes  Nietzsche- 
Buch,  erschienen  im  Volksverband  der  Biicherfreunde,  Landry 
kommt  zu  erstaunlichen  und  neuen  Resultaten,  er  sieht  nam- 
lich  in  der  letzten  Krankheit  Nietzsches  nichts  als  eine  gigan- 
tische  Flucht  ins  jihysische  Leid,  wie  es  Nietzsche  schon  bei 
andern  Gelegenheiten  gelungen  ist,  die  Realitat  dem  Wirken 
seines  Willens  unterzuordnen.  Jedenfalls  wird  man  wohl  nie 
in  dieser  Beziehung  vollige  Klarheit  haben;  was  auch  gleich- 
giiltig  ist,  so  gleichgiiltig,  daB  meines  Erachtens  nach  jeder,  der 
in  einem  solchen  Zusammenhang  das  Wort  , , Burger"  als  ab- 
sprechendes  Werturteil  gebraucht,  wie  Sie  es  tun,  selbst  zum 
,  „Biirger"  wird,  auch  vor  denjenigen,  die  darin  keinen  Wert  und 
Unwert  sehen.  Nietzsches  Gesundheit  oder  Krankheit  ist  mit 
andern  als  den  vermufften  MaBstaben  des  gestorbenen  Re- 
volutions-Expressionismus  zu  messen. 

Hier  aber  verlieren  Sie  sich  in  die  sonderbarsten  Hyper- 
beln.  Wenn  Nietzsche  —  und  Sie  zitieren  zwar  einerseits  ein 
paar  Gegenstimmen  unter  seinen  Freunden  als  typisch  und  zu- 
gleich  als  befreiend  frisch-materialistisch  nach  all  der  tIiiber- 
spannten"  Nietzsche-Ideologie  —  wenn  Nietzsche  aber  andre, 
vielleicht  postume  Freunde  hatte,  die  ihn  verhimmelten  und 
ihn  in  aufdringlicher  Weise  zum  beweihraucherten  Popanz 
machten,  woiiir  Sie  die  Belege  schuldig  bleiben  —  Rohde,  Hille- 
brand,  Overbeck  haben  ihn  ja  nach  Ihrer  Meinung  mit  Recht 
abgelehnt,  wahrend  ihn  doch  die  Schwester  miBverstanden  und 
geschandet  hat  —  so  sei  er  jedenfalls  fiir  alles  mitschuldig, 
was  jetzt  und  vor  zehn  und  zwanzig  Jahren,  besonders  vor 
siebzehn  Jahren  in  seinem  Namen  geschah.  Alle  Esoterik  zum 
Teufel  —  „Nur  Schwachlinge  sind  esoterisch." 

127 


Glaube  ich  einfach  nicht.  Soil  ich  zitieren?  Nicht  nut 
Stefan  George,  der  wirklich  alles  andre  als  ein  Schwachling 
ist,  auch  Goethe,  -dessen  Worte  zu  Eckermann  und  Riemer  in 
seiner  romantischen  Zeit  eine  einzige  esoterische  Lehre  dar- 
stellen,  auch  Plato,  der  so  esoterisch  war,  daB  nur  ein  narri- 
scher  Konig  an  ihm  Gefallen  finden  konnte  —  von  dem  heut- 
zutage  modisch  ganz  zu  Unrecht  unterschatzten  Wagner  zu 
schweigen.  Die  Frage  der  Verbreitung  iiber  einen  gewissen 
Kreis  hinaus  ist  eine  Frage  des  Temperaments  des  Zuverbrei- 
tenden,  des  Zufallerfolges  —  vielleicht  auch  der  materiellen 
Verhaltnisse.  Das  geht  nun  aber  nicht,  daB  man  auf  der  einen 
Seite  die  Abgeschlossenheit  und  ungeheure  Einsamkeit  —  „ich 
bin  allein,  absurd  allein",  schreibt  Nietzsche  einmal  —  zum 
Kriterium  verdachtiger  Geister  macht,  auf  der  andern  Seite 
mit  beifalligem  Spott  die  AuBerungen  Hofmillers  zitiert,  der 
mit  der  ganzen  Unvoreingenommenheit  eines  miinchner  For- 
schers  Nietzsches  geringe  Leserschaft  — „in  jeder  Stadt  einer, 
im  ganzen  sechs"  —  mit  den  Mafistaben  der  GroBauflagen  deut- 
scher  Kriegsbiicher  miBt.  Entweder  ist  Verkanntheit  eine  ab- 
sichtliche  Pose,  dann  ist  sie  kein  Unheil,  oder  sie  ist  verdient, 
dann  ist  sie  nicht  absichtlich  sondern  das  Stigma  des  Genies  — 
lacherlich  ist  sie  bei  Nietzsche  keineswegs. 

Und  so  gehts  nun  munter  weiter  in  den  Werturteilen  iiber 
Deutschlands  ersten  modernen  Geist.  Ich  verstehe  Sie  nicht, 
Herr  Wrobel  —  haben  Sie  niemals  Nietzsches  Briefwechsel 
gelesen?  Kennen  Sie  alle  seine  Arbeiten?  Auch  die  wiirdigste 
und  tiefste  seiner  Biographien,  Bertrams  Nietzsche-Buch? 
Wenn  ja  —  wie  konnen  Sie  dann  nicht  sehen,  daB  Nietzsche 
ein  einziges  und  ewiges  Buch  geschrieben  hat  —  sein  Leben? 
Mitten  in  der  lacherlichen  und  iiberheblichen  Zeit  des  Cancans 
und  des  ersten  elektrischen  Gliihbirnenrausches  das  ergrei- 
fende  Buch  des  letzten  Individtialisten,  des  letzten  Idealisten 
quand  meme,  des  letzten  Religionsstifters?  Glauben  Sie  wirk- 
lich, es  sei  moglich,  Nietzsches  Einsamkeitsmartyrium  mit  den 
Worten  „kokett  betonte  Einsamkeit"  abzutun,  seine  ungemein 
weise,  intuitive  Stellung  zu  allem  Weiblichen  mit  einem  blas- 
phemisch  imputierten  Sado-Masochismus,  welche  Theorie  sich 
auf  eine  notabene  apokryphe  Scherz-Ansichtspostkarte  stiitzt, 
seinen  Wahnsinn  mit  dem  herzhaften  Epitheton  zu  belegen: 
tfNietzsche,  der  Hotte  Manische"?  Oh,  warum  machen  Sie  es 
unsern  gemeinsamen  Feinden  im  Lager  der  hakengekreuzigten 
Dummheit  so  leicht?   Darf  man  das? 

Man  darf  nicht,  Man  darf  nicht,  weil,  wenn  es  irgendwo 
heilige  Werte  gibt,  das  Leben  heilig-leidender  Menschen  auch 
den  geistreichsten  Wortspielereien,  den  kliigsten  Analysen  un- 
angreifbar  bleiben  muB.  Ist  nicht  in  der  ,Weltbuhne*  erst  un- 
iangst  von  Walther  Karsch  Werfel  der  Vorwurf  gemacht  wor- 
den,  er  schiitte,  wenn  er  von  unerfreulichen  personlichen  Ne- 
benerscheinungen  auf  den  ganzen  Bolschewismus  schlieBe,  das 
Kind  mit  dem  Bade  aus?  Was  dem  Aufbau  der  neuen  Wirt- 
schaftsordnung,  der  Gltickseligkeit  fiir  alle  durch  Leidvermei- 
dung  recht  ist,  das  muB  auch  dem  letzten  Heros  des  sterben- 

128 


den  Europa,  der  die  individuelle  Leidiiberwindung  durch  Leid- 
bejahung  lehrte  und  lebte,  billig  sein, 

Denn  es  ist  nicht  wahr,  da8  man  aus  Nietzsche  alles  her- 
auslesen  kann.  Nietzsche  kann  nur  absichtlich  miBverstanden 
werden.  Weder  konnen  ihn  brutale  Kriegshetzer  noch  die  Na- 
tionalsozialisten  fiir  sich  in  Anspruch  nehmen,  ohne  ihm  Ge- 
walt  anzutun.  Auch  das  Evangelium,  auch  Goethe  sind  miB- 
braucht  worden.  Von  dem  professionellen  MiBbrauch  Dantes 
leben  in  Italien  ganze  Generationen.  Nietzsche  hat  sich  ge- 
wandelt,  nicht  einmal  das:  er  ist  gewandert  und  darum  kann 
er  tins  an  jeder  Station  unsres  Lebens,  sofern  sie  von  dem 
Schnellzug  der  guten  Gedanken  beriihrt  wird,  den  Trost  eines 
frischen  Glases  Wasser,  die  Aussicht  auf  ein  neues  Stuck  Welt 
spenden.  Es  ist  immer  dasselbe,  was  wir  durch  seine  Augen 
sehen;  nur  die  Bahn  unsres  Lebens  macht  Kurven. 

Glauben  Sie  nicht,  es  ware  wichtig,  in  Nietzsche  den  wah- 
ren  Helden  des  Geistes  zu  zeigen  und  ihn  alien  falschen  Ra- 
dauhelden  des  Mauls  entgegenzuhalten?  Gibt  es  Gotteslaste- 
rung?  Soil  en  wir  nicht  lieber  Halbgotter  zu  Gotter  zu  erhohen 
versuchen  und  unsern  Witz  an  den  Lasterungswiirdigen  er- 
proben?    Es  gibt  Gotteslasterung. 

Als  die  Antike  sich  zum  Sterben  anschickte,  da  hat  sie  es 
wenigstens  noch  uber  sich  gebracht,  ihre  Kaiser  zu  j.Divi"  zu 
erheben.  Unsre  Zeit  beweist  ihre  Armut  im  Herzen  dadurch, 
daB  sie  auch  die  ungekronten  und  verlassenen  Kaiser  des 
Geistes  als  kleine  Lehmfiguren  neben  die  StraBenlachen  stellt, 
so  daB  jeder  Voriibergehende  aus  einem  andern  Bezirk  der 
Welt  sie  fiir  die  Nasenpopel  einer  Kultur  mit  Stockschnupfen 
halten  kann.  Wenn  nun  einer  in  Gotha  oder  Weimar  oder 
Kyritz  aufsteht  und  Ihnen  sein  MBerliner  Schnauze!"  entgegen- 
schleudert  —  was  wollen  Sie  antworten?  Sie  muss  en  schwei- 
genf  denn  jene  horen  nur  den  witzig  und  leise  schnarrenden 
Feidwebelunterton  Ihrer  Diktion  und  spiiren  nicht  das,  was  Sie 
treibt,  und  nicht  das,  was  Sie  wollen.  Und  wenn  man  schrei- 
ben  darf:  „Nietzsche  drippte"  —  dann  zeichne  ich  mir  das 
nachste  Mai,  wenn  ich  schlecht  gelaunt  bin,  einen  christlichen 
Heiland  im  Frack  und  Rumba  tanzend  mit  Kreide  an  meine 
Haustiire  und  entziehe  mich  der  Verantwortung  mit  der-  Mit- 
teilung:  1(Der  Herrgott  spurts  nicht,  wenn  ich  uber  ihn  lache." 

Nein.  Ich  furchte,  Sie  werden  mich  nicht  verstehen.  Ich 
Sie  nicht,  Sie  mich  nicht  und  leider  auch  nicht  Nietzsche. 
t,Kein  Laut,  kein  Wort  der  Liebe  erreicht  mich  mehr",  schrieb 
Nietzsche  an  seine  Schwester  —  soil  es  ihm  auch  noch  als 
reiner  Geist  der  Liifte  nicht  anders  ergehen?  Und  wenn  wir 
schon  bei  Nietzsches  Briefen  sind  —  lesen  Sie,  ich  bitte  Sie, 
verehrter  Herr  Tucholsky,  Nietzsches  Brief  an  seine  Schwester 
vom  20.  Mai  1885,  wo  er  ganz  genau  zu  all  dem  Stellung 
nimmt,  was  Sie  und  auch  ich  hier  auf  dem  Herzen  hatten,  vor 
allem  zu  der  Frage  der  MiBdeutung  durch  nahe  und  fernere 
Verwandte  —  lesen  Sie  aber  auch  seinen  Satz  iiber  die  Lou 
Andreas-Salome,  die  Sie  sicher  auch  nicht  leiden  mogen: 
1(Dieser  Art  Mensch,  der  die  Ehrfurcht  fehlt,  muB  man  aus  dem 
Wege  gehen." 

129 


Kampf  Utn  KolbenaU  von  Gerhart  Pohl 

Diese  Szene  ist  einem  gleichnamigen  Drama  aus  der  deut- 
schen  Revolution  von  Gerhart  Pohl  entnommen,  das  am  27.  Ja- 
nuar  im  Komodienhaus  von  der  Spielgemeinschaft  Berliner 
Schauspieler,  unter  der  Regie  von  Fritz  Staudte,  zur  Auffuh- 
rung  gebracht  wird, 

(Die  vordere  Tiir  wird  um  einen  schmalen  Spalt  geoffnet.  Ein  Ge- 
sicht  lugt  ins  Zimmer.  Danach  wird  die  Tiir  ganz  geoffnet  und  der 
Schiitze  Kabierske  schleicht  leise  herein.  Er  bleibt  in  der  Nahe  der 
Tiir  stehen  und  mustert  den  Raum.  Kabierske  ist  ein  etwa  fiinfund- 
zwanzigjahriger  Bauernbursche  mit  stumpfsinnigem  Gesichtsausdruck  t 
untersetzt  und  vierschrbtig.  Er  tragi  eine  schmutzige  feldgraue  Uni- 
form mit  Wickelgamaschen  und  wirkt  verwahrlost.  Er  spricht  ge- 
brochen  deutsch,  das  sogenannte  „Wasserpolnisch" .) 

Kabierske  fruft  halblaut  durch  die  gebffnete  Tiir):  Komm  sich 
mal  her,  Kammrad  Klapper!  Aber  dallil  Komm  sich  gleich,  (Als 
niemand  kommtf  geht  er  allein  durch  den  Raum  und  mustert  mit  kind- 
licher  Neugier  Mobel,  Teppiche,  Gardinen,  Bilder  etcetera.) 

Kabierske  (wahrend  der  Musterung  fur  sich,  mit  ehrfiirchtigem 
Staunen):  Pierunna!  Is  sich  das  aber  scheener  Kontor!  ..,0  mui 
Boschef  Noch  scheener  wie  bei  uns  zu  Hause  der  Biero  von  Herrn 
Landrat  . . .  Aoch!  Wie  fier.  den  Kaiser  Wilhelm  oder  Firschtlich- 
keit,  Exellenzen!  ...  Und  lauter  scheene,  gutte,  teure  Sachenf  (Er 
faBt  einzelne  Sachen  vorsichtig  an):  Alles  von  blankes  Silber  und 
Dukatl 

(In  diesem  Augenblick  sieht  er  den  silbernen  Zigarrenbehalter 
Pliineckes.  Er  offnet  ihnf  schnalzt  mit  der  Zunge,  sieht  sich  verstoh- 
len  um  und  greift  nach  einer  Zigarre.  Da  tritt  der  Gefreite  Klapper 
ein.  Er  ist  alter  und  groBer  als  Kabierske,  tragi  eine  gutsitzendef 
aber  verbrauchte  feldgraue  Unitofm  und  gepflegte  Ledergamaschen. 
Er  ist  rasiert,  trdgt  eine  Blume  im  Knopfloch  und  hat  eine  lassige 
Haltung.  Er  ist  der  Typus  einer  verbummelten  GroBstadtexistenz 
ohne  Beruf  und  Bindung.) 

Klapper:  Du  klaust  Zigarren?      Du  hinterfurziger  Doofkopp! 

Kabierske  (laBt  erschreckt  die  Zigarre  fallen.  Dann  lacht  er  Klap- 
per blbde  an.  Demiitig-verschlagen):  Na  weifite,  Kammrad!  Ich 
wollte  fier  dich  auch  eine  holn,  von  die  Zigarrn,  scheene,  gutte,  hier. 

Klapper  (ist  an  den  Rauchtisch  getreten,  nimmt  den  Kasten  und 
riecht  an  den  Zigarren):  Echt  Habanna,  Sticker  acht  Jroschen,  wenn 
det  langtf  Die  Pinkel  vastehn  det  Leben,  mein  lieber  Schwan!  (Er 
rafft  die  seeks  Zigarren,  die  in  dem  Kasten  sind,  zusammen,  als  ob 
das  selbstverstandlich  ware.) 

Kabierske  (halt  die  Hand  auf):  Na  weifite!  Du  alles  alleine? 
(verschlagen)  Kammrad,  du  gibst  mir  auch  eins,  und  ich  halt  die 
Fresse!     Bei  Maria  und  JosefF 

Klapper:  Sonst  hau  ich  dir  auch  in  Klumpen,  du  Sauhund!  (Er 
wirft  ihm  eine  Zigarre  vor  die  FiiBe  und  verstaut  die  andern  mit 
liebevoller  Sorgfalt  in  der  Brusttasche.) 

Kabierske  (hebt  grinsend  die  Zigarre  auf  und  steckt  sie  weg). 

Klapper  (liimmelt  sich  in  einen  Klubsessel):  Junge,  Junge,  mir  is 
mulmig   um   'n  Deckel !     Die  Schose  stinkt . . , 

Kabierske  (treuherzig):  Wieso  stinkt? 

Klapper  (wiitend):  Du  bist  det  mickrigste  Aas,  det  ich  jemals 
vorn'n  Zinken  jekriecht  hab.  Die  Sache  mit  der  Hartwig  stinkt,  wo 
unser  oiler  Schnicker  vorhin  jenaselt  hat,  der  Dreckskerl!  (Er  riilpst) 
Det  Beste  is,  ma  laBt  seine  Finger  wej,  von  den  Topp!  Da  vabrieht 
ma  sich  besser  nich  dran! 

130 


Kabierske:  Na  weiBte,  Kammrad!  Solches  hoches,  strenges  Be- 
Jehl  —  wir  missen   schont  ansfiehrnl 

Klapper:  Wat  jehn  mir  der  ihre  hochsten  Befehle  an.  Mir  is 
die  Frau  nich  zu  nahe  heranjetreten.  Hatt'  ick  mir  ooch  mit'n  paar 
Maulschellen  hoflichst  verbeten.  Wat  heefit  hier  (karikierend)  Staats- 
feindin  —  die  habn  woll'n  Knall  wech!  (karikierend)  Vaterlandsver- 
raterin  —  Die  Frau  hat  doch  ooch  ihre  Idealef  Junge,  wenn  ick 
Zaster  hattel  (Er  macht  die  Bewegung  des  Zahlens)  Ick  melde  je- 
horsamsb   keene  Stunde  langer  bei   de  Laubfrosche. 

Kabierske  (verschlagen):  Na  ja(  eben!  Und  du  kriegst  doch  jetzt 
welche.  Hat  der  Herr  Oberleutnant  gesagt.  Wir  kriegen  viele  Gel- 
«ler.  Zehntausend  echte  deutsche  Marken.  Ich  fimftausend  Marken 
und  du  fimftausend  Marken  I  0  mui  Bosche,  Kammrad.  Finftausend 
Marken  is  sich  Gelder  vieles  genug.  Pierunna!  Ich  hab  noch  nie 
nich  fimftausend  Marken  auf  ein'  Haufel  gesehnf 

Klapper  fist  aufgesprungen,  Mehr  fur  sich,  Hysterisch  —  er- 
regt):  Mensch,  jetzt  jeht  mich  erst  'n  Seifensieder  off  in  mein  Dos- 
kopp.  Fiinftausend  Emm  hier  (er  off  net  und  schlieBt  den  Hand- 
teller)  —  und  ick  bin'n  freier  Mann!  Und  denn  wej  mit  de  dreckijen 
Klamotten  hier.  (Er  zupft  verachilich  an  der  Uniform):  an'n  Scheifi- 
hausnagel  mit  se,  wo  se  langst  hinjehorn.  Wat  heeBt  hier  Vater- 
land  —  det  nenn  ick  ne  jlatte  Rechnung:  Een  Schlach  vorn  Dez  der 
ollen  Sau  und  icke  bin  selbstandij.  Mensch,  weeBte,  wat  ick  denn 
tu?  Ick  koof  mer  for  det  Jeld  ne  Kneipe  in  Pankow,  wo  ick  zu- 
hause  bin.  Det  heeBt  ne  solide  Existenz  endlich  ooch  vor  mir.  Und 
wer  det  hat,  Junge,  der  is  heutjen  Tags  ooch  —  *n  anstandjer  Mensch! 

Die  Furcht  der  Intellektuellen  vor  dem  Sozialismus 

von  B6Ia  Bal&zs 

II 

Grade  gegen  den  Zustand  der  Dualitat  lehnt  sich  die  klassenbewuBte 
Arbeiterschaft  auf,  die  doch  am  meisten  darunter  zu  leiden 
hat.  Sie  will  in  der  sozialistischen  Gesellschaft  eine  menschenwiirdige 
Losung  schaf f en.  Grade  weil  sie  sich  gegen  die  unmenschliche  Mechani- 
sierung  ihrer  gesamten  Lebenskraft  auflehnt,  gegen  eine  geistlose  Wirk- 
lichkeit,  grade  darum  hat  sie  auch  keinen  Sinn  fur  die  andre  Seite 
desselben  Prozesses,  fur   den  wirklichkeitslosen   Geist. 

Die  falsche  Angst  vor  der  Mechanisierung  des  Lebens  macht  so 
verstockte  Intellektuelle  wie  etwa  Franz  Werfel  zu  Maschinenstiir- 
mern.  Sie  traumen  sich  in  ihrer  damp fgeheiz ten  und  elektrisch  be- 
leuchteten  Wohnung  in  irgend  ein  vorindustrielles  Paradies  zuruck.  Sie 
werfen  Amerikanismus  und  Bolschewismus  in  einen  Topf,  weil  das 
russische  Proletariat  nicht  gewillt  ist,  auch  weiterhin  in  unzivilieier- 
terf  tierischer  Primitivitat  zu  leben. 

Aber  die  Industrialisierung  ist  ein  unaufhaltsamer  und  auch  not- 
wendiger  ProzeB,  und  es  fragt  sich  nur,  ob  er  sich  fur  oder  gegen  das 
Proletariat  auswirkt.  Die  Maschine  in  der  sozialistischen  Gesellschaft 
wird  dazu  da  sein,  den  Menschen  gemigend  Zeit  und  Kraftiiber- 
schuB  zu  lassen  fur  ihre  personliche  Kultur.  Jawohl,  eben  auch  fur 
ihre  „lnnerlichkeit".  Was  ist  denn  Seele?  Der  vierstiindige  Arbeitstag. 

Es  ist  tatsachlich  eine  Schicksalsfrage  der  gesamten  Kultur,  ob 
der  Mensch  die  Technik  oder  die  Technik  den  Menschen  sich  zu  eigen 
machen  wird.  Grade  vor  dieser  grofien  kulturellen  Gefahr  ist  der 
Sozialismus  die  einzige  Rettung. 

Wenn  diese  Intellektuellen  etwa  die  sowjetrussische  Literatur 
lasen,  dann  muBten  sie  merken,  wie  unvergleichlich  different 
^ierter,   sensibler,    gefiihlsbeschwingter,    poetischer    diese    Erzahlungen 

131 


im  allgemeinen  geschrieben  sind  als  die  entsprechende  junge  deutsche 
Literatur.  Der  sachliche  Stil  ist  jedenfalls  in  Jungdeutschland  Mode 
geworden.  In  RuBland  nicht!  Oder  ist  es  ihnen  noch  nicht  aufgef al- 
ien, daft  die  russischen  Filme,  diese  bosen  politischen  Tendenzf ilmef 
neben  andern  neuen  Werten  zum  ersten  Mai  eine  artistische  Feinheit 
der  Photographie,  eine  malerische  Bildgestaltung  offenbart  haben,  ne- 
ben der  die  amerikanischen  und  deutschen  Filme  . . .  nun  eben  sehr 
sachlich  wirken? 

IV.  Die  Angst  vor  einem  Niedergang  der  ()BUdung"  in  der  sozia- 
listischen  Gesellschaft. 

Da  wollen  wir  erst  einmal  fragen;  was  ist  Bildung?  Ein  bestimm- 
tes  Wissen  und  ein  bestimmtes  Verstandnis.  Ein  bestimmtes,  Denn 
nicht  jedes  Wissen  und  auch  nicht  jedes  Verstandnis  verleiht  Bildung. 
Es  gibt  ganz  ungebildete  Fachleute  mit  enormen  Spezialkenntnissen. 
Sie  werden  mit  der  wachsenden  Spezialisierung  der  Wissenschaften 
immer  haufiger.  Ebenso  ist  es  mit  dem  spezifischen  Verstandnis  und 
dem  „Gefiihl  fiir  etwas".  In  jeder  Zeit  gab  es  fur  die  gebildeten 
Klassen  ein  bestimmtes,  gleichsam  representatives  Wissen,  das  Bil- 
dung bedeutete.  Es  gab  Zeiten  im  Mittelalter,  wo  der  theologisch 
Geschulte  als  gebildet  gait.  Spater  gab  es  die  „humanistischeM  Bil- 
dung. Die  Kenntnis  der  Antike  war  Grundlage  und  Inhalt  der  Bil- 
dung. Fiir  unsre  Eltern  kam  nur  eine  asthetische  Bildung  in  Frage. 
Wer  in  der  schonen  Literatur  nicht  bewandert  war,  wer  an  einem  Bild 
nicht  von  weitem  den  Maler  erkannte,  der  war  ungebildet,  mochte 
er  auch  sonst  ein  grower  Gelehrter  gewesen  sein. 

Bildung  verlieh  namlich  in  jeder  Zeit  nur  jenes  Wissen,  das  ein 
Weltbild  zu  vermitteln  vermochte  und  aus  dem  man  Konsequenzen  zu 
einer  Lebenshaltung  ziehen  konnte.  Fiir  die  burgerliche  Gesellschaft 
gab  es  eine  Wissenschaft  von  der  Bedeutung  solcher  Totalitat  nicht 
mehr.  Die  Kunst  gab  ihr  noch  den  letzten  Weltanschauungsersatz 
durch  ein  unbestimmtes  Weltgeftihl.  Das  war  eigentlich  gar  keine 
Bildung  mehr,  weil  sie  nur  zu  passiven  ..Erlebnissen",  aber  zu  keiner 
aktiven  Beherrschung  des  Lebens  mehr  befahigte.  Aber  seitdem  die 
einheitlichen  asthetischen  Normen  auch  in  die  Bruche  gingen,  besitzt 
die  Bourgeoisie  iiberhaupt  kein  Wissen  mehr,  das  eine  konsequente 
Lebenshaltung  vermitteln  konnte.  Da  hilft  kein  Lernen.  Denn  was 
soil  sie  lernen,  urn  gebildet  zu  sein?  Wenn  ein  junger  Mann  heute  mit 
dieser  Frage  zu  Euch  kommt,  was  wollt  Ihr  ihm  raten?  Soil  er  Natur- 
wissenschaften  und  Technik  lernen?  Er  kann  ein  groBer  Gelehrter 
werden,  aber  wird  er  „gebildetM?  Soil  er  Philosophic,  Kunst  und 
Literaturgeschichte  studieren?  Gibt  das  heute  Weltanschauung  und 
Lebensstil?  Gibt  es  ihm  Halt  und  tiefere  Beziehung  zu  den  Wirklich- 
keiten  der  heutigen  Welt?  Es  leben  noch  viele  mit  einer  Vorkriegs- 
bildung,   aber   es   gibt   keine  gtiltige  burgerliche  Bildung  mehr. 

Und  doch  gibt  es  heute  eine  representative  Wissenschaft,  die  ein 
Weltbild  und  eine  Weltanschauung  zu  vermitteln  vermag,  eine  Wis- 
senschaft, die  die  Beziehungen  und  Gesetze  der  heutigen  Gesamtwirk- 
lichkeit  darstellt,  deutet  und  wertet,  eine  Wissenschaft,  aus  der  man 
Konsequenzen  fur  das  Urteilen  und  Handeln,  fiir  die  gesamte  Lebens- 
haltung ziehen  kann.  Es  ist  nicht  die  Wissenschaft  der  Bourgeoisie.  Es 
ist  der  historische  Materialismus,  der  Marxismus.  Es  ist  die  Wissen- 
schaft des  klassenbewuBten  und  politisch  geschulten  Proletariats.  Es 
ist  die  Grundlage  der  proletarischen  Bildung,  die  es  heute  bereits 
gibt.  Hier  soil  noch  bemerkt  werdei*,  dafi  Intellektuelle  es  fiir  ein 
verachtliches  Zeichen  der  Unbildung  ansehen,  wenn  einer  falsch,  weil 
aus  zweiter  Hand,  zitiert,  daB  aber  dieselben  Intellektuellen  sich  nicht 
genieren,  iiber  Marx  zu  reden,  den  sie  niemals  richtig  gelesen  haben. 
V.  Ein  grofier  Teil  der  linken,  sogar  revolutionar  gesinnten  Intel- 
lektuellen lehnt  den  Marxismus  als. Weltanschauung  ab.  Und  zwar 
mit  folgenden  typischen  Begriindungen: 
132 


a)  weil  er  „einen  ungeistigen  Materialismus  predigt,  der  eine 
Herabsetzung  des  Menschen  bedeute"  (Doblin) ; 

b)  weil  er  nur  auf  „die  blofle  Okonomie"  bedacht  sei,  in  der  das 
„Menschliche  verloren  ginge"    (Doblin); 

c)  weil  die  Ideologienlehre,  die  Lehre  vom  geistigen  f,tJberbau"r 
angeblich  jedes  klassenmafiig  bedingte  Denken,  mithin  jedes  Denken, 
als  falsch  und  als  Illusion  ansehe.  Hierzu  kommt  noch  die  der  bur- 
gerlichen  Soziologie  sebr  willkommene  Theorie  des  jungen  frankfur- 
ter Ordinarius  Karl  Mannheim.  Sein  Dreh  lautet:  Die  marxistische 
Ideologielehre  ist  richtig.  Mithin  ist  der  Marxismus  auch  «,nur"  eine 
Ideologie.  Also  hat  sie  auch  keinen  Anspruch  auf  absoluten  Wahr- 
heitswert, 

Einen  vom  Horensagen  gekannten,  miBverstandenen  oder  bewuBt 
verfalschten,  einen  versimpelten  „Vulgarmarxismus"  stellen  sie  als 
Schreckgespenster  vor  sich  und  vor  andre  hin.  Denn  diesen  „ungeisti- 
gen"  Materialismus  hat  Marx  nie  gelehrt, 

Doblin,  zum  Beispiel,  in  seinem  Ftihrer  fur  ideologische  Weg- 
sucher  (Wissen  und  Verandern)  erkennt  zwar  die  okonomische  Grund- 
lage  und  den  Klassenkampf  an,  meint  aber:  „Er  ware  kein  mechani- 
scher  ProzeB,  in  den  die  Menschen  ganz  passiv  hereingeraten,  ohne  mit 
dem  Denken  und  Fiihlen  sich  beteiligen  oder  eingreiferi  zu  konpen.1* 

Wann  und  wo  hat  denn  Marx  das  behauptet?  Wohl  lehrt  er  das 
Primat  des  Seins  vor  dem  BewuBtsein,  das  Doblin  ja  auch  anerkennt, 
aber  Marx  stellt  die  Beziehung  zwischen  dem  materiellen  Sein  und 
dem  geistigen  BewuBtsein  als  einen  dialektischen  ProzeB  dar,  in  dem 
eines  auf  das  andre  immerfort  ruckwirkt  und  dadurch  uberhaupt  erst 
Entwicklung  und  Geschichte,  dadurch  erst  das  Werden  in  Gang  kommt, 
Gewifl  wird  es  vom  materiellen  Sein  angekurbelt.  Aber  kaum  er- 
scheint  das  BewuBtsein  in  irgend  einer  Form,  so  greift  der  Geist  ein 
und  formt  auch  seinerseits  die  materielle  Basis.  Die  Theorie,  heiBt 
es,  wird  zur  materiellen  Gewalt,  wenn  sie  die  Massen  ergreift.  Und 
solche  Zweiheit  existiert  fur  Marx  uberhaupt  nicht,  wenn  er  sagt,  die 
eigentliche  Produktivkraft  war*e  das  klassenbewuBte  Proletariat. 

Bekanntlich  schreibt  doch  der  Marxismus  dem  KlassenbewuBt- 
sein  eine  entscheidende  historische  Rolle  zu.  Worin  besteht  denn 
dieses  BewuBtsein,  wenn  nicht  im  Denken  und  Fiihlen?  DaB  Gedan- 
ken  und  Gefiihle  von  Umstanden  bestimmt  werden,  bedeutet  ja  nicht, 
daB  sie  ohne  Einwirkung  auf  diese  Umstande  sind.  Wenn  die  prole- 
tarisch-revolutioriare  Bewegung  sie  fur  belanglos  hielte,  wiirde  sie  sich 
ja  nicht  beimihen,  sie  zu  beeinflussen.  Man  wiirde  doch  kein  so  gro- 
Bes  Gewicht  auf  Aufklarung,  Propaganda  und  Agitation  legen.  Eine 
„Herabsetzung  des  Menschen?"  Ein  vielzitierter  Satz  von  Marx; 
„Radikal  sein,  heiBt  die  Dinge  an  der  Wurzel  fassen.  Die  Wurzel 
aller  Dinge  aber  ist  der  Mensch," 

Wenn  die  Marxisten  nur  dem  materiell-okonomischen  ProzeB  eine- 
Bedeutung  zuschrieben,  dann  wiirden  sie  doch  zum  passiven  Abwar- 
ten  raten,  bis  dieser  ProzeB  von  selbst,  mechanisch,  zu  einer  andern 
Gesellschaftsordnung  fiihrt.  Gewisse  sozialdemokratische  Marxisten 
-.un  dies  auch.  Marx  selbst  aber  lehrte  Revolution.  Also  nicht,  sich 
resigniert  auf  den  materiellen  ProzeB  verlassen,  sondern  die  entschei- 
dende Initiative  des  KlassenbewuBtseins,  des  Geistes. 

Doblin  warnt  seinen  jungen  Intellekutellen  vor  Marx,  auch  weil 
dieser:  „die  Okonomie  isoliert  hat  aus  der  Gesellschaft  und  der 
menschlichen  Gesamtwirklichkeit"  , , ,  „Und  in  eine  bloB  okonomische 
laBt  sich  keine  menschliche  hineinkopieren."  Wenn  dieser  Student 
sich  nicht  hindern  lieBe,  Marx  selber  zu  studieren,  so  miiBte  er  bald 
merken,  daB  es  bei  Marx  keine  ^bloB  okonomische  Situation  ohne 
ideologische  Ausstrahlung,  also  ohne  entsprechende  Kultur  und  Moral- 

133 


begriffe  gibt.  Und  in  einer  kiinftigen  sozialistischen  Gesellschaft  soil 
doch  die  Okonomie  wie  der  gesunde  Magen  nicht  mehr  zu  sptiren  sein. 
Dann  wird  das  Materielle,  wiewohl  ebenso  Basis  des  BewuBtseins  wie 
vordem,  keine  sptirbare  Schwere  mehr  haben.  Der  von  den  okonomi- 
schen Kampfen  erloste  Mensch  beginnt  dann  erst  seine  „Freiheit", 
seine  eigentlichet  namlich  seine   geistige  Geschichte.     So   lehrt  Marx. 

Dieselben  intellektuellen  Zweifler  werfen  den  Bolschewiken  auch 
theoretisches  Doktrinartum  vor.  Wahr  ist  jedenfalls,  daB  noch  nie  so 
sehr  die  Theorie,  also  der  Gedanke,  regiert  hat  wie  in  den  marxistisch 
regierten  Sowj  etrepubliken.  Was  ist  denn  der  Fiinfjahrsplan?  Was 
ist  denn  planmaBiger  Aufbau  uberhaupt,  wenn  nicht  Herrschaft  des 
BewuBtseins,  des  Geistes?  GewiB,  dieser  Geist  ist  sich  bewuBt,  aus 
ganz  bestimmten  okonomischen  Bedingungen  entstanden  zu  sein.  Nun 
aber  ist  dieser  Geist  dabei,  eine  neue  okonomische  Basis  zu  s  chaff  en, 
die  ihn  wieder  neu  schaffen  soil. 

Wenn  Marx  das  Hegelsche  System  auch  umgekehrt  und  vom  Kopf 
auf  die  FiiBe  gestellt  hat,  so  war  er  doch  immerhin  Hegelianer;  Lenin 
forderte  von  jedem  kommunistischen  Intellektuellen  das  Studium  He- 
gels.  Er  selbst  hat  eingehende  Interpretationen  zu  Hegels  Logik  ge- 
schrieben,  Konnt  Ihr  Euch  vorstellen,  daB  auch  nur  einer  von  den 
*,idealistischen"  biirgerlichen  Staatsmannern  auch  nur  eine  Seite  dieses 
Buches  kapieren  wiirde?  Hingegen  ist  es  eine  marxistische  Prophe- 
zeiung,  daB  „das  Proletariat  die  Erbschaft  der  deutschen  klassischen 
Philosophic  ubernehmen   wird". 

Was  nun  die  Lehre  von  der  Ideologic,  vom  geistigen  Oberbau  be- 
trifft,  so  lehrt  zwar  Marx,  daB  jedesDenken  und  Ftihlen  klassenmaBig 
bedingt  ist,  aber  nicht,  daB  es  deshalb  in  jedem  Fall  unbedingt  falsch 
sein  muB.  Es  kommt  darauf  an,  ob  es  im  Interesse  der  Klasse  ist, 
die  Wirklichkeit  erkennen  zu  lassen  oder  sie  zu  verdecken.  Letzteres 
ist  Interesse  der  herrschenden  Klasse.  Darum  ist  ihre  Ideologic 
Illusion  und  nicht  nur  darum,  weil  sie  klassenmaBig  bedingt  ist.  Hin- 
gegen ist  es  das  materielle  Interesse  des  Proletariats,  die  Dinge  und 
Verhaltnisse  so  aufzuzeigen,  wie  sie  in  Wirklichkeit  sind,  Darum  ist 
seine  Ideologic  wirklichkeitsgtiltig,  wiewohl  sie  auch  klassenmaBig  be- 
dingt ist.    Dies  ist  auch  eine  Antwort  auf  die  Mannheimsche  Theorie. 

Der  Marxismus  lehrt  also  nicht,  daB  es  uberhaupt  keine  Wahr- 
heiten  gibt,  nur  daB  nicht  jede  Klasse  immer  die  Moglichkeit  hat,  sie 
zu  erkennen  und  zu  verkiinden.  Denn  oft  liegt  es  nicht  in  ihrem  Inter- 
esse und  oft  hat  sie  nicht  den  notwendigen  Blick  fur  die  Erkenntnis. 

Die  biirgerliche  Lehre  von  den  „ewigen,  menschlichen  Werten  und 
Ideen"  ist  die  gefahrlichste  reaktionare  Ideologic  Denn  sie  setzt  die 
Abstraktion  eines  „ewigen  Menschen"  voraus,  den  es  nur  in  einer  un- 
abanderlichen  Umwelt,  einer  immer  gleichbleibenden  Gesellschafts- 
ordnung  geben  konnte.  Ein  Wunschtraum  der  herrschenden  Klasse. 
Mit  der  Verschiebung  der  okonomischen  Verhaltnisse  verschiebt  sich 
auch  die  Ideologic  Aber  nicht  sofort,  Sie  hinkt  immer  etwas  nach. 
Weil  sich  die  neue  materielle  Basis  ntir  allmahlich  im  bereits  zur  Welt- 
anschauung geformten,  geistigen  Oberbau  auswirkt.  Zu  allererst  in 
den  untern  Schichten  der  Ideologic,  die  mit  dem  okonomischen  Bo- 
den  unmittelbar  verwachsen  sind.  Jede  Ideologic  hat  aber  eine  obere 
Etage  der  „hohen  Ideen",  die  mit  diesem  Boden  nicht  so  unmittelbar 
und  auf  den  ersten  Blick  offenbar,  verbunden  sind.  Diese  „subli- 
mierten"  Ideen  scheinen  nun  wie  die  Fixsterne  unbeweglich  zu  stehen 
und  sind  darum  besonders  dazu  geeignet,  daB  man  an  ihnen  festhaltend, 
gleichsam  den  obersten  Zipfel  der  Ideologic  erfassend,  die  gesamte 
historische  Bewegung  aufzuhalten  versucht, 

Fortsetzung  folgi 
134 


Der  franZOSlSChe  Film  von  Rudolf  Arnheim 

Dei  alien,  die  das  Kino  mehr  mit    dem  Verstande  als  mit  den 

Sinnen  lieben,  haben  die  franzosischen  Filme  eine  ganz 
groBe  Nummer.  Denn  sie  sind  mit  aufdringlicher  Deutlichkeit 
anders  gemacht  als  die  Filme  der  Durchschnittsindustrie.  DaB 
in  Charles  Dreyers  ,, Johanna  von  Orleans*'  AuBenseiterisches 
gewagt  wurde,  merkten  auch  Leute  mit  kurzem  Gesicht  und 
langer  Leitung.  Hier  demonstrierte  sich  das  Prinzip  der  GroB- 
auinahme  in  GroBaufnahme,  ein  wichtiges  Formmittel  wurde  in 
argerlicher  Manier  iiberdosiert,  und  zugleich  zeigten  die  Ober- 
ammergau-Barte  der  Inquisitoren  eine  verdachtige  Gepflegt- 
heit,  die  gut  zu  der  sauberlich  getiinchten  Zuckerhutarchitektur 
paBte.  Seltsame  Lebensferne,  Freude  an  der  polierten,  geist- 
reich  erkltigelten  Form,    Ein  Einzelfall? 

In  Jean  Renoirs  ,,Nana"  spielte  die  groteske  Catherine 
HeBling,  ebenso  begabt  wie  exzentrisch,  ausgerechnet  eine 
Zolafigur.  Der  betreBte  Kamraerherr  Werner  KrauB  muBte  auf 
dem  Teppich  Mannchen  machen  wie  ein  Hund,  und  ein  junger 
Liebhaber  beging  mit  einer  Schneiderschere'  Selbstmord.  Ob- 
wohl  kein  Grund  vorlag,  diesen  Todesfall  lustig  zu  nehmen. 
Der  Regisseur  machte  sich  aus  der  Tragodie  einen  Atelierjux, 
brachte  den  Zuschauer  mit  viel  Kunst  zum  Schaudern  und  rief 
dann  , .April,  April".  Renoirs  „Madchen  mit  den  Schwefel- 
holzchen"  war  die  hysterische  Persiflage  eines  stillen  Ander- 
sen-Marchens,  eine  pervertierte  Cocteauparodie,  Peinlicher 
Obermut,  gespeist  von  einer  Unzahl  geschickter  Bildeinfalle. 
Viel  Gefiihl  fiir  die  Reize  der  Filmtechnik,  keinerlei  natiirliche 
Verbundenheit  mit  dem  Gegenstand  der  Darstellung.  Weil  der 
leitende  Instinkt  fiir  das  von  der  Sache  Geforderte  fehlte,  fiel 
man  von  einem  Ton  in  den  andern  und  verletzte  Stil  und  Ge- 
schmack,     Es  duftete  siiB  und  gefahrlich  nach  Montmartre. 

In  der  Groteske  ging  alles  gut.  In  Rene  Clairs  ^Entr'acte" 
wirkte  der  mit  Trauerkranzen  dekorierte  Sprengwagen,  der  im 
Eilzugstempo  vor  dem  Beileidsgefolge  hertobte,  bezaubernd 
witzig,  denn  hier  war  man  allem  Irdischen  so  fern,  daB  der  Tod 
zu  einem  schrulligen  Knochenmann  wurde,  mit  dem  ein  Spiel- 
chen  wohl  erlaubt  war.  Im  „Florentinerhut"  machte  Clair  aus 
der  Quadrille  einen  Hexentanz,  fuhrte  er  mit  den  Kosttimen  der 
neunziger  Jahre  einen  gespenstischen  Mummenschanz  auf.  In 
den  zierlichen  Operetten  MSous  les  Toits  de  Paris"  und  „Le 
Million"  durfte  und  muBte  ein  Galanteriewarenlager  aufge- 
schlagen  werden.  Jungehhafte  I^aune  betatigte  sich  gliicklich 
und  begliickend  am  Spielzeug.  Man  freute  sich,  daB  einer 
Dummheiten  machte,  und  verlangte  nicht,  daB  es  zugleich 
Klugheiten  seien. 

Im  tfDavid  Golder"  destillierte  der  Regisseur  Julien  Duvi- 
vier  aus  Leid  und  Grausamkeit  ein  stimulierendes  Parfiim  fiir 
die  galante  Welt.  Der  Schauspieler  Harry  Baur  und  ein  Fox- 
terrier  waren  die  einzigen  lebendigen  Wesen  in  diesem  hoch- 
tragischen  Modesalon.  Landschaftsprospekte,  Schafherden, 
Autos,  miBratene  Damen  der  Gesellschaft  und  Fabrikbureaus 
waren  von  Elisabeth  Arden  aufgemobelt.  Runzellos  wie  Valen- 

135 


tinos  Wange  bot  sich  die  Erdoberflache  den  entztickten  Augen 
der  Kinobesucher.  Die  Kamera  warf  schiefe  Blicke,  wo  grade 
Ansichten  passender  gewesen  waren,  und  ein  entmenschtes 
Eheweib  legte  tiber  ftinfzehn  Runden  einen  sensationellen  Er- 
pressungskampf  am  Sterbebette  hin,  bis  sie  durch  technischen 
k.  o.  auBer  Betrieb  gesetzt  wurde.  Mit  alien  Registern  der 
Kino-Orgel  wurde  auf _ den  Nerven  der  Zuschauer  herumge- 
trommelt,  und  doch  konnte  man  an  jedem  Bild  beweisen,  daB 
hier  Routine  und  Extravaganz,  bestenfalls  Vergniigen  an  der 
handwerklichen  Technik  das  Geschehen  lenkte,  keinesfalls 
aber  Mitgefiihl  fur  die  Schicksale  der  handelnden  Personen. 

So  steht  es  mit  dem  franzosischen  Film,  Anregend,  witzig, 
geistreich,  erfinderisch  im  Technischen,  Frivolitat  ohne  Tiefe, 
kokettes  Spiel  mit  den  Gestaltungsmitteln;  unverbindlich  im 
Gedanklichen,  Stilistischen,  Geschmacklichen.  Nicht  jeder- 
manns  Sache,  wenn  man  von  der  einen,  prachtigen  Ausnahme, 
Jaques  Feyder,  absieht. 

Dieser  Tage  zeigte  Rene  Clair  seinen  neuen  Film  ,,A  nous 
la  liberte"  (,,Es  lebe  die  Freiheit").  Wer  wollte  die  Schon- 
heiten  dieser  Arbeit  leugnen!  Mehr  als  eine  Szene  durch- 
leuchtet  das  Rontgenlicht  schelmischer  Weisheit:  Eine  Se- 
kunde  der  Unaufmerksamkeit  stiirzt  die  hochste  Ordnung  der 
FlieUarbeit  in  hochste  Unordnung;  wie  ein  geheimnisvoll  siiBes 
Echo  klingt  das  Lied  des  Madchens  noch  aus  dem  leeren  Fen- 
ster  in  das  Ohr  des  Liebhabers,  wahrend  sie  schon  die  Treppe 
heruntergeht;  der  monotone  Sprechgesang  im  Engagements- 
bureau  der  Fabrik:  ,,Dites  votre  nom  et  votre  age!'1;  der  trott- 
lige  Festredner  vor  dem  leeren  Fabrikhof;  die  vergniiglich  fau- 
lenzenden  Arbeiter  in  der  automatischen  Fabrik.  Echte  Genie- 
blitze  —  und  doch  wird  man  des  Films  nicht  recht  froh.  Blitze 
ergeben  kein  gutes  Licht. 

Da  ist  zunachst,  was  das  Politische  anlangt,  diese  spat- 
biirgerliche  Romantik:  Arbeiter  und  Generaldirektor  entfliehen, 
briiderlich  eingehakt,  der  Fabrik,  um  als  Landstreicher  auf  den 
Chausseen  zu  singen,  Solche  Flucht  laBt  wenig  Verwandtes  in 
uns  anklingen;  zumal  wir  uns  gar  nicht  so  sehr  nach  Freiheit 
sehnen  sondern,  als  Untergebene  eines  Staatsgebiides,  das  uns 
nicht  benotigt,  das  uns  nicht  gefailt  und  dem  wir  nicht  gefallen, 
nach  einer  verniinftigen  Bindung,  nach  zweckvoller  Einordnung 
in  eine  niitzliche  Gemeinschaft.  Landstreicher?  Wir  sind  uns 
schon  jetzt  zu  landstreicherisch,  zu  funktionslos,  —-  Und  wei- 
ter:  es  gibt  empfindliche  Menschen,  die  Zuchthausszenen  unter 
keinen  Umstanden  komisch  finden  und  die  nicht  dariiber 
lachen,  daB  sich  einer  in  seiner  Zelle  aufkniipft,  selbst  wenn 
das  Gittef  aus  der  Mauerfassung  rutscht  und  dem  Lebens- 
muden  auf  den  Schadel  bumst, 

Dariiber  hinaus  gibt  es  eine  Reihe  von  kiinstlerischen  Ein- 
wanden.  Es  ist  Rene  Clair  nicht  gelungen,  einen  einheitlichen 
Stii  zu  finden.  Chaplins  Filme  spielen  auf  einer  Exzentrik- 
biihne,  wo  ein  Schlag  mit  dem  Gummikniippel  nicht  wehtut  und 
die  Liebe  nicht  heiB  macht.  Ein  Puppenspiel  ohne  peinliche 
Erdenreste  und  nur  deshalb  genufireich.  Clair  hat  keine  solche 
geschlossene  Vision.     Seine  herrlichen  Schauspieler  sind  ganz- 

136 


lich  von  diescr  Welt,  sie  stehen  auf  dcrbem  Boden,  und 
dcnnoch  tritt  plotzlich  der  Generaldirektor,  ein  programmati- 
sches  Lied  schmetternd,  in  die  Gruppe  seiner  Berater.  Eine 
stabile  Fabrik  steht  da,  und  sie  wird  nicht  marchenhafter  da- 
durch,  daB  sie  in  jener  mondanen  Variante  des  Bauhausstils  er- 
baut  ist,  die  fiir  Kosmetikladen  und  intime  Bars  bevorzugt 
wird.  Sie  wirkt  nur  geschmacklos  und  widersinnig.  Und  die 
sehr  realen  Kontrolluhren  werden  nicht  iiberirdisch,  weil  bei 
jeder  Zeigerdrehung  ein  lieblich  melodisches  Klingeln  ertont. 
Auch  die  Hammerschlage  der  arbeitenden  Zuchthausler  erklin- 
gen  als  mozartisches  GlockenspieL  Und  die  ruckenden  Zahlen- 
bander  in  einem  sonst  gar  nicht  parodistischen  Bureau  wirken 
als  kiimmerliche  Attrappe.  Clair  tastet  her  urn,  er  hat  keine 
Ubersicht,  er  kittet  Einfalle,  er  ist  wie  ein  Maler,  der  links 
unten  nicht  mehr  weiB,  was  er  rechts  oben  gemalt  hat,  Seine 
Figuren  ordnen  sich  plotzlich  zu  operettenhaft  symmetrischen 
Choren,  aber  gleich  darauf  lassen  sies  wieder  sein  und  beneh- 
men  sich  zwanglos  alltaglich.  Launisch  wie  sie  ist  er  in  der  Be- 
handlung  des  Tons.  Lautlos  marschieren  die  Zuchthausler,  und 
im  nachsten  Augenblick  trampeln  sie  furs  Ohr  ebenso  laut  wie, 
furs  Auge.  Die  Schauspieler  unterbrechen  ohne  Grund  ihr 
Plaudern  und  machen  sich  dem  Publikum  minutenlang  durch 
bloBe  Mimik  verstandlich,  Plotzlich  beginnt  ein  totes  Ding  zu 
singen,  eine  Blume,  aber  das  bleibt  ein  einmaliges  Kuriosum  — 
stilistisch  durch  nichts  gestiitzt.  Musik  und  Gesang  tont  mal 
ins  Bild,  mal  aus  dem  Bild;  niemals  weiB  man,  ob  die  Schau- 
spieler mithoren  oder  ob  nur  Begleitung  fiir  den  Zuschauer 
tont.  Das  ist  nicht  souveranes  Spiel  mit  den  Mitteln  sortdern 
unmittelbar  beunruhigende  Konfusion. 

Clair  hat  kein  Gefiihl  dafiir,  daB  das  pointierte  Gegenein- 
andersetzen  von  Situationen  nur  dann  schiagkraftig  ist,  wenn 
diese  Situationen  vollen  Wirklichkeitsgehalt  haben.  Er  ver- 
biegt  die  Welt,  bis  sie  zu  seinem  Einfall  paBt,  weil  er  dem  Ein- 
fall  naher  ist  als  der  Welt.  Die  Parallele  zwischen  Zuchthaus 
und  Fabrik  iiberspitzt  und  schwacht  er,  indem  er  die  Fabrik- 
arbeiter  von  einem  Unteroffizier  anschnauzen,  im  Takt  mar- 
schieren, am  laufenden  Band  friihstiicken  laBt.  Wenn  nach  der 
fingierten  Festrede  ein  zufalliges  Beifallklatschen  aus  dem 
Nebenzimmer  ertont,  so  wirkt  das  nicht  sehr  komisch,  weil  die 
grotesk  aufeinanderprallenden  Situationen  in  sich  keine  aus- 
reichende  eigne  Kausalitat  haben  sondern  ad  hoc  konstruiert 
sind.  Clair  konstruiert.  Er  laBt  die  fertigen  Grammophone  in 
einem  deckenlosen  Raum  stehen,  damit  die  Kamera  elegant, 
ohne  Zwischenschnitt,  zu  der  Freilichtszene  der  tanzenden 
Arbeiter  heriiberschwenken  kann.  Er  laBt,  wie  in  den  alte- 
sten  Filmen,  seine  Personen  unaufhorlich  aus  dem  Nichts  auf- 
treten.  Ein  ungeschickter  Gott  schiebt  sie  zur  gleichen  Zeit 
auf  den  gleichen  Schauplatz.  Das  Motiv  mit  dem  rinnenden 
Blut  ist  aufdringlich  gedoubelt,  Der  Fabrikhof  hockt  eng  neben 
der  StraBe,  in  der  das  Madchen  wohnt,  nur  weil  den  Regis- 
seur  der  Zwischenraum  nicht  interessiert.  Aber  diese  Non- 
chalance racht  sich  an  alien  Ecken  und  Enden,  schlagt  ihm 
seine  Effekte  tot. 

•   137 


Statt  den  Vorgang  durch  Einfalle  zu  verdeutlichen,  be- 
grabt  er  die  Handlung  unter  einem  Sturzregen  von  Gags(  ver- 
fangt  er  sich  in  Nebenmotiven,  spinnt  er  iiberHiissige  Hetz- 
jagden  aus,  verdoppelt  er  die  Motivierungen.  Das  Grundmotiv: 
Flucht  des  Reichen  in  die  Freiheit,  iiberrundet  und  zersprengt 
er  durch  das  Erpressermotiv,  das  den  Generaldirektor  zwingt, 
sein  Eigentum  im  Stich  zu  lassen  und  vor  der  Polizei  auszu- 
riicken.  Und  obendrein  fegt  aus  eines  unbekannten  Gottes 
Windmaschine  noch  Sturm  dazwischen.  So  gibt  Rene  Clair, 
um  am  SchluB  seines  Films  reinen  Tisch  zu  bekommen,  aus 
drei  dicken  Schlauchen  zugleich  Wasser,  und  grade  deshalb 
bleibt  mancher  Zuschauer  ziemlich  trocken.  Wunderbar  sind 
die  Gesetze  des  Theaters, 

Rene  Clair,  witzig  und  begabt  wie  wenige,  mufite  lernen, 
daB  ein  Kiinstler  kein  Landstreicher  sein  soil.  Sondern  ein 
Arbeiter,  Nicht  grade  einer  am  laufenden  Band,  wie  die 
Kollegen  aus  der  FriedrichstraBe,  aber  immerhin  ein  Arbeiter. 
Es  lebe  die  Freiheit.  Nur  mache  sie  sich  ihr  Leben  nicht  zu 
leicht. 

Die  Mutter  von  Alfred  Polgar 

I7in  Lehrspiel  von  Brecht,    nach  einem  Drama  von  Stark  und 

Weisenborn,  nach  einem  Roman  von  Gorki.  Musik  von 
Eisler.     Darsteller:  die  Gruppe  junger  Schauspieler, 

Fur  die  Unabweislichkeit  und  Notwendigkeit  des  Kommu- 
nismus  wird  der  Beweis  auf  das  Exempel  erbracht.  Program- 
matische  Absicht:  vom  Zuschauer  f)Entscheidungen  zu  erzwin- 
gen".  Doch  ist  es  mehr  so,  daB  die  Entscheidungen  auf  der 
Szene  gefallt  werden,  und  dem  Zuschauer  iiberlassen  bleibt,  sie 
zu  akzeptieren  oder  nicht. 

Unbedingt  stellt  sich  die  Wirkung  ein,  daB  jene  Horer, 
welche  ganz  der  Meinung  sind,  die  von  der  Buhne  herab  pro- 
pagiert  wird,  zu  dieser  eisenfest  in  ihnen  verankerten  Meinung 
herumgekriegt  werden.  Sie  werden  von  der  Oberzeugung,  die 
sie  haben,  iiberzeugt,  und  zum  Bekenntnis,  auf  das  sie  einge- 
schworen  sind,  hingerissen. 

Das  Stiick  macht  anschaulich,  wie  eine  apolitische  Mutter, 
die  nur  Mutter  ist,  politisiert  wird,  fast  bis  zu  dem  Punkt,  wo 
sie  aufhort,  Mutter  zu  sein,  Man  kann  aber  auch  sagen:  bis  zu 
dem  Punkt,  wo  sie  in  groBerem,  allgemeinerem,  menschlich 
weiterem  Sinn  Mutter  wird,  Bei  Gorki  tut  und  leidet  Pelagea 
Wlassow^  was  sie  tut  und  leidet,  um  des  Sohnes  wiilen,  sie 
bleibt  in  ihrer  privat-mutterlichen  Ideologie  befangen.  Bei 
Brecht  sprengt  sie  diese,  streift  das  Private  ab,  ent-puppt  sich. 
Sie  erkennt  hohere  Zwecke  und  wachsbmit  ihnen,  Dieser  Ent- 
wicklungsprozeB,  den  der  Dichter  ihr  macht,  wird  auf  der 
Szene  kleinen  Teils  dargestellt,  groBen  Teils  erzahlt.  Die  so- 
genannte  Handlung  zuckt  nur  noch  hie  und  da  wie  lebendig:  im 
epischen  Theater  gerinnt  namlich  die  dramatische  Aktion  zu 
einem  Bericht  iiber  diese,  der  Zuschauer  wird  weniger  durch 
Vorgange  erschiittert,  als  iiber  sie  unterrichtet,  die  Ereignisse 
werden  ihm  geschenkt^  aber  ein  geistiges  Dabeisein  ihm  binter- 
her  ermoglicht.     Die  Spieler,  mechanisiert,  spielen  nicht  viel. 

138 


Sic  befinden  sich  im  Zustand  gefrorener  Bewegung,  die  nur  ge- 
Icgentlich  und  stiickweise  auftaut.  In  ihrer  gezwungen-starren 
Haltung  und  Gruppierung  erinnern  sie  zuweilen  an  Figurcn 
friiher  Malerei  (denen  Spruchbander  aus  dcm  Mund  flattern). 
Oit  wcnden  sie  sich,  die  Tauschungen  des  Spiels  durch- 
brechend,  in  direkter  Rede  an  den  Zuschauer,  ihn  ohne  um- 
standliche  Faxen  an  ihren  Gedankengangen  teilnehmen  lassend, 
Entscheidende  SchluBfolgerungen  werden  musikalisch  gezogen, 
Nutzanwendungenebenfalls  meist  gesungen.  Hier  bewahrt  sich 
Brechts  Kunst  einfacher,  starker  Formulierungen;  sie  nehmen, 
Durchmesser  von  Gediankenkreisen,  einen  kiirzesten  sprach- 
lichen  Weg,  der  in  seiner  Gradheit  schoner  ist,  als  der  schonste 
dichterische  Umweg,  die  Peripherie  herum.  Zur  Geschichte, 
die  ihm  erzahlt  wird,  bekommt  der  Zuschauer  gebrauchsfertig 
auch  die  Moral  der  Geschichte.  Diese  ist  nur  der  moglichst 
einfach,  breitflachig  zugeschnittene  Sockel  Kir  jene.  Fraglich 
bleibt,  ob  nicht  das  indirekte  Verfahren:  —  Geschehnisse,  Tat- 
bestande,  Erlebnisinhalte  zu  geben,  so  eindringlich  zu  geben, 
daB  der  Horer  gar  nicht  anders  kann,  als  selbst  die  richtigen 
Schliisse  aus  dem  Geschauten  zu  ziehen  — ,  ob  dieses  Verfah- 
ren nicht  das  wirksamere  ist.  Brechts  Theorie  verwirft  das 
Theater,  das  sich  an  das  Gefiihl  im  Zuschauer  wendet,  aber  er 
verschmaht  nicht  die  Hilfe  der  Musik,  die  gar  nichts  andres 
tut,  gar  nichts  andres  tun  kann,  als  Gefiihl  wecken.  Was  hat 
ihr  obstinates  Trommeln,  ihr  Drohen,  Klagen,  Aufpulvern  und 
VerheiBen  mit  der  Ratio  zu  tun,  auf  die  allein  es  dem  epischen 
Theater,  theorie-gemaB,  ankommt?  Es  vermittelt  dem  Zu- 
schauer Kenntnis  und  Erkenntnis  auf  kaltem  Wege,  nicht  ohne 
ihm  durch  Klavier,  Trompete,  Posaune  und  Schlagwerk  einzu- 
heizen. 

Helene  Weigel  ist  die  Mutter.  Anfangs  nur  Stimme,  ganz 
sachliche,  niichterne,  aufsagende  Stimme,  an  der  ein  Mindest- 
maB  von  Individuum  hangt.  Nicht  Pelagea  Wlassowa  redet,  es 
redet  durch  sie,  aus  ihr.  Spater  nimmt  sie  die  phonetische'Maske 
ab,  Sprache  und  Spiel  werden  lockerer,  der  Mensch  fallt  aus 
der  Rolle  des  Automaten  in  seine  natiirliche  Gangart,  produ- 
ziert  Geist,  Schlauheit,  auch  eine  Art  trockener  Leidenschaft. 
In  der  ausgezeichneten  Szene  mit  den  Weibern,  die  Kupfernes 
zur  Erzeugung  von  Munition  abliefern,  zeigt  sich  Frau  weigel 
als  iiberlegene  Dialektikerin;  da  hat  ihre  Kunst  Luft  bekommen, 
bessere  als  die  PreBluft  des  epischen  Theaters,  und  atmet  frei, 
vom  Stil'erlost.  Merkwiirdig,  dafi  Mutter  Weigel,  je  weiter  das 
Spiel  fortschreitet,  also  je  mehr  sie  altert,  desto  jiinger  wird 
(Verjiingung  durch  Idee?).  Bis  fast  an  die  Grenze  des  Necki- 
schen  kommt  sie  da, 

Ernst  Busch,  hell,  scharf,  selbstverstandlich  wie  immcr, 
glanzend  bei  Blick  und  Stimme,  ganz  in  C-Dur,  von  jener  un- 
beirrbaren  innern  Heiterkeit,  die'ein  Wille,  der  frei  von  Furcht 
und  Zweifel  ist,  als  Nebengewinn  abwirft.  Jurtg-Siegfried  in 
derKPD, 

Der  Schauspieler  Gerhard  Bienert  spielt  ungeniertes,  saf- 
tiges  Theater.  Den  Zuschauern  zur  Erquickung.  Wenn  er  auf 
der  Buhne  ist,  entfernt  sich  das  fepische  mit  eingeklemmter 
Theorie, 

139 


SchnipSel  von  Peter  Panter 

Jakubowski  war  ein  blutiger  Laie, 
■        ■  * 

Prophezeien  ?  Prophezeien  kann  ungestraf  t  j  eder.  Es  gemigt 
schon,  dafi  mans  tut.  Zu  stimmen  braucht  nachher  nichts,  denn  es 
blattert  ja  keiner .  zuriick.  Die  Prophezeiung  1st,  genau  wie  das 
geschaftliche  Urteil  iiber  Kunstwerke,  ein  Wechsel,  der  auf  die  Zu- 
kunft  gezogen  ist.  Es  fragt  sich,  wer  zieht.  „Aber  Rothschild  hat  doch 
.gar  nicht  unterschrieberi!"  sagt  jener  in  der  Anekdote,  wo  einer  einen 
solchen  Wechsel  unterbringen  will.  „Eine  Unterschrift  wollen  Sie  bei 
Rothschild  auch  noch?"  erwidert  der  andre.  In  Erftillung  gehen  sollen 
Prophezeiungen  auch  noch? 

Man  sage  in  seherischem  Tonfall  dummes  Zeug,  und  man  wird 
eines  gewissen  Erfolges  nicht  entraten, 

* 

KPD.     „Schade,  daB  Sie  nicht  in  der  Partei  sind  —  dann  kdnnte 

man  Sie.  jetzt  ausschlieBen!" 

* 

Man  achte  immer  auf  Qualitat,  Ein  Sarg  zum  Beispiel  muB  furs 
Leben  halten.  * 

Du  muBt  tiber  einen  Menschen  nichts  Boses  sagen.  Du  kannst  es 
ihm  antun  —  das  nimmt  er  nicht  so  tibel.  Aber  sage  es  ihm  nicht. 
Er  ist  in  erster  Linie  eitel,  und  dann  erst  schmerzempfindlich. 

„MuB  denn  immer  gleich  von  Liebe  di«  Rede  sein?"  —  Ja, 

Nichts  verachtlicher,  als  wenn  Literaten  Literaten  Literaten 
nennen. 

;,In  unsrer  Zeit , . ,"  sagen  die  Leute,  und  sind  sehr  stolz  darauf. 
Das  klingt  oft  wie:  „Bei  uns  in  Tuntenhausen . . ."  Es  gibt  Klein- 
stadter,  und  es  gibt  Kleinzeitler.  Das  Wort  „heute"  wird  zu  oft  ge- 
braucht.  ft 

Wenn  wir  einen  Menschen,  der  sich  unbeobachtet  glaubt,  langsam 
und  mtihselig-genuBvoll  in  der  Nase  bohren  sehn,  so  versetzt  uns 
dieser  Anbtick  in  eine  kribblige,  eigentiimliche  Wut.  Man  mochte  ihm 
auf  die  Finger  hauen,  diesem  unerzogenen  Riipel  .  t ,  nun  hor  doch 
schon  endlich  auf  ...  na,  Gottseidank! 

Selber  popeln  macht  fett. 

* 

Bei  einem  franzosischen  Theaterautor,  A.  Achaume,  steht  eine 
herrliche  Szene  vom  Wahnwitz  der  Maschinenherrschaft, 

Ein  Mann  empfangt  einen  andern.  ,,Bittet  nehmen  Sie  Platz!  Was 
fuhrt  Sie  her?"  Und  bevor  der  andre  zu  Worte  kommen  kann,  sagt 
der  erste:  ltEinen  Augenblick  mal!"  und  telephoniert,  Und  telepho- 
niert  und  telephoniert .  . . 

Das  habe  ich  auch  geschrieben.  Aber  die  Pointe  ware  mir  nie 
eingefallen: 

Der  Besuch  steht  auf  und  schickt  sich  an,  zu  gehn.  „Aber  bitte/' 
sagt  der  Mann  mit  dem  Horer  in  der  Hand.  „Einen  Augenblick 
doch  nur ..." 

„Neiu'\  sagt  der  Fremde.    ItWissen  Sie  was?    Ich  rufe  Sie  an." 

Die  unleidliche  Gewohnheit,  Besuchern  etwas  vorzutelephonieren, 
ist  selten  witziger  glossiert  worden. 

* 

Er  war  eitel  wie  ein  Chirurg,  rechthaberisch  wie  ein  Jurist  und 
gutxmitig  wie  ein  Scharfrichter  nach  der  Hinrichtung. 

* 
140 


Es  gibt  Schriftsteller,  die  konnen  sich  viel  vorstellen.  Aber  da8 
sie  cinmal  nicht  dabei  sind,  das  konnen  sie  sich  nicht  vorstellen.  In 
vielen  Laden  der  Literatur  herrscht  heute  grofler  Rumor,  die  Chefs 
nehmen  das  Inventar  auf  und  blasen  den  Staub  von  den  alien  Stiicken. 
^Frollein,  da  miissen  doch  noch  ein  paar  nationale  Sachen  am  Lager 
sein . .  /'  Das  Fraulein  kramt  sie  hervor;  wenn  man  sie  etwas  ab- 
putzt,  sind  sie  noch  wie  neu,  und  bald  wird  —  keine  Sorge,  ihr  Lie- 
ben!  —  frische  Ware  hereinkommen.  „Wir  taben  das  namlich  immer 
gefuhrt,"  Nur  nicht  isoliert  bleibenf  Ein  guter  Bankier  geht  jeden 
Tag  zur  Borse,  das  ist  das  halbe  Leben. 

Kerle  wie  Mussolini  oder  der  Gefreite  Hitler  leben  nicht  so  sehr 
von  ihrer  eignen  Starke  wie  von  der  Charakterlosigkeit  ihrer  Gegner. 

Um  mich  herum  verspiire  ich  ein  leises  Wandern,     Sie  riisten  zur 

Reise  ins  Dritte  Reich. 

* 

Frank  Thiessens  Geschreibe  ist  wie  Musik:  der  Horer  darf  sich 
alles  mogliche  dabei  denken,  ist  imstande,  nachher  gebildet  dariiber 
zu  sprechen,  und  es  verpflichtet  zu  gar  nicht  s, 

* 

Wenn  man  sich  entmaterialisieren  konnte  — :  ich  wollte  wohl  ein- 
mal  Hitlern  als  Gespenst  erscheinen.  Aber  in  welcher  Gestalt?  Das 
beste  wird  sein:  als  Brief raarke.     Es  gabe  da  manche  MogHchkeiten. 

Friseur  beim  Plaudern  von  Erich  Kastner 

Cie  haben  sich  wohl  gestern  selbst  rasiert? 

***  Das  sieht  man  gleich,     Zwei  wunderbare  Schnitte, 

Die  Oberlippe  etwas   straff er,  bitte! 

Ob  Morawetzky  den  ProzeB  verliert? 

Ich  glaube  fest,  daft  ers  gewesen  ist. 
Warum  fuhr  er   denn   sonst   sofort  auf  Reisen? 
Es   ist   nur  schwierig,   es  ihm  nachzuweisen. 
Wenn  ich  noch  jung  war,  wurde  ich   Jurist, 

In  London  hat  man   jetzt   etwas  entdeckt, 
das   spritzt  man   dem  Verbrecher   in   den  Magen. 
Drauf  schlaft  er  ein.     Und  mufl  die  Wahrheit  sagen, 
Na,   der  wird  staunen,   wenn  man  ihn  dann  weckt! 

'n  Tag,   Herr  Burdach.     Nehmen  Sie  doch  Platz, 
Ja,   ja,   der  Fortschritt.     Wahrheit  mittels  Spritze! 
Vor  zwanzig  Jahren  waren  das  noch  Witze, 
Und   beute   kann  es    jeder    Hosenmatz. 

Kunstliche   Nahrung  stellt   man   auch    schon   her. 
In   ein  paar   Jahren   fressen  wir  Tabletten, 
als  warens  Sauerkraut  und  Koteletten. 
Ja,    ja,  der   Fortschritt.     Kolnisch?     Bitte   sehr. 

Selbst  das  Rasieren  fallt  dann  ganzlich  weg. 

Sie  streichen  mit    ner  Salbe  auf  und  nieder. 

Der  Bart  verschwindet.     Und  kommt  niemals  wieder. 

Friseur  zu  werden,  hat  dann  keinen  Zweck. 

Noch  etwas  Puder?     Dann  sind  wir  parterre. 
Fortschritt  ist  schon.   Oft  kann  mans  gar  nicht  fassen. 
Ich  werd  mich  kurz  vorher  begraben  lassen. 
So  ist  das  Leben.     Nun  der  nachste  Herri 

14t 


LyttOIl  Strachey  von  Carl  v.  Ossietzky 

A  us  London  kommt  die  Nachricht,  daB  Giles  Lytton  Strachey 
gestorben  ist.  Am  1.  Marz  ware  er  zweiundfiinfzig  Jahre 
alt  geworden.  Sein  Ruhmestitel  beruht  auf  den  drei  seit  1918 
erschienenen  Biichern  ;,Eminent  Victorians",  „Queen  Victoria", 
,, Elizabeth  and  Essex".  Was  die  offizelle  Wissenschaft  von 
ihm  denkt,  ob  sie  ihn  serios  ninunt  oder  als  „Belletristen"  ver- 
wirft,  soil  uns  hier  nicht  kiimmern.  Die  Wahrheit  ist,  daB  er 
dutch  seine  Darstellungskunst,  seine  Sprachkraft  und  seine 
originelle  Art,  eine  Menschenexistenz  zu  sehen,  unzahligen  Le- 
sern  eine  ebenso  angenehme  wie  noble  Unterhaltung  bereitet  hat. 

Harold  Nicolson  hat  vor  ein  paar  Jahren  in  einem  Vortrag, 
wenn  ich  mich  nicht  irre,  in  Frankfurt,  behauptet,  die  eng- 
lische  Nachkriegsliteratur  ware  die  bedeutendste  in  ganz 
Europa,  Vielleicht  ist  das  eine  Obertreibung,  aber  gewiB  ist 
die  englische  Literatur  die  iiberraschendste.  Sie  hat  die  Zim- 
perlichkeit  der  Vater  iiberwunden-  und  sich  fessellos  einer 
nicht  mehr  biirgerlich  durchtrankten  Gegenwart  iiberlassen. 
Neben  ihren  interessanten  Romanciers  steht  gleichwertig 
Lytton  Strachey,  der  Historiker.  In  seinem  AuBern  ein  hage- 
rer,  leidend  aussehender  Mann  mit  Bart  und  Brille,  eine  sa- 
loppe  Mischung  von  Oberlehrer  und  Bohemieo.  In  seinem 
Werk  der  Kurzweiligste  seines  durchweg  recht  trostlosen 
Faches,  aber  durchaus  kein  Anekdotenerzahler  sondern  ein 
feinnerviger  Gestalter,  manchmal  ein  Psycholpge  mit  dem 
sechsten  Sinn,  immer  ein  hoflicher  Skeptiker,  und  das  vor 
allem  gegen  die  Moglichkeiten  der  eignen  Wissenschaft.  Wo 
soil  man  Anker  werfen  in  dieser  Welt  schnell  dahingleitender 
Erscheinungen?  „Wenig  kann  das  Gliick  uns  geben:  denn  ein 
Traum  ist  alles  Leben,  und  die  Traume  selbst  ein  Traum",  so 
dichtete  Calderon  seine  Resignation  in  einer  faulenden  mor- 
schen  Feudalzeit,  und  diese  Verse  stehen  wie  ein  unsichtbares 
Motto  iiber  allem,  was  Giles  Lytton  Strachy  geschrieben  hat, 
dessen  Ausgang  mit  dem  Sinken  einer  Weltmacht,  mit  der 
AuHdsung  eines  traditionellen  Lebensstils  zusammenfallt   ' 

Ein  so  denkender  Schriftsteller  kann  nicht  einem  bestimm- 
ten  System  verfallen,  kann  nicht  dickleibige  Bande  schreiben, 
um  eine  Spekulation  zu  erharten.  Lytton  Strachey  ist  ein 
Meister  der  Monographie  geworden,  der  Studie,  des  Essays. 
Eine  Einzelfigur,  eine  knappe  Phase  der  Entwicklung  mit 
allem  nur  denkbaren  Leben  erfuUen(1  das  konnte  er.  Hier  ent- 
standen  auf  ihre  Art  vollendete  Schopfungen,  denen  niemand 
142 


das  Ringen  urn  Material,  Nachtwachen  und  Transpiration  an- 
merkt.  Lytton  Strachey  beherrschte  seine  Quellen,  auf  welche 
die  Fachkritik  den  entscheidenden  Wert  legt,  gewiB  glanzend, 
aber  seine  Wirkung  riihrt  von  einigen  allgemeinen  Einsichten 
her,  die  viel  starker  sind  als  Analyse  auf  idealistisch  oder 
materialistisch.  Lytton  Strachey  glaubte  an  die  Unverander- 
lichkeit  des  Menschen:  die  Kleider  wechseln,  nicht  ihr  Inhalt 
an  Fleisch  und  Geist  Es  gibt  Schriftsteller,  die  sich  hochst 
aktuell  vorkommen  und  deren  Gegenwartsbild  aus  Ritterromanen 
plagiiert  scheint,  und  es  gibt  SchiLderer  der  Vergangenheit^ 
deren  Menschen  sich  so  bewegen,  als  hatten  sie  alle  spatern 
Kommentare  iiber  sich  gelesen.  Bei  Lytton  Strachey  agieren 
wir  selbst,  um  Jahrzehnte  oder  Jahrhunderte  zuriickgeschoben, 
ohne  Telephon  und  Auto,  ohne  einige  naturwissenschaftliche 
Erkenntnisse;  manche  Dinge,  die  uns  qualen,  werden  nicht  in 
der  Sprechstunde  des  Individualpsychologen  gelassen,  der 
Henker  schlagt  mit  dem  Kopf  das  Geheimnis  herunter.  Vieles 
ist  primitiver,  aber  wir  erkennen  uns  selbst  in  den  fremden 
Kleidern.  So  gelingen  Lytton  Strachey  am  besten  die  schwie- 
rigen,  die  vergrillten  Charaktere,  die  etwas  wurmstichigeri 
Seelen,  nicht  weil  man  friiher  komplizierter  war  als  heute 
oder  umgekehrt,  sondern  weil  der  ,,Normalmensch"  immer  ein 
Phantasieprodukt  gewesen  ist.  Wenn  Lytton  Strachey  zum 
Beispiel  das  anstandige  biirgerliche  MittelmaB  der  viktoria- 
nischen  Gesellschaft '  zeichnet,  so  erhalt  dieses  Biid  einen 
ironischen  Schnorkel,  indem  der  Historiker  das,  was  diese  Zeit 
nicht  sehen  wollte,  leger  und  gar  nicht  anklagend,  gleichsam 
in  einem  Appendix  niederiegt. 

Lytton  Strachey  hinterlaBt  nur  ein  paar  Biicher,  aber  es 
ist  eine  Reihe  unvergeBlicher  Gesichter  darin.  Der  lange, 
qualvolle  Todeskampf  Philipps  IL,  ein  erhabenes  und  narri- 
sches  Grecobild;  der  undurchsichtige  und  gefahrliche  Francis 
Bacon;  der  junge  Essex  in  das  Ankleidezimmer  seiner  Konigin 
eindringend;  die  zu  ewiger  Virginitat  verurteilte  Elisabeth 
selbst;  die  Queen  Victoria  mit  ihren  Ministern;  der  grofle 
Carlyle  als  moralischer  Poltron  entlarvt,  der  einige  private 
Peinlichkeiten  hinterlaBt;  und  endlich  der  General  Gordon, 
diese  Fahne  des  britischen  Imperialismus,  im  Zelt  von  Khar- 
tum zwischen  Bibel  und  Schnaps  phantasierend  —  das  bedeutet 
allein  eine  Galerie  von  Menschen  und  Szenen,  um  die  jeder 
Dichter  von  heute  diesen  Historiker  beneiden  kann.  Diese 
Biicher  sind  durch  die  ganze  Welt  gegangen,  sie  werden;  wohl 
auch  in  Deutschland,  wo  sie  Hans ,  Reisigers  Obersetziingskunst 
eingefuhrt  hat,  noch  lange  ihre  Leser  finden, 

143 


Bemerkungen 

Historlsches 

\Tot  einiger  Zeit  habe  ich  hier 
*  das  schone  Denkmal  am  deut- 
schen Eck,  in  Koblenz  geschildert; 
der  selige  Kaiser  Wilhelm  der 
Erste  ist  dort  zu  Stein  zusammen- 
gehauen,  und  icb  hatte  mir  er- 
laubt,  solches  einen  gefrorenen 
Mist  zu  nennen.  Darob  grofie  Ent- 
riistung  bei  den  Kleinbiirgern  des 
Nationalisms,  Es  hagelte  Pro- 
teste,  ich  spannte  keinen  Regen- 
schirm  auf,  und  soweit  gut.  Da 
sind  iibrigens  manche  Gruppen 
der  jungen  Nationalisten  verntinf- 
tiger;  die  konnen  wenigstens  Bar- 
lach  von  j  enem  wilhelminischen 
Kram  unterscheiden.  Und  diese, 
aber  nur  diese,  fiihlen,  dafi  Wil- 
helm ein  ungluckseliges  Misch- 
ding  gewesen  ist,  wenn  man  ge- 
nauer  hinsieht,  eigentlich  gar 
nichts,   Ein  Mensch  ohne  Schicksal, 

Nun  war ,  in  diesem  Aufsatz 
vom  Deutschen  Eck  ferner  be- 
schrieben,  wie  die  kleinen  koblen- 
zer  Schul jungen  dem  Fremden  fur 
fiinfzig  Pfennig  das  Denkmal  er- 
klaren,  daJ3  die  Grammatik  nur  so 
wackelt.  Die  Zeit  bleibt  nicht 
stehn,  die  Industrie  modernisiert 
sich,  und  wie  ich  hore,  erklaren 
sie  in  Koblenz  jetzt  nicht  nur  das 
Denkmal,  sondern  noch  etwas 
ganz  andres. 


Frtiher  hatten  sie  mich  gefragt: 
„Soll  ich  Ihnen  mal  das  Denkmal 
erklaren?"  —  Jetzt  fragen  sie  den 
Besucher:  „Soll  ich  Ihnen  mal 
das  Ungltick  zeigen?"  Und  damit 
meinen  sie  die  schreckliche  Briik- 
kenkatastrophe,  die  so  vielen 
Menschen  das  Leben  gekostet  hat, 
damals,  als  sie  die  Befreiung 
des  Rheinlands  von  der  Schwer- 
industrie,  Vergebung,  von  der  wel- 
schen  Schmach  feierten, 

Und  also  sprechen  j  etzt  die 
Knablein  am  deutschen  Eck,  wort- 
lich: 

„Das  kleine  Hauschen,  wo  die 
Pappeln  stehn,  was  Sie  da  sehnt 
das  ist  das  Bootshaus,  dort  brach 
die  Briicke  zusammen.  Bald  ver- 
wandelte  sich  das  Bootshaus  in 
ein  Lazarett  und  Totenhaus.  Und 
Hindenburg  hat  zur  Beerdigung 
einen  Kranz  geschickt  und  jedem 
Verwandten  ein  paar  hundert 
Mark,  und  Hindenburg  hat  gesagt, 
war  ich  nicht  gekommen,  ware 
das  ganze  Ungltick  nicht  passiert, 
Fertig  I"  (Fertig  wird  mitge- 
sprochen.) 

„Woher  weifit  du  denn  das?" 
fragte  der  Fremde  den  koblenzer 
Knaben.  „Das  hat  mich  mein 
Vater  gelernt",  sprach  jener, 

Geschichte  entsteht  oft  auf  wun- 
derbaren  Wegen. 

Ignaz  Wrobel 


Verschenken    Sie    immer   wieder: 

JKurt  Ouchotsku 

^cfdofs  QripsUm 

tint  ^mmtrfclcnicnte 

40.TAUSEND  •  KARTON.2.50  •  LEINENBD.320 

ROWOHLT  VERLAG  •  BERLIN  W  50 
144 


Wilhelm  der  Drftte  erscheint 
in  Moablt 

KAan  weiB,  wie  sehr  in  Moabit 
"*■  Beleidigungsprozesse  ver- 
puffen  konnen.  Sie  finden  in 
einem  kleinen  Raum  statt.  Es 
wird  nichts  irgendwo  erwahnt. 
Ein  Mensch  sucht  sein  Recht. 
Aber  niemand  erfahrt  von  seiner 
Rehabilitierung. 

Der  ProzeB  Hitler  gegen  Sten- 
nes  wurde  so  aufgezogen,  als 
hatte  man  ein  Interesse  daran, 
Hitler  als  kiinftigen  Monarchen 
zu  zeigen! 

Friiher  wurden  Schulkinder 
zum  Spalierbilden  befohlen.  Jetzt 
befiehlt  man  Journalisten,  es  zu 
tun,  Niemand  darf  in  den  Saal, 
so  wird  angeordnet.  Statt  daB 
nun  vorher  etwa  fttnfzig  Presse- 
vertreter  in  aller  Ruhe  im  Saal 
gesessen  batten,  wenn  Hitler  her- 
einkam,  wie  das  sonst  iiblich  istt 
waren  sie  nun  gezwungen,  Spa- 
lier  fur  Hitler  zu  bilden,  es  er- 
gab  sicb  dadurcb  der  Zustand, 
daB  Jedermann  im  Gerichts- 
gebaude  den  Eindruck  von  etwas 
Aufierordentlichem  hatte,  zu  der 
Grut)pe  trat  und  ebenfalls  Spa- 
lier  bttdete.  Stennes  mufite 
gleichfalls  drauBen  warten.  Nur 
Hitler  wurde  erlaubt,  mit  Gefolge 
den  Saal  friiher  zu  betreten,  wie 
es  der  Majestat  zukommt.  Die 
Journalisten,  das  Spalier,  muBten 
ibm  nachber  in  der  wiirdelose- 
sten  Weise  nachdrangen,  Es  war 
genau  sof  wie  man  es  macben 
muB,  um  eine  Stimmung  des  Be- 
sondern,  der  Sensation  entsteben 
zu  lassen, 

Nicht  ein  Kommunist,  nicbt  ein 
Sozialist,  sondern  der  Chauffeur 
einer    Rechtszeitung,     der     diesen 


kunstlich  aufgezogenen  Betriel) 
sab,  sagte:  „Die  machen  ja  den 
Junrten  gewaltsam  verruckt/' 

Nebeneinander  auf  der  An- 
klarfebank  saBen  drei  mebr  als 
schwarze  Leute,  Lippert,  Redak- 
teur  vom  Angriff,  Hitler  und 
Rechtsanwalt  Frank  II,  alle  drei 
von  einer  Schwarze,  die  kein 
Rassebuch  aufhellen  kann. 

Nach  den  Einleitungsworten 
des  Vorsitzenden  erklarte  Rechts- 
anwalt Frank;  „Die  Worte  des 
Herrn  Vorsitzenden  waren  na- 
tionalsympathisch,"  ein  Wort, 
von  dem  man  das  innigste  Ver- 
langen  begt,  daB  es  in  die 
deutsche  Spracbe  eingeben  moge 
wie  Belange  und  verrecke, 

Der  Amtsgerichtsrat,  wie  es 
seines  Amtes  ist,  um  einen  Ver- 
gleicb  bemiiht,  riet  Hitler:  „Sie 
spielen  doch  eine  groBe  Rolle  im 
politiscben  Leben,  denken  Sie 
doch  an  die  Worte  eines  Dich- 
ters,  eines  deutscben  Dicbters, 
des  Dichters  Gerhart  Hauptmann: 
,Der  deutschen  Zwietracht  mitten 
ins  HerzV 

Das,  um  Stennes  mit  Hitler  zu 
versobnen!  War  es  Ironie?  Nahm 
der  Richter  an,  daB  der  Name 
Gerhart  Hauptmanns  den  Anwe- 
senden  bekannt  sei?  „Ich  bin 
ein  fanatischer  Anhanger  der  Ge- 
setzlichkeit,"  sagte  Rechtsanwalt 
Frank  II  im  weitern  Verlauf  der 
minutenkurzen  Verhandlung,  aber 
Hitler  bietet  als  Beklagter  an, 
einen  Eid  zu  leisten,  beweist  da- 
mit  eine  abgriindige,  primitive 
Unkenntnis  der  Gesetze, 

Doch  Hitler  hat  keinen  Ver- 
gleich  und  keine  Gesetzeskennt- 
nis  notig,  der  Freispruch  ist  ihm 


Geheimphanomene 

mbchte  ein  jeder  erleben,  aber  keiner  macht  sich  klar,  daB  alles,  was  in 
irdische  Erscheinung  tritt,  auch  nur  so  lange  Wert  behalt,  a!s  unsere 
irdischen  Sinne  funktionieren.  Wollen  Sie  dauernd  als  Besitz  erlangen, 
was  Ihnen  nicht  mehr  entzogen  werden  kann,  dann  bandeln  Sie  nach  den 
ntichternen  Ratschlagen,  die  Ihnen  in  den  ganz  einzigartigen  Bttchern  von 
Bo  Yin  Ra  gegeben  werden!  Wenn  Sie  B6  Yin  R&  noch  nicht  kennen, 
so  verlangen  Sie  kostenlos  von  Ihrem  Buchhandler  oder  von  uns  direkt 
die  Broschure:  „Weshalb  Bo  Yin  Ra?"  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin. 
Sie  werden  uns  dankbar  sein!   Kober^sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816) 

Basel-Leipzig. 

145 


von  vornherein  sicher,  Der  Pro- 
zefi  drehte  sich  um  einen  Arti- 
kel  im  fVoIkischen  Beobachter', 
durch  den  Stennes  als  Polizei- 
spitzel  bezeichnet  wurde.  Die 
Klage  von  Stennes,  vertreten 
durch  Rechtsanwalt  Becker, 
wandte  sich  an  die  falsche 
Adresse.  Sie  hatte  Binz,  den 
Hauptschriftleiter  des  ,Volkischen 
Beobachters'  treffen  miissen.  Die- 
ser, so  meinte  der  Klager,  war 
nicht  auffindbar,  des  ha  lb  hahe  er 
sich  an  Hitler  gehalten.  Hitler 
erklarte,  nichts  mit  dem  Artikel 
zu  tun  zu  haben,  Darauf  wurde 
Hitler  entlassen. 

Man  hat  gesagt,  dafi  Wil- 
helm  II.  nicht  umsonst  zu  Rein- 
hardts  Zeiten  lebte.  War  schon 
zu  Wilhelms  Zeiten  die  Regie 
alles,  so  iibertrifft  ihn  Wil- 
helm  III.  noch  bei  weitem.  Preu- 
fiische  Gerichtsbehorden  HeBen 
sich  willig  dieser  Regie  vorspan- 
nen, 

Gabriele   Tergit 

Zweimal  Bauen  1m  Film 

Gesehen  in  der  Kamera  als 
Sondervorftihrung  der  Dege- 
to  (Deutsche  Gesellschaft  fur 
Ton  und  Bild).  Es  muB  gleich 
gesagt  werden,  daB  die  Kapriolen 
des  Trickfilms  von  Max  Fleisch- 
mann  entschieden  unterhaltsamer 
und  geistvoller  waren  als  die 
lehrhafte  Ausfuhrlichkeit  der 
Baureportage  von  Wilfried  Basse, 
Das  Herrlichste  in  der  Groteske 
war  das  tolle  Treiben  sich  gegen- 
satzlich  bewegender,  frei  schwe- 
bender  eiserner  Balken,  auf  de- 
nen  zwei  Ulktiere  in  schwindeln- 
der    Hohe    klappernd    herummar- 


schierten  und  kletterten.  Eine  wit- 
zige,  in  ihren  phantastischen 
'  raumlichen  Wirkungen  tiberwalti- 
gende  Equilibristik.  Auf  dieses 
heitere  Bauspiel  folgte  der  Ernst 
der  Wirklichkeit.  Man  sah  den 
Abbruch  und  Aufbau  wirklicher 
Hauser,  von  Basse  schonstens 
photograohierte  Wirklichkeit  s- 

ausschnitte,  die  jedoch  ohne  Zug, 
Rhythmus  und  Geschlossenheit 
aneinandergereiht  waren.  Nicht 
optisch  gestaltet  sondern  begriff- 
lich  summiert.  Nicht  einmal  Re- 
portage sondern  nur  noch  Regi- 
stratur.  Erlauterndes,  iiberreich- 
liches  Bildermaterial  zu  einem 
Vortrag  iiber  Bautechnik.  Die 
sachliche  Klarheit  der  Photo- 
graphic von  Basse  ist  ein  ausge- 
zeichnetes  Anschauungsmittel, 

aber  zu  temperamentlos,  um  die 
Dynamik  des  Lebens  einzufan- 
gen.  Dieser  Mangel  mag  ein  Vor- 
zug  sein  bei  dem  Baufilm,  der 
seiner  ganzen  Anlage  und  Durch- 
fiihrung  nach  den  Eindruck  er- 
weckt,  als  sei  er  im  Auftrag  eines 
Bauunternehmens  oder  Bauherrn 
entstanden.  Filme  dieser  Art 
mogen  am  rechten  Ort  sehr  niitz- 
lich  sein.  Aber  es  fuhrt  zu  MiB- 
verstandnissen,  wenn  ein  solcher 
Film  an  einer  Stelle  gezeigt  wird, 
die  mit  Recht  als  Schutzmarke 
fur  den  guten  kiinstlerischen 
Film  bekannt  ist.  Zudem  wurde 
der  Film  von  sehr  anerkennen- 
den  Worten  Arnheims  eingefiihrt, 
dessen  Veroffentlichungen,  vor 
all  em  sein  neues  Buch,  doch 
ebenfalls  entschieden  gezeichnet 
sind  durch  den  klaren  Blick  fiir 
den  Film  als  Kunst.  Ein  weiterer 
mifideutender  Regiefehler  war  die 


II.  Jahrgang 


146 


DIE  ENTE 


Die  llnksgerlchtete  sailrischo  Wochenschrlft  gegen 
Kulturreaktlon,  SpteBertum  und  Presse.  Aus  dem 
Inhalt  der  3. Nummer:  Pogrom  Im  Scherl-Haus  / 
Humor  Im  Landtag  /  Ein  Pfarrhaus-ldyll  /  JQ- 
dlsche  Arzte  fQr  das  dritte  Reich. 


10  Pfennig 


Bel  alien  Zeltungshandlern.  Probenummern  gratis 
vom  Verlag  der  ENTE,  Berlin  W  80,  Haberlandstr.7. 


Begleitmusik,  die  immerzu  in 
dramatisch-konvulsiven  Tonmale- 
reien  wiihlte,  trotzdem  der  Film 
so  gleichmutig-neutral  wie  irgend 
moglich,  seinen  Dienst  an  der 
Wirklichkeit  versah.  So  geht  es 
nicht.  Grade  weil  der  Film  so 
verhangnisvoll  iiberwuchert  ist 
von  billigen  Scheinwerten  und 
geschaftsiib lichen  Kompromissen, 
kann  die  Front  der  wahren  Film- 
kunst  nicht  streng  genug  abge- 
grenzt  werden  gegen  Konfektion 
—  aber  auch  gegen  Anschauungs- 
unterricht,  und  sei  es  auch  nur, 
wie  im  gegebenen  Fall,  eine  Re- 
portage, urn  die  solche  reinliche 
Scheidung  gewahrt  bleiben  soil. 
Die  beiden  fruhern  Filme  von 
Basse  „Baumblute  in  Werder" 
und  „Markt  am  Wittenberg- 
Platz",  die  man  wiedersah,  haben 
wenigstens  den  Vorzug,  daB  ihre 
bedeutend  geringere  Lange  im 
richtigen  Verhaltnis  zur  Ergiebig- 
keit  des  Motivs  steht  und  daB  sie 
in  sinnfalliger  Abrundung  des 
Geschehens  mit  dem  Schlufi  auch 
zur  organischen  Geschlossenheit 
reifen.  Das  ist  schon  eher  Kunst, 
wenn  auch  ebenfalls  dicht  an  der 
Grenze,  bei  der  die  Gestaltung 
aufhort  und  nur  die  Reproduktion 
bleibt.  Ernst  KdUai 

Auswurf 

1821    §    3667    StGB.    Ausspupken 

kann    „Werfen    mit    Unrat"    sein. 

—  OLG.  Jena  22.  Mai  31, 

2  S  161/31. 

Der     Angeklagte       hat       einen 

groBen  Fladen  menschlichen  Aus- 

wurfs    auf    die  uberdachten,    zur 

Haustur     fuhrenden     Stufen     des 

Hauses  seines  Nachbarn  gespuckt. 

Darin      kann      eine     Ubertretung 

nach    §  366    Nr.  7    StGB.   liegen. 

§  366  Nr.  7  schiitzt,  indem  er  ab- 

strakte       Gefahrdungshandlungen 

bedroht,      nicht      nur     Menschen 


selbst,  sondern  auch  menschliche 
Wohnungen  und  damit  die  in 
ihnen  befindlichen  Gegenstande 
gegen  Beschadigungen  und  Ver- 
unreinigungen.  Als  Unrat  sind 
daher  solche  Stoffe  anzusehen, 
die  ihrer  Natur  nach  geeignet 
sind,  solche  Beschadigungen  oder 
Verunreinigungen,  sei  es  bei 
Menschen  oder  bei  Sachen,  zu 
verursachen,  wenn  sie  geworfen 
werden  (vgl.  RgSt.  21,  317).  Das 
trifft  auf  menschlichen  Auswurf 
zweifellos  zu.  Auch  ein  Werfen 
ist  anzunehmen.  Aller dings  wird 
der  Begriff  „Werfen"  im  engeren 
Sinne  auf  ein  „Werfen  mit  der 
Hand"  beschrankt.  Der  Begriff 
des  Werfens  wird  aber  auch  in 
einem  weiteren  Sinne  verwendet 
und  damit  jede  korperliche  Ta- 
tigkeit  bezeichnet,  durch  welche 
einem  Gegenstand  eine  Eigen- 
bewegung  verliehen  wird,  die  ihn 
durch  die  Luft  an  einen  anderen 
Ort  bringt,  im  Gegensatz  zu  Le- 
gen  und  Schieben.  In  welcher 
Weise  die  korperliche  Kraft  ent- 
faltet  wird,  ist  gleichgultig.  Auch 
ein  Spucken  ist  Werfen  in  diesem 
Sinne,  Bei  der  Entscheidung  der 
Frage,  in  welchem  Sinne  der  Be- 
griff des  Werfens  im  §  366  Nr.  7 , 
StGB.  auszulegen  ist,  ist  vom 
Zweck  des  Gesetzes  auszugehen. 
Es  will  Menschen  und  Sachen  vor 
Schaden  und  Verunreinigung 
schutzen,  die  sie  durch  Auftreffen 
von  Unrat  erleiden  kdnnten.  Fiir 
diese  Gefahrdung  ist  es  aber 
gleichgultig,  ob  die  Bewegung 
durch  die  Hand  oder  mit  einem 
andern  Korperteil  ausgelost  ist. 
Der  Begriff  des  Werfens  ist  des- 
halb  hier  in  dem  weiteren  Sinne, 
wie  er  oben  dargelegt  ist,  zu  ver- 
stehen. 

tHdchstrichter!iche 
Rechtsprechung' 
Nr.  21  vom  1.  November  1931,     , 


Uiillllllllllllllllllllll^ 


FRIEDEN  UND  FRIEDENSLEUTE 

Genfereien  v.  Walther  Rode.    Schutzumschi.  v.  GULBRANSSON 


?f  umII"*1  kZmmt VOn  dJfrtra.Su*chS?  Befllssenheit, den  Bock  der Zelten  zu  melken, ob 
er  Milch  geben  kann  oder  nicht  NIemand  weiB,  wohin  die  Mensch- 
helt  steuert,  ob  sie  leben  oder  sterben  will;  gewiB  ist  nur,  daB  sie 
das  nicht  will,  was  Ihr  die  Oberlehrer  der  GlOckseligkeitzudenken 


TRANSMARE  VERLAQ  A.-O.,  BERLIN  W  10 


Kortoniert 

3.— RM 


147 


Priesters  Geheimnis 

A  ber  man  glaubte,  einen  klugen 
*"*  Schachzug  im  Hinblick  auf  die 
Reparationsverhandlungen  zu  tun 
(wobei  man  vergafi,  da6  man 
nicht  Skat  spielte  —  sondern 
Hazard). 

H.  E.  Priester: 
Das  Geheimnis  des  13.  Juli 

Bfldung 

P  r  las  aus  einer  zeitgenossischen 
*^*  Nummer  der  berliner  Zeitung 
von  Staats-  und  gelehrten  Sachen, 
der  heutigen  .Vossischen  Zeitung', 
die  wenigen  Satze  vor,  die  ganz 
nebenbei  den  Tod  Napoleons  auf 
der   Insel   Elba   meldeten, 

,B.  Z.  am  M  it  tag' 
16,   1.   1932 

Das  kletnere-Ubel 

r\  ie  neue  Amtsvertreterversamm- 
*-^  lung  Rostock  wahlte  mit  den 
Stimmen  der  Burgerlichen  und 
der  Sozialdemokraten  den  bis- 
herigen  deutscbnationalen  Amts- 
hauptmann  Ihleleldt  wiederum 
zum  Amtshauptmann,  Fur  den 
AmtsausschuB  sind  nur  National- 
sozialisten  gewahlt  worden, 

Zeitungsnotiz 


Freundliches  Angebot 

Die  kommunistische  Presse  be- 
fafit  sich  seit  Tagen  mit  der 
Heirat  Dr.  Goebbels  und  be- 
hauptete,  dafi  die  jung  vermahlte 
Frau  Goebbels  eine  geb.  Fried- 
lander  und  j  udischer  Abstam- 
mung  sei  und  aus  der  jiidischen 
Hochfinanz  komme,  (II)  Diese 
Meldung  ist  von  A  bis  Z  erlogen. 
Frau  Dr,  Goebbels  ist  eine  geb. 
Ritschel  und  selbstverstandlich 
rein  arischer  Abstammung.  Wer 
daran  zweifelt,  dem  steht  es  frei, 
sich  davon  durch  Augenschein- 
nahme  zu  uberzeugen. 

,V6lkischer  Beobachter 

Liebe  Weltbuhne! 

C  prechzimmer  eines  Arztes  in 
^  einem  stahlhelmbegeisterten 
Dorfchen  bei  GroBenhain  (Sach- 
sen) . 

Ein  Hauptmann  a.  D.(  geistiger 
Leiter  des  Ortes,  bringt  seinen 
Knaben  an.  Der  Knabe  sinkt  auf 
den  Diwan,  und  der  Arzt  stellt 
nach  kurzer  Untersuchung  nkor- 
perliche  Schwache  und  Nervosi- 
tat"   fest. 

Dann  schreibt  er  was  auf  und 
fragt  nach  dem  Vornamen  des  er- 
barmungswurdigen   Geschopfes, 

Der  Vater  antwortet  fiir  den 
Sohn:   „Rachebald  heesdr," 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Scheringer-Komitee.  Mittwoch  2000.  Spichernsale,  Spichernstr.  3.  Oeffentlichc  Kund- 
gebung:  Heraus  mit  Scheringerl  Essprechen:  Axel  Eggebrecht,  Lion  Feuchtwanger, 
Ernst  Glaeser,  Gerhard  Obuch,  Ludwig  Rcnn,  Bruno  v.  Salomon,  Alexander 
Stenbock-Fermor,  Frank  ThieB,  Oberleutnant  a.  D.  Hans  Wendt,  Friedrich  Wolf. 
Fritz  Genschow  liest  aus  Scheringers  Schriften. 

Porza.  Freitag  20.15.  Deutschlandhaus,  Reichskanzlerplatz-t  Rainer  Maria  Rilke-Ge- 
dichtnisabend.  Essprechen:  Andre  Germain  und  Alfred  Wolf  ens  t  ein.  Mary  Schneider- 
Braillard  liest. 

Deutsche  Psychoanalytische  Gesellschaft.  Sonnabend  2000.  Breitkopf-Saal,  Stegliizer 
StraBe  35:  Kindheitskonflikte  und  Homosexual  it  at,  Felix  Boehm. 

Hamburg- Altona 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Dienstag  (2.)  20  00.  Volksheim,  Eichenstr.  61 :  Ober 
den  historischen  Materialismus.    Referent:  Ein  Mitglied  der  Bolschewiki-Leninisten. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  18.25:  Manfred  Sturmann  liest.  —  19.30:  Wie  kann  man  lachen  in  diesen 
Tagen,  Stefan  Grossmann  und  Max  Pallenberg.  —  Konigswusterhausen  20.15 : 
Soziatismus  und  Eigentumsbe  griff,  Eduard  Heimann  und  Rudolf  Hilferding.  —  Mittwoch. 
Berlin  20.30:  Napoleon  oder  Die  hundert  Tage  Ton  Christian  Dietrich  Grabbe.  — 
Dormer  star-  Berlin  15.20  :Lebensschicksale  hervotragender  Frauen,  M.  M.  Gehrke.  — 
MQnchen  15.40:  Zwei  Kurzgeschichten  von  Anton  Schnack  —  Langenberg  18  00: 
Lyrisches  Selbstportrat  von  Max  Herrraann-Neisse.  — Freltig.  Berlin  17.30;  Hermann 
Bang  zum  20.  Todestag.  —  Sonnabend,  Berlin  18.40  :  Die  ErzEhlung  der  Woche, 
Ernst  Weiss. 

148 


Antworten 

Untersuchungsrichter  des  Reichsgerichts  beim  Landgericht  HI, 
Berlin.  Man  wird  es  kaum  glauben,  aber  es  ist  wahr:  Sie  haben  vor 
em  paar  Tagen  die  Voruntersuchung  gegen  Scheringer  abgeschlossen 
und  die  Akten  dem  Oberreichsanwalt  zur  weitern  Entscheidung  iiber- 
geben.  Es  hat  also  etwas  genutzt,  wenn  hier  und  an  andrer  Stelle 
Ihnen  yon  Zeit  zu  Zeit  klargemacht  wurde,  daB  Ihr  merkwurdiges 
Verhalten  in  dieser  Angelegenheit  nicht  unter  dem  AusschluB  der 
Offentlichkeit  vor  sich  geht.  Wir  sind  nach  wie  vor  und  besonders 
seit  uns  der  Verteidiger  Obuch  neulich  auf  der  Schriftsteller-Konferenz 
des  Scheringer-Komitees  so  ausgezeichnet  sachlich  unterrichtet  hat,  der 
Ansicht,  daB  Sie  unter  den  kleinlichsten  Vorwanden  den  AbschluB  der 
Voruntersuchung  Monat  um  Monat  herausgeschoben  haben,  obwohl  Ihr 
Vorganger  in  der  Bearbeitung  des  Falles  bereits  Ende  September  die 
Zusicherung  gab(  daB  in  „einigen  Tagen"  alles  erledigt  sein  werde. 
Auch  wenn  Sie  jetzt  endlich  dem  Drangen  der  Offentlichkeit  nach- 
gegeben  haben,  bleibt  der  Vorwurf  gegen  $ie  bestehen,  daB  Sie  Sche- 
ringer standig  schikaniert  haben.  In  den  ganzen  Monaten  haben  Sie 
nicht  ein  neues  Argument  zu  den  bisherigen  hinzufiigen  konnen.  Wie 
also  soil  man  Ihr  Verhalten  deuten?  Das  mit  dem  „Fluchtverdacht" 
und  der  „Verdunkelungsgefahr"  ist  doch  reichlich  dunkel.  Die  Ge- 
setze,  Herr  Landgerichtsrat  Zimmer,  schreiben  Ihnen  eine  Beschleuni- 
gung  der  Untersuchung  vor.  DaB  Sie  dieser  Vorschrift,  sagen  wir: 
nur  sehr  lasch  nachgekommen  sind,  muBte  jeder  annehmen,  der  Obuch 
sprechen  horte.  Und  dieser  Uberzeugung  sind  nicht  nur  wir  und  andre 
Blatter  der  Linken,  aus  der  auBersten  rechten  Ecke  gab  es  und  gibt 
es  Zustimmungserklarungen  in  Fiille.  Unbeschadet  der  politischen 
Oberzeugung  des  einzelnen,  unbeschadet  vor  alien  Dingen  der  Beurtei- 
Iung  der  politischen  Tatigkeit  Scheringers  durch  den  einzelnen  hat 
sich  im  Scheringer-Komitee  ein  Kreis  von  Menschen  zusammengefun- 
den,  der  entschlossen  ist,  die  endgiiltige  Erledigung  des  Falles  Sche- 
ringer mit  alien  Mitteln  vorwartszutreiben.  Ihre  AbschlieBung  der 
Untersuchung  war  die  erste  Etappe.  Es  wird  weitergehen.  Beim 
Oberreichsanwalt  wird  es  liegen,  dafl  sich  der  Fall  nicht  doch  noch 
zu  einem  Justizskandal  auswachst,  bei  dem  event uell  angesichts 
Ihrer  Unter suchungsmethoden  die  Frage  auftauchen  kiinnte,  wie  weit 
Sie  eine  Schuld  an  der  Hinauszogerung  trifft. 

Erik  Jan  Hanussen.  Die  erste  Nummer  Ihres  Wochenblattchens, 
nach  deren  Lekture  man  nicht  eben  heller  sieht  als  vorher,  enthalt  — 
neben  einer  etwas  kiimmerlich  geratenen  Anrempelung  Walter  Meh- 
rings  —  auch  eine  delphische  Spalte;  MWas  bringt  die  nachste  Woche", 
die  mit  dem  Satz  beginnt:  „In  Lausanne  kommt  es  zu  einem  ,Krach* 
zwischen  England  und  Frankreich".  Bei  dieser  Prophezeiung  war 
nach  irdischem  Ermessen  nicht  das  leiseste  Risiko,  aber  der  Mensch 
sieht  hell,  und  Gott  Ienkt.  Die  Konferenz  ist  geplatzt.  Und  wenn 
Sie  platzen! 

ZWANZIG  JAHRE  WELTGESCHICHTE 

in  700  Bildern.  1910—1930.  Einleitung  von  Friedrich  Sieburg.  Gr.8. 

Dieses  Bilderbuch  soil  dem  Betrachter  nicht  die  gelstlge  MQhe  ersparen,  die  im 

Le8enliegt.  Diezusammenfassende  Betrachtungderletzten  17  Oder 

20  Jahre,  ohne  daB  die  Tatsachen  durch  eine  Deutung  verhUllt  oder 
gefSrbt  wtlrden,  mag  einen  neuen  Weg  welsen  oder  erkennen  lassen. 


TRANSMARE  VERLAO  A.-O..  BERLIN  W  10 


Lelnen 

5.80  RM 


149 


Erich  W.  Abraham*  Sie  schreiben:  „Jan  Bargenhusen  hat  in  dcr 
.Weltbuhne'  mchrfach,  zuletzt  in  Nr.  3,  einen  gewissen  Markowski 
scharf  kritisiert,  und  zwar  wegen  eines  Artikels  in  der  ,Chronik  der 
Menschheit',  dcr  sich  unter  anderm  mit  dem  Kapitel  Stahlverein- 
Flick  befafite.  Bargenhusen  bat  offenbar  diesen  Artikel  gemeint,  als 
er  von  bewufiter  Schonfarberei  und  von  korrupten  Eleraenten  in  der 
Handelsjournalistik  sprach.  Diese  Kritik  hatte  mich  persdnlich  durch- 
aus  nicht  interessiert,  wenn  nicht  aus  Bargenbusens  Worten  hervor- 
gegangen  ware,  dafi  er,  mit  seiner  Kritik  auf  mich  zielt.  In  seiner 
letzten  Zuschrift  an  die  .Weltbuhne  lafit  Bargenhusen  ziemlich  klar 
durchblicken,  dafi  ich  seiner  Meinung  nach  mit  jenem  Markowski, 
gegen  den  er  kampft,  identisch  sei,  Ich  halte  die  Ausfuhrungen  Bar- 
genhusens  vom  19,  November  (in  dem  Artikel  iiber  den  Stahlverein) , 
soweit  sie  auf  meine  Person  zu  beziehen  sind,  fur  so  beleidigend,  dafi 
ich  glaube,  jederzeit  einen  Beleidigungsprozefi  gegen  Bargenhusen  zu 
gewinnen.  Wenn  ich  die  Angelegenbeit  trotzdem  ohne  Prozefi  erledigt 
wissen  mochte,  so  liegt  das  einmal  daran,  dafi  ich  die  Beschaftigung 
mit  derartigen  Prozessen  —  auch  liir  den  Sieger  —  nicht  fur  pro- 
duktiv  balte,  zum  andern  aber  daran,  dafi  sich  Bargenhusen  bei 
seinen  Kombinationen  allzu  offensichtlich  irrt.  Ich  hoffe,  Bargenhusen 
wird  seinen  Irrtum  und  das  von  ihm  begangene  Unrecht  soiort  ein- 
seben,  wenn  ich  heute  die  strikte  Erklarung  abgebe,  dafi  ich  nicht  mit 
Markowski  identisch  bin,  dafi  ich  iiberhaupt  noch  trie  einen  Artikel 
oder  eine  Notiz  fur  die  ,Chronik  der  Menschheit*  geschrieben  und 
auch  sonst  nicht  die  geringsten  Beziehungen  zu  diesem  Blatt  habe. 
Den  Artikel  in  Sachen  Stahlverein  —  Flick  —  Bargenhusen  habe  ich 
auch  nicht  dem  Verlag  des  Blattes,  dem  Bargenhusen  angehort,  in  der 
Absicht '  einer  Denunziation  zugeschikt  oder  zuschicken  konnen  —  da 
ich  ihn  selbst  erst  einige  Zeit  nach  seinem  Erscheinen  zu  Gesicht  be- 
kommen  habe.  Da  mir  alle  Schliche  der  journalist ischen  Kriegsfuh- 
rung  bekannt  sind,  gehe  ich  sogar  soweit,  zu  behaupten,  dafi  auch 
nicht  der  geringste,  indirekte  Zusammenhang  zwischen  jenem  Artikel 
des  Herrn  Markowski  und  mir  bestehen  kann."  Hierzu  schreibt  tins 
Jan  Bargenhusen:  „Nach  dieser  sehr  entschiedenen  und  denkbar 
weitgehenden  Erklarung  sind  wohl  alle  Zweifel  aus  der  Welt  geschafft; 
ich  habe  nun  keinen  Anlafi  mehr  zur  Annahme,  dafi  sich  der  (von 
mir  als  ,Herr  A/  vorgestellte)  Erich  W.  Abraham  hinter  dem  Pseu- 
donym Markowski  verborgen  hat,  Herrn  Markowski  wollte  ich 
treffen,  und  nicht  Abraham,  dessen  Stellungnahme  zur  Frage 
Flick-Stahlverein  ich  im  einz einen  nicht  kenne,  so  dafi  sie  fur  mich 
auch  nicht  den  Gegenstand  einer  Kritik  bilden  kann.  Ich  bedaure, 
dafi  Abraham  sich  von  meiner  friiher  gegen  die  journalistischen 
Freunde  des  Stahlvereins  geaufierten  Kritik  getroffen  fiihlen  konnte/' 

Teutobold,  Im  Deutschen  Volkstum  des  Herrn  Stapel  steht  unter 
der  Oberschrift  „Ihre  Sache"  iiber  den  .Weltbuhnen'-Prozefi:  „Pie 
Tatsache  ist:  Zwei  Pazifisten  werden  wegen  Landesverrats  und  mili- 
tarischer  Spionage  angeklagt.  Alsbald  finden  sich  vier  prominente 
judische  Anwalte,  um  die  Angeklagten  zu  verteidigen.  Der  Iogische 
Schlufi  lautet?"  Der  Iogische  Schlufi  lautet,  dafi  der  Doktor  Stapel 
ein  unfairer  Kampfer  ist.  Die  beiden  Angeklagten  sind  keine  Juden. 
Das  verschweigt  er  seinen  Lesern.  Denn  der  Deutsche  hat  zwei 
wahre  Leidenschaften:   das  Bier  und  den  Antisemitismus, 

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  eu 
richten ;  es  wird  gebeten,  ihnen  RGckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Ruckseodung  erfolgen  kann. 
Das  Auff tinning srecht,  die  Verwertung  von  Titeln u. Text  im  Rahmen  des  Films,  die  muslk- 
mechanische  Wiedergabe  alter  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  Von  Radiovortrlgen 
blelben  far.  alle  in  der  Weltbuhne  eracheinenden  Beitrage  ausdrUcklicb  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  beg rundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  Tucholsky   geleitet  —   Verantwortlicb :   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin  \ 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  C  1,  Steinplatz  7767.  —   Postscheckkonto ;  Berlin  11958. 
Bankkonto:    Darmstadter    u.    Nationelbank.      Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.   112. 


HV11I.  Jalif  gang i.ttbnuim »nnw  6 

Das  Hindenburg-Syndikat  von  cari  v.  ossietzky 

Machdem  die  Versuche,  die  Wiederwahl  des  Reichsprasiden- 
~  ten  von  Hindenburg  auf  parlamentarischem  Wege  zu 
sichern,  gescheitert  sind,  bildet  sich  jetzt  fiir  die  Volkswahl  ein 
iiberparteiliches  Syndikat,  an  dessen  Spitze  der  berlincr  Ober- 
biirgermeister  Sahm  steht,  nachdem  der  tiichtige  Propagandist 
Eckener  schon  vorher  das  Stichwort  gegeben  hat  Mit  dieser 
Kandidatur  Hindenburg,  die  in  der  Linkspresse  als  einziger 
Ausweg  begriiBt  wird,  setzen  die  Republikaner  die  Kette  ihrer 
Fehlhandlungen  und  Irrtumer  entscheidend  fort,  Eine  spatere 
Zeit  wird  iiber  dies  Kapitel  die  traurige  Oberschrift  setzen: 
die  Deutsche  Republik  in  ihrer  tiefsten  Erniedrigung. 

Was  erwarten  die  Herren  Republikaner,  die  „eisernen" 
und  die  aus  weicherm  Material  gemachteri,  von  einer  zweiten 
Prasidentschaft  Hindenburgs?  Festen  Kurs,  Dauer,  Stetigkeit 
—  eben  alles  das,  was  die  Linke  aus  eigner  Kraft  nicht  mehr 
geben  kann.  Und  aus  diesem  Grunde  setzt  sie  alles  auf  einen 
einzelnen  Mann  in  einem  patfiarchalischen  Alter,  wenn  auch 
von  selten  glucklicher  {Constitution,  Welch  eine  Abdikations- 
stimmung  bei  einer  Demokratie,  die  es  lange  aufgegeben  hat, 
ihre  Position  zu  verteidigen,  die  sich  schutzsuchend  hinter 
einera  Dreiundachtzigjahrigen  verkriecht  und  den  anstiirmen- 
den  Gegnern  beschworend  zuruft:  MTut  uns  nichts!  ER  ist  ja 
so  ehrwurdig!" 

Es  ist  gewiB  kerne  Schande,  im  Verlauf  einer  Entwicklung 
Personen  und  Dinge  anders  einschatzen  zu  lernen.  Aber 
nicht  die  Merkzeichen  des  Regimes  Hindenburgs  haben  sich 
geandert,  sondern  die  Demokraten  von  einst.  Es  ist  ein  kata- 
strophales  Bild,  wie  diejenigen  Blatter,  die  Hindenburg  vor  sie- 
ben  Jahren  als  das  trojanische  Pferd  vefspotteten,  in  dem  die 
militaristische  und  monarchistische  Reaktion  in  die  Stadt  ein- 
zieht,  heute  als  den  ietzten  grofien  Defensor  der  Verfassung 
feiern  und  ihm  die  Biirgerkrone  aufs  Haupt  setzen.  Das  ist 
nicht  mehr  Politik,  sondern  Byzantinismus  und  schlechtweg 
zum  Kotzen, 

Dabei  ist  nicht  einmal  sicher,  ob  diese  Opfer  an  Charak- 
ter  und  Intellekt  auch  den  gewtinschten  Erfolg  zeitigen. 
Prophezeien  ist  eine  miflliche  Sachei  aber  noch  ist  der  Zu- 
strom  ins  fascistische  Lager  im  Wachsen,  denn  noch  sind  die 
politischen  und  okonomischen  Bedingungen  dafiir  reichlich  vor- 
handen.  Da  die  Nationalsozialisten  die  Verlangerung  der  Amts- 
zeit  Hindenburgs  durch  das  Parlament  konterkariert  haben,  so 
ist  ziemlich  sicher  anzunehmen,  dafi  sie  fiir  die  Volkswahl  von 
vornherein  das  Auftreten  mit  einem  eignen  Kandidaten  im 
Auge  hat  ten.  Deshalb  ist  aber  auch  der  Riickzug  der  Linken 
auf  die  innenpolitische  Hindenburglinie  ein  grober  taktischer 
Fehler.  Die  Verlangerung  der  prasidialen  Amtsdauer  durch 
den  Reichstag  ware  nur  eine  technische  Angelegenheit  gewe- 
sen,  die  niemand  erhitzt  hatte.  Die  Wahl  durch  das  Volk  da- 
gegen  muB  grade,  mitten  in  der  heutigen  Zuspitzung  zu  einer 

1  151 


harten  prinzipiellen  Auseinandersetzung  fiihren.  Wer  als  De- 
mokrat  oder  Sozialist  fiir  Hindenburg  votiert,  dcr  muB  sich 
dariiber  klar  sein,  daB  er  damit  auch  fur  Briining  und  Groener 
votiert,  fur  die  Notverordnungen,  fur  den  Lohndruck,  fiir  die 
Eskamotierung  der  Pressefreiheit,  fiir  eiue  verfehlte  AuBen- 
politik,  die  sich  von  den  Uberbleibseln  der  Stresemannzeit 
ganzlich  emanzipiert  hat.  Es  besteht  kein  Zweifel,  daB  der 
Fascismus,  wenn  er  sich  entschliefit,  in  den  Wahikampf  zu 
gehen,  das  mit  den  scharfsten  Parolen  tun  wird.  Was  bedeutet 
demgegeniiber  eine  Kompromifi-Kandidatur,  die  sich  auf  keine 
wirklichen  organisierten  Krafte  sttitzt,  sondern  lediglich  von 
einem  ad  hoc  zusammengestellten  Kuratorium  getragen  wird? 
Herr  Eckener  wird  die  Kandidatur  Hindenburg  mit  dem 
besten  unentziindbaren  Helium  fiillen  mussen,  urn  sie  so  sicher 
wie  seine  Z,eppeline  durch  ajle  sechsunddreiBig  Winde  zu 
tragen. 

Die  republikanischen  Parteien,  die  sich  so  oft  iiber  den 
Umfang  ihrer  Macht  und  die  Wirkung  ihrer  Mittel  getauscht 
haben,  sollten  sich  ernsthaft  frag  en  t  ob  sie  die  Kandidatur 
Hindenburgs  auch  wirklich  durchbringen  werden.  Sie  werden 
nur  sauseln  konnen,  wahrend  ihre  fascistischen  Gegner  wet- 
tertL  Hinzu  kommt  die  Kandidatur  Thalmann,  die,  ohne  eigne 
Chance,  doch  viele  MiBvergniigte  auffangen  wird.  Erringt  aber 
Hindenburg  seinen  Sieg  nicht  auf  den  ersten  Anhieb«  so  ist 
nicht  anzunehmen,  daB  er  sich  den  Wechse  If  alien  eines  zweiten 
Wahlgangs  aussetzen  wircL  Er  wird  sich  wahrscheinlich  miB- 
braucht  fiihlen  und  verargert  resignieren.  Dann  aber  bleibt 
dem  Syndikat  nichts  ubrig  als  eine  verlegene  Improvisation; 
es  wird  sich  irgend  einen  farblosen  Notablen  aus  der  rechten 
Mitte  holen  mussen,  auf  den  sich  doch  unmoglich  alle  groBen 
Eigenschaften  iibertragen  lassen,  die  sonst  Hindenburg  zu- 
geschrieben  werden.  Vielleicht  wird  auch  Minister  Groener 
selbst  sich  erweichen  lassen  —  das  ware  jedoch  verlorenes 
Spiel,  und  als  nachstes  Reichsoberhaupt  bliihte  uns  Frick  oder 
Epp  oder  Adolphus  Rex  hochstselbst. 

Die  Schichten,  die  vor  sieben  Jahren  Hindenburg  als  Ret- 
ter  und  Wundertater  auf  den  Prasidentensitz  erhoben,  sind 
inzwischen  lange  zum  Fascismus  iibergelaufen.  Sie  haben  den 
sozialen  Boden  unter  den  FiiBen  verloren.  DaB  heute  wieder 
hubsch  stramm  nach  bester  Tradition  gegen  links  regiert  wird, 
bemerken  sie  nicht,  denn  das  ist  noch  kein  Ersatz  fiir  die 
schwindend'en  Subsistenzmittel.  AuBerdem  haben  es  ihnen  die 
nationalsozialistischen  Agitatoren  gehorig  eingepaukt,  daB  zwi- 
schen  Hindenburg  und  Otto  Braun  kein  Unterschied  mehr  be- 
steht, und  daB  der  Sieger  von  Tannenberg  vfillig  in  dem  „Sy- 
stem"  aufgegangen  ist,  das  er  zerschmettern  soflte.  Das  ver- 
zweifelte  Kleinbiirgertum  weiB  jetzt,  daB  ihm  nicht  mehr  mit 
einer  glorreichen  Gestalt  aus  der  vateriandischen  Legende  zu 
helfen  ist.  Was  es  jetzt  braucht  und  ersehnt,  das  ist  ein  frischer, 
handfester  Bonapartismus,  der  die  stark  eingeschrumpften  ir- 
dischen  Giiter  neu  zur  Aufteilung  stellt. 

Die  gewandten  Werbefachleute,  die  sich  um  die  Nominie- 
rung  Hindenburgs  bemuhen,  berauschen  sich  zunachst  einmal 

152 


an  dem  eignen  Larm.  Ein  volkstiimlichcr,  ein  spontancr  Wunsch 
nach  einer  neuen  Prasidentschaft  Hindenburg  kann  kaum  fest- 
gestellt  werden.  In  dem  bayrischen  Komitee,  das  unabhangig 
von  Herrn  Sahm  an  die  Offentlichkeit  gctretcn  ist,  sitzen  lau- 
ter  Honorationen  aus  Politik,  Verwaltung  und  Industrie  zu- 
sammen,  Die  offentliche  EinfluBlosigkeit  solcher  Gebilde  ist 
mehr  als  einmal  ekiatant  geworden.  Als  Wilhelm  II.  sich  von 
Franz  Skarbina  die  Ovation  malen  lieB,  die  ihm  nach  den 
Hottentottenwahlen  von  1907  vor  dem  Schlosse  dargebracht 
wurde,  sagte  er  stirnrunzelnd  zu  dem  Kiinstler:  „Mehr  Volk!" 
Mit  dem  gleichen  Recht  konnte  der  Reichsprasident  das  heute 
zu  denen  sagen,  die  ihn  in  ein  Unternehmen  treiben  wollen, 
dessen  Ausgang  noch  zweifelhaft  erscheinen  muB. 

Die  Frage  ist  die,  ob  Mitglieder  und  Wahler  der  Sozial- 
demokratischen  Partei  wirklich  fur  Hindenburg  an  die  Wahl- 
ume  gehen  werden.  So  vergeBIich  sind  die  Massen  nicht  wie 
ihre  Fiihrer,  so  leicht  nicht  zum  Umschwenken  bereit,  Schon 
vor  sieben  Jahren  haben  sich  zahlreiche  Bezirke  geweigert, 
fur  den  kathojischen  Reaktionar  Wilhelm  Marx  zu  stimmen, 
und  damals  war  noch  die  groBe  Zeit  der  Koaiitionen.  Das  hat 
sich  griindlich  geandert;  es  iiegt  jetzt  durchaus  im  Bereiche 
der  Moglichkeit,  daB  die  organisierten  Sozialisten,  wenn  es 
schon  nicht  zur  offenen  Revolte  langt,  sich  doch  durch  Pas- 
sivitat  fur  das  rachenf  was  ihnen  ihre  zentrale  Leitung  ein- 
gebrockt  hat.  Die  eilfertige  Nominierung  Thalmanns  macht 
ihnen  die  Entscheidung  nicht  leichter,  denn  sie  sehen  darin  mit 
Recht  eine  Demonstration  gegen  ihre  Partei,  einen  zielsicher 
gefuhrten  Schlag  gegen  alle  weitern  Diskussionen  liber  die 
Rote  Einheit.  Ein  gemeinsamer  sozialistischer  Kandidat  wiirde 
auf  die  Massen  elektrisierend  gewirkt  haben.  Dazu  haben 
sich  die  Parteien  nicht  aufschwingen  konnen,  Der  Effekt  wird 
sein,  daB  Millionen  verbittert  zu  Hause  bleiben  werden,  weil 
sie  die  ihnen  von  den  Fuhrern  aufgenotigte  Alternative:  Hin- 
denburg oder  Hitler?  nicht  anerkennen  konnen,  weil  der  Wahl- 
gang  damit  seinen  Sinn  fur  sie  verloren  hat.  Die  gleiche 
Unfahigkeit  bei  Sozialdemokratie  und  Kommunistischer  Partei 
erleichtert  den  Sieg  des  Fascismus. 

In  dieser.  Stunde  sind  die  Verhandlungen  iiber  die  Prasi- 
dentenfrage  noch  nicht  abgeschlossen,  und  da  unsre  Politiker 
sich  keine  weitere  Fahigkeit  bewahrt  haben,  als  die  zu  iiber- 
raschen,  so  sind  trotzdem  noch  neue  Merkwiirdigkeiten 
zu  erwarten.  Aber  es  bleibt  Konventikelsache,  und  die  leben- 
dige  Schwungkraft  des  demokratischen  Staates,  das  Volk,  hat 
nichts  damit  zu  schaffen.  Fiir  die  Deutsche  Republik  gilt  heute 
ganz  und  gar,  was  der  f rankische  Chronist  iiber  die  letzten 
Merowinger  sagte:  „Der  Konig  war  zufrieden  mit  dem  blofien 
Namen  eines  Konigs  und  hatte  nichts,  als  daB  er  mit  herab- 
hangendem  Haar  auf  dem  Thron  saB."  Sollte  sich  aber  der 
Fascismus  endlich  doch  zum  Verzicht  auf  selbstandiges  Vor- 
gehen  entschlieBen  —  tant  pis.  Dann  wird  Hindenburg  eben 
sein  Kandidat  sein.  dann  wird  Hitler  die  Rechnung  aufstellen. 


153 


WirtSChaftsprOZeSSe  von  Bernhard  Citron 

In  diesen  Tag  en  gelangen  drei  Prozesse,  die  ein  bezeichnendes 
Licht  auf  die  Zustande  im  dcutschen  Wirtschaftsleben  wer- 
fen,  zur  Verhandlung.  Zur  Aburteilung  stehen  Katzenellen- 
bogen und  Genossen,  die  Bankiers  Marcus  und  Schreiber,  so- 
wie  Oppenheimer  und  Gutherz.  Wenn  man  die  Schnelligkeitt 
mit  der  die  SchultheiB-Aifare  vor  den  Strafrichter  kommt,  mit 
jenem  Schneckentempo  vergleicht,  in  dem  die  Fayag-Unter- 
suchung  vor  sich  ging,  so  gewinnt  man  den  Eindruck,  daB  die 
Gerichte  gegen  Wirtschaftsverbrechen  <nunmehr  mit  Scharfe 
und  Schnelligkeit  vorgehen  wollen.  Man  stelle  sich  vor,  daB 
etwa  im  Jahre  1934  ein  gewisser  Ludwig  Katzenellenbogen  der 
Bilanz-  und  Prospektfalschung  angeklagt  ware.  Die  Zeitungen 
wiirden  in  ihren  Archiven  blattern,  und  die  Leser  erinnerten 
sich  dunkel:  „Ja,  SchultheiB,  das  war  doch  vor  zweif  drei  Jah- 
ren  ein  grofier  Skandal."  Die  Zusammenhange  wiirden  inzwi^ 
schen  vergessen  sein,  die  Roll-e,  die  einige  GroBbankdirektoren 
bei  dieser  Gelegenheit  gespielt  haben,  wiirde  hochstens  in  den 
Zwischenszenen  zur  Auffiihrung  gelangen.  Selbst  wenn  man 
annimmt,  daB  die  Gerichte  objektiv  genug  sind,  in  ihrer  Ur- 
teilsfindung  keinen  Unterschied  zwischen  Fallen  von  aktueller 
Bedeutung  und  solchen,  iiber  die  bereits  Gras  gewachsen  ist, 
zu  inachen,  so  verliert  sich  doch  in  zwei  Jahren  die  abschrek- 
kende  Wirkung  der  Strafverfolgung  und  Bestrafung.  Was  hier 
von  Katzenellenbogen  und  seinen  Kollegen  zu  sagen  ist,  gilt 
in  noch  viel  hervorragenderem  MaBe  von  den  Bankiers,  die  der 
Depotnnterschlagung  angeklagt  sind.  Die  Devisenschiebungen 
des  Bankiers  Oppenheimer  werden  1934  (iberhaupt  nur  noch 
der  Geschichte  angehoren.  Wanrscheinlich  sind  dann  die  De- 
visenyerordnungen  durch  ganz  andre  gesetzliche  Bestim- 
mungen  ersetzt  worden.  Im  Jahre  1934  werden  auch 
Verbrechen  begangen  werden,  nur  werden  sie  wieder 
auf  andern  Gebieten  liegen.  Man  wiirde  also  mit  einer 
so  spaten  Bestrafung  keine  abschreckende  Wirkung  mehr 
erzielen  konnen.  So  darf  mit  Fug  behauptet  werden,  daB  ganz 
besonders  im  WirtschaftsprozeB  schnelle  Justiz  wichtiger  ist 
als  strenge.  Aber  eine  Gefahr  besteht  heute  wie  nach  zwei 
Jahren,  daB  die  ganze  Schuld  auf  wenige  Siindenbocke  gelegt 
wird  und  die  ebenfalls  Schuldigen  straflos  ausgehen.  Wirt^ 
schaftliche  und  politische  Strafprozesse  bergen  immer  die  Ge- 
fahr der  Zweckjustiz  in  sich.  Im  Falle  SchultheiB  ware  es  viel 
bequemer,  Katzenellenbogen  und  seine  engsten  Mitarbeiter  ais 
die  allein  Verantwortlichen  hinzustellen  und  den  Kreis  der 
Schuldigen  nicht  so  weit  auszudehnen,  daB  wichtige  Person- 
lichkeiten  des  Wirtschaftslebens  diskreditiert  werden.  In  je- 
dem  der  drei  zur  Verhandlung  stehenden  Falle  soil  ein  Exem- 
pel  statuiert  werden.  Man  entschlieBt  sich  jetzt  leichter  zu 
solchen  Verfahren,  da  wir  im  wirtschaftlichen  Belagerungs- 
zustand  leben. 

Der  Grundsatz  der  exemplarischen  Bestrafung  dient  gewiB 
dem  Staatsinteresse,  jedoch  nicht  immer  der  Gerechtigkeit.  Es 
konnte  weder  der  Reichsbank,  noch  dem  Bankenkommissar, 
noch  dem  Staatsanwalt  unbekannt  sein,  daB  zahlreiche  Firmen 
154 


ahnliche  VerstoBe  gegen  die  Devisenverordnungen  begangen 
haben  wie  Curt  Oppenheimer,  Man  grcift  einen  heraus,  um  die 
iibrigen  zu  warnen.  1st  es  nicht  dazu  bereits  zu  spat?  Am 
12.  November  wurde  die  Verordnung  in  Kraft  gesetzt,  nach  der 
einem  Auslander  Wertpapiere  nur  gegen  Gutschrift  aui  ein 
Sperrkonto,  nicht  aber  gegen  Barzahlung  abgenommen  werden 
diirfen.  Vom  12.  November  bis  zum  22.  Jamtar  muBte  man 
warten,  bis  die  erste  Verhaftung  auf  Grund  dieser  Verordnung 
vorgenommen  wurde.  Zwei  Monate  sind  vergangen,  in  denen 
das  Reich  um  erhebliche  Devisenbetrage  geschadigt  worden 
ist.  Eine  solche  Verzogerung  kann  manchmal  die.  Wirkung 
eines  Wirtschaftsprozesses  ebenso  abschwachen,  wie  eine  zwei 
Jahre  wahrende  Voruntersuchung. 


System  Reemtsma  von  t.  h.  Tetens 

fm  karlsruher  Erpresserprozefl  Reemtsma-Levita  wurde  der 
*  Kaufmann  Sally  Harry  Levita  wegen  Erpressung  zu  andert- 
halb  Jahren  Gefangnis  und  der  Verleger  Johannes  Pfeifer  we- 
gen versuchter  Erpressung  zu  zwei  Monaten  Gefangnis  ver- 
urteilt.  Das  war  der  erste  groBere  ZigarettenprozeB,  der  die 
Moglichkeit  gegeben  hatte,  neben  einem  kleinen  Erpresser 
auch  das  System  Reemtsma  auf  die  Anklagebank  zu  bringen. 
Das  drohende  Unheil  wurde  geschickt  abgewendet,  aber  es 
sieht  so  aus,  als  ob  jene  Sonne,  die  bisher  nur  iiber  Maze- 
donien  lachte,  nun  auch  in  Deutschland  etliches  an  den  Tag 
bringen  wird. 

Geschaftstuchtige  Leute  mit  der  richtigen  Witterung 
schreiben  Broschiiren  ,,Steuerskandale  im  Reemtsmakonzern1^ 
,,WeiBbuch  der  deutschen  Zigarettenindustrie",  alles  Alarm- 
nachrichten,  die  schlechte  Gewissen  in  Aufregung  bringen. 
Der  Bevollmachtigte  Reemtsmas,  ein  badischer  Professor,  er- 
halt  fiir  dea  Ankauf  der  Manuskripte  die  Weisun^,  nicht 
Reemtsma  sondern  ein  ltinteressiertes  Konsortium"  vorzuschie- 
ben.  Nachdem  Levita  und  Schweck  erfahren,  wer  der  Kaufer 
ist,  wird  Reemtsmas  Gewissensqual  in  immer  hoherm  MaBe 
ausgebeutet,  bis  er  sich  endlich  zur  Anzeige  wegen  Erpres- 
sung entschlieBt. 

Auf  der  Anklagebank  sitzen;  1,  Der  Kaufmann  Sally  Harry 
Levita.  2,  Der  Verleger  Johannes  Pfeifer  vom  Zentrumsblatt 
,Badischer  Volksfretmd'.  Es  fehlen:  1.  Der  Kaufmann  Willi 
Schweck,  angeklagt  wegen  Erpressung,  zur  Zeit  fliichtig  im 
Ausland.  2.  Der  Revisor  Hans  Schulte,  angeblicher  Doktor,  vom 
Reichsfinanzministerium  bestellter  Treuhander  und  amtlich 
vereidigter  Buchpriifer,  nicht  angeklagt  (wegen  Erpressung, 
aktiver  und  passiver  Bestechung),  zur  Zeit  fliichtig  im  Aus- 
land.  3.  Der  Finanzmann  Levinson-Levin,  nicht  angeklagt 
(wegen  aktiver  Bestechung),  zur  Zeit  im  Ausland,  4.  Der  groBe 
Unbekannte,  den  das  Reichsfinanzministerium  als  „Be~ 
stechungszentrale"  bezeichnet,  seltsamerweise  „nicht  eruierbar 
und  auffindbar".  5.  Der  Zigarettenfabrikant  Borg,  nicht  an- 
geklagt (wegen  aktiver  Bestechung),  als  Zeuge  geladen,  aber 
nicht  erschienen,     6.  Herr  Philipp  Reemtsma  vom  Reemtsma- 

2  155 


Zigarettenkonzern,  nicht  angeklagt  (wegen  aktiver  Bestechung). 
7.  Doktor  Flagler,  Regierungsrat  a.  D.,  Syndikus  des  Verbandes 
der  deutschen  Zigarettenindastrie,  dringend  verdachtig  der  ak- 
tiven  Bestechung.  8.  Beamte  des  Reichsfinanzministeriums, 
dringend  verdachtig,  die  Vergehen  des  ,, Doktor"  Schulte  be- 
giinstigt  zu  haben  and  einer  nicht  einwandfreien  Amtsfuhrung 
und  unzulassigen  Forderung   von  Sonderinteressen. 

Der  ProzeO  wurde  vom  16.  bis  19.  Dezember  1931  in 
Karlsruhe  verhandelt.  Die  Anklage  wurde  vertreten  von  dem 
Ersten  S.taatsanwalt  WeiB,  yon  dem  nicht  feststeht,  ob  seine 
Harmlosigkeit  angeboren  oder  hohern  Orts  anbefohlen  ist.  Den 
Vorsitz  ftihrte  Amtsgerichtsdirektor  Straab,  Mitglied  der  Zen- 
trumspartei,  deren  Politur  durch  die  Affaren  in  der  Zigaret- 
tenindustrie -erheblich  angekratzt  ist.  Den  (ibrigen  Rahmen 
geben  zwei  Verteidiger,  die  die  Hintergriinde  des  Prozesses  nicht 
kennen  konnten,  auf  der  Pressebank  zwanzig  Berichterstatter, 
als  Zeugen  die  Fabrikanten  Reemtsma  und  Bergmann,  der  Direk- 
tor  Heldern  von  Reemtsma,  Rechtsanwalt  Mohring,  Bevollmach- 
tigter  Reemtsmas,  der  in  Vertragen  Schlingen  fur  den  Erpres- 
serparagraphen  legt,  Ministerialrat  Schroder  vom  Reichsfinanz- 
ministerium,  ein  Kassierer  von  Batschari  und  endlich  ich  selbst, 
dessen  Zeugenaussage  aber  „nicht  zur  Sache"  gehorte.  Ober 
der  ganzen  Verhandlung  liegt  eine  Atmosphare  siiddeutscher 
Gemutlichkeit;  Aufsehen  erregen  nur  sechsstellige  Ziffern,  und 
dann  beherrscht  ein  starker  Eindruck  Richtertisch,  Presse- 
bank und  Saaldiener,  ein  Eindruck,  dem  ein  Journalist  in  der 
Pause  beredten  Ausdruck  verlieh:  ,,Herrschafte,  hier  ischt 
noch  Geld  zu  verdiene!" 

Nach  dem  Beweisergebnis   wurden   gezahlt   an: 

Schwcck,  Schweigegeld    ........    200000  M. 

Levita,  Schweigegeld .     112  000  M. 

„Konto  Bey",  Paris,  Bestechungssumme    .     .    200000  M. 

„Dr."  Schulte,  fiir  eine  Sanierungsschiebung    150000  M. 

.Grofle  Glocke*  Hamburg,  Schweigegeld  .     .      30  000  M. 

„Bestechungszentrale" 150000  M. 

Verleger  Johannes  Muller,  Schweigegeld  ,     .      25  000  M. 

An    nicht     genannte    Batschari  -  Direktoren 
mit  drei  bis  sechs  Wochen  Tatigkeit, 

„Abfindungen" von  30—100000  M. 

Das  sind  die  wenigen  Einzelfalle,  die  in  diesem  ProzeB  nur 
nebenbei  gestreift  wurden.  Was  wirklich  gezahlt  wurde,  geht 
hoch  in  die  Millionen,  Der  Treuhander  Schulte  hatte  1924 
keinen  Heller  in  der  Tasche,  heute  sitzt  er  als  vielfacher  Mil- 
lionar  Hiichtig  in  Paris. 

Auf  die  Frage  des  Vorsitzenden,  warum  die  fGroBe 
Glocke'  30  000  Mark  Schweigegeld  erhielt,  erklarte  der  Direk- 
tor  Heldern;  „Wir  nahmen  Riicksicht  auf  die  Empfindlichkeit 
unsrer  Damen,  denen  die  Veroffentlichungen  grade  in  Hamburg 
peinlich  waren".  Reemtsma  behauptete,  in  alien  Fallen  zah- 
len  zu  miissen,  da  das  deutsche  Gesetz  „keinen  wirksamen 
Rechtsschutz  biete"  gegen  irreparable  Schaden  durch  Ver- 
leumdangen.  Daram  hat  man,  nach  Aussage  Heiderns,  „auch 
in  andern  Fallen,  um  rein  kalkulationstechnisch  die  Wirkung 
der  Reklameausgaben  nicht  in  Gefahr  zu  bringen,  Summen 
ausgestellt,    die    schadliche    oder    unwahre    Veroffentlichungen 

156 


verhindern  konnten".  Einc  eigenartige  Kalkulation,  mit 
Bestechungs-  und  Schweigegelderetat!  Aber  nicht  nur  Itir  die 
eigae  Reputation  wurde  gesorgt,  auch  fur  die  des  Reichs- 
fmaruministeriums,  Denn  dieses  ,,hielt  es  fur  notig",  gegen  Levita 
eine  Anzeige  zu  erstatten,  weil  er  gegen  Ministerialrat  Schro- 
der den  Vorwurf  der  passiven  Bestechung  erhoben  hatte.  Auf 
Intervention  des  Generaldirektors  Carl  Bergmann  wird  Levita 
dringend  angeraten,  sich  mit  dem  berliner  Staatsanwalt  zwecks 
Abgabe  einer  Ehrenerklarung  fur  das  Ministerium  ins  Beneh- 
men  zu  setzen.  Levita  erscheint  beim  Staatsanwalt,  dieser 
telephoniert  mit  Schroder  —  und  die  Sache  wird  schnell  per- 
fekt.  Levita  gibt  vor  vier  hohen  Beamten  des  Ministeriums 
eine  Ehrenerklarung  ab,  und  die  Straf anzeige  wird  zurtick- 
gezogen.  Staatsanwalte  als  Friedensvermittler,  Erpresser  als 
Ehrenretter  der  hochsten  deutschen  Amtsstellen! 

Das  Dunkel  liber  die  MSanierung"  Batschari,  bei  der  das 
Reich  fiinfzehn  Millionen  Steuergelder  einbiiBte,  ist  im  Pro- 
zeB  nicht  ,geklart  worden.  Reemtsma  war  zwar  der  t)ber~ 
zeugung,  ,,wer  Batschari  anfaBt,  faBt  Dreck  an",  trotzdem 
langte  er  kraftig  zu  und  kaufte  ohne  Wissen  des  Haupt- 
glaubigers,  namlich  des  Reichsfinanzministeriums,  die  vollig 
wertlosen  Batschari-Aktien  fiir  2,4  Millionen,  In  dieser  An- 
gelegenheit  sind  sowohl  von  Ministerialrat  Schroder  als  auch 
von  Reemtsma  Aussagen  unter  Eid  zu  Tatsachen  und  Vorgan- 
gen  gemacht  worden,  die  wir  anders  sehen  und  beurteilen 
miissen,  Schroder  hat  ferner  folgende  Aussagen  unter 
Eid  gemacht;  1.  Ihm  sind  keine  Klagen  iiber  Unkorrekt- 
heiten  des  Buchpriifers  Schulte  bekannt  geworden. 
2.  Das  Reich  habe  keine  Mark  Verlust  durch  Schultes  Tatig- 
keit  erlitten.  3.  Die  Zigarettenbetriebe  seien  nicht  gezwungen 
worden,  Schulte  als  Buchprufer  hinzuzuziehen,  4.  Durch 
Schultes  Tatigkeit  sipd  keine  lebensfahigen  Betriebe  zura  Er- 
liegen  gekommen.  5.  Die  zahlreichen  Tabaksteuergesetze  und 
-verordnungen  kamen  nicht  durch  EinfluB  und  zugunsten  be- 
stimmter  Interessenten  der  Zigarettenindustrie  zustande. 
6.  Von  den  Vorbereitungen  respektive  bevorstehenden  Ande- 
rungen  der  Tabaksteuergesetze  wurden  niemals  bestimmte  In- 
teressenten vorher  in  Kenntnis  gesetzt, 

Wir  sind  in  der  Lage,  durch  Belege  und  Zeugenbenennung 
das  genaue  Gegenteil  dessen  nachzuweisen. 

Der  ProzeB  war  iiberhaupt  reich  an  Seltsamkeiten.  Fiir 
Levita  war  eine  Steuerstrafe  von  850  Mark  belastend,  bei 
Reemtsma  spielte  eine  solche  von  500  000  Mark  fiir  Zollschie- 
bung  keine  Rolle.  Den  Zeugen  Reemtsma,  Heldern  und  Schro- 
der schiittelte  der  Staatsanwalt  in  den  Pausen  die  Hand 
und  fiihrte  sehr  angeregte  Unterhaltungen,  etwa  wie  ein 
tuchtiger  Anwalt  mit  seinem  guten  Klienten.  DaB  mich  der 
Staatsanwalt  in  plotzlicher  Aufwallung  wegen  meiner  Welt- 
biihnenartikel  ohne  Beweis  und  ungeriigt  als  Verleumder  dif- 
famierte,  sei  nur  nebenbei  vermerkt.  Der  Verteidigung  er- 
ging  es  noch  schlimmer,  ihr  wurde  das  Recht  des  Kreuzver- 
hors  sanft  entwunden.  Fast  bei  jeder  Frage  an  Ministerialrat 
Schroder  legte   sich   der   Vorsitzende  dazwischen:  „Herr   Ver- 

157 


teidiger,  die  Frage  mochte  ich  formulieresn,  ich  habc  sie  mir 
hier  schon  notiert".  Als  sich  aber  herausstellte,  daB  derVer- 
tcidiger  wesentlich  mehr  Fragen  an  den  Zeugen  Schroder  hatte, 
als  der  Vorsitzende  ,, schon  notiert"  haben  konnte,  zeigte  die 
suddeutsche  Gemiitlichkeit  plotzlich  ihre  Kehrseite.  Bei  der 
Frage;  „Was  dem  Zeugen  iiber  Verfehlungen  und  Verfahren 
gegen  Zollbeamte  beim  Hauptzollamt  Altona,  die  Reemtsma 
betreffen,  bekannt  sei",  schnellt  der  Vorsitzende  plotzlich 
auf,  antwortet  erst  fiir  den  Zeugen  und  geht  dann  iiber  zur 
Attacke;  „Untreue  kommt  auch  in  andern  Berufen  vor;  wir 
haben  in  letzter  Zeit  genug  gelesen,  ich  brauche  wohl  nicht 
deutlicher  zu  werden!"  Nein,  das  brauchte  er  nicht,  denn  nach 
dieser  Anspielung  auf  den  Anwaltstand  und  den  fortwahrenden 
Eingriffen  des .  Vorsitzenden  brach  der  Verteidiger  das  Kreuz- 
verhor  abf  und  fiinfzehn  delikate  Fragen  warten  auf  den  nach- 
sten  ProzeB. 

Der  karlsruher  ProzeB  ist  nur  ein  Zwischenspiel  in  dem 
noch  nicht  bereinigten  Zigarettenpanama-  Hier  muCte  eine 
durch  gegensatzliche  Interessen  kontrollierte  parlamentarische 
Untersuchungskommission  Klarheit  schaffen  und  vor  allem  auch 
die  Biicher  und  Steuerakten  der  beteiligten  Firmen,  Beamten 
und'  Schieber  griindlich  priifen.  Solche  Prozesse  gehoren  vor 
groBstadtische  Gerichte,  um  die  Vertraulichkeiten  der  Klein- 
stadt  und  die  dadurch  bedingte  Gefahrdung  einer  objektiven 
ProzeBfiihrung  auszuschalten. 

Kollegen 

f^er  Oberbiirgermeister  von  Duisburg,  Jarres,  an  ,Das  Andere 

Deutschland': 

,,Ich  erhalte  die  von  Ihnen  verbreitete  Flugschrift  ,Wer 
war  Schlageter?' 

Das  Pamphlet  ist  das  Niedertrachtigste,  was  jemals  eine 
Schmierhand  hingesudelt  hat, 

Als  am  26.  Mai  1923  Albert  Leo  Schlageter  unter  den 
Kugeln  der  Franzosen  auf  der  Golzheimer  Heide  geendet  hatte, 
trat  der  franzosische  Otfizier,  der  das  Exekutivkommando 
hatte,  an  die  Leiche  heran  und  senkte  tief  ergriffen  den  Degen 
vor  der  sterblichen  Hiille  des  Marines,  der  hundert  Male  sein 
Leben  fiir  sein  Vaterland  in  die  Schanze  geschlagen  hatte  und 
als  ein  Held  fiir  sein  Volk  gestorben  war.  So  ehrte  ritterlich 
der  Feind  den  Feind.  Wenn  der  feige  Geselle,  der  ohne  Ver- 
anlassung  und  ohne  seinen  Namen  zu  nennen,  heute  das  Anr 
denken  Schlageters  zu  beschmutzen*versucht,  ein  Deutscher 
ist  —  ich  kann  es  nicht  glauben  — f  so  hatte  er  verdient,  daB 
ihm  die  Knochen  im  Leibe  zerschlagen  werden." 

* 

Der  Oberprasident  der  Provinz  Hannover,  Sozialdemokrat 
Noske: 

t,Mit  Recht  erschlagen  wie  ein  raudiger  Hund  wiirde  der 
deutsche  Staatsmann,  der  sich  mit  einer  neuen  Untersuchung 
der  deutschen  Rxistung  abfinden  wollte." 

158 


Hegel 


von  B61a  Menczer 


On  ne  saurait  trop  bafouer  1'impudence  de  cet  accouplage. 

Montaigne 

V\  em  neuen  Praeceptor  Germaniae,  der  yor  einem  Saculum 
^  im  Herbst  eincs  Jahres,  das  in  Polen,  in  Italien  und  in 
Suddeutschland  den  Weltgeist  am  Werke  sah,  von  der  Cho- 
lera dahingerafft  wurde,  ist  an  seinem  Geburtstag  eine  bescha- 
mende  Huldigung  zuteil  geworden.  In  Berlin  erschien  der  Sena- 
tor Giovanni  Gentile,  abgebauter  Minister  des  Fascio,  mit  dem 
sehr  sichtbaren  Sohlenabdruck  des  Duce,  diesem  Abzeichen 
der  Philosophenwiirde  im  heutigen  Italien,  und  trug  iiber  Hegel 
vor.  Zu  Hegels  Zeiten  lud  die  berliner  Universitat  aus  Italien 
Giacomo  Leopardi  ein,  den  Dichter  des  heroischen  Pessimis- 
mus,  den  Verkiinder  des  ewig  Tragischen  in  einem  Jahrhundert 
der  Verflachung.  Anders  ist  heute  Berlin  und  anders  ist  Ita- 
lien, Und  daB  es  so  zu  seinem  Nachteil  geandert  ist(  daran 
tragt  zweifellos  der  jetzt  Gefeierte  unwillkiirlich  Mitschuld. 
Wenn  auch  die  GroBe  der  geistesgeschichtlichen  Erscheinung 
verbietet,  ihn  so  zu  behandeln  wie  jene  Zeitgenossen  es  getan 
haben,  gegen  die  Karl  Marx  polemisiert,  namlich  als  ,,todten 
Hund",  ist  es  doch  notig,  das  MaB  dieser  Mitschuld  an  einem 
solchen  geistigen  Verfall  klar  zu  machen,  den  Anteil  Hegels 
an  all  demf  was  seit  seiner  Zeit  ostlich  vom  Rhein  sich  ent- 
wickelt  hat.  Selten  wurde  von  einem  Denker  das  Werden  einer 
Welt  starker  beeinfluBt  als  die  Entfaltung  des  politisch  noch 
ungeformten  Europa  >  im  neunzehnten  Jahrhundert  von  HegeL 
Manches  an  seinem  Werke  ist  bei  den  Meisten  vergessen. 
Einige  seiner  Biicher  werden  auBerhalb  der  Zunft  kaum  noch 
geoffnet.  Aber  seine  Geschichtsphilosophie,  der  lebendigste 
Teil  seines  Gedankensystems,  wirkt  nach,  und  an  keiner  der 
zeitgenossischen  Theorien  innerhalb  des  deutschen  Kulturkrei- 
ses  ist  sie  unbeteiligt;  wozu  in  gewissem  Sinne  auch  das  mo- 
derne  Italien  gehort,  dessen  Entwicklung  zum  Nationalstaat 
mit  der  deutschen  Entwicklung  parallel  lief,  unter  dem  Ein- 
fluB  von  verwandten  Ideologien  zum  Teil  deutscher  Pragung. 

Die  Geschichtsphilosophie  Hegels  blieb  lebendig,  eben  in- 
dem  sie  Geschichtsphilosophie  war.  Der  Historismus,  die 
historische  Betrachtungsweise  sind  die  Resultate  der  groBen 
Wende,  die  die  europaische  Menschheit  am  Anfang  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  gemacht  hat.  Man  kehrte,  nach  dem 
Versuch  einer  Gemeinschaftsgnindung  auf  Grund  des  ratio- 
nellen,  von  konkreten  Lebenslagen,  von  historischen  und 
schicksalsmaBigen  Bedingtheiten  abstrahierenden  Ethos  zu 
dem  episch-tragischen  Weltgefiihl  zuriick,  von  dem  abstrakten 
Menschen  Rousseaus  zu  dem  historischen  Menschen  der  Ro- 
mantik,  von  dem  auf  dem  Wege  der  Kritik  erkennbaren  Sitten- 
gesetz  Kants  zu  der  konkreten  Einzelerscheinung  des  mensch- 
lichen  Verhaltens  in  der  Geschichte.  Die  Inspiration,  die  Di- 
versiiat  der  Formen,  in  denen  sich  die  immanente  Schopfungs- 
idee  auf  Erden  zeigt,  die  Verschiedenheit  der  Phanomene,  all 
diese  Wirklichkeiten  hat  die  Romantik  nach  der  nivellierenden 

159 


Revolution  der  kritisch-rationcll  postulierten  Glcichhcit  ent- 
deckt. 

Nach  dcm  ethisch-rationellen  Tatwillen  kam  das  episch- 
tragische  Weltgefiihl.  Der  Versiich  der  Regelung  und  Ordnung 
fiihrte  zum  Chaos;  eine  Epoche,  die  sich  als  Ende  und  Ziel 
der  Menschheitsentwicklung  aufgefaBt  hatte,  entpuppte  sich 
als  Ausgangspunkt  und  Anf  ang.  Das  Gesetz  der  rationellen, 
Staatsmoral  wollte  das  neue  Reich,  das  neue,  romische  Eu- 
ropa  schaffen,  die  Erweckung  des  Vitalen,  des  Urspriinglichen 
war  die  Folge.  Nicht  das  neue  Rom  hat  gesiegt  mit  seinem 
Casar  Napoleon  sondern  das  Nationalgefiihl  einstiger  Barbaren, 
Das  grandiose  Spektakel  eines  Weltgeschehens,  in  dem  auch 
der  Machtigste  nur  Werkzeug  eines  nicht  vorauszusehenden 
Vorganges  wurdef  brachte  den  deutschen  Denker  zu  seiner  Ge- 
schichtsphilosophie,  die  den  bewuBten  Willen  nur  dem  unsicht- 
baren  Weltgeist  zuschreibt  und  jede  menschliche  Handlung 
relativiert,    alles   Vergangliche  nur  als   Gleichnis   betrachtend. 

Es  ist  selbstverstandlich,  daB  aus  dieser  Erkenntnis  der 
Endlichkeit  alles  Menschlichen  auch  jene  Mutlosigkeit  zum 
Hand'eln  folgen  kann,  jene  passive,  kontemplative  Haltung,  die 
Marx  den  Jung-Hegelianern  vorwarf  und  deren  Auswirkung 
im  unpolitischen  Charakter  des  nachhegelianischen  Deutschen 
zu  erblicken  ist.  Der  Vorwurj  ist  berechtigt,  wenn  er  nicht 
Hegel  selbst  trifft.  Schatzen  wir  den  Philosophen,  der*  in  der 
Zeit  der  Angst,  der  religio,  auf  die  Vernunft  vertrauend  gegen 
die  Unkenntnis  das  Haupt  erhebt,  dann  konnen  wir  ebensowenig 
die  Achtung  einem  Denker  versagen,  der  in  einer  Zeit  der  Ra- 
tio, des  unbegrenzten  Aufklarungsoptimismus  die  Endlichkeit 
und  Verganglichkeit,  in  einer  michternen  Epoche  die  Leiden- 
schaft  des  Weltgeistes,  in  einer  Periode  selbstsicherer  Geklart- 
heit  des  Willens  die  Verhiilltheit,  das  Geheimnis  der  welt- 
lenkenden  Kraft  verkiindet  hat.  Zweifellos  ist  ein  Oberbleibsel 
von  Protestantismus  in  dieser  Geisteshaltung  bei  Hegel.  Der 
Protestant  war  jener  Kulturtypus  der  Weltgeschichte,  der  sich 
am  bewuBtesten  als  Werkzeug  der  iiber  die  Welt  waltenden 
Gnade  bekannt  hat.  Die  lutherisch-protestantische  Wurzel  der 
deutschen  Philosophic  ist  gewiB  einer  der  Griinde  des  hegeli- 
schen  Fatalismus,  doch  nicht  sein  einziger  Grund.  Der  Glaube 
an  das  zielbewuBte  Werk  des  unsichtbaren  Willens,  der  Glaube 
an  die  unerkennbare  Entwicklung  zum  reinsten  irdischen  Au«- 
druck  der  alien  menschlichen  Dingen  zugrunde  liegenden 
Schopfungsidee,  war  auch  in  andern  Landern  der  Glaube  der 
hegelischen  Zeit.  Das  kontemplative  Staunen  vor  einer  Evo- 
lution, die  andre  Krafte  in  Bewegung  setzte,  als  sie  urspriing- 
lich  beabsichtigt  hatte,  wurde  damals  zur  typischen  Haltung. 
Wie  der  Goethesche  Zauberlehrling  stand  das  geistige  Europa 
vor  den  unvoraussehbaren  Folgen  des  eignen  Wirkens. 

Die  Agnostik  dieser  historischen  Stimmung  konnte  —  anders- 
wo  als  in  Deutscl?land  —  auch  aktivierend  wirken  und  sich 
sogar  zu  einer  heroischen  Religion  der  revolutionaren  Tat 
entwickeln.  Die  Romantik  im  Westen  unterschied  sich  von 
der  deutschen  Romantik  ebenso  wie  die  westliche  Reformation 
sich  von  der  deutschen  unterschied. 

160 


1st  es  Hegels  Schuld,  daO  die  Deutsche  Romantik  so  an- 
dcrs  verlief,  daB  die  deutsche  Marzrevolution  viel  unentschie- 
dener  und  historisch  gebundener  abrollte  als  der  Februar  in 
Paris  und  die  andern  Revolutionen  von  Achtundvierzig,  deren 
Ausgang  ubrigens  nicht  weniger  ungliicklich  war?  Die  poli- 
tisch  aktive  deutsche  Intelligenz  gibt  Hegel  schuld,  nicht 
nur  am  ungliicklichen  Achtundvierzig .  sondern  auch  an  dem 
Ubel,  woran  die  spatere  deutsche  Politik  krankte  und  krankt. 

Worin  liegt  diese  Schuld?  In  der  Verkiindting  eines  Fa- 
talismus,  so  wird  behauptet,  in  der  Heruntersetzung  desMen- 
schen  zum  Instrument  der  tatigen  Schopfungsidee.  Sicher  trifft 
diese  Meinung  einen  Teil  der  Wahrheit,  aber  doch  nur  einen 
Teil,  da  die  Haltung  des  Menschen,  der  sich  als  Instrument 
betrachtet,  auch  zu  der  groBten  Entschlossenheit,  zum  un- 
bedenklichsten  Heroismus  Itihren  kann,  Islamische  und  kalvi- 
nische  Geschichte  sind  Beispiele  dafiir. 

Ein  noch  tiefer  liegender  Punkt  hegelschen  Denkens  ist 
es,  den  wir  heute  vor  allem  revidieren  miissen:  die  Bedeutung, 
die  dem  BewuBtsein  und  der  Erkenntnis  im  hegelschen  System 
zukommt.  Hegel  meinte,  die  BewuBtwerdttng  der  Grundtendenz 
einer  Geschichtsperiode  sei  von  entscheidender  Wirkung. 
Wenn  er  sich  durch  die  Einfiihrung  einer  konkreien,  histori- 
schen  Betrachtungsweise  ins  philosophische  Denken  vom  Ra- 
tionalismus  emanzipierte,  so  blieb  er  Rationalist,  was  die 
Wertung  des  BewuBtseins  anbetrifft.  Das  Gesetz  des  Ge- 
schehens  wird  dem  Menschen  auf  dem  Wege  der  Kritik  be- 
wufit,  und  nach  dem  Siege  der  Erkenntnis  von  der  Grund- 
tendenz wirken  die  andern  treibenden  Krafte,  wie  historische, 
psychologische,  biologische,  nicht  mehr,  Dem  Rationalismus 
und  Kant  noch  sehr  nahe,  unterscheidet  Hegel  radikal  den  be- 
wuBten  Menschen  von  dem  unbewufiten.  Der  franzosische 
Denker  Auguste  Comte,  der  wie  er  von  der  Romantik  kam, 
hoffte  auch  au£  das  BewuBtsein,  erwartete  aber  doch  nicht 
alles  von  der  Erkenntnis.  Comte  wollte  die  Erkenntnis  oder 
vielmehr  die  Einzelerkenntnisse  iatrisch,  nach  der  Art  des 
Arztes  verwenden,  die  Wissenschaft  der  Einzeltatsachen,  der 
biologischen,  historischen,  psychologischen  Bedingtheiten  des 
Menschen,  als  Hilfsmittel  in  der  Gesellschaftsbildung,  in  der 
Politik  betrachtend.  Comte  blieb  Analytiker  und  Rationalist, 
weil  die  Vernunft  und  Kritik  ihm  als  die  gangbarsten  Wege  er- 
schienen  in  einer  Zeit,  wo  der  OHenbarungsglaube  verschwun- 
den  war/  Hegel,  der  Denker  protestantischer  Pragung,  hat  den 
Rationalismus  in  manchem  iiberwunden  —  wo  er  aber  Analy- 
tiker und  Rationalist  blieb,  da  faBte  er  die  aus  der  Analyse 
gewonnene  Erkenntnis  als  Offenbarung  auf. 

Diese  Vermischung  hat  sich  geracht.  Alle  Hegelianer  — 
und  in  irgend  einer  Form  ist  jeder  Deutsche  Hegelianer  — 
kranken  daran.  Die  Folge  Hegels  ist  jene  groBe  revolutionare 
Partei,  die  heute  unter  der  Rache  der  unterdriickten  Vitalitat, 
des  unbenicksichtigten  Instinkts  zu  leiden  hat,  da  sie  ihre  Re- 
volution als  den  Endsieg  des  BewuBtseins  vorstellte  und  den 
Willen  zur  Befreiung  nicht  vom  vitalen,  aktiven  Menschen 
sondern  von  dem  erkennenden  erwartete,  bef angen  in  der  noch 

161 


rousseauischen  Illusion  der  von  Natur  gleichen,  von  Abkunft 
und  Erbschaft  unbclastctcn  Menschen,  die' fur  Kritik  un<l  Ab- 
straktion  im  gleichen  MaBe  zuganglich  gedacht  sind.  Die 
Folge  Hegels  ist  einc  Demokratie,  die  ihre  Verwirklichung  in 
der  Synthese  aller  bestehenden  Gegensatze  sieht  und  sich  die 
nivellierte  Verflachung  aller  Dingc  zum  Ziel  setzt,  Die  Folge 
Hegels  ist  eine  Reaktion,  die  das  Wilde,  das  Barbarische,  das 
Oble  bewuBt  bejaht,  da  auch  dies  alles  zur  Weltharmonie  ge- 
hore.  UnbewuBt  ist  man  in  Deutschland  Hegelianer,  ob  man 
rechts,  links  oder  in  der  Mitte  stent. 

Und  dennoch  sind  die  Freibriefe,  die  Rechte,  Linke  und 
Mitte  von  Hegel  holen,  stark  entstellt.  MiBbrauch  mit  dem  Ge- 
danken  Hegels  treibt  ein  jeder,  der  die  drei  Dingc  verleugnet, 
die  fur  ihn  die  Welt  regieren:  Geist,  Leidenschaft  und  Idee. 
Der  die  Welt  lenkende  Geist  fiihrt  den  Menschen  durch  Lei- 
denschaft zur  Idee,  dies  ist  die  Quintessenz  der  hegelschen 
Geschichtsphilosophie.  Die  nur  Nuchterneri,  die  die  Leiden- 
schaft beseitigen  wollen  und  eine  solche  Beseitigung  Zivili- 
sation  nennen,  wie  die  nur  Leidenschaftlichen,  die  Geist  durch 
Instinkt  und  ungeziigelte  Emotion  ersetzen,  alle,  die  unter  Idee 
ihr  SeLbstt  ihre  Nation  oder  ihre  KLasse  verstehen,  sind 
schlechte  Hegelianer. 

* 

Hegelsche  Erbschaft  findet  man  in  Deutschland  rechts, 
links  und  in  der  Mitte-  Und  nicht  nur  in  Deutschland.  Der 
russische  Hegelianer  Bakunin  predigte  die  Zerstorung,  weil 
jede  Tat,  sei  sie  iibel  oder  gut,  die  Entwicklung  der  mensch- 
lichen  Dinge  zum  vollkommenen  Ausdi*uck  der  Weltidee 
fordere.  Der  „italienische  Hegel"  Gioberti,  neben  Mazzini  der 
wichtigste  Erzieher  des  neuen  Italiens,  leitete  die  Forderung 
des  Nationalstaates  aus  einem  welthistorischen  Primat  ab, 
einem  Primat,  das  wegen  ihrer  Verdienste  um  die  gesamte 
Menschheit  der  Italianitat  nach  Gioberti  in  derselben  Weise 
zukommt  wie  nach  Hegel  und  schon  nach  Fichte  dem 
Deutschtum. 

Der  Hegelianismus  machte  also  nicht  an  der  deutschen 
Sprachgrenze  Halt.  Die  Wertung  des  Staates  als  Mittel  in  der 
Hand  des  unsichtbaren  Willens,  die  Wertung  der  Nation  als 
Erfullerin  einer  von  diesem  Willen  anvertrauten  Mission  kam 
jedem  Staate  und  jeder  Nation  gelegen,  die  im  neunzehnten 
Jahrhundert  ihre  Machtentfaltung  erlebten  oder  erstrebten. 

Der  hegelsche  Messianismus  ist  zum  wesentlichen  Zug  von 
hauptsachlich  drei  Erscheiriungen  der  Zeit  geworden:  des 
preuBisch-deutschen  Imperialismus,  des  ostlichen  Sozialismus 
und  des  Fascismus.  Ein  gemeinsamer  Begriff  des  Fortschritts 
und  der  synthetischen  Integrierung  verbindet  diese  historischen 
Phanomene.  Alle  drei  behaupten  ihren  Herrschaftsanspruch 
im  Namert  der  „o-bjektiven  Notwendigkeit".  Ein  mechanistisch 
zwangslaufiger  Ablauf  des  Geschehens  war  und  ist  ihre  ge- 
meinsame  Vorstellung.  Nationen  und  Klassen  verlangen  ihre 
Macht  in  ihrer  Eigenschaft  als  Tragerinnen  der  Entwicklung 
und  simplifizieren  die  Grundtendenz  der  Zeit  in  ihrem  Sinne 
auf  These,  Antithese  und  Synthese.  Alle  antizipieren  die 
162 


Synthese,  und  es  ist  ihnen  nicht  moglich,  den  Gcdankcn  einer 
Koexistenz  entgegengesetzter  Krafte  zu  ertragen.  Doch  Hegel 
selbst  ist  wie  an  vielen  seiner  Folgen,  so  besonders  an  dieser 
simplistischen  Vergroberung  kaum  schuld.  Was  er  lehrte,  war 
nicht  der  Ausgleich,  nicht  die  Nivellierung.  Was  er  lehrte,  war 
Pathos  und  Eros  des  Handelns.  Wenn  er  in  der  Geschichte 
jeder  Erscheinung,  jedem  Staat  und  jeder  Nation  einen  kon- 
kreten,  aus  dem  Gesetz  der  Weltharmonie  folgenden  Sinn  zu- 
schrieb  und  so  zur  Bejahung  der  Macht  gelangte,  war  er 
doch  nicht  geneigt,  vor  dem  Staat  die  kritische  Haltung  des 
Philosophen  aufzugeben.  Nur  der  Tod  in  der  furchtbaren 
Epidemie  von  1831  hat  den  Ausbruch  seines  Konfliktes  mit 
PreuBen  verhindert.  Jede  Zeit  ist,  wie  die  seine  war,  Anlang 
und  Ende  zugleich,  und  er  war  sich  der  Komplexheit  jeder 
Epoche  in  ihrer  Vielfalt  bewuBt.  Die  Paradoxie  der  Zeit  von 
rationalistischer  Revolution,  napoleonischem  Imperium  und 
nationaler  Erweckung  vermochte  sein  muhsames  Gedanken- 
werk  nicht  aufzulosen. 

Leicht  wollte  er  es  indessen  der  denkenden  Menschheit 
nicht  machen.  Eine  in  ihren  materiellen  Bediirfnissen  durch 
Technik  vollauf  befriedigte  Menschheit  ist  nicht  das,  was  er 
fur  die  Vollkommenheit,  fiir  den  vollkommenen  Ausdruck  der 
Menschheitsidee  hielt.  Die  in  ihrer  Machtgier  vollauf  be- 
friedigte Nation  ist  nicht  seine  Nation,  er  hat  die  Nation  nur  als 
Glied  der  universellen  Menschheit  gebilligt,  als  Tragerin  einer 
Mission  um  die  Gesamtmenschheit,  Und  keinem  Denker  war 
es  klarer,  daB  alle  Gegensatze  des  Gedankens  eine  letzte  Aus- 
einandersetzung  brauchen,  hatte  dies  auch  die  Vernichtung  zur 
Folge.  Ist  Hegel  Verfiihrer  zu  einer  kontemplativen  Haltung, 
die,  auf  die  inhaltliche  Kritik  verzichtend,  jede  historische  Er- 
scheinung  als  Ausdruck  der  Weltharmonie  billigt?  Ist  Hegel 
Verfiihrer  zu  jenem,  von  Schopenhauer  auf  alle  Zeit  gebrand- 
markten  Philosophieren,  das  aus  Angst  um  den  Bestand  offi- 
zieller  Werte  gefahrliche  und  grausame  Wahrheiten  ver- 
schleiert?  Ist  der  Hegelschuler  als  solcher  weltfremd  wie  viele 
Deutsche  der  jtingsten  Vergangenheit  oder  gar  sophistisch  und 
unwiirdig  wie  Herr  Gentile?  Vielieicht  ja,  aber  Hegel  ist  auch 
Verleiter  zu  unbedingter  Problematik,  Fiihrer,  der  jeder  Hal- 
tung einen  universellen  Sinn,  den  Sinn  der  Entscheidung  gibt.  , 

Herr  Gentile  ist  aus  seiner  Schule,  aber  auch  Benedetto 
Croce,  ,der  merkwiirdigerweise  nicht  auf  der  Hegeltagung  zu- 
gegen  war,  kiihner  und  edler  Feind  des  Fascismus,  und  ebenso 
Kritiker  eines  Sozialismus,  der  sich  als  zwangiaufig  eintretende 
Synthese  vorstellt,  eines  Sozialismus  der  Sattigung  und  der 
Regelung,  der  der  Freiheit  und  der  Entscheidung  keinen  Raum 
laBt.  Hegel  ist  Fuhrer  ziim  Sinne  konkreter  historischer  Si- 
tuationen,  Fuhrer  zur  Wirklichkeit,  Es  fragt  sich  aber:  Ist 
Aktion  moglich  in  seiner  Wirklichkeit?  Welche  Aktion  ist  im 
Licbt  des  totalen  BewuBtseins  der  Wirklichkeit  moglich,  das 
jede  Tat  schon  im  voraus  relativ  wertet?  Ein  Konflikt  des  Be- 
wuBtseins und  der  Vitalitat  ist  aus  Hegel  entstanden,  und  in 
diesem  Konflikt,  in  diesem.  Dilemma  leben  wir  heute.  Zwei 
groBe  Europaer  des  Jahrhunderts,  das  uns  von  Hegel  trennt, 

8  163 


haben  dieses  Dilemma  vor  Augen  gestellt:  Nietzsche  als  Den* 
ker  und  Andre  Gide  als  Dichter. 

Findet  die  durch  Erkenntnis  erniichterte  Menschheit  den 
Weg  zu  der  Leidenschaft  zuriick,  die  doch  grade  nach  Hegel 
der  Grundrhythmus  der  Welt  und  des  Geschehens  ist?  Von 
dem  im  voraus  berechneten  mechanist  is  chen  Fortschritt  zum' 
Sinne  des  Schicksals,  des  Unberechenbaren,  dessen  Gutes  und 
Obles  sich  in  eine  Harmonie  einfiigt?  Zu  der  Harmonie  des 
ewigen  Kampfes,  zu  der  Freiheit,  die  nach  Hegels  Ausspruch 
nicht  ,,ruhendes  Wesen  ist  sondern  Tatigkeit!" 

Pfiff  im  Orgelklang  von  Ignaz  Wrobel 

Man  ist  am  unehrlichsten  gegen  seinen  Gott:  er  darf 
nicht  sttndigen.  Nietzsche 

D  edakteure   und   Zeitschriften-Herausgeber    haben    gern    das 

„letzte  Wort",  das  hat  so  etwas  Oberlegenes.  Das  ist  eine 
dumme  Sitte,  Denn  Anstellungsvertrage  mit  Verlagen  begriin- 
den  keine  geistige  Superiority ;  das  glauben  nur  die  meisten 
Zeitungsredakteure,  und  dieses  Spiel  soil  hier  nicht  gespielt 
werden.  Ware  Hans  Flesch  Redakteur  und  ich  sein  Mit- 
arbeiter,  dann  „fuhrte"  er  mich  „ab",  doch  will  ich  ihn  gar 
nicht  abfuhren. 

Weil  er  nicht  abzufuhren  ist.  Unser  beider  Auffassungen 
tun  nur  dar,  wie  Friedrlch  Nietzsche  auf  zwei  verschieden  ge- 
baute  Menschen  wirkt,  auf  einen  dicken,  und,  wie  ich  ver- 
mute,  auf  einen  hagern,  Ich  fur  mein  Teil  bin  dick,  was  mit 
dieser  Frage  viel  mehr  zu  tun  hat,  als  man  glauben  sollte. 
Kretzschmer,  der  Verfasser  von  „Korperbau  und  Charakter'\ 
hat  es  uns  gelehrt. 

Die  Diskussion  nach  der  Melodie  fortzuspinnen  ,,Er  kampft 
gegen  etwas  an,  was  ich  nicht  behauptet  habe";  f,Herr  Flesch 
scheint  nicht  zu  wissen ..."  —  es  liegt  kein  Anlafi  vor,  den 
Leser  damit  zu  langweilen.  DaB  ich  einmal  Josef  Hofmiller 
werde  verteidigen  miissen,  ist  mir  nicht  an  der  Wiege  gesungen 
worden,  aber  hier  muB  ichs  tun.  Hofmiller  habe  Nietzsches 
geringe  Leserschaft  mit  den  MaBstaben  der  GroBauflagen  deut- 
scher  Kriegsbucher  gemessen?  Nietzsche,  Nietzsche  hat  mit 
emer  Leserschaft  geprotzt,  die  er  nicht  hatte,  so  die  Bedeut- 
samkeit  seines  Werkes  durchaus  auf  seine  Verbreitung 
stellend,  und  Hofmiller  hat  dieses  Geprahl  auf  das  richtige 
MaB  zunickgefuhrt 

Was  die  Hakenkreuzler  angeht,  so  haben  sie  ihren 
Nietzsche  bereits;  warte  nur  balde,  und  ich  werde  zu  horen 
bekommen,  daB  ich  den  groBen  Mann  nicht  begriffen  hatte, 
weil  mir  der  Sinn  furs  Heldische  fehle.  Er  fehlt  mir  mit- 
nichten.  Was  ich  aber  in  starkstem  MaBe  besitze,  ist  ein  MiB- 
trauen  gegen  falsche  Helden,  und  Nietzsche  halte  ich  fiir  einen 
geheimen  Schwachling.  Er  heroisiert,  so  wie  einer  masturbiert, 
Und  Flesch  hat  richtig  empfunden,  daB  man  ihn  nun  bald  gegen 
seine  Anhanger  in  Schutz  nehmen  muB  —  wohin  ist  dieses 
Werk  gerutscht!  Sahe  er  das,  schaudernd  wendete  er  sich  ab* 
Ei"  ist  mein  guter  Feind,  er  hat  sehr  schiechte  Freunde.  Und 
ich  habe  bisher  stets  geglaubt,  ein  gutes  Gefiihl  fiir  das  zu  be- 
164 


sitzen,  was  sich  der  Satire  entzieht,  ich  fiihle  Ranguntersehiede 
auf  das  deutlichste,  und  ich  weifi,  in  wie  ungiinstiger  Position 
sich  diese  Polcmik  gegen  Nietzsche  vollzieht:  ich  schiefie  von 
unten  nach  oben.  Und  doch  sagt  mir  mein  Empfinden,  daB 
diese  Pfeile  ihn  noch  erreichen. 

Ich  hatte  an  Nietzsche  eine  Gotteslasterung  begangen, 
sagt  Flesch, 

Erst  baut  ihr  euch  ein  Ding  auf  ein  Postament,  dann  betet 
ihr  es  an,  dann  seid  ihr  stolz,  daB  ihr  anbeten  durft,  und  ver- 
achtet  die,  die  es  nicht  anbeten,  und  iiber  ein  kleines:  so  seid 
auch  ihr  Zeloten  und  bigotte  Atheisten  und  Pfaffenknechte, 
auch  ihr,  Ich  Hebe  Hamsun  auf  das  hochste,  sein  Werk  be- 
gleitet  mich  durch  mein  Leben  —  aber  eine  Hamsun-Laste- 
rung  ist  mir  nicht  vorstellbar.  Ein  Mann,  der  an  Hamsun  vor- 
beigeht  und  ihn  fur  einen  Weiberromancier  erklart,  ich  mochte 
ihn  nicht  zum  Freund  haben,  Eine  Frau,  die  tiber  Hamsun 
achselzuckend  zur  Mode  iibergeht,  ich  konnte  sie  nicht  lange 
lieben,    Aber  lastern?   Lastert,  es  trifft  ihn  gar  nicht. 

Hier  aber  muB  etwas  getroffen  haben,  und  hier  hat  etwas 
getroffen.  MuB  ich  als  tausendster  dartun,  daB  dieser  Nietzsche 
ein  Jahrhundertkerl  gewesen  ist,  ein  groBer  Schriftsteller,  me* 
rnals  ein  Philosoph,  einer  der  geistreichsten  Deutschen,  ein 
groBer  Prophet  aus  einer  kleinen  Zeit?  Seine  Zeit . . .  Er  hat 
aus  ihr  hervorgeragt,  sagt  Flesch.  Aber  es  ware  eine  Beleidi- 
gung,  ihn  mit  den  MaBstaben  seiner  Zeit  zu  messen,  um  Leipzig 
wirkt  jeder  Hugel  wie  ein  Berg,  aber  hoher  wird  er  davon 
auch  nicht. 

Je  ofter  ich  Nietzsche  lese  und  die  um  ihn,  um  so  starker 
wird  mein  Gefiihl,  <las  jeder  schelten  dart;  hier  ist  etwas  nicht 
in  Ordnung.  Hier  wird  geprahlt.  Hier  wird  etwas  vorge- 
tauscht,  das  so  nicht  da  ist.  So  ,gefahrlich  ist  sein  Weg  nicht 
gewesen,  so  hoch  hinauf  hat  er  nicht  gefuhrt,  so  neu  ist  das 
nicht,  so  wild  ist  das  alles  nicht.  Franz  Blei  hat  einmal  die 
Adepten  Stefan  Georges  nschwarmerische  Privatdozenten"  ge- 
nannt  —  dieses  Wort  trifft  auf  bestimmte  Stellen  in  Nietzsches 
Werk  gleichfalls  zu.  Ein  lyrischer  Humanist,  unter  anderm; 
oft  mehr,   aber  ein  schwacher,  lyrischer  Humanist. 

Die  Gegner  schieden  unversohnt. 

Auf  der  einen  Seite  die  Nietzsche-Leute/  einen  ondulier- 
ten  Blitz  imWappen.  Achselzucken,  Gepust  durch  die  Nase, 
Verachtung,  ab  durch  die  Mitte:  „Er  versteht  es  eben  nicht." 

Auf  der  andern  Seite  einer,  der  sich  des  GroBenunter- 
schiedes  wohl  bewuBt  ist;  einer,  der  Ehrfurcht  hat,  aber  nur, 
wo  er  sie  empfindet,  und  hier  empfindet  er  sie  nur  teilweise, 
und  mehr  mit  dem  Kopf  als  mit  dem  Herzeh,  Einer,  dem  zum 
Beispiel  Schiller  nicht  viel  zu  sagen  hat,  aber  nie,  niemals 
wagte  er  einen  Hieb:  denn  Schiller  ist  echt,  bis  ins  Theatra- 
lische  hinein  diamantenecht. 

Nietzsche  steht;  Herr  Wrobel  wird  ihn  heute  nicht  ent- 
thronen.  In  zweihundert  Jahren  werden  wir  uns  wieder 
sprechen. 

t)ber  das  schandbare  Urheberrecht  aber  wird  vorher  r*nnh 
einiges  zu  sagen  sein. 

165 


Die  Furcht  der  Intellektuellen  vor  dem  Sozialismus 

von  B6Ia  Balazs 

III 

VI.  Die  Sorge  urn  die  Individualist,  urn  die  Werte  der  Person- 
lichkeit,    Die  Angst  vor  einer   ,,innern   Uniformierung", 

Eine  sozialistische  Gesellschaft  wird  wohl  den  Individualismus 
hindern,  aber  nicht  die  Personlichkeit,  Eines  hat  namlich  nichts  mit 
dem  andern  zu  tun,  Im  Gegenteil.  Der  Individualismus  ist  Absicht 
und  Programm  und  meist  ein  Ersatz  fur  naturgewachsene  Personlich- 
keit, die  es  nicht  notig  hat,  jeder  Bindung  auszuweichen,  um  sich 
eine  Eigenart  wahren  zu  konnen, 

Je  enger  der  unmittelbare  Lebensraum  einer  Person  ist,  um  so 
mehr  wird  die  Eigenart  ihrer  Personlichkeit  abgewiirgt.  In  der  bur- 
gerlichen  Familie  kann-  sie  sich  bekanntlich  am  wenigsten  Geltung 
verschaffen.  In  der  Clique,  in  der  Sekte,  im  Stand,  in  einer  aus- 
gepragten,  noch  fest  umrissenen  Klasse  ist  die  Personlichkeit  noch 
bis  ins  kleinste  gebunden  durch  die  Sitten  und  Lebensformen  der 
engen  Gemeinschaft.  In  dem  ungeheuren  Organismus  einer  klassen- 
losen,  einheitlichen  Gesellschaft  wird  die  Person  natiirlich  auch  ge- 
bunden sein,  aber  dieses  Band  ist  dann  gleichsam  auf  die  auBerste 
Peripherie  geschoben.  In  dem  denkbar  grofiten  Lebensraum  mufi  die 
Personlichkeit  auch  die  groBtmogliche  Freiheit  haben.  Die  konser- 
vativen  Moralprediger  der  Bourgeoisie  haben  ja  auch  die  groBten  Be- 
denken   gegen    die    Mziigellose    Freiheit"    der    kommunistischen    Moral. 

Bekanntlich  war  der  Individualismus  vor  der  -Renaissance  keine 
allgemeine  Weltanschauung.  War  da  ein  auffallender  Mangel  an  Per- 
sonlichkeiten?  Und  die  besondern  Werte  einer  individualistischen 
Kultur,  wo  sind  sie?  Gereichte  es  etwa  der  mittelalterlichen  und  an- 
tiken  Kunst  zum  Nachteil,  daB  sie  gar  nicht  individualistisch  war  und 
daB  nicht  vor  allem  die  Originalitat  angestrebt  wurde?  Hingegen 
in  der  biirgerlichen  Kunst,  wo  Bedeutung  und  Wert  ohne  Origi- 
nalitat gar  nicht  denkbar  sind,  wo  jeder  Kiinstler  und  Dichter,  der 
was  auf  sich  halt,  die  Welt  und  sein  Handwerk  von  neuem  entdecken 
muB,  da  gibt  es  keine  „Vollender".  Lauter  Beginner.  Lauter  Ari- 
f anger   also.     Wenn  auch  in   einem  tragisch-vornehmen  Sinn. 

In  einer  geistig  homogenen  Gesellschaft  ist  die  Bindung  der  Per- 
sonlichkeit von  wesentlich  andrer  Art  als  in  einer  individualistischen. 
Denn  es  ist  das  eigne  Gesetz,  das  bindet.  Beispiel:  jene  typische  Er- 
scheinung  der  biirgerlichen  Gesellschaft:  die  Opposition  der  Jugend 
gegen  die  Alten.  Es  ist  die  Auflehnung  der  vitalen  Triebkraft  gegen 
die  von  auBen  vorgeschriebene  Bahn.  In  Rufiland  ist  dieser  zwangs- 
laufige  Generationsgegensatz  schon  jetzt  unbekannt.  Denn  das  Be- 
wufitsein  der  bolschewistischen  Jugend  wird  von  demselben  lebendigen 
geistigen   Strom   geweckt  und  geformt,   von  dem   es   mitgerissen  wird. 

VII.  Die  Sorge  um  die  Freiheit  der  Wissenschaft  und  der  Kunst. 

Soweit  es  so  etwas  Ahnliches  heute  in  der  biirgerlichen  Gesell- 
schaft gibt,  kommt  das  von  der  bereits  unsicher  gewordenen,  von 
der  sich  auflosenden  biirgerlichen  Ideologie,  Die  Buntheit,  in  der 
sich  diese  Freiheit  auBert,  kommt  von  den  Leichenflecken.  Aber  noch 
in  ihrem  Zerfall  weifi  sich  die  burger liche  Gesellschaft  auch  ideolo- 
gisch  zu  wehren.  Ich  will  gar  nicht  von  der  Zensur,  der  Notverord- 
nung  etcetera  sprechen  und  nicht  von  den  Hunderten,  die  wegen 
PreBvergehens  in  Gefangnissen  sitzen.  Cben  denn  nicht  die  biirger- 
lichen Verlage,  Theater-  und  Filmgesellschaften  schon  Zensur  bei 
ihrer  Auswahl?  Kein  Gesetz  braucht  das  Denken  zu  verbieten,  so- 
lange  das  Kapital   die  Bedingungen   der  Publizitat  in   der  Hand  hat. 

In  RuBland  ist  man  heute  noch  in  dem  Obergangszustand  eines 
ideologischen  Biirgerkrieges,  also  gibt  es   dort  noch  eine  strenge  Zen- 

166 


sur.    Aber  es  ist  noch  etwas  andres,  sich  einem  Geist  zu  fiigen,  mit 
dem  man  im  Grunde  einverstanden  ist,  als  dern  Profit  der  andern. 

VIII,  DaB  es  bloB  eine  Tendenzkunst  geben  wird,  gegen  die 
die  Intellektuellen  einen  Widerwillen  haben. 

Es  wurde  schon  sehr  oft  bewiesen,  dafljede  Kunst  eine  zumindest 
latente  Tendenz  hat,  daft  das  immer  und  ausnahmslos  so  gewesen  und 
anders  gar  nicht  moglich  ist,  Wenn  jedes  Bewufitsein  Ideologic  ist, 
so  mufi  doch  jede  seiner  Erscheinungsformen  notwendigerweise  die 
Tendenz  der  Ideologie  irgendwo  enthalten,  Dann  fallt  sie  nur  auf, 
wenn  sie  der  eignen  Tendenz  zuwiderlauft.  Jedoch  in  Zeiten  des 
offenen  ideologischen  Kampfes  ist  es  klar,  daB  die  Kunst  auch  als 
Waffe  verwendet,  daB  die  blanke  Tendenz  gleichsam  aus  ihrer  Ein- 
kleidung  geziickt  wird.  Und  ebenso  selbstverstandlich  ist  es,  daB  jene, 
die  die  Tendenz  nicht  entkraften  konnen,  ihren  Ausdruck  als  Kunst 
entwerten  rnochten,  Man  wehrt  sich  meist  unbewuBt  gegen  die  Ten- 
denz, wenn  man  die  Form  ablehnt. 

Niemand  behauptet,  die  Kampfkunst  mit  der  offenen  Tendenz 
ware  das  asthetische  Ideal.  Sie  ist  eine  notwendige  Zeiterscheinung 
wahrend  des  ideologischen  Klassenkampfes  Und  wird  einmal  in  einer 
klassenlosen  Gesellschaft  keine  Funktion  mehr  haben.  Es  war  doch 
schon  auf fallend,  daB  die  bei  uns  gastierenden,  sowj  et-russischen 
Schauspieltruppen  mit  viel  weniger  dick  aufgetragener  Tendenz  ge- 
spielt  haben  als  etwa  die  Piscator-Biihne  oder  unsre  Arbeitertheater. 
Die  haben  es  eben  nicht  mehr  so  notig,  sie  haben  ihre  Revolution 
schon  hinter  sich  und  fur  sie  ist  die  Kunst  nicht  das  einzige,  halb- 
wegs  offene  Ventil,  aus  dem  eine  niedergehaltene,  revolutionare  Er- 
regung  manchmal   herauszischt. 

IX,  Das  Bedenken  gegen  eine  ausgesprochene  proletarische  Kultur 
gehort  hierher,  Kurt  Hiller,  zum  Beispiel,  schreibt:  „Proletarische 
Kultur,  Gipfel  des  Unsinns,  sintemalen  eine  Kultur  angestrebt  werden 
muB,  die  keine  sozialen  Klassen  und  also  keine  Proletarier  mehr 
kennt," 

Niemand  halt  die  heutige  proletarische  Kultur  ,,fur  die  feinste 
Bliite",  die  zu  konservieren  sei,  Ein  Marxist  am  wenigsten. 
Fur  eine  Bliite  nicht,  hingegen  fiir  den  Samen  der  einzig  zukunfts- 
moglichen  Kultur.  Sintemalen  sie  heute  schon  trotz  ihres  „minder- 
wertigen  Zustandes"  durch  die  grofie  Oberlegenheit  ihrer  Ideologie, 
durch  die  Vorteile  ihres  freiern,  geistigen  Standortes,  weitere  Aus- 
blicke  gewahrt  als  die  burgerliche  Kultur.  Wer  die  klassenlose  Kul- 
tur will  —  wie  Hiller  —  muB  erst  ihre  Bedingung,  die  revolutionare, 
proletarische   Kultur   wollen, 

X,  Das  demokratisch-moralische  Bedenken  gegen  ,,Gewalt  und 
Diktatur". 

Wo  fangt  die  Gewalt  an?  Erst  beim  Blut,  das  man  vergieBt,  oder 
schon  beim  Blut,  das  das  Kapital  den  ausgemergelten  Proleten  spucken 
la3t?  Gibt  es  ein  argeres  Gewaltmittel  als  die  Hungerpeitsche?  Gibt 
es  eine  hemmungslosere  Diktatur  als  die  mit  ihr  ausgeiibte? 

Wem  man  das  noch  klarmachen  muB,.  ist  ein  Dummkopf,  kein 
Intellektueller.  Wir  haben  also  nur  zu  wahlen,  ob  Gewalt  und  Dikta- 
tur gegen  oder  fiir  das  Proletariat  gebraucht  werden  sollen?  Fiir  den 
Intellektuellen  kann  bei  dieser  notwendigen  Wahl  nur  eines  entschei- 
den:  das  ist  die  Vernunftmafligkeit  und  der  moralische  Wert  des  End- 
zieles.  Im  iibrigen  ist  die  proletarische  Diktatur  nur  Obergang  zur 
sozialistischen  Gesellschaft.  Sie  hort  automatisch  auf  mit  dem  Ver- 
schwinden    der    Klassenunterschiede. 

XI,  Die  pazifistischen  Bedenken  gegen  Kampf  und  HaB  uberhaupt, 
also  auch  gegen  Klassenkampf  und  gewaltsame  Revolution. 

GewiB  ware  es  schon,  wenn  es  in  Frieden  und  Liebe  geschehen 
kdnnte.  Keiner  kampft  und  haBt  gerne.  „Wer  aber  das  Gute  will," 
ricf  schon  Thomas  Miinzer  dem  Fiirstendiener  Luther  zu,  „der  mufi 

167 


auch  die  Bedingungen  des  Guten  wollen,  ansonsten  ist  er  ein  Heuch- 
ler;"  Das  Proletariat  kampft  um  Aufhebung  der  Klassen  und  der 
politischen  Staatengrenzen.  Es  kampft  also,  um  nie  mehr  kampfen 
zu  mtissen!  Das  Proletariat  hafit  die  Ursachen  des  Hasses,  So  ist 
sein  Hafi  nur  die  Kehrseite  einer  aktiven  Menschenliebe. 

XII,  Die  meisten  dieser  Bedenken  werden  von  den  linken  Intel- 
lektuellen  auf  die  allgemeine  Formel  gebracht,  sie  seien  einverstanden 
mit  dem  Ziel  und  leknen  bloB  den  eingeschlagenen  Weg  des  revolutio- 
naren Proletariats  ab.  Denn,  wie  etwa  Doblin  sagt,  es  „entsteht  aus 
einem  Ding  nichts,  was  nicht  schon  in  ihm  steckt." 

Dieses  Schlagwort  vom  gemeinsamen  Endziel  ist  ein  gefahrlicher 
Nebel  oder  ein  Schwindel.  Wo  ist  der  andre  Weg,  den  man  gehen 
konnte  und  sollte?  Hat  ihn  jemand  so  konkret  und  klar  und  prak- 
tisch  gangbar  vorgezeichnet  wie  etwa  Marx  und  Lenin  den  Weg  des 
revolutionaren  Proletariats?  Wobei  zu  bemerken  ware,  dafi  es  in  der 
Politik  keine  Privatwege  gibt.  Historisch  real  sind  nur  die  Wege, 
auf  denen  die  Entwicklung  des  KlassenbewuBtseins  tatsachlich  weiter- 
geht.  Ein  Politiker  ist  kein  Reisemarschall,  der  verschiedene  Routes* 
vorschlagen  kann,  sondern  er  gleicht  eher  einem  Segelflieger,  der  aus 
bestehenden,  objektiven  Kraften  die  Kraft  seiner  eignen  Fortbewegung 
nehmen  muB.  Es  sind  nicht  von  vornherein  Wege  da,  wie  auf  einer 
Landkarte  aufgezeichnet,  von  denen  man  nur  zu  wahlen  braucht.  Son- 
dern es  sind  Richtungen  der  Massenbewegung  da,  aus  denen  Wege 
werden,  so  wie  sie  im  konkreten  Kampf  gegen  die  Widerstande  ge- 
bahnt  werden  konnen,  Und  gibt  es  eine  andre  Massenbewegung  nach 
dem  „gemeinsamen  ZielM  als  die  des  revolutionaren  Proletariats?  Oder 
soil  es  stillhalten  und  warten,  bis  die  Intellektuellen  eine  andre  kon- 
krete  Politik  vorschlagen  und  die  proletarischen  Massen  auch  tat- 
sachlich in  dieser  andern  Richtung  in  Bewegung  setzen?  Wenn  Ihr 
abet  keinen  andern  Weg  wifit,  so  habt  Ihr  den  des  revolutionaren 
Proletariats  einzuschlagen,  sofern  Ihr  es  mit  dem  gemeinsamen  End- 
ziel ehrlich  meint.  Wer  das  Gute  will,  muB  auch  die  Bedingungen 
wollen. 

DaB  aus  einem  Ding  nichts  werden  kann,  was  nicht  in  ihm  steckt, 
das  ist  wahr.  Aber  das  Ziel  steckt  im  Weg,  wenn  er  die  Richtung  hat. 
Denn  Weg  und  Ziel  sind  nicht  abstrakt  voneinander  zu  scheiden.  Nicht 
cinmal  in  der  Logik.  In  der  Politik  gar  sind  sie  dialektisch  mitein- 
ander  verwachsen,  Jeder  Imperialist  spricht  ja  vom  Frieden  als  End- 
ziel und  von  einem  gliicklichen  Volk,  Aber  nur  der  Weg  enthalt  das 
Ziel,  und  zwar  in  der  Richtung,  in  der  man  sich  tatsachlich  bewegi. 
Denn  Ziele  in  der  Zeit  sind  nicht  wie  Ziele  im  Raum,  die  von  vorn- 
herein  da  sind,  und  man  braucht  sich  ihnen  bloB  zu  nahern.  Die  Ziele 
in  der  Zeit  entstehen  allmahlich  dadurch,  daB  man  sich  ihnen  allmah- 
lich  nahert  Also  ein  reales,  historisches  Ziel  nur  aus  einer  realen 
Massenbewegung.  Diese  Bewegung  kann  dem  Einzelnen  fruher  be- 
wuBt  werden   als   der  grofien   Masse,     Aber   sie   muB   vorhanden   sein.  ' 

Eine  Bahn,  die  so  im  Kampf  erst  gebrochen  werden  muB,  geht 
nicht  immer  in  der  geraden  Luf tlinie,  Doblin  halt  den  nicht  immer 
direkten  Weg  fur  gefahrlich.  Er  meint  vor  all  em  die  moralische  und 
geistige  Gefahr:   „Aus  Klassenkampfern  werden  keine  Kommunisten," 

Sicherlich  wird  die  erste  Generation,  die  den  Sieg  erfochten  hat, 
noch  nicht  das  Ideal  der  sozialistischen  Menschen  darstellen.  Sie 
konnen  nur  in  einer  sozialistischen  Gesellschaft  entstehen,  Diese 
Vorbedingung  aber  muB  erst  geschaffen  werden. 

Sogar  in  RuBland  war  es  so,  daB  die  heroische,  revolutionare 
Generation  sich  im  allgemeinen  nicht  fur  den  Aufbau  geeignet  hat,  Sie 
wurde  abgelost.  Das  ist  tragisch  fiir  die  erste  Generation  und  geht 
gewiB  nicht  ohne  Krisen  ab.  Aber  der  letzte  Schritt  kann  phne  den 
ersten  doch  nicht  gemacht  werden.  Und  wer  den  letzten  ehrlich  will, 
muB   eben  den  ersten  tun.  Sdilufi  folgt 

168 


Cabaret  von  Friedrich  Hollander 

T\  as  Cabaret,  von  allzu  seriosen  Vollbarten  gern  als  die 
unterernahrte  Milchschwestcr  der  redenden  Kunst  ausge- 
geben,  ist  eher  das  frohliche  Kind  einer  elf  ten  Muse,  die  es  in 
losen  Liebschaften  mit  dem  Theater,  dem  Variete,  der  poli- 
tischen  Tribune  gezeugt.  Nicht  weniger  ernst  als  seine  drei 
Vater,  denen  scharfste  Kritik  ihre  Sendung  dauernd  beglaubigt, 
mochte  es  doch  durchsichtiger,  schwereloser  erscheinen;  aber 
auch  ungebardiger,  was  daran  liegen  mag,  daB  es  oft  genug  in 
die  Hande  unqualifizierter  Erzieher  gerat,  die  seinen  Lebens- 
we,g  durch  den  Stempel  ihrer  eignen  Leichtfertigkeit  von  Zeit 
zu  Zeit  verdunkeln.  So  kommt  es  dann,  dafi  es  aus  seiner  er- 
oberten  Hdhe,  aus  seiner  lustigen  Perspektive  immer  wieder 
hinabgerissen  wird  und  manchmal  gar  bis  unter  die  runde  Filz- 
scheibe  gerat,  auf  die  der  Gast  sein  Bierglas  stellt. 

Sprechen  wir  aber  vora  geziigelten  Cabaret,  das  seiner 
spottischen  Mission  getreu,  wie  eine  Seifenblase  iiber  den  Din- 
gen  dieses  schwer  zu  lebenden  Lebens  schwebt,  sie  boshaft 
oder  zartlich  widerspiegelnd,  ihre  Valeurs  durch  spielerische 
Farb-  und  Lichteffekte  bald  ubermElchtig  verzerrend,  bald  auf 
das  Diminutiv  zuriickschraubend,  das  ihnen  in  Wahrheit  zu- 
steht.  ,,Ca;baret"  heiBen  in  Kopenhagen  die  bunten  Schiisseln 
in  den  Restaurants,  die  dem  Schnellschmeckergaumen  hunderter- 
lei  Anregung  in  konzentriertester  Form  antragen.  Wo  soil  er 
zugreifen?  Wie  sichert  er  sich  von  allem  eine  Probe?  Und 
ehe  er  auf  den  zauberhaften  Geschmack  dieser  raffinierten 
Kurzkosterei  kommt,  ist  die  Schiissel  abserviert  und  hinter- 
laBt,  auBer  einer  kleinen  Symphonie  appetitlichster  Geriiche,  die 
herrliche,  nicht  zu  Ende  befriedigte  Sehnsucht,  ohne  die  wir 
nicht  leben  konnten. 

Da  ist  das  Geheimnis  des  Cabarets.  Der  aphoristische 
Roman,  das  schnell  abgebrannte  Drama  unsrer  Tage,  das  Zwei- 
minutenlied  der  Zeit,  SiiBigkeit  der  Liebe,  der  Herzschlag  der 
Arbeitslosigkeit,  die  Fassungslosigkeit  einer  Politik,  die  Uni- 
form des  billigen  Vergniigens  —  alles  ohne  die  Ermudung  von 
fitnf  Akten,  drei  Banden,  tausend  Kilogramm  Psychologie  — - 
in  Gestait  einer  Pille,  die  mitunter  bitter  sein  darf.  Wer  hat 
sich  je  an  einem  Feuerwerk  sattgesehen? 

Diese  gedrangte  Gestaltungsform  verlangt  nach  eignen 
Gesetzen  nicht  nur  das  rasch  zupackende  Wort,  die  schnell 
greifbare  Gebarde,  sie  erfordert  gebieterisch  die  aufreizende, 
die  kurze,  die  enthiillende,  die  essenzielle  Musik,  sie  muB  in 
Rhythmus  und  Kolorit,  in  Melodiefiihrung  und  Dramatik  sofort, 
blitzartig  das  Grundsatzliche  aufreiBen,  sie  darf  sich  keine 
Zeit  lassen  zu  Entwicklung  und  Aufbau;  so  wie  sie  herunter- 
brennt,  muB  sie  geboren  sein;  ihr  Stimmungsgehalt  muB  in 
ihren  ersten  Takten  da  sein,  ihre  Entfaltungsmoglichkeit  liegt 
—  im  emsten  Chanson  —  im  kurz^espannten  Bogen  einer 
schnell   entflammenden  Dramatik,  —  im  heitern  Chanson:    in 

169 


der  todlich  sicher  sitzendcn  Pointe,  die  —  dcm  Wortwitz  ver- 
schmiedet  —  wie  ein  auf  kiirzeste  Entfernung  abgeschne  liter 
Pfcil  treffen  soil.  Sic  ist  in  ihrem  Gcschmack  naturgemaB  der 
Zcitt  in  der  sie  lebt,  untertan;  was  dem  Wolzogenschen  Ober- 
brettl  in  seiner  btirgerlichen  Romantik  recht  war,  ware  dem 
politischen  Cabaret  von  heute  zu  billig.  Die  elf  Scharfrichter 
in  Muncfoen  mit  ihrer  modischen  Gruselmusik  konnten  damaU 
dem  Publikum,  in  dem  sie  ihre  Delinquenten  sahen,  ein  Hals- 
kitzeln  verursachen,  das  in  tinsern  Tagen  hochstens  einen 
Hustenreiz  entlockt.  Heut  noch  giiltige  Musik  im  Cabaret 
machte  zu  dieser  Zeit  nur  einer;  Bruyant  in  Paris,  der  mit 
seinen  stampf enden,  *  revolutionierenden  Rhythmen  die  Menge 
aus  Liedern  zu  Taten  hinrifi.  Denn,  was  ein  weiteres  Gesetz 
der  Cabaret-Musik  sein  sollte,  das  ist  die  Aggressivitat,  die 
sie  von  aller  Opern-,  Lied-  und  Symphonie-Musik  in  alle 
Ewigkeit  unterscheidet.  Ein  Cabaret  ohne  Angriffsfreudigkeitr 
ohne  Kampflust  ist  lebensunfahig.  Es  ist  das  gegebene  Schlacht- 
feld,  auf  dem  mit  den  einzig  sauberen  Waffen  geschliffener 
Worte  und  geladener  Musik  jene  morderischen  aus  Eisen  in 
die  Flucht  geschlagen  werden  konnen.  Starker,  erfolgreicher 
als  im  vielgepriesenen  Zeittheater,  diesem  meist  nuchternen 
Katheder  der  Theorien,  dem  zur  saftvollen  Tendenzwirkung; 
fast  immer  der  Verfuhrungszauber  ironischer  oder  peitschen- 
der  Musik  fehlt,  Der  Effekt,  der  im  Cabaret  aus  den  Stim- 
mungskontrasten  gezogen  wird,  ist  wirklich  unuberbietbar; 
wenn  man  bedenkt,  daB  von  achthundert  Menschen  unter  tau- 
send  das  Cabaret  als  harmlose  Aimisierstatte  angesehen  und 
besucht  wird,  kann  man  den  gesunden  seelischen  Schock  er- 
messen,  den  ein  zwischen  zwei  parodistischen  Lustigkeiten 
hingepfeffertes  soziales  Chanson  auslosen  kann;  hier  kann  — 
wie  nirgendwo  anders  —  unter  dem  Deckmantel  entspannen- 
der  Abendunterhaltung  plotzlich  eine  Giftoblate  verabreicht 
werden,  die  suggestiv  eingegeben  und  hastig  verschluckt,  weit 
iiber  den  harmlosen  Abend  hinaus  das  gemiitlich  rollende  Blut. 
entziindet,  das  trage  Gehirn  zum  Denken  aufreizt,  Musik  als 
Verfiihrerin,  sie  schafft  es  immer,  wenn  sie  Magie  im  Leibe 
hat:  als  Choral  in  der  Kirche,  als  Militarmusik  vor  der  Kom- 
pagnie,   als   Anklage   auf  dem  Podium. 

Das  ist  das  eine  Profil  der  Musik  im  Cabaret.  Ihr  andres 
ist  der  Witz,  Hieriiber  solien  noch  -ein  paar  Worte  gesagt  wer- 
den, Nicht  ist  gemcint  jener  billige  Witz  als  Selbstzweck,  der 
musikalische  Kalauer,  der  aus  dem  Horer  ein  Lachen  heraus- 
schiittelt,  dessen  er  sich  spater  schamt.  Sondern  der  konigliche 
Witz,  der  in  der  liebevollen  Verspottung  allzu  menschlicher 
Schwachen  jenem  das  BewuBtsein  seiner  Starke  wiedergibt. 
Davon  wird  er  auf  dem  Heimweg  froh.  Jedem,  dem  es  etwa 
in  dieser  Zeit  der  Mpden  und  Rekorde  einmal  passiert,  ge- 
legentlich  snobistischer  als  der  Snob,  verschmockter  als  der 
Schmock,  verliebter  als  Goethes  Werther  zu  sein,  wird  sein 
Steckenpferd  aufs  lustigste  yorgeritten,  und  er  darf  dabei- 
sitzen  und  sich  als  Reiter  sehen. 

Da  muB  nun  die  malende  Musik,  wenn  sie  karikierend  Per- 
sonen,   Dinge,    Gewohnheiten,   Ailtagliches   f  ass  en  und   piinkt- 

170 


lich  auf  die  Sekiuide  ins  Ziei  gehen  soil,  durchaus  superlativ 
sein;  das  heiBt;  sic  soil  vom  Kranken  das  Krankste,  vom  Ge- 
schwatzigen  das  Geschwatzigste,  vom  Perversen  das  Per- 
verseste,  vom  Geizigen  das  Sparsamste  in  sich  tragen  und  aus- 
druckcn.  Nimmt  sie  sich  etwa  die  anekdotisch  belicbtc  Figur 
des  knauserigcn  Schottcn  aufs  Korn,  mochte  man  sich  am 
Uebsten  eine  Idealmelodie  aus  einem  Ton  dazu  denken,  Fiir 
einen-  mondanen  Eintanzer  solltc  der  Musiker  einen  Obcrtango 
erfinden,  das  Mahierierteste  an  verlogcner  Zeitlupenbewegung; 
bctritt  ein  aktuell  verulkter  Gandhi  die  Biihne  — ,  sogleich 
muBte  die  Musik  indischer  als  echt-indische  Musik  seint. 
wiederum  vom  Emanzipierten  das  Emanzipierteste.  Um  das 
Gandhi-Beispiel  zu  Ende  zu  fiihren,  lieBe  sich  etwa  noch  ein 
kontrapunktlicher  Kampf  dieser  ,,garantiert  indischen  Klausur- 
musik"  mit  englischen  Nationalthemen  denken.  Der  horende 
Kenner  wird  schmunzeln,  der  fiihlende  Laie  wirds  schmecken. 
Aber  ich  spreche  hier  nicht  von  geistloser  Lautmalerei.  Eine 
persiflierende  Hymne  auf  die  Automobilsucht  kann  durch  ein 
paar  billige  Hupeneffekte  musikalisch  nicht  plastisch  werden, 
es  muB  schon  das  120-KiIometer-Tempo  imd  Benzin  in  der 
Musik  sein. 

Die  parodistische  Entlarvung  einer  Substanz  geschieht  also 
am  schlagendsten  durch  Aufzeigung  ihrer  Armseligkeit,  oder 
ihres  vorgetauschten  Oberschusses,  beide  Male  durch  Unter- 
streichung. 

Der  Rahmen  ist  weit,  die  Phantasie  unendlich,  aber  etwas 
wie  eine  goldene  Kegel  ist  deutlich  erkennbar.  Ich  gebe  ein 
Beispiel: 

Der  gehetzte  GroB-Stadtmensch,  der  sich  am  Abend  ein- 
mal  gedanklich  ausschalten  will,  mochte  sich  optisch  zer- 
streuen.  Das  Kino  bietet  ihm  oft  nicht  die  reine  Sehfreude  — f 
iiberall  ist  noch  zuviel  Problematisches.  Wohin  geht  er?  Ins 
Variete,  Sanft  und  ohne  Denkarbeit  bieten  sich  ihm  hier 
artistische  Schaustellungen  dar,  er  nimmt,  glaubigt  wie  ein 
Kind,  diese  Symphonie  aus  Bizeps,  Tollkuhnheit,  Abnormitat 
und  Grazie  in  sich  auf.  Eine  Programmnummer  erscheint  ihm 
immer  wieder:  erotischer  Pol  aller  Variete-Darbietungen.  Die 
spanische  Tanzerin,  Eine  zur  Tradition  erstarrte  Spezialitat. 
Mai  heiBt  sie  Benavente,  ein  andres  Mai  Argentina,  und  es 
scheint  immer  dieselbe.  Man  schaut,  man  klatscht,  man 
blattert  im  Programm;  und  tief  ins  UnterbewuBtsein  senkt  sich, 
weil  zur  bewuBten  Oberlegung  inf  Moment  zu  anstrengend  — 
man  will  sich  ja  erholen  —  die  Frage:  Ob  die  wirklich  aus 
Spanien  ist?  Was  denkt  die  sich  wohl  so  beim  Tanzen? 
Warum  diese  echt  spanischen,  ins  Publikum  geschleuderten 
Ausdriicke?  Ich  weifi  ja  doch  nicht,  was  das  heiBt,  Wieso 
kommt  immer  ein  Gitarrespieler,  wenn  sie  sich  umkleiden 
geht?  Und  warum  ist  sein  Geklimper  immer  so  langweilig,  ob- 
schon  es  doch  sicher  echt  spanisch  ist?   Etcetera  etcetera. 

Mochte  man  dies  cabarettistisch  nachzeichnen,  hier  miifite 
die  Musik  also  wohl  spanischer  als  Spanien  sein,  espagnol- 
issimo  sozusagen,  kompromittierend  spanisch. 

171 


Milhaud  komponiert  Werfel  vonHeinncustrobei 

P\arius  Milhaud  ist  zweifellos  das  vielseitigste  und  rcichstc 
Talent  der  moderncn  franzosischen  Musik,  Provenzali- 
scher  Jude  von  Geburt,  fiihrtc  er  der  in  impressionistischer  Ar- 
tistik  erstarrten  franzosischen  Musik  neue  vo'lkshafte  Elemente 
zu.  Die  alten  jiidischen  Gesange  haben  ihn  ebenso  interessiert 
ivie  die  bunte  Rhythmik  des  amerikanischen  Jazz.  Er  hat  die 
Orestie  des  Aeschylos  zu  einer  Zeit  komponiert,  als  der  Klas- 
sizismus  in  seiner  Heimat  noch  nicht  Mode  war,  und  er  hat 
dann  wieder  eine  tolle  Pantomime  iiber  den  ,,Boeuf  sur  le  toit" 
£eschrieben  oder  den  Katalog  einer  landwirtschaftlichen  Aus- 
stellung  (Iin  Tone  gesetzt".  Milhauds  Schaffen  ist  auf  keine 
Formel  zu  bringen.  Milhauds  Entwicklung  verlauft  im  Zick- 
Zack.  Aber  an  jeder  Wendung  ergebeu  sich  neue  Ausblicke, 
Milhaud  ist  kein  konsequenter  Arbeiter  wie  Hindemith,  Er 
nutzt  die  Moglichkeiten,  die  er  scheinbar  zufallig  findet,  kei- 
neswegs  aus.  Er  probiert  irgendetwas,  realisiert  es  in  der  kiir- 
zesten  Form,  aber  er  zieht  niemals  die  geistigen  Konsequenzen, 
Die  Vorliebe  fur  die  kleinen  Formen  erklart  sich  aus  seinem 
NaturelL  Fiir  die  Baden-Badener  Kammermusiken  hat  Milhaud 
einmal  drei  Operas-minutes  komponiert:  antike  Sagen  im  musi- 
kalischen  Telegrammstil,  Sie  geben  vielleicht  am  ersten  einen 
Begriff  von  Milhauds  ktinstlerischer  Personlichkeit,  Diese 
Mischung  aus  draufgangerischer  Laune  und  lyrischer  Melan- 
cholic kennzeichnet  seine  Musik,  die  franzosisch  ist  im  eigent- 
lichsten  Sinn  des  Wortes.  Franzosisch  in  ihrer  natiirlichen,  le- 
bensnahen  Frische,  franzosisch  in  der  Gedampftheit  ihres 
Ausdrucks.  Das  alte  franzosische  Chanson  ist  in  t  Milhauds 
Musik  lebendig.  Es  mischt  sich  mit  dem  Jazz,  mit  Erinnerun- 
gen  an  exotische  Rhythmen,  die  Milhaud  seit  seinem  siidameri- 
kanischen  Aufenthalt  in  den  Fingern  zucken.  Einmal  entsteht 
aus  dieser  Verbindung  ein  Meisterwerk:  der  arme  Matrose. 
{Man  hat  ihn  seinerzeit  unvergleichlich  bei  Kroll  gehort.) 

Milhaud  ist  -  ein  leidenschaftlicher  Anhanger  von  Eric 
Satie.  Der  sokratische  Prophet  der  Einfachheit,  ohne  den 
keine  moderne  franzosische  Partitur  zu  denken  ware,  hat  ihn 
indirekt  zum  Klassizismus  hingefuhrt.  Milhaud  begann  sich 
mit  den  formalen  Problemen  des  musikalischen  Theaters  aus- 
einanderzusetzen.  Seine  deutschen  Eindriicke  mogen  ihn  dabei 
bestarkt  haben.  Das  Ergebnis  war  Christoph  Columbus.  Er 
wurde  vor  zwei  Jahren  an  der  berliner  Staatsoper  uraufgefiihrt. 
Die  Dichtung  stammt  von  ClaudeL  Sie  deutet  die  Geschichte 
des  abenteuerlichen  Entdeckers  zu  einer  religiosen  Vision  um. 
Aber  nicht  diese  sehr  anfechtbare  Geschichtsdeutung  ist  ent- 
scheidend  fiir  das  Werk,  sondern  die  Form,  in  der  die  Ge- 
schichte des  Columbus  dargestellt  wird:  als  epische  Bildreihe 
mit  opernhaften  Elementen  und  einem  Chor,  der  den  Mittler 
zwischen  Dichter  und  Publikum  spielt.  Es  ist  vollig  abwegig, 
dieses  bedeutende  Werk  vom  deutschen  Theateraktivismus 
aus  zu  beurteilen,  Columbus  war  ein  grofiartiger  Versuch,  die 
Tradition  der  historischen  Oper  von  einer  umspannenden  Idee 
aus  und  in  einer  modernen  Form  zu  erneuern. 

172 


Milhaud  hat  inzwischen  eine  neue  Oper  komponierh 
Maximilian,  Der  Text  ist  dem  Drama  von  Werfel  entnommen, 
Wic  im  Columbus  steht  die  private  Tragodie  vor  eiriem  welt- 
historischen  Hintergrund.  Der  humanitatsselige  Habsburger 
zerschellt  an  der  Revolution  des  mexikanischen  Volks.  Man 
dachte:  Milhaud  wird  die  formalen  Tendenzen  des  Columbus 
weiterfiihren.  Auch  wer  Milhauds  Sprunghaftigkeit  in  Rech- 
nung  stellte,  erwartete  in  jedem  Fall  eine  unkonventionelle 
Losung.  Aber  Milhaud  komponierte  den  von  R.  St,  Hoffmann 
abgeschwachten,  schablonisierten  Text  einfach  durch.  Das  ist 
die  Enttauschung  des  Maximilian,  Man  kann  zu  dem  Stuck 
von  Werfel  stehen,  wie  man  will:  die  stoffliche  Anti these  ware 
auch  fur  eine  moderne  Oper  zu  gebrauchen  gewesen.  Der 
Musiker,  der  die  gewaltigen  Chore  der  Eumeniden  und  des 
Columbus  geschrieben  hatte,  konnte  sich  an  dieser  Antithese 
begeistern,  Eine  geheime  Liebe  zum  Exotischen,  zum  Heid- 
nischen  zieht  sich  durch  Milhauds  ganzes  Schaffen.  Hier  hatte 
er  die  heidnische  Elementarkraft  verherrlichen  konnen.  Aber 
Maximilian  nimmt  kaum  einen  schwachen  Anlauf  dazu.  Der 
Text  hat  keine  klaren  Situationen  und  keine  Kontraste.  Und 
wenn  sich  die  beiden  Welten  einmal  gegeniiberstehen,  dann 
wird  die  Wirkung  durch  irgendeinen  uberflussigen  Lyrismus 
wieder  aufgehoben. 

Der  Vergleich  von  Columbus  und  Maximilian  ist  aufschluB- 
reich.  Beide  Male  handelt  es  .sich  um  heroische  Tragddien. 
Im  Columbus  dient  das  private  Drama  der  Sichtbarmachung 
^iner  Idee  und'  einer  Form.  Im  Maximilian  wird  aus 
dem  privaten  Drama  ein  durchschnittliches  Opernschicksal. 
Die  Abhangigkeit  vom  literarischen  Vorbild  merkt  man  auf 
Schritt  und  Tritt.  Die  Dialoge  sind  zwar  verkiirzt,  aber  sie 
hemmen  die  Musik  immer  noch  genug,  Ein  Musikdramatiker 
hatte  sich  damit  abgefunden.  Er  hatte  einfach  die  MAtmo- 
sphare"  des  Textes  durch  die  Musik  verstarkt,  Ein  moderher 
Musiker,  der  nach  materiaigemaBer  Gestaltung,  nach  formaler 
Klarheit  strebt,  ein  moderner  Musiker,  der  nicht  iilustrieren 
sondern  intensivieren,  nicht  ausdeuten  sondern  stilisieren  will, 
muBte  an  diesem  Text  scheitern.  Naturlich  enthalt  auch  die 
Partitur  des  Maximilian  schone  und  bedeutende  Stellen,  na- 
tiirlich  verraten  Stil  und  Klang  die  Handschrift  Milhauds  — 
aber  die  Methode  einer  Kontrapunktierung  der  Szene  durch 
die  Musik  zur  Oberwindung  des  Realismus  war  hier  nicht  an- 
zuwenden,  Diese  Kontrapunktierung,  dieser  bewuBte  Verzicht 
auf  jede  koloristische  Ausschmiickung  war  das  starkste  Kunst- 
rnittel  des  pauvre  matelot, 

Maximilian  stellt  mehr  noch  als  Columbus  die  Frage, 
ob  Milhaud  tiberhaupt  eine  groBe  Opernform  gleichmaBig  mit 
musikalischer  Substanz  durchdringen  kann.  Das  ist  freilich 
nicht  nur  eine  Angelegenheit  der  Begabung.  Es  ist  vielmehr 
eine  Angelegenheit  der  kiinstlerischen  Disziplin  und  des  kiinst-* 
lerischen  Formungswillens,  Ich  sagte  schon:  Milhaud  ist  kein 
intensiver  Arbeiter.  Aber  Milhaud  hat  auch  kaum  die  Mog- 
lichkeit  einer  produktiv-kritischen  Diskussion  uber  sein  Schaf- 
fen,   Wie  die  ganze  moderne  franzosische  Musik    steht  er  iso- 

173 


iiert  im  groBen  Raum  Paris.  Er  hat  es  zwar  erreicht,  an  dcr 
pariser  Oper  uraufgefiihrt  zu  werden.  Aber  es  ist  bezeichnend, 
daB  schon  diese  Tatsachc  allcin  fur  manchc  Kritiker  cin  An- 
laB  war,  sich  gegen  ihn  zu  stellcn.  Lcute  dicser  Richtuhg  ge- 
horen  eben  nicht  auf  die  representative  Staatsbiihne. 

Die  Aufftihrung  des  Maximilian  war  ein  kunstpolitisches 
Ereignis  ersten  Ranges.  Zum  ersten  Mai  drang  die  moderne 
Musik  in  die  GroBe  Oper,  Maximilian  war  keineswegs  als 
abschreckendes  Beispiel  gedacht.  Das  ehrwiirdige  Institut  be- 
miihte  sich  um  eine  moglichst  vollendete  Wiedergabe.  Vier 
Monate  lang  wurde  Maximilian  studiert,  mit  dem  Erfolg,  daB 
wenigstens  die  Musik  (unter  Ruhlmann)  einwandfrei  heraus- 
kam.  Die  ,,mise  en  scene"  freilich  war  von  einer  beinahe  gro- 
tesken  Konventionalitat.  Sie  entsprach  weder  der  Musik  noch 
den  lichten  Dekorationen  von  Pruna.  Es  ware  sehr  bequem, 
diese  Tatsachen  mit  der  heute  iiblichen  chauvinistischen 
Oberheblichkeit  zu  glossieren,  Aber  so  einfach  ist  die  Sache 
nicht.  Die  GroBe  Oper  strengte  sich  gewaltig  an.  DaB  der 
Versuch  nicht  gelang,  liegt  in  der  Situation  der  Oper  in 
Frankreich  begriindet.  Der  Darstellungsstil,  der  Milhaud  ent- 
sprache,  ist  noch  gar  nicht  iiber  die  Schwelle  der  Grande 
Opera  gedrungen.  Und  da  in  der  franzosischen  5ffentlich- 
keit  jede  kritische  Initiative,  jede  Bemiihung  um  eine  Ab- 
schaffung  der  augenblicklichen  Zustande  fehlt,  so  wird  sich 
auch  in  Zukunft  kaum  etwas  andern,  Man  kann  sich  vorstel- 
len,  was  unter  diesen  Verhaltnissen  der  Tod  Diaghilews  be- 
deutete  —  den  Verlust  der  einzigen  Position,  die  das  moderne 
musikalische  Theater  in  Frankreich  hatte. 

Die  pariser  Kritik  hat  Milhauds  Maximilian  in  tausend 
Fetzen  zerrissen.  Das  war  natiirlich  i alsch.  Maximilian  ent- 
halt  immer  noch  so  viel  Neues,  mindestens  im  Musikalischen, 
daB  man  sich  damit  hatte  auseinandersetzen  konnen.  Die 
kunstpolitische  Seite  wurde  nicht  beachtet,  Sie  aber  war  das 
wichtigste.     Sie  hatte  zur  Kritik  am  System  fiihren  miissen. 

TitnOtl    von  Alfred  Polgar 

D  ruckners  Timon  ist  ein  Intellektueller,  was  sich  schon  darin 
zeigt,  daB  es  schwer  fallt,  von  ihm  eine  grade  Antwort  zu 
bekommen,  eine  Antwort,  die  nicht  mehr  sagen  will,  als  sie 
sagt,  Er  redet  beziehungsubervoll,  tangential  zur  Sache,  zu 
der  er  redet,  oder  in  ferngreifenden  Wendungen  um  sie.  Noch 
sein  einfaches  Wort,  sein  Ja  oder  Nein,  wirkt  als  Siegel,  das 
Bedeutsames  yerschlieBt.  Er  ist  edel,  reich  und  hilfreich,  fiihrt 
groBes  Haus  und  groBe  StraBe,  indem  auch  das  Volk  vor  den 
Toren  des  Timonschen  Palais  an  den  Gastereien  in  diesem 
teilnehmen  dart  Hierbei  geht  Timons  Riicksicht  so  weit,  daB 
er  Zaungasten,  die  keinen  guten  Magen  haben,  gewiirzte  Spei- 
sen  auf  Verlangen  gegen  GrieB  in  der  Milch  umtauscht,  Er  hat 
viel  Zulauf  im  und  vor  dem  Hause,  aber  die  wahre  Liebe  ist  es 
nicht.  Bei  den  Machtigen  nicht,  weil  keine  Zielgemeinschaft 
ihh  mit  ihnen  verbindet,.  weil  sie  seine  hohere  menschliche  Art 
als  Vorwurf  und  seine  Gute  als  Beleidigung  empfindent  beim 
Volk  nicht,  weil  es  vor  Timon  keine  Furcht   hat,  welche  das- 

174 


Fixativ  ist,  ohnc  das  die  Zuneigung  der  Menge  nicht  halt. 
Timons  eignes  Liebcslebcn  ist  zicmlich  undurchsichtig.  Es 
scheint,  daB  er  seine  Bediirfnisse  in  diesem  Punkt,  soweit  ef 
sie  nicht,  wie  Peter  Altenberg  sagt;  ,,durch  das  Hirn  aus- 
schwitzt",  auf  heimlich-kurzem  Weget  bei  unpersonlichen 
Madchen,  abreagiert,  (Aphrodite  personlich  erzahlt  das  von 
ihm),  solcher  Art  sich  davor  schiitzend,  daB  ihm  der  Unterleib 
zu  Kopf  steige.  Seinen  Reichtum  verwendet  er  groBziigig 
zur  Forderung  von  Kunst  und  Sport,  er  baut  ein  Stadion  und 
ein  Odeon,  fur  den  Krieg  aber,  den  die  Militars  und  GroB- 
industriellen,  seine  Freunde,  propagieren,  hat  er  nichts  iibrig. 
Seltsam,  daB  ein  so  qualifizierter  Mann  nur  mindern  Verkehr 
hat,  Schieber  und  Geldmenschen,  Leute  ohne  Interessen  als 
jene,  die  ihnen  ihr  Kapital  abwirft,  indes  er,  Timon,  die  Philo- 
sophen  lesend  und  liebend,  es  durchaus  mit  dem  hohen  Geiste 
halt;  und  sich  iiber  Alles  Gedanken  macht,  nur  nicht  iiber  seine 
okonomische  Lage.  Diese  wird  plotzlich  unhaltbar.  Timon  hat 
eines  Tages  nicht  mehr  Brot  auf  Odeons  und  muB  bei  den  Be- 
kannten  Hilfe  suchen.  Wir  erleben  von  seinem  Passionsweg 
als  Borger  (bei  Shakespeare  sind  es  Timons  Diener,  die  den 
all  round-Leihversuch  fiir  ihn  luiternehmen)  drei  Stationen  mit, 
in  denen  das  „Nein"f  das  ihm  iiberall  zuteil  wird,  auf  eine  die 
Neinsager  scharf  charakterisierende  Art  abgewandelt  er- 
scheint.  Auch  das  Volk,  diskussionsfroh  vor  Timons  Haus  ver- 
sammelt,  hat  fiir  einen  Gonner,  der  es  nicht  mehr  fiittert,  nur 
Spott,  Anklage  und  Drohung,  Timon  ist  sehr  verbittert.  Er 
bereitet  den  falschen  Freunden  ein  Mahl  ohne  Mahl,  eine  wilde 
Parodie  der  Schmausereien  von  einst,  und  begieBt  sie,  wie  bei 
Shakespeare,  seinen  Unmut  an  ihnen  zu  kuhlen,  mit  heiBem 
Wasser.  Wir  finden  den  ganz  Verarmten,  nur  von  seinem 
Hausverwalter  Nikias  treu  begleitet,  am  Lande  wieder,  als 
Erdarbeiter,  mit  Nikias  in  nachdenklichen  Stichomythien  sein 
Einst  und  Jetzt  aufwerfend  wie  das  Erdreich,  grabend  und 
griibelnd,  Hier  fallt,  nicht  aus  dem  Timon,  sondern  nur  aus 
Timons  Mund,  in  den  es  hineingelegt  wurde,  das  zeitgefliigelte 
Wort:  die  erste  Forderung  sei  die  des  Magens  (Brecht;  „erst 
kommt  das  Fressen . . .").  Eine  Art  acte  de  presence  sociale 
des  Verfassers.  Nikias  meint,  die  Gotter  konnten  so  schand- 
liches  Unrecht,  wie  sein  Herr  es  zu  tragen  habe,  nicht  schwei- 
gend  dulden.  A  tempo  sieht  das  Aug'  den  Himmel  offen,  das 
heiBt:  in  wolkiger  Landschaft  die  Olympier,  wie  sie,  hin- 
gelagert  an  den  Ufern  eines  ausgetrockneten  Offenbachs, 
den  Fall  Timon  besprechen.  Es  sind  Oberirdische  mit 
irdischen  Vorzeichen,  keine  richtigen  Gotterf  sondern  ironisch- 
iiberdimensionierte  Luftspiegelungen  menschlichen  Erwagens 
und  Urteilens.  Die  mindern  Gotter  (Deutsches  Theater,  Biih- 
nenbild:  Strnad,  Regie:  Hilpert)  erscheinen  in  schlichtem  WejB, 
die  Prominenten  in  voller  mythologischer  DreB.  Pluton  wohnt 
ein  wenig  tiefer.  Er  streckt,  wenn  er  sich  am  Gesprach  be- 
teiligt,  den  Kopf  aus  seinem  Wolkenloch.  wie  aus  seinem  Guck- 
fensterchen  ein  Portier,  hat  auch,  von  Oskar  Sima  dar- 
gestellt,  den  entschiedenen  Tonfall  eines  solchen.  Das  Geld 
als  Hausmeister  der  Welt.     Man  beschliefit,  Timon  solle  wie- 

175 


der  rcich  werden,  er  wird  es,  indem  er  Gold  in  dcr  umgegra- 
benen  Erde  findet,  hat  aber  wenig  Freude  an  dem  Fund,  ver- 
kiindet  seinen  in  Erlebnis  und  Erkenntnis  wurzelfest  gegnin- 
deten  EntschluB,  nie  mchr  nach  Athen  zuriickzukehren,  und 
kehrt  nach  Athen  zuriick.  Dort  tut  er  dann  allerdings  nichts 
andres,  als  d^rt  sein,  und  der  einzige  Gebrauch,  den  er  von 
seinem  Golde  macht,  ist,  von  ihm  demonstrate  keinen  Ge- 
brauch  zu  machen.  Das  Ende  erwarterid  —  der  Wilde,  Alexan- 
der von  Mazedonien,  tobt  schon  an  den  Mauern  —  sucht  er 
noch  einmal  Trost  bei  den  geliebten  Pergamenten,  Aber  im 
kritischen  Augenblick  benehmen  sich  auch  die  weisesten 
Bticher  so,  wie  ihre  Stellung  auf  dem  Regal  es  versinnbildlicht: 
sie  kehren  uns  den  Riicken. 

Ein  Weltbejaher,  der  ins  Weltverneinen  gerat  wie  in  eine 
selbstgekniipfte  Schlinge,  also,  wenn  man  so  sagendarf,  sei- 
nes Pessimismus  gar  nicht  froh  wird,  sondern  in  ihm,  nocli  am 
Zweifel  zweifelnd,  verzappelt.  Dieser  Timon,  als  Erscheinung 
geringer  als  sein  Pathos,  ist  kompliziert,  aber  nicht  groB,  was 
kein  Fehler  ware,  wenn  er  nicht  mit  allem  Anspruch  der 
GroBe  sich  gebardete.  Wie  er  sich  zu  seinem  Schicksal  stellt, 
weckt  keine  Teilnahme,  weil  er  nicht  das  MaB  hat,  gegen 
ObermaBiges  zu  stehen.  Und  gefiihlhaft  kommt  er  dem  Zu- 
schauer  nicht  nahe,  weil  sein  Blut  durch  Abstraktionen  allzu 
sehr  verdiinnt  ist,  Bleibt  das  Interesse  am  Wort,  jnit  dem  er 
sich  und  die  Welt  kommentiert.  Bruckriers  Stiick  ist  ein  Hor- 
SpieL  Wir  horen  dem  Dichter  denken  zu,  was,  da  es  sich  um 
einen  ungewohnlichen,  in  einem  tiefern  Sinn  skeptischen,  gei- 
stig  nicht  geniigsamen  Kopl  -handelt,  eine  anregende,  manch- 
mal  auch  erregende,  aber  fiir  die  Dauer  eines  langen  Theater- 
abends  ermudende  Beschaftigung  ist.  Hier  sind  Vorgange  nur 
Vorwande:  fiir  dialektische  Obungen.  Das  vertragt  kein  Drama, 
sei  es  nun  ein  Drama  alten,  oder  neuen,  oder,  wie  der  „TimonM, 
gemischten  Stils.  Auf  viel  Probleme  wird  in  diesem  Stiick  Jagd 
gemacht  Hat  der  Dichter,  hinter  alien  her,  eines,  im  zwie- 
fachen  Sinn  des  Wortes;  gestellt,  so  laBt  er  es  bald  wieder,  um 
einem  andern,  das  lockend  auftaucht,  nachzusetzen.  In 
manchen  Szenen  des  Schauspiels  schlagt  der  Puis  starken 
Theaters.  Und  es  bewahrt,  sich  das  Brucknersche  Verfah- 
ren,  aus  einer  Legierung  von  alltaglichem  und  gesteigertem 
Wort  Sprachmiinzen  zu  pragen,  die,  ob  sie  nun  wertvoll  sind 
oder  nicht,  zumindest  so  klingen,  als  seien  sies,  Erstaunlich 
matt  ist  der  Humor  des  Spiels,  zumal  der  Witz  der  Gdtter- 
versammlung.  In  Bruckners  griechischem  Himmel  scheinen  sie, 
wie  Timons  empfindliche  Kostganger,  GrieB  in  der  Milch  at- 
tisch;  Gesalzenem  vorzuziehen, 

Simas  hart-trockene,  Giilstorffs  knifflige  Komik,  KayBlers 
Gemiits-  und  Wortwarme  sind  die  schauspielerischen  Aktiven 
des  Abends.  Oskar  Homolka  macht  den  Timon.  Er  ist  einlach, 
zuriickhaltend,  ohne  Krampf  und  Pose,  ein  klarer  Sprecher. 
Aber  er  ist  der  Figur  wesensfremd;  und  zu  sehr  schauspiele- 
rische  Individuality,  um  wider  seine  Natur  zu  konnen,  An- 
zumerken,  was  diesem  Timon  zum  Timon  fehlt,  hieBe  Eulen 
aus   Athen  tragen. 

176 


Auf  dem  NachttisCh  von  Peter  Panter 

VV/enn  ich  nicht  Peter  Panter  ware,  mochte  ich  Buchumschlag  im 
"  Malik-Verlag  sein.  Dieser  John  Heartfield  ist  wirklich  ein 
kleines  Weltwunder.  Was  fallt  ihm  alles  ein!  Was  raacht  er  fur  be- 
zauoernde  Dinge!  Eine  seiner  Photomoritagen  habe  ich  mir  rahmen 
lassen,  und  aufbewahren  mochte  man  sich  beinah  alle.  Der  Umschlag 
der  „Traumfabrik"  von  II  j  a  Ehrenburg  sieht  aus  wie  eine  vergoldete 
Cakesbiichse.  Da  sich  die  deutschen  Biicher  noch  nicht  wie  die  fran- 
zosischen  zu  einem  einheitlichen  Gewande  aufgeschwungen  haben, 
mufl  gesagt  werden:   bei  Maliks  werden  sie  am  besten,  angezogen. 

Die  „Traumfabrik"  ist  ejae  Chronik  des  Films.  Dieser  Ehrenburg 
ist  ein  merkwiirdiger  Mann/  Er  sitzt  da,  wo  heute  die  besten  Leute 
sitzen:  zwischen  den  Stiihlen.  Den  Russen  ist  er  ein  verfanglicher 
Halb-Burjui;  den  braven  Biirgern  gilt  er  als  anriichiger  Bolsche- 
wist.     Es  muB  also  etwas  an  ihm  sein.     Es  ist  auch  etwas  an  ihm. 

Fur  seine  Romane  kann  ich  mich  nicht  recht  erwarmen;  urn  so 
mehr  fur  die  Reiseschildeiungen,  mit  denen  er  grofi  und  klein  in 
alien  Landern  bereits  heftig  geargert  hat.  Lob:  seine  sentimentale 
Frechheit,  seine  unverschamte  Melancholie,  Tranenkriiglein  und  Na- 
senstiiber  und  im  ganzen  ein  Mann,  der  leidet,  wenn  andre  leiden,  Und 
der  es  sieht,  Und  der  es  sagt.  Tadel:  leichte  Unexaktheit.  Es 
stimmt  nicht  immer  alles.  Ich  mochte  nicht  nur  niedergedriickt  und 
erhoben,  bepredigt  und  erheitert,  ich  mochte  von  solch  einem  Reisen- 
den  auch  gut  informiert  werden,  Ich  kenne  von  ihm  Schilderungen 
aus  England,  die  ich  fin*  schief  halte,  bei  aller  Gradheit,  Hier  in  der 
Traumfabrik  ist  die  Gruhdmelodie  sicherlich  richtig  —  aber  vieles 
konnte,  muBte,  diirfte  exakter  sein.  Ist  die  ekelhafte  Szene  aus  dem 
Film  MAfrika  spricht"  ein  Trick  oder  ist  sie  es  nicht?  Dergleichen 
muB  man  ganz  genau  feststellen,  bevor  man  etwas  dartiber  sagt,  Das 
ist  nicht  leicht,  ich  weiB  es.  Aber  ohne  das  bleibt  sein  Lamento 
ein  Lamento.  Das  geniigt  nicht.  Auch  wirkt  die  gehetzte  Prasens- 
darstellung  durch  dreihundert  Seiten  etwas  monoton.  Der  Autor  gibt 
an,  es  in  zwei  Monaten  geschrieben  zu  haben.  Und  so  klingt  es  auch, 
Hopp  —  hopp  , . . 

Doch  stehen  gute  Kapitel  darin.  Die  Schilderung,  wie  die  Ehe- 
paare  vor  der  Erfindung  des  Kinos  gelangweilt  zusammensitzen  und 
iiberhaupt  nicht  mehr  wissen,  was  sie  sich  noch  erzahlen  sollen;  die 
Charakterisierung  der  Film-Moral:  „Finden  Liebende  einen  Pastor, 
ists  gut.-  Stiehlt  ein  Bosewicht  einen  Brillanten,  ists  schlecht";  solche 
blitzartigen  Einwiirfe  wie:  „Durchs  Radio  kann  man  gut  zureden"; 
verdichtete  Beobachtungen:  „In  Paris  ist  die  Luft  der  Lichtspielhauser 
dick  von  Tabaksqualm,  in  Berlin  von  geistiger  Anspannung";  und 
da  wo  Ehrenburg  wirklich  Informationen  gibt,  sind  sie  recht  auf- 
schluBreich,  So,  wenn  er  erzahlt,  daB  die  Ufa  wahrend  der  Rhein- 
land-Besetzung  regelmaBig  in  der  von  den'  Franzosen  herausgegebe- 
nen  tRheinischen  Rundschau'  inseriert  habe,  wahrend  die  andern  deut- 
schen Firmen  das-  Blatt  boykottierten  —  heiliger  Klitzsch,  was  sagst 
du  dazu! 

Und  was  Ehrenburg  uber  den  amerikanischen  Filmgeneral 
Hays  sagt:  da  lachen  die  Flundern!  Das  ist  nun  ganz  und  gar  herr- 
lich,  Welche  Bezeichnung  er  ihm  beilegt,  mogt  ihr  selber  nachlesen: 
er  vergleicht  ihn  mit  einem  Faktotum,  dessen  sich  die  frommen  Ju- 
den  am  Sonnabend  bedienen,  wenn  sie  kein  Feuer  anziinden  dtirfen, 
Dieser  Hays,  nach  Ehrenburg  auch  noch  ein  korruptes  Subjekt,  be- 
herrscht  druben  die  gesamte  Produktion;  er  statuiert  die  Moral,  er  setzt 
fest,  was  gegeben  werden  darf  und  was  nicht , , ,  man  sollte  vielleicht 
den  Film  doch  nicht  nur  asthetisch  betrachten.  Ein  von  der  Filmindu- 
strie  hochbezahlter  Selterwassertrinker  als  Oberzensor  —  pfui  DeibeL 
Ach,  wir  sind  ja,  so  freie  Schriftsteller!     Wie  ich  das  hier  in  Berlin 

177 


so  sagen  darf,  was  ich  iiber  den  Herrn  Hays  denkel  Dem  gebe  ichs 
aber  ordentlich.  Ja,  das  durfen  wir,  Denn  Hays  ist  gefahrlich,  un- 
sauber,  bigott  und  sehr  weit  entfernt. 

Jetzt  wollen  wir  Rudolf  Borchardt  vom  Nachttisch  herunterwer- 
fen  —  Fraulein  Nelly  kann  das  morgen  aufsammeln.  Da  habe  ich 
mir  auf  der  Riickseite  seiner  Broscbiire  ,, Deutsche  Literatur  im 
Kampfe  um  ihr  Recht"  ein  wimmelndes  Nest  von  Notizen  gemacht  — 
damit  kann  ich  aber  keinem  mehr  kommen,  Der  Unsterbliche  hat  hier 
wied«r  einmal  etwas  geschrieben,  das  schon  nach  vierzehn  Tagen  ver- 
schimmelt  ist.  Die  Vorwiirfe  stimmen  gar  nicht;  einen  Teil  hat  sein 
Yerlag  schon  zurucknehmen  miissen,  und  das  ganze  ist  lacherlich  auf- 
gepustet  Dieser  Borchardt  hat  in  geistigem  Sinne  etwas  von  einem 
Hochstapler  —  es  ist  mir  unhegreiflich,  wie  man  solchem  Epigonen 
eines  Nachahmers  aus  zweiter  Hand  auf  seinen  Kram  hereinf alien  kann. 
In  diesem  Heft  will  er  nachweisen,  dafi  der  gesamte  deutsche  Verlags- 
buchhandel  —  an  der  Spitze  die  Deutsche  Verlagsanstalt  in  Stuttgart  — 
sich  gegen  den  Erwerb  der  Verlage  Albert  Langen  und  Georg  Miiller 
durch  den  Deutschnationalen  Handlungsgehilfenverband  verschworen 
habe.  KeinWort  wahr,  oder  wohl  nur  ein  achtel.  Den  beiden  Verla- 
gen  ist  kein  Vorwurf  zu  machen,  es  ging  ihnen  nicht  gut,  und  sie  haben 
eine  Transaktion  gemacht,  wie  sie  jedem  erlaubt  ist,  um  so  mehr, 
als  sie  sie  ja  gar  nicht  verbergen.  Der  Verband,  dem  es  finanziell 
bisher  sehr  gut  ergangen  ist,  hat  den  Expansionsfimmel:  „Wir  haben 
eine  eigne  Licht-  und  Kraftversorgung  und  eine  eigne  Polizei  und 
eine  eigne  Feuerwehr , . ."  wir  kennen  diese  Melodie.  Die  also  legen 
sich  einen  Verlag  zu,  und  sie  werden.sich  wundern,  daB  das  Ge- 
schaft  zwar  nicht  ganz  schlecht,  aber  bedeutend  schlechter  gehn  wird, 
als  sie  sich  das  gedacht  haben.  Denn  die  nationale  Gesinnungslite- 
ratur  ist  nicht  sehr  reprasentativ  (was  die  Kliigeren  unter  den 
deutschen  Nationalisten  sehr  genau  wissen),  und  wer  soil  den 
Kram  kaufen?  Das  vermiekerte  Biirgertum,  fur  das  er  geschrie- 
ben wird,  hat  kein  Geld.  Borchardt  ist  eine  traurige  Nummer:  gegen 
die  Philister  von  links  eifert  er,  und  die  Philister  von  rechts  fafit  er 
mit  Samthandschuhen,  Vergebung,  mit  Stulpenhandschuhen  an.  Wir 
Ritter  tragen  Stulpenhandschuhe.  Der  Junge  hat  wahrscheinlich  eine 
Riistung  als  Nachthemd.  So  feierlich  mochte  ich  mich  auch  mal  neh- 
men.  Und  ich  will  ihn  ja  auch  gern  feierlich  nehmen.  Aber  nicht 
ernst. 

Inzwischen  ist  das  Heft  von  dem  loyalen  Verlag  Georg  Miiller 
aus  dem  Buchhandel  zuriickgezogen  worden.  Bei  jedem  andern  Autor 
entfiele  also  die  Kritik.  Bei  dem  da  mufi  man  keine  Riicksicht  neh- 
men —  wer  das  Maul  so  aufreifit,  dem  gehoren  ein  paar  Kartoffel- 
klofie   hineingeworfen. 

Ernst  Ottwalt  „Denn-  sie  wissen,  was  sie  tun"  (erschienen  im 
Maiik-Verlag  zu  Berlin).  Das  ist  eine  recht  beachtliche  Sache  — 
weniger  als  kunstlerische  Leistung  denn  als  gute  Hilfe  im  Kampf 
gegen   diese   Justiz. 

Mit  den  Mitteln  des  fruhnaturalistischen  Romans  wird  die  Lauf- 
bahn  eines  deutschen  Durchschnittsjuristen  geschildert.  Was  mir  ge- 
fallt,  ist:  dieser  Jurist  ist  kein  schwarzes  Schwein,  kein  wilder  Ber- 
serker, kein  besonders  bosartiger  Mensch  —  er  ist  das  Produkt  von 
Erziehung,  Kaste  und  System.  Es  ist  gut  gesehn,  wie  die  Radchen 
des  grdfien  Unrechtgetriebes  ineinandergreifen,  Akte  auf  Akte,  Para- 
graph auf  Paragraph,  die  Verantwortung  ist  in  unendlich  winzige 
Teile  zerteilt,  und  zum  SchluB  ist  es  keiner  gewesen.  Jakubowski? 
Wenn  die  Klage  eines  Landgerichtsrats  gegen  seinen  Hauswirt  mit 
derselben  Sorgfalt  gefuhrt  wiirde  wie  dieser  mecklenburger  ProzeB, 
der  um  Tod  oder  Leben  eines  ehemaligen  russischen  Kriegsgefangenen 

178 


ging  . . .  den  Landgerichtsrat  mochte  ich  schimpfen  horen.  Aber 
schliefilich  ist  ja  eine  Klage  urn  125,40  Reichsmark  eine  ernste  An- 
gelegenheit. 

Das  hat  Ottwalt  gut  begriffen,  Seine  Schilderungen  sind  noch 
flachig,  sie  haben  keine  Tiefendimensionen,  es  geht  alles,  klipp-klapp, 
wie  man  es  braucht;  Typen  sind  da  und  Argumente  und  Diskussio- 
nen  —  so  sind  jenef  jaf  ja#  so  sind  sie.  Aber  das  wird  nur  mitgeteilt, 
und  es  geniigt  nicht,  Ohne  Bosheit  darf  alien  diesen  Autoren  immer 
wieder  die  groBe  franzosische  Romanschule  empfohlen  werden:  sie 
werden  mir  das  hoffentlich  nicht  als  Aesthetentum  auslegen.  Wie 
etwa  ein  Gesellschaftsroman  Stendhals  aufgebaut  ist:  solcher  Tech- 
nik  soil  man  nacheifern.  Dazu  mu6  man  freilich  sehr  viel  wissen,  Und 
es  ist  so  eingeteilt;  die  Bescheid  wissen,  kdnnen  nicht  schreiben, 
wollen  nicht  schreiben,  diirfen  nicht  schreiben.  Und  die  schreiben, 
wissen  bestenfalls  etwas  Bescheid  Ich  bin  fur  das  Buch  von  Ottwalt 
und  seine  Verbreitung.    Es  geht  uns  alle  an. 

A.  W.  Just  „Mit  Ilsebill  freiwillig  nach  Sibirien"  (erschienen 
bei  Ernst  Pollak  in  Berlin).  Russisches  Reisebuch  mit  Bildern.  Der 
Verfasser  ist  Berichterstatter  der  ,K6lnischen  Zeitung'.  Der  Aufdruck 
besagt,  das  Buch  sei  aus  der  russischen  Psyche  geschrieben.  Das  ist 
nicht  ganz  rich  tig:  das  Buch  ist  aus  der  kolnischen  Psyche  her  aus  ge- 
schrieben. 

Nach  einem  auBerordentlich  groBmauligen  Vorwort  gehts  los.  Der 
Mann  kann  russisch,  kennt  RuBland  seit  langer  Zeit  und  kritisiert 
gar  nicht  einmal  dumm.  Man  hat  aber  den  Eindruck:  er  versteht 
nicht,  was  da  vor  sich  geht.  Dies  ist  nicht  etwa  gesagt,  weil  er  vor 
RuBland  nicht  auf  dem  Bauch  liegt  und  „0  Fiinfjahresplanf"  lallt, 
Aber  es  ist  nichts,  was  er  da  treibt.  Es  ist  der  mitteleuropaische 
Herr,  der  alles  auf  der  Welt  diskutierbar  findet,  nur  nicht  seinen 
eignen  Standpunkt.  Der  ist  ihm  so  selbstverstandlich;  er  kommt 
keinen  Augenblick  darauf,  dafi  grade  der  zur  Debatte  steht.  Von 
dem  vergilbten  Groschenhumor  schon  gar  nicht  zu  reden,  der  sich 
in  diesen  Reisebeschreibungen  entfaltet,  Der  Mann  muB  bei  seinem 
Verlag  sehr  beliebt  sein.     Aber  was  geht  uns  das  an  — ? 

Es  sind  auch  ein  paar  Photos  in  dem  Buch.  Mogen  Sie  noch 
gern  russische  Photographien  sehen?  Sie  haben  alle  zusammen  so 
wenig  Uberzeugungskraft.  Die  Russen  photographieren  uns  bei  Kie- 
penheuer  ihre  geftillten  Lebensmittel-Laden  vor,  und  drei  Meter  links 
und  drei  Meter  rechts  davon  sieht  es  vielleicht  ganz  anders  aus. 
Aber  dieser  hier  treibt  es  gar  sinnig:  MOben:  Behordenwohnungen  am 
Boulevard  in  Novosibirsk.  (Machtiger  Palast.)  Unten:  Menschen- 
wohnungen  im  Tal  der  Jelzowka  (armselige  Hiitten)".  Das  stammt 
aus  RuBland,  nicht  etwa  aus  .  Deutschland,  wo  es  so  etwas  gar  nicht 
gibt.  Ich  bekomme  immerzu  Biicher  fiir  RuBland  oder  gegen  RuB- 
land zu  lesen  —  jetzt  mochte  ich  bald  einmal  ein  Buch  uber  RuB- 
land zu  lesen  bekommen. 

„Physiognomik'\  Ausspruche  von  Anton  Kuh  (erschienen  bei 
R.  Piper  in  Munchen).  Zweiundzwanzig  Mai  furchtbar  gelacht;  drei- 
zehn  Mai  gelacht,  vierundvierzig  Mai  geschmunzelt,  manches  nur  ge- 
lesen.  Das  ist  wirklich  sehr  lustig.  Kuh  ist,  wie  manniglich  bekannt, 
ein  Sprechsteller  —  er  sagt  seins  besser  als  ers  schreibt,  Manches 
reicht,  teuerster  Kranz,  deri  ich  zu  vergeben  habe,  an  Lichten- 
berg  heran.  Zum  Beispiel  goldrichtig,  obwohl  in  fast  keinem  deutschen 
Roman  erfiillt,  dieses  Postulat:  „Die  Kunst  des  Romanciers  liegt  im 
okonomischen  Wechsel  von  Beteiligtheit  und  Unbeteiligtheit."  Manch- 
mal  ein  Mann  und  sein  Werk  in  zwei  Zeilen:  „Nicht  das  Schicksal, 
der  Denkvorsatz  furchte  Richard  Dehmels  Antlitz.  Er  war  Dionysos 
in   SchweiB."     Ein  eigentOmliches   Gewachs,     Ich  war   einmal   dabei, 

179 


als  A.  Kuh  franzosische  Parfum-Natncn  improvisierte.  Ich  habc  fast 
alle  vergessen,  aber  es  war  zum  Heulen.  Er  hat  die  sehr,  sehr  sel- 
tene  Mischung  von  Witz  und  Humor.  Schade,  daB  er  aus  Oesterreich 
ist.     Er  ware  aber  nicht,  wenn  er  nicht  aus  Oesterreich  ware. 


Sternchen;  weil  diese  Dame  gesondert  betrachtet  werden  muB. 
Eine  schreibende  Frau  mit  Humor,  sieh  mal  an!  Irmgard  Keun  «,Oilgi, 
eine  von  uns"  (erschienen  bei  der  Deutschen  Verlags-Aktiengesell- 
schaft  Universitas  in  Berlin).    Ungleich,   aber  sehr  viel  versprechend. 

In  der  ersten  Halfte  des  Btichleins  wimmelt  es  von 
ciselierten  Einzelheiten.  Schilderung  der  Fahrgaste  in  der 
StraBenbahn,  morgens:  „Keiner  tut  gern,  was  er  tut.  Keiner 
ist  gern,  was  er  ist."  Im  Bureau:  (,Warten  Sie,  sagt  Herr  Reu- 
ter, liest  jeden  Brief,  um  dann  mit  etwas  verlogener  Energie  seinen 
Namen  unter  das  getippte  Hochachtungsvoll  zu  hauen/'  Am  besten 
alle  Szenen,  in  denen  ein  Mann  vor  einer  Frau,  die  dieses  aber  gar 
nicht  gern  hat,  balzt.  Das  ist  beste  Kleinmadchen-Ironie.  f,Plotzlich 
uberkommt  ihn  das  Bedurfnis,  sich  ungliicklich  zu  ftihlen.  Seine  Ehe 
ist  ganz  und  gar  nicht  gut,  sein  Leben  ist  verpfuscht,  man  ist  ein 
alter  Trottel,  festgefahren  in  einem  Kramerberuf.  Er  arbeitet  mit 
Bitterkeit,  Selbstironie  und  leichtem  Pathos,  Bei;  ,man  mtiftte  mal 
raus  aus  all  em'  wirft  er  sich  in  die  Brust,  daB  die  Schulternahte 
krachen,  und  bestellt  anschlieBend  zwei  Likore."  Und  dann,  wirk- 
lich  eine  Pracht:  „Am  Sonntag  sitzen  Gilgi  und  Herr  Reuter  zusam- 
men im  Domhotel.  Gilgi  hat  das  Gefuhl,  zu  Abend  gegessen,  Herr 
Reuter  das  Gefuhl,  soupiert  zu  haben."  Und:  „Er  breitet  sein  In- 
nenleben  vor  ihr  aus  wie  eine  offene  Skatkarte."  Und:  „Gilgi  nimmt 
zur  gefalligen  Kenntnis,  hoflich  und  maBig  interessiert.  Hor  auf, 
nicht  so  viel  Lyrik,  paBt  nicht  zu  deinem  Pickel  am  Kinn.  Warum 
kann  man  nun  nicht  sagen:  gib  nichts  aus,  wenns  nichts  einbringt, 
steck  kein  Gefuhlskapital  in  ein  aussichtsloses  Unternehmen.  Kann 
man  nicht  sagen.  Armer  Alter."  Sehr  gute  Beobachtungen  von  der 
StraBe;  reizende  kleine  Einfalle,  was  eine  so  tut,  wenn  sie  mit  sich 
allein,  also  nicht  allein,  also  doch  allein  ist;  ein  Mal  eine  kleine 
Weisheit,  wie  es  im  Leben  zugeht:  „Auf  die  Arbeitgeber  ist  man  nun  mal 
angewiesen,  und  ganz  ohne  Matzchen  ist  ihnen  nicht  beizukommen. 
Konnen  allein  entscheidet  nicht,  Matzchen  allein  entscheiden  nicht  — 
beides  zusammen   entscheidet   meistens."      Hurra  1 

Wenn  Frauen  iiber  die  Liebe  schreiben,  geht  das  fast  immer 
schief:  sauer  oder  siiBlich,  Diese  hier  findet  in  der  ersten  Halfte 
des  Buches  den  guten  Ton.  t,Hiibsch  ist  das,  so  still  nebeneinander 
zu  liegen,  Man  denkt  sich  und  spricht  sich  nicht  auseinander,  man 
atmet  sich  zusammen...  Vorsichtig  tastet  sie  iiber  seinen  Schenkel: 
da  ist  die  Narbe  von  dem  Krokodil,  das  ihn  gebissen  hat.  Es  hat 
fast  etwas  Erhebendes,  neben  einem  Mann  zu  liegen,  der  in  Colum-  , 
bien   von   einem  Krokodil   gebissen  wurde." 

Wenn  Frauen  uber  die  Liebe  schreiben,  geht  das  fast  immer 
schief,  Diese  hier  findet  in  der  zweiten  Halfte  weder  den  richtigen 
Ton  noch  die  guten  Geftihle.  Da  langts  nicht.  Schwangerschaft, 
Komplikation ...  es  langt  nicht.  Dazu  kommt  eine  fatale  Diktion: 
was  reden  die  Leute  nur  alle  so,  wie  wenn  sie  grade  Freud  gefruh- 
stuckt  hatten!  Es  ist  der  Frau  Keun  sicherlich  nicht  bewuBt,  was  sie 
da  treibt,  und  eben  das  ist  das  schlimme,  daB  ihr  diese  „Komplexe" 
so  selbstverstandlich  erscheinen.  So  spricht  man  eben?  Nein,  so 
spricht  man  eben  nicht  —  es  ist  schauerlich. 

Flecken  im  Sonnchen,  halten  zu  Gnaden.  Hier  ist  ein  Talent. 
Wenn  die  noch  arbeitet,  reist,  eine  groBe  Liebe  hinter  sich  und  eine 
mittlere  bei  sich  hat  — :  aus  dieser  Frau  kann  einmal  etwas  werden. 

180 


Bemerkungen 


An  Herrn  Professor  Wagemann, 
den    Ei finder    des    Wagemann- 

Plans 
Cie  haben  geglaubt,  mit  dem 
^  alten  Trick  sich  aus  der  Af- 
fare  ziehen  zu  konnen.  So  wie 
Anno  1927:  als  damals  Ihr  Amt 
eine  Finanzstatistik  veroffent- 
lichte,  die  in  der  Offentlichkeit 
so  scharf  angegriffen  wurde,  dafi 
der  weiland  Reichswirtschafts- 
minister  Ciirtius  Ihr  Amt  in 
offener  Reichstagssitzung  des- 
avourierte,  erklarte  man,  Sie  hat- 
ten  infolge  Abwesenheit  von  Ber- 
lin (eine  Autotour  nach  Italien) 
die  Veroffentlichung  vor  Druck- 
legung  nicht  gesehen,  obwohl  Sie 
doch  in  den  entscheidenden  Ta- 
gen  schon  wieder  in  Berlin  se- 
gensreich    prasidierten. 

So  einfach  wird  es  diesmal 
nicht  gehn.  Auf  alien  Redak- 
tionsstuben  weifi  man,  dafi  die 
Einladung  zu  Ihrer  Pressekonfe- 
renz  langst  ergangen  war,  als 
die  ,(Indiskretion"  im  .Berliner 
Borsen- Courier',  der  ja  seit  eini- 
ger  Zeit  schon  Ihr  offizioses 
Hausblatt  geworden  zu  sein 
scheint,  passierte;  dafi  Sie  also 
in  herostratischer  Begierde  auf 
alle  Falle  mit  diesem  Sieben- 
monatskind  zur  Welt  wollten ! 
Warum  sollten  Sie  auch  nicht 
diese  einmalige  Konjunktur  nut- 
zen,  um  endlich  die  ersehnte 
Rolle  als  kleiner  Wirtschafts- 
diktator  zu  spielen?  Die  Gelegen- 
heit  war  giinstig.  Im  vorgesetz- 
ten  Wirtschaftsministerium  re- 
giert    der   gute    Schwager    Warm- 


bold  von  Gnaden  der  L  G.,  der  als 
glanzender  Prellblock  zu  ge- 
brauchen  war,  da  Briining  .  ja 
kaum  j  etzt  Ihretwegen  einen 
Krach  im  Kabinett  und  am  Pa- 
riser  Platz  riskieren  wiirde;  dann 
die  weitverbreitete  (und  vielleicht 
ktinstlich  noch  etwas  unter- 
sttitzte?)  Animositat         gegen 

Luther  und  die  Reichsbank,  die 
Sie  ja  vorher  so  glanzend  unter- 
richtet  haben;  und  dann  Geld- 
klemme !  Wer  sollte  sich  besser 
auf  Geldmachen  verstehen  als 
Sie?  Sind  Sie  nicht  seit  langer 
Zeit  Professor  fur  Geld-,  Bank- 
und  Borsenwesen  an  der  berliner 
Universitat?  Haben  Sie  nicht  ein 
von  der  Wissenschaft  fast  tot- 
geschwiegenes  Buch  iiber  Geld 
geschrieben?  Und  dann  Ihre 
praktischen  Erfahrungen.  Verwei- 
sen  Sie  doch  auf  die  Verbande 
und  Vereine,  die  Ihnen  beschei- 
nigen  konnen,  dafi  Sie  es  immer 
verstanden  haben,  durch  beschei- 
dene  Honorare  fur  Ihre  Vortrage 
ohne  Inflation  das  Geld  zumeh- 
renl  Oder  auf  den  Rechnungs- 
ausschufi  des  Reichstags,  der  viel- 
leicht iiber  Ihre  Nebeneinnahmen 
im  Institut  fur.  Konjunkturfor- 
schung  Auskunft  geben  kann! 
Weitere  Alibis  werden  Ihnen 
wohl  Ihre  treuen  Paladine  noch 
schaffen  konnen,  Herr  Pusch  und 
der  streng-arische  Herr  Eppen- 
stein,  Auf  Judenreinheit  werden 
Sie  wohl,  seit  Sie  fur  den  tLo- 
kal-Anzeiger'  und  die  ,Woche' 
schreiben,  noch  mehr  Wert  legen 
als  fruher. 


Was  wiirden  Sie 
von  einem  Menschen  halten? 

der  die  Halfte  und  mehr  als  die  Haifte  seines  Besitztums  brach  liegen  liefie, 
obwohl  er  die  ihm  so  entgehenden  Einkunfte  notig  brauchen  konnte.  ^ 
Wir  glauben  Ihre  Antwort  sicher  zu  kennen!  —  Wissen  Sie  aber  auch, 
dafi  Sie  genau  so  handeln?!  AUerdings  wissen  Sie  noch  nicht  um  Ihren 
noch  nicht  ausgenutzten  Besitz!  —  Wir  meinen  das  durchaus  ernst!  Sie 
selbst  werden  uns  recht  geben,  nachdem  Sie  die  Flugschrift  unseres  Verlages 
von  Dr.  jur,  Alfred  Kober-Staehelin :  „Weshalb  Bo  Yin  R&?"  gelesen  haben. 
Kostenfrei  durch  jede  Buchhandlung  zu  beziehen  oder  von  uns  direkt  zu 
verlangen.     Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig, 


/ 

Sie  beklagen  sich,  daB  man 
Ihnen  nicht'  iiberall  zugejubelt 
hat,  daB  Sie  sich  gegen  „Mifi- 
verstandnisse  und  Irrtumer" 
wehren  mussen.  Sicherlich  ist  da 
wieder  irgendwo  die  verdammte 
Clique,  von  der  Sie  sich  schon 
so  oft  bedroht  fiihlten,  und  die 
Ihnen  auch  jetzt  wieder  nach- 
stellt,  nur  weil  Sie,  wie  immer 
heroisch  und  martyrerhaft  un- 
abhangig  geblieben  sind,  und  sich 
ihr  nicht  gebeugt  haben.  Seien 
Sie  unbesorgt!  Auch  Herostrat 
ging  in  die  Weltgeschichte  ein, 
weil  er  eine  Stadt  angeziindet 
hat.  Ihr  Plan,  den  Sie  wie  alles 
mit  vielen  „Sachkennern"  und 
dem  ganzen  Ihnen  zur  Verfii- 
gung  stehenden  und  Ihnen  erge- 
benen  amtlichen  und  halbamt- 
lichen  Apparat  „beraten"  haben, 
wird  Sie  wissenschaftlich  unver- 
gessen  machen.  Lassen  Sie  durch 
Herrn  Eppenstein  verbreiten,  daB 
alles,  was  in  diesem  Plan  an- 
greifbar  und  anfechtbar  ist,  nicht 
von  Ihnen  stammt.  Das  kann 
schlieBlich  keiner  wissen,  wer 
bei  einer  Kameradschaftsarbeit 
dies  oder  das  zugesteuert  hat. 

Sie  haben  das  deutsche  Volk 
beglucken  wollen.  Es  ist  vorbei- 
gelungen.  Das  deutsche  Volk  lafit 
schon  gruBen. 

Hermann  Conring 

Welsche  Tucke 

Dank  meinen  geheimbundleri- 
schen  Beziehungen  ist  es  mir 
gelungen,  mich  in  den  Besitz 
eines  Exemplars  def  pariser  il- 
lustrierten  Wochenschrift  ,Voila' 
zu  setzen,  die  eine  Reportage 
fiber  Na-Zion,  das  Hitlerdeutsch- 
land,  bringt.  Interessenten  mogen 
sich  wenden  an  die:  Zentrale  zur 
Bekampfung  der  Oberreste  euro- 
paischer  Kultur,  Jiidischer  Fried- 
hof  Prag,  Graberreihe  A,  Geheim- 
fach.  Oder  auch  an  den  riachsten 
groBen  Zeitungskiosk. 

An  Berichten  iiber  das  Braun- 
hemdentum  herrscht  in  der  fran- 
zosischen  Presse  eine  Konjunktur 
wie  nie  zuvor.  Berichte,  die  als 
Sensationen  enthalten,  was  uns 
langst  grauer  All  tag  geworden 
ist,  als  Argumente  nichts,  was 
nicht    schon   durch    die    Dialektik 

182 


der  langen  Messer  spitzfindig 
widerlegt  ware.  Was  die  Mittei-. 
lungen  von  Pierre  Seize  in  ,Voila* 
auszeichnet,  ist  die  Anschauungs- 
form,  die  in  den  ersten  Satzen 
mit  einer  nicht  iiblichen  Deut- 
lichkeit  ausgesprochen  wird: 

„Kampf  gegen  Hitler  ist  Arbeit 
fin*  den  Frieden.  Mag  ein  Deut- 
scher  marxistische  oder  kapita- 
Hstische  Idole  anbeten,  ma  g  er 
sich  weigern,  die  Reparationen  zu 
zahlen,  den  Friedensbedingungen 
sich  zu  unterwerfen,  mag  er  sich 
zur  Lehre  Luthers  oder  zur  Lehre 
Roms  bekennen,  mag  er  sein 
Haupt  in  der  Synagoge  verhullen, 
mag  er  in  Prozessionen  singen, 
nicht  darauf  kommt  es  an,  son- 
dern:  wer  Hitler  bekampft,  kampft 
fur  die  Menschheit,  fur  die  Ruhe 
der  Mutter,  dafur,  daB  die  Ju- 
gend,  daB  die  Zivilisation  be- 
wahrt   werde  vor   Gemetzeln." 

Vielleicht  klingt  um  einige 
Grade  zu  pathetisch  dieser  Aus- 
spruch,  der  das  Teilchen  Hitler 
fur  das  Ganze  des  Weltchauvinis- 
mus  nimmt.  Von  Bedeutung 
bleibt:  in  einer  franzosischen  Zeit- 
schrift,  die  es  eher  mit  dem  Pa- 
triotentum  als  mit  der  Internatio- 
nale halt,  darf  gedruckt  werden, 
daB  nicht  Marxismus,  nicht  Be- 
kampfung kapitalistischer  Ab- 
machungen  so  gefahrlich  sei  wie 
volkische  Verhetzung.  Das  ist  ein 
groBer  Schritt  zur  Erkenntnis, 
nicht  die  Erkenntnis  selbst,  die 
lauten  miiBte: 

Frankreich,  sagt  Ihr,  pliindere 
Deutschland  durch  Reparations- 
forderungen  aus?  Deutschland 
drucke  sich  um  Schuldenbezah- 
lungen?  Nein!  Sondern:  Kon- 
kurrenzgruppen  konnen  sich  iiber 
die  Kapitalverteilung  unter  sich 
nicht  einig  werden.  Wo  nichts 
ist,  hat  vielleicht  der  Kaiser  sein 
Recht  verloren,  aber  der  Diktator 
alles  gewonnen. 

Ich  glaube,  es  war  die  gleiche 
Zeitschrift  .Voila',  die  vor  weni- 
gen  Monaten  eine  Bildreportage 
iiber  Elendssiedlungen  im  einst 
besetzten  Gebiet  veroffentlichte. 
Faulige  Tonnen  als  Behausung 
vielkopfiger  Familien,  als  Nest 
der  Tuberkulosekeime.  Weder  zu 
diesen  Armen  noch  zu  denen  des 


flandrischen  Industriegebiets  ist 
ein  Strahl  vom  Segen  des  Repa- 
rationsgeldes   gedrungen. 

Heillose  Verwirrung,  kunstlich 
aufgewiihlt,  urn  im  Triiben  zu 
fischen.  Und  nun  beschweren  sich 
noch  die  Herren  Angler,  dafl  die 
Goldfische  krepiert,  ein  paaf  Kro- 
ten  iibrig  geblieben  sind.  In 
Deutschland  ist  es  eine  braune 
Briihe,  in  Italien  eine  schwarze, 
klar  in  keinem  der  betroffenen 
Lander,  und  alle  tun  so,  als  ob  es 
urn  Rheingold  geht. 

Lest  noch  einmal  den  Satz  von 
Pierre  Seize.  Er.  scheint  eindeu- 
tig.  Aber  was  laBt  sich  nicht 
alles  herauslesen  in  diesem 
Sumpf  zwielicht !  Ein  Franzose 
gegen  die  Reparationszahlungen ! 
Oder:  Welsche  Angst  vor  Hitler! 
Oder:  Juda,  Frankreichs  letzte 
Hoffnung! 

Oder:  Bezahlte  Propaganda  fin- 
em     franzosisches      Blatt      (Post- 
scheckkonto  Prager  Friedhof). 
Waiter  Mehring 

Die  wahre  Internationale 

\7ierzehn  Tage  vor  Beginn  der 
"  Abriistungskonfereriz  feierte 
die  deutsche  Republik  die  ein- 
undvierzigste  Jahreswiederkehr 
der  Kaiserreichsgriindung.  Um 
den  Tag  so  darstellen  zu  kon- 
nen,  wie  sie  ihn  auffassen,  hat- 
teni  sich  auch  die  republikani- 
schen  Verbande  eisern  in  die 
teils  grime,  teils  goldene  Front 
der    Festgenossen    eingeschoben. 

Unter  andern  hatten  sich  die 
Liga  fiir  Menschenrechte  und  die 
Internationale      Frauenliga       fiir 


Frieden  und  Freiheit  zusammen- 
getan,  um  einige  hundert  in  den 
Spichernsalen  versammelte  Men- 
schen  zu  Forderungen  zu  veran- 
lassen,  die  diese  paar  Hundert 
ohnehin  schon  stellen.  Das  ist  lei- 
der  immer  so  und  nicht  die 
Schuld  der  genannten  Vereinigun- 
gen,  Wenn  ich  Diktator  ware,  ich 
wiirde  erstmal  jeden  Staatsbiirger 
zwangsweise  und  mit  Redeverbot 
in  die  Versammlungen  der  Gegen- 
partei  schicken  und  ihn  aufierdem 
zwingen,  wechselweise  die  Zeitun- 
gen  samtlicher  Richtungen  zu  le- 
sen;  die  Folgen  miifiten  unaus- 
denkbar  herrlich  sein.  Leider  bin 
ich  nicht  Diktator.  Aber  zuriick 
in  die   Spichernsale. 

Es  traten  dortselbst  auf  Man- 
ner und  Frauen,  Christen  und 
Juden;  alle  waren  Pazifisten,  und 
jeder  redete  seins.  Ein  wackrer 
Schulmann  bekannte,  dafl  er  sich 
einerseits  in  der  Vaterlandsliebe 
von  keinem  Wehrminister  noch 
Nazi  iibert  rump  fen  lasse,  andrer- 
seits  strenger  Pazifist  sei,  drit- 
tens  aber  sich  unter  keinen  Um- 
standen  hinter  die  Kriegsdienst- 
verweigerer  stelle,  indem  er 
wisse,  dies  sei  ein  Irrweg.  Nach 
ihm  erhob  sich  der  Vertreter  der 
Weltjugendliga  und  erklarte  un- 
gestort  den  strikten  EntschluB  der 
von  ihm  vertretenen  Jugend  zur 
Kriegsdienstverweigerung.  Und 
dann  kam  der  Hauptredner, 

Der  Hauptredner  war  eine  Frau, 

die  aus  Frankreich  kam  und  uns 

*viel  Schones  und  Trostliches  von 

driiben  berichten  konnte.     Leider 

ist    das   Hafiliche    und   Trostlose 


REIST  MIT  PETER  PANTER 
LEST:  EIN  PYRENAENBUCH 

11.  Tausend  •  Geheftet  M  5.—  ♦  Leinenband  M  7.50 

„Dieses  Pyrenaenbuch  ist  wirklidi  das  ReisebuA.  Kaum  eines  hat  mir  eine 
Landsdiaft  die  idi  nodi  nidit  kannte,  so  nahe  gebracht,  so  zum  Freunde 
gemadit  wie  dieses  Pantersche.  Das  kommt  daher,  dafi  es  nidit  gesdirieben, 
sondern  erlebt  ist."  8-Uhr-Abendblatt,  Berlin 


ROWOHLT   VERLAG   BERLIN 


W  50 

183 


noch  wichtiger.  Diese  Frau  nam- 
lich  sprach  "nehen  dem,  was  alle 
wissen,  auch  noch  von  dem,  was 
nicht  sehr  Vielen  bekannt  und 
von  diesen  zum  Teil  wieder  ver- 
gessen  worden  ist,  was  man  aber 
nicht  oft  und  breit  und  laut  ge- 
nug  sagen  kann,  Sie  sprach  von 
der  Internationale  der  Riistungs- 
industrie.  Geld  kennt  kein  Vater- 
land  - —  nicht  einmal  wahrend  des 
Krieges;  davon  ging  Marcelle 
Capy   aus. 

Die  Kriegsmilliarden,  sagte  sie, 
haben  dazu  gedient,  einen  para- 
sitaren  internationalen  Uberkapi- 
talismus  zu  schaffen,  der  die  Vol- 
ker  beherrscht,  seit  Jahren  einen 
Tanz  der  Spekulationen  auffiihrt 
und  in  Wirklichkeit  hinter  den 
Regierungen  regiert.  Kleiner  Be- 
leg  des  Oberkapitalismus:  1914 
gab  es  auf  der  Erde  zwanzig  Fa- 
milien  mit  mehr  als  500  Millionen 
Goldfranken  Vermogen;  heute 
gibt  es  zehnmal  so  viel,  und  die 
Zahl  derer,  die  mehr  als  50  Mil- 
lionen Goldfranken  besitzen,  hat 
sich  verdreiBigfacht.  In  U.S.A. 
haben  86  Familien  iiber  4  Millio- 
nen Dollar  Jahreseinkommen  und 
260  fiber  2  Millionen.  Ursache 
dieses  Uberkapitalismus  aber  ist 
die  Internationale  des  Rohstoff-  . 
handels,  die  ihren  Exponenten  in 
der  Rustungsindustrie  findet. 

Wahrend  des  Krieges  sah  das 
so  aus:  Krupp  brauchte  fur  die 
schweren  Artilleriegeschosse  Nik- 
kei, das  ihm  das  franzosische 
Nickelsyndikat  verkaufte;  das 
Nickel  wanderte  aus  Neu-Kale- 
donien  nach  Norwegen  und  von 
dort  nach  Deutschland.  Ahnlichen 
Werdegang  erlebte  das  Kupfer, 
bei  dem  sich  noch  die  englische 
Firma  Vickers  eingeschaltet 
hatte;      dafur     hatte     Krupp     an 


Vickers  ein  deutsches  Patent  ab- 
getreten,  nachdem  diese  die  Ziin- 
der  der  englischen  Granaten  her- 
stellten,  .und  die  englische  Flotte, 
die  am  Skagerrak  kampfte,  war 
mit  optischen  Instrumenten  aus- 
gestattet,  die  eine  deutsche  Firma 
wahrend  des  Krieges  geliefert 
hatte.  Am  eifrigsten  war  die 
dsterreichische  Munitionsfirma 

Skoda  am  Werke,  die  in  den 
Newski-Werken  Kanonen  fiir 
Rufiland  herstellte,  wohingegen 
in  den  Dardanellen  Franzosen 
und  Englander  im  trostlichen  Be- 
wuBtsein,  es  geschehe  durch  gute 
heimische  Ware,  den  Heldentod 
starben  —  Vickers  hatte  die  Tur- 
kei  ausreichend  mit  Minen  und 
Kanonen  beliefert.  Wahrend  des 
Krieges,  so  berichtete  der  Abge- 
ordnete  Chouffet  im  franzosischen 
Parlament,  arbeitete  in  der 
Schweiz  eintrachtig  das  Spreng- 
stoffkartell  samtlicher  feindlicher 
Lander.  Monate  lang  gingen 
aus  Sudfrankreich  ganze  Ziige 
mit  Schwefelkohlenstoff  mit 
der  harmlosen  Zielbezeichnung 
„Schweiz"  ab,  die  in  Wirklich- 
keit nach  Deutschland  geleitet 
wurden  und  nach  beendigter  Oxy- 
dation  als  Phosgen  zu  den  fran- 
zosischen Truppen  heimkehrten . . . 
Allein  im  Januar  1915  wanderten 
200  000  kg  Cyanit  von  Frank- 
reich  nach  Deutschland  zur  Ge- 
schofifabrikation,  und  der  Stachel- 
draht  von  Fort  Douaumont,  in 
dem  tausende  Deutscher  verblu- 
teten,  ist  Frankreich  einen  Mo- 
nat  zuvor  von  einem  deutschen 
Haus  geliefert  worden. 

Ist  es  nach  dem  Krieg  anders 
geworden?  Man  braucht  nur  an 
das  Abkommen  des  deutschen 
Chemiekonzerns  mit  dem  franzo- 
sischen  Kriegsministerium   zu   er- 


DAS  PRIVATLEBEN 

DER  SCHONEN  HELENA 

Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSGABE 

Helena  vertritt  die  Frau  von  Troja  bis  heute,  hinreiBend  und  gefShrtich  In  SchOn- 
heit,  Intuition  und  Oberzeugungskraft.  Der  Lebensphllosoph  Erskine 
glbt  in  dem  heiteren  Rahmen  dieses  Buches  seine  Ansloht  Ober 
Liebe  und  Ehe,  Konvention  und  Sitte  wieder. 

TRANSHARI  VERLAO  A..Q.,  BERLIN  W  10 

184     ~ 


Lelnen 

3.75  RM 


innern,  nur  an  den  Skandal  dcs 
amerikanischen  Nachrichtenagen- 
ten  Shearer,  der  durch  Be- 
stechung  die  Zweite  Seeabrii- 
stungskonferenz  zum  Scheitern 
brachte,  um  die  Antwort  auf  diese 
Frage  zu  wissen.  Die  internatio- 
nale  Riistungsindustrie  verhiitet 
.die  Annaherung  der  Volker,  die 
Verstandigung,  die  Abnistung; 
sie  ist  es,  die  die  Rohstoffproduk- 
tion  kontrolliert,  wichtige  Teile 
der  Presse  beherfscht  und  durch 
sie  HaO  und  Chaos  saen  laCt. 

Soweit  Marcelle  Capy,  Anatole 
France,  den  sie  zitierte,  sagt  da- 
zu:  On  croit  mourir  pour  la  pa- 
trie,  mais  on  meurt  pour  les  in- 
dustriels. 

Was  sagen  wir  dazu?  Wir  hor- 
ten  es  *  uns  mit  an.  Erstaunlicher- 
weise  durften  wir  es  uns  1932,  in 
Groeners  Berlin,  mit  anhoren  und 
sogar  Beifall  klatschen,  und  kei- 
ner  kam  und  loste  uns  auf.  Aber 
das  lag  wahrscheinlich  daran,  daB 
die     Rede     franzosisch     gehalten 

wurdc-  Hans  Glenk 

Paukerfilme 

Es  gab  in  der  letzten  Zeit  einige 
schone  Kulturfilme  zu  sehn: 
die  abenteuerlichen  Fischfangbe- 
richte  der  Metro-Goldwyn,  einige 
Tierfilme  der  Ufa  und  andres 
mehr,  Aber  daneben  bliiht  in 
alter  Unfrische  der  Kulturfilm, 
wie  er  nicht  sein  soil,  Besonders 
in  der  Geographie  sind  die  Herren 
schwach.  Da  rollen  die  blassen 
Wandelbilder  historischer  Statten, 
f,malerischer  Fleckchen",  piitziger 
Exoten  ab,  ein  Postauto  fahrt 
eine  unansehnliche  Serpentine 
empor,  ein  dralles  Madchen  in 
Tracht  schamt  sich  vor  der  Ka- 
mera,  mififarbenes  Gemauer  wird 
liebevoll  abgesucht,  Diese  Filme 
sind  wie  Fremdenfiihrer   fiir  alte 


Englanderinnen,  Das  Kinopubli- 
kum  liebt  sie  nicht.  Es  friBt  sich 
durch  sie  hindurch  wie  durch 
einen  Griitzewall,  um  ins  Schla- 
raffenland  der  Harry  Piel  und 
Lilian  Harvey  zu  gelangen.  Der 
Kinobesitzer  kummert  sich  in  die- 
sem  Fall  wenig  um  die  Unltfst 
seiner  Kunden,  Er  spielt  den  Film 
im  Vorprogramm,  weil  er  dann 
weniger  Lustbarkeitssteuer  zu  be- 
zahlen  hat.  Diese  Vergiinstigung 
verschafft  ihm  ein  padagogisches 
Konsortium;  der  Lehrfilmausschufi 
des  Zentralinstituts  fiir  Erziehung 
und  Unterricht,  geleitet  von  Herrn 
Doktor   Giinther. 

Dieser  AusschuB  hat  ein  gut 
Teil  Schuld  daran,  dafi  die  mei- 
sten  Kulturfilme  so  langweilig 
ausfallen.  Denn  wahrend  die  Pra- 
dikate  des  Voelger-Ausschusses 
eine  zwar  geschaftsfordernde, 
aber  doch  nicht  unbedingt  erfor- 
derliche  Pramie  fur  den  Film- 
produzenten  darstellen,  ist  der 
Lehrfilmschein  des  Giinther-Aus- 
schusses  fur  den  Kulturfilm  eine 
conditio  sine  qua  non,  Wird  er 
verweigert,  so  ist  der  Film  nahe- 
zu  unverkauflich. 

Der  Sinn  eines  Lehrfilms  kann 
es  nicht  sein,  den  Unterricht  zu 
ersetzen.  Sondern  er  soil  An- 
schauungsmaterial  bieten.  Ahnlich 
wie  ein  Besuch  im  Zoo  oder  im 
Museum.  Er  soil  das  Erlebnis 
des  unmittelbaren  Eindrucks  in 
die  Schulstube  tragen,  Nun  ist  es 
aber  eine  Frage  der  kiinstle- 
rischen  Form,  ob  ein  Film  diesen 
Eindruck  vermittelt  oder  nicht. 
Es  geniigt  nicht,  daB  der  Kamera- 
mann  eine  Weltreise  gemacht  hat. 
Der  schonste  indische  Tempel, 
das  seltsamste  Naturschauspiel 
bleibt  grau  und  gleichgultig,  wenn 
nicht  ein  Filmkunstler  an  der 
Arbeit    ist,    der  Gefiihl    fiir    fes- 


ADAM  UND  EVA 


Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSGABE 

Adam,  ein  wunderbarer  tolpatschiger  Bursche,  steht  Immer  wieder  verblUfft  vor  den 
Wandelbarkeiten  der  beiden  Frauen:  Lilith  und  Eva,  der  Geliebten 
und  der  grM8lich  Legltimen.    Altes,  was  zwischen  Mann  und  Frau 
existiert,  wird  in  diesem  gelstreichen,  witzigen  Buche  ausgesprochen. 


TRANSMARE  VERLAG  A.-0M  BERLIN  W  10 


Lelnen 


3.75  RM 


185 


selnde  Einstellungen,  fur  Bild- 
pointen,  fur  /demonstrative  Ka- 
merafuhrung,  fiir  lebendigen,  ele- 
ganten  Schnitt  hat.  Das  sind 
keine  asthetischen  Matzchen,  son- 
dern  dieseMittel  dienen  unmittel- 
bar  der  Sache.  Aber  die  Volks- 
bildner  mogen  das  nicht.  Lange- 
weile  gehort  fiir  sie  zur  Wiirde 
des  Unterrichts.  Der  warme 
Atem  der  Wirklichkeit  beunruhigt 
sie,  Und  so  fordern  sie  Filme,  in 
denen  alles  schon  *der  Reihe  nach 
heruntergedreht  ist,  Eine  unper- 
sonliche  Lander-  und  Volker- 
schau,  Distanz  zum  Objekt,  syste- 
matische  Aneinanderreihung,  lehr- 
reiche  Zwischentexte  (,, Schon  um 
750  n.  Chr.  siedelten  auf  diesem 
fruchtbaren  Schwemmland  die 
Normannen  unter  der  zielbewuB- 
ten  Fiihrung  ihres..."),  schema- 
tische  Aufnahmetechnik,  Solche 
Methoden  sind  fur  Atlanten  und 
Lehrbucher  am  Platze,  aber  mit 
diesen  kann  und  soil  der  Film 
nicht  konkurrieren.  Die  Herren 
Lehrer  wollen  ihn  dazu  zwingen. 
Sie  fallen  dem  Kiinstler  in  den 
Arm.  Er  soil  mit  seiner  Kamera 
umgehen  wie  der  Landmesser  mit 
dem  Theodoliten.  Ein  Beamter 
mit  dem  Mtitzenschirm  im 
Nacken.  Und  sie  fordern,  daB 
den  Kindern  die  Welt  sanft  und 
nicht  zu  haBlich  gezeigt  werde. 
In  der  Schulstube  soil  Ruhe  und 
Ordnung  seinf  auch  wenn  drauBen 
Gewalt,  Armut  und  Widersinn 
herrschen.  „Von  den  sonnigen 
Hohen  griiBt  ein  Kirchlein  munter 
zu  uns  herab."  Dies  und  nur 
dies  ist  fiir  den  Unterricht  er- 
wiinscht. 

Heinrich  Hauser,  der  hochbe- 
gabte  junge  Wort-  und  Bildkiinst- 
lerf  hat  es  gewagt,  seinen  Chi- 
cago-Film, der  ausgezeichnet  ist 
und  also  die  eben  skizzierten 
Forderungen  in  keiner  Weise  er- 
fiillt,  dem  Giinther-Ausschufl  ein- 
zureichen.     Hier  der  Erfolg: 

„WeIt8tadt  in  den  Flegeliahren." 
—  Unter  diesem  eigenartigen  Titel  will 
der  stumme  Bildstreifen  einen  Bericht 
Aber  Chicago  geben.  Gezeigt  wird  der 
Mississippi,  die  Urbarmachung  von 
UrwSIdern,  schwimmende  Gfiterzutfe, 
ein  Schleppzug,  Hochbahnen,  Seeschiffe 
und  eine  Reihe  andrer  Bilder,  die  in 
keinem  sinnvollen  Zusammenhang  zu- 
einander    stehen.     Dai   wirre  Durch- 

186 


einander  des  Ganzen  tst  ein  typisches 
Beispiel  daffir,  wie  ein  Lehrfilm  nicht 
sein  toll.  Eine  Anerkennung  all  Lehr- 
film konnte  tiberhaupt  nicht  erst  in 
Erw&gung  gezogen  werden.  Der  Aus- 
BchuB  sah  auch  nicht  die  Moglichkeit, 
einen  Weg  fur  eine  Verarbeitung  des 
vorhandenen  Bildmaterials  zu  einem 
den  Anforderungen  genugenden  Bild- 
streifen aufzuzeigen. 

Das  Papier  vibriert.  Den  Her- 
ren zittert  die  Lippe.  Der  Film 
wird  nicht  nur  abgelehnt,  nein,  er 
ist  eine  Zumutung,  ein  Tiefschlag 
in  die  edelsten  Weichteile  der 
Radagogik. 

In  Hausers  Film  steht  die  Stadt 
Chicago  nicht  als  femes  Schau- 
bild  vor  dem  Publikum,  sondern 
man  ist  mitten  in  der  Stadt,  rund- 
herum  ragen  die  Wolkenkratzer, 
Platzangst  erregend,  auft  die 
Autos  j  agen  dicht  vorbei,  und 
durch  das  Fenster  der  Hochbahn 
blickt  das  Auge  in  iramer  neue 
StraBenabgrtinde.  Amerika-Filme 
sind  nichts  Neues,  aber  kaum  je 
ist  es  einem  gelungen,  das  unmit- 
telbare  Gefiihl  fiir  die  spekta- 
kelnde  Unruhe,  das  Alpdruck- 
hafte  einer  solchen  Stadt  so  kraf- 
tig  wachzurufen.  Dem  Schulkind, 
besonders  dem  Kleinstadt-  und 
Landkind,  konnte  durch  diesen 
Film  der  Charakter  der  GroB- 
stadtzivilisation,  auch  der  zukiinf; 
tigen^  begreifiich  gemacht  werden. 
tfnd  Hauser  zeigt  als  Kontrast 
gegen  die  weiBstrahlenden  Mar- 
chenfassaden  die  Abfallhaufen: 
zerbrochene  Menschen,  herumlun- 
gernde  Arbeitslose,  zerfallende 
Autoleichen.  Er  zeigt  den  Men- 
schen  als  Teil  der  Maschine, 
er  zeigt,  wie  riesige  Maschi- 
nenteile  am  laufenden  Band 
iiber  einen  leeren  Hof  schwe- 
ben.  ohne  daB  steuernde 
'  Hande  zu  erblicken  waren,  und 
fragt;  HWo  ist  der  Mensch?"  Und 
er  zeigt  die  Menschen  zu  riesigen 
Haufen  zusammengerottet,  nicht 
nur  zur  Arbeit  sondern  auch  zum 
Vergniigen,  in  den  Strandbadern. 
Er  zeigt  spielende  Kinder  zwi- 
schen  Schmutz  und  Verbrechen. 
Hausers  Film  ist  nicht  sanft,  ist 
nicht  verbindlich  und  nicht  un- 
verbindlich  sondern  unhoflich  und 
ganz  klar  in  der  Stellungnahme. 
Keine  Sammlung  von  Kuriositaten 
und  reprasentativen  Palastfronten 
wie   der  Film   des  Oberingenieurs 


Dreyer,  der  selbst  in  den  went- 
gen  Bildern,  die  unversehens 
einenFunken  echt  amerikanischen 
Lebens  aufzucken  lassen,  nicht 
versteht,  das  Feuer  anzufachen, 
Weil  Dreyer  zwar  gut  sieht,  aber 
oberflachlich  denkt,  Dieser  Film 
hat  den  Lehrfilmschein  erhalten, 
Der  Hauserfilm  nicht;  denn  er 
zeigt  ein  Stiick  Welt,  und  die 
Welt  ist  heute  in  einem  Zustand, 
den  die  Padagogen  nicht  gern 
lehrreich  nennen. 

Rudolf  Arnheim 

Ein  Gesuch 

Hochzuverehrender  Herr 

Regierungsratl 

Gnadigster  Herr! 

Die  Zeit  ist  vorbei,  wo  ich 
mich  zu  deri  glucklichen  Men- 
schen  zahlte,  Mein  Unterhalt 
hangt  vollig  unglucklich,  da  ich 
als  zweitaltester  Landwirtssohn 
zur  Einstellung  in  die  Schutz  - 
polizei  abgewiesen  wurde.  Da 
das  Soldatenleben  mein  innigstes 
ist,  wiirde  ich  gezwungen  sein, 
mich  der  Fremdenlegion  zu  unter- 
ziehen. 

Ich  bin  fur  den  Polizeidienst 
bei  der  kommissararztlichen  Un- 
tersuchung  tauglich  befunden 
worden,  Habe  gute  Erfolge  im 
Boxen,  Handball  und  FuBball. 
Ich  bin  Neffe  des  ■ . .,  sodaB  ich 
echt  Deutscher  bin  und  kann 
wohl  sagen,  welches  Ungliick 
mich  betroffen  hat,  Ich  bitte  er- 
gebenst,  meinen  Antrag  gatigst 
zu  prufen,  urn  mich  zu  einem 
niitzlichen  Staatsdiener  heranzu- 
bilden.  Daher  richtet  der  ganz 
gehorsamste  die  ergebene  Bitte  an 
Allergnadigsten  Herrn  Regie- 
rungsrat,     mich     der     verfehlten 


Priifung,  noch ,  zu  prufen  gewah- 
ren,  dafi  ich  die  zufriedenstelle, 
und  damit  mein  sehnlichster 
Wunsch,  Schupozist  zu  werden  in 
Erfiillung  geht. 

Sollte  mir  diese  Bitte  nicht  ge- 
wahrt  werden,  so  werde  ich  der 
ungliicklichster  aller  Menschen 
sein, 

Ganz  gehorsamster 


Bildung 

Volkheit  —  das  ist  der  Begriff 
und  die  Einheit  jenes  Kor- 
pers  und  jener  Vielheit  Nation, 
die  nicht  aus  Urwahlern  besteht 
oder  aus  Zahlabendmitgliedern 
oder  aus  organisierten  Eisen- 
drehern,  so  wenig,  wie  nach  La- 
gardes  eindringlichem  Bild  ein 
Gemalde  Raffaels  etwa  aus 
Leinewand  und  Farbe,  sondern 
aus  der  organischen  Verbunden- 
heit  all  dieser  und  aller  ande- 
ren,  im  einzelnen  zu  Volk  und 
Volkheit  sogar  in  Widerspruch 
stehehden  Egoismen,  die  doch 
einander  verwandt  sind  durch 
die  Vereinigung  einer  ihnen  alien 
t,eigentumlichen  naturlichen 

Kraft   mit    einer   ihnen   alien   ge- 
nehmen  geschichtlichen  Aufgabe" 
Friedrich  Hussong 

Die  vorsichtlgen  Auvergnaten 

p  in  junger  franzosischer  Depu- 
*-*  tierter  der  bisherigen  Kam- 
mermehrheit  fragte  kurz  vor  der 
Neubildung  des  zweiten  Ministe- 
riums  Laval  einen  altera  Kolle- 
gen,  ob  er  glaube,  dafi  die  Zu- 
sammensetzung  des  neuen  Kabi- 
netts  Laval  dem  alten  gleichen 
werde.  Der  Befragte  lachelte 
malizios  und  erzahlte  die  fol- 
gende   Geschichte: 


DIE  ENTE 


DlelinksgerlchtetesatlrlscheWochenschrlftgegen 
Kulturreaktlon,  SpieBertum  und  Presse.  Aus  dem 
Inhalt  der  Nummer  4:  Die  Herren  Lachmann- 
Mosse,  Scheuermann  und  Alfred  Kerr  /  Der  Pfarrer 
von  St.  Pierre  /  Llterartsche  Bronnenverglftung  / 
Der   Papagel    der   Roten   Tltl    /    Frau  Christine. 


1 10  Pfennig 


II.  Jahrgang 


Bel  alien  Zeltungshandlern.  Probenummern  gratis 
vomVertag  der  ENTE,  Berlin  W  80,  Habertandttr.7. 


187 


„Ein    Auvergnate     macht    eine  Wendung 

Reise  auf  der  Eiscnbahn.  Im  Ab-  wriU  dir  [m  Leben  niAtlI  mehr  ^lin^en, 

teil  schlieBt  er  Bekanntschaft  mit  W  a],  aufier,  dich  seibst  um  die  Ecke  zu 

zwei      andern      Reisenden      und  e     .      '      ,       „    x.      _,  ,    ,  *»"»«*»• 

i  i»^i.     >i_  •  t»a«        cii  So  mmm  fur  den  gunstigen  Veilauf, 

schlagt    lhnen     eine    Partie    Skat  f0i?ende  Selbstmord-Methode  in  Kauf : 
vor.  Als  sein  Vorschlag  angenom- 

^ien     Wird,      Zieht     er     aUS     SCiner  Du  Iwnnst  sogar  dem  Gcwissen  wehren, 

*n        i  •  t   . .    .  *  <  und  bleichst  von  selber,  m  alien  hbren. 

Tascne  ein  verfettetes  und  zerris- 

SeneS    Spiel    Karten.  Klopf  erst  ens  bei  Bauchen  an  wegen  Brot : 

.Nehmen  wir  lieber  meine  Kar-  du  8tirbst  &  baldiges  Skelett  deinen  Tod. 

ten     sie    sind    noch    ganz    neu\  0der  S8?  als  «riumptes  Luder 

Schlagt    einer    der    Mitspieler    VOr,  zu  einem  Nazi:  ich  bin  dein  Bruder. 

,Nein,    nein,     mein    Herr.      Ich  Du  beim  letzten  Atemholen 

pilege  mien  nicht  in  Cjlucksspiele  den  f „«  auf  dein  Herz 

einzulassen',    entgegnet     entriistet  von  schneidigen  Sohlen. 

der  Burger  der  Auvergne."  Wi]Ut  du  legcr  „nd  in  ^itn  ±Tepitntlt 

lafi  dich  als  arbeitslos  inteivenieren. 

ESo  verrecken  aus  dem  Eff-Eff 

ineS  VormittagS  nach  der  Probe  Menschen  wie  Hunde  und  ohne  Geklaff. 
steht    Paul    Morgan    auf    der  ^  das  Mordg  gtem 

Strafie    vor    dem  Theater;    sieht,  asuf  dieDauer^u  unbeque'm? 
wie   zwei   Leute  ins  Theater  hin- 

eingehen     und     wie     kurz     danach  Dann  mufi  dir  dasnoch  im  Leben   zelinyen: 

drei  Leute  wieder   heraus  kommen,  de,nc  Morder  2U  b«WD«enI 

Und   verkundet;    MWenn    jetzt   noch  Wehre  dich  doch  und  schlagr  doch  zul 

einer  reingeht,  dann  ist  das  Haus  Dafur  lohnt  noch  das  Lebenl  dul 

leer!"  Margarete  Voss 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Diskusslonsgemelnschaft  poUtisch  Andersdenkender.  Dienstag  20.30.  Nollendorf-Kasino, 
Kleiststr.  41 :  Wen  wahlen  wir  in  PreuBen  7  Es  sprechen  die  Ffihrer  der  bekanntesten 
politiachen  Jugendgruppen  von  den  Nationalsozialisten  bis  zu  den  Kommunisten. 

Klub  der  Geistes'arbeiter  in  der  I.  A.  H,  Donnerstag  20.00.  Grapbischer  Block,  Encke- 
strafie  4.  (Schlaraffia-Sale):  Die  Technik  des  Fihnmanuskripts.  Es  sprechen;  Rudolf 
Atnheim,  Slatan  Dudow,  Wolf  Dtinc'ker,  A.  Kraszna-Krausz,  Heinz  Lfidecke,  Hein- 
rich  Oberlander,  Karl  Tolle. 

Becbsteinsaal.  Donne r8 tag  20.00.  Bernhard  Gtinther  (Cello)  und  Herbert  Trantow 
(Klavier)  spielen  Beethoven,  Reger.  Debussy,  Casella. 

Deutsche  Psych  oanalytische  Gesellschaft.  Freitag  20.00.  Breitkopf-Saal,  Steglitzer 
StraSe  35:  Freud  als  Kulturphilosoph,  Siegfried  Bernfetd. 

Individualpsychologische  Gruppe.  Montag  (8)  20.00,  Klubhaus  am  Knie,  Berliner 
Strafie  27:  Vom  Strafvollzug  und  seinen  Objekten,  Victor  Fraenkl. 

Gal  trie  Ferdinand  Moller,  Ltitzowuf  er  3.    Ausstellung;  W.  Kadinsky. 

Hamburg 

Weltbuhnenleser.     Freitag  20.00.    Timpe,  Grindelallee  10 :    Die  Verfassung  der  UdSSR 

im  Vergleich  zur  Weimarer  Verfassung  * 
Antimilitaristische  Arbeitsgemeinschaft.    Freitag  20.00.  Hotel  Heimst&tte,  Nagelswe?  10: 

Gibt  es  einen  w  irks  amen  Luftschutz?  Herbert  Busch. 

BOcher 

Wilhelm  Swienty:  Karl  Liebknecht.    Mopr-Verlag,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  21.10:  Der  Mensch  Nr.  17381,  H&rspiel  von  Leo  Lania.  -  Mlttwoch. 
Langenberg  18.05.  Die  Geltung  des  Buches,  Ernst  Rowohlt.  —  Muhlacker  2100  : 
Alfred  Mombert,  Arthur  Eloesser.  —  Donnersta?.  Berlin  t7.50:  Hanns  Erich  Ka- 
minski  liest.  -  18.50:  Marat,  Robespierre,  Danton  und  Saint- Just  als  Redner  und 
Agitatoren,  Valeriu  Marcu.  —  21.15:  Friedrich  Hebbel,  Alfred  Mfihr  und  Edlef 
Kfippen.  —  Breslau  23.05:  Zu  neuen  Zielen,  Ein  Lehrversuch  von  Bert  Brecht.  — 
Freit-*.  Breslau  18.00:  Alfred  Mombert  60  Jahre.  -  Hamburg  19.30:  Alfred  Motn- 
bert60  Jahie.  —  Leipzig  21.10:  Alfred  Mombert  60  Jabre.  —  Sonnabend.  Berlin  17.50: 
Oskar  Loerke  spricht  Ober  Alfred  Mombert  —  19.30:  Die  Erzahlung  der  Woche, 
Haiti  Gathmann 

188 


Antworten 


Fackelreiter-Verlag,  Berlin.  Wir  behandelten  hier  mehrmals  die 
Beleidigungsklage,  die  ein  ehemaliger  Unteroffizier  gegen  einen  Mit- 
arbeiter  des  ,KommunaIbeamten*  und  den  verantwortlichen  Redakteur 
des  Blattes,  Wilhelm  Soldes,  angestrengt  hatte.  Liiders  hatte  in 
seiner  Kritik  des  bei  Ihnen  erschienenen  Buches  von  Peter  Riss 
„Stahlbad  Anno  17"  sehr  scharfe  Worte  gegen  den  Durchschnittstyp 
des  Unteroffiziers  gebraucht,  und  ein  HimmelstoB,  der  sich  beleidigt 
fuhlte,  obwohl  er  gar  nicht  genannt  war,  stellte  Strafantrag.  Wahrend 
die  erste  Instanz  es  tatsachlich  fertig  bekam,  Liiders  und  Soldes  zu 
einhundert  Mark  Geldstrafe  zu  verdonnern,  kam  es  kurz  vor  der  Ver- 
handlung  in  der  Berufungsinstanz  zu  einem  Vergleich,  Die  Beklagten 
erklarten,  was  doch  ganz  selbstverstandlich  ist,  daB  sie  nicht  im  ge- 
ringsten  daran  gedacht  batten,  den  gesamten  Unteroffiziersstand  zu 
verletzen  und  am  allerwenigsten  den  Herrn  Privatklager.  Die  Komodie 
ist  damit  zu  Ende,  und  uns  will  scheinen,  als  seien  es  die  unfreund- 
lichen  Kommentare  der  Presse  gewesen,  die  den  angeblich  gekrankten 
Herrn  Unteroffizier  bewogen  haben,  sich  nicht  der  Lacherlichkeit  einer 
zweiten  Verhandlung  auszusetzen,  sich  vielmehr  vorher  mit  den  beiden 
Verklagten  zu  einigen. 

Republikaner.  Sie  konnen  nicht  so...?  Sie  hatten  Rucksichten 
zu  nehmen...?  Nehmen  Sie.  Aber  erwarten  Sie  dann  von  keiner 
eisernen  Front  etwas.  Der  Kampf  gegen  den  Fascismus  fangt  da  an, 
wo  er  geschaftsschadigend  wird.  Da  und  nur  da  entscheidet  es  sich, 
wie  ernst  es  Ihnen  mit  Ihrer  Gesinnung  ist.  Alles  andre  ist  nur 
Gesellschaftsspiel. 

Schauspieler.  In  den  letzten  Wochen  hat  sich  der  Club  der 
Biihnen-  und  Filmangehorigen  in  Berlin  ein  eignes  Schauspielerheim 
geschaffen,  das  Ihren  arbeitslosen  Kollegen  als  Aufentha'ltsort  dienen 
soil.  Viele  bekannte  Schauspieler  und  Schauspielerinnen  und  manche 
andern  Personlichkeiten  haben  sich  der  Sache  zur  Verftigung  gestellt, 
und  es  ware  alles  sehr '  schon  und  sehr  gut,  wenn  nicht  *  das  Organ 
Ihres  Verbandes  ,Der  Neue  Weg*  wieder  einmal  hineinreden  wollte. 
Wir  wollen  hier  gewiB  nicht  den  alten  Streit  aufwarmen,  der  auch 
bei  uns  im  vorigen  Jahr  von  beiden  Seiten  mit  groBer  Heftigkeit  aus- 
getragen  wurde  und  zur  Zeit  die  Gerichte  beschaftigt,  Aber  was  ,Der 
Neue  Weg'  sich,  ohne  die  Grundung  des  Heims  allerdings  zu  er- 
w&hnen,  gegen  dieses  Ieistet,  hat  nichts  mit  der  Art  zu  tun,  wie  man 
sachliche  Gegensatze  zwischen  Verbandsmitgliedern  ausficht,  von 
denen  die  einen  die  Macht  haben  und  die  andern  die  Verpflichtung 
in  sich  fuhlen,  fur  ihre  arbeitslosen  Kollegen  etwas  zu  tun.  Zuerst 
stellt  das  Organ  fest,  daB  die  Biihnengenossenschaft  durch  Freitische 
ungeheuer  viel  getan  habe.  So  weit  gut  und  anerkennenswert.  Aber  . 
dann  gehts  los:  das  damals  geschlossene  Heim  habe  Unsummen  ver- 
schlungen,  die  jetzt  den  Kollegen  direkt  zukamen,  man  brauche  auch 
gar  kein  besonderes  Heim,  denn  „die  21  Bezirksamter  verfugen  tiber 
geniigend  und  jetzt  im  Winter  gut  geheizte  Leseraume".  Wer  dies 
niederschrieb,  hat  anscheinend  noch  niemals  in  einem  solchen  gemein- 
schaftlichen  Leseraum  gesessen,  sonst  miiBte  er  wissen,  daB  das  Be* 
diirfnis,  mit  gleich  interessierten  Berufsgenossen  zu  diskutieren,  zu 
arbeiten,  sehr  berechtigt  ist.  Dies  ist  aber  noch  harmlos  gegenuber 
•  der  Tatsache,  daB  man  verklausuliert  dem  neuen  Heim  nachsagt, 
in  ihm  seien  politische  Versammlungen  und  Gliicksspiele  erlaubt. 
Furchtet  Ihr  Verband  eine  Konkurrenz,  dafi  er  zu  solchen  Verdach- 
tigungen  greifen  muB?  Findet  er  es  auch  besonders  geschmackvoll,  zu 
schreiben:  „Das  Eine  steht  fest,  die  jetzt  fur  die  Freitische  zur  Ver- 
fugung  gestellten  Gelder  kommen  restlos  und  direkt  den  Erwerbs- 
losen    zugute  und   nicht   gewissen   Leuten,  ^die   sich   damit  ihr   eigne* 

189 


Suppchen  kochen  mochten"?  Wir  sind  so  gutglaubig  anzunehmen, 
dafi  es  sich  hier  nur  urn  einc  schlechte  Formulierung  handelt.  Das 
Blatt  wollte  doch  nicht  Frau  de  Neuf  und  den  andern,  die  sich  urn 
das  Heim  bemuhten  und  bemiihen,  den  Vorwurf  machen,  sie  berei- 
cherten  sich  an  den  zur  Verfiigung  gestellten  Geldern?  Nicht  wahr? 
Ein  biBchen  mehr  Ritterlichkeit  im  gewerkschaftlichen  Kampf,  Ihr 
Herren;  uberlafit  den  politischen  Parteien  das  Monopol,  sich  durch 
anruchige  Vorwurfe  zu  ve  rung  limp  fen. 

Duisburger.  Eure  ,Rhein-  und  Ruhrzeitung'  schreibt  zur  Neu- 
einstudierung  von  „Don  Carlos"  im  Stadttheater;  .HDramaturgische 
Ktlrzungen  und  die  Zusammenziehung  auf  das  Wesentliche  beschleunig- 
ten  das  Tempo.  Nur  war  leider  das  ,Geben  Sie  Gedankenfreiheit' 
nirgends  zu  horen.  Fiel  es  aus  Versehen'  unter  den  Tisch,  oder  war 
das  Absicht?"  Wahrscheinlich  fallt  auch  Schiller  schon  unter  die 
Notverordnung. 

Felix  Longer.  Sie  schreiben:  „In  der  vorletzten  Nummer  der.Welt- 
buhne'  bringen  Sie  ein  Gedicht  ,Der  Ktimmerer*  von  Erich  Kastner. 
Ich  weifl  nicht,  ob  Ihnen  bekannt  ist,  dafi  ich  ein  Lustspiel  ,Der 
Ktimmerer'  geschrieben  habe.  Das  Stuck  wurde  1929  uraufgefiihrt. 
Ein  Jahr  zuvor  erschien  mein  Aufsatz  (betitelt  ,Der  Kiimmerer'),  der 
Wort  und  Begriff  glossierte  (und  sozusagen  literarisch  machte)  im 
,8-Uhr-Abendblatt'  und  den  ich  nachher  in  vielen  gleichbetitelten 
Aufsatzen  andrer  Autoren  wiedererkannte.  Die  Bezeichnung  .Kumme- 
rer'  ist  nicht  meine  Erfindung,  sie  ist  in  JWien  tiblich,  Ich  will  auch 
gern  annehmen,  daB  Erich  Kastner  mein  Stuck  nicht  kennt.  Da  aber 
sein  Gedicht  sich  in  den  darih  angeftihrten  Beispielen  von  Kiimme- 
rern,  sicherlich  unbewuBt,  an  die  von  mir  ein  wenig  popularisierte 
Definition  halt,  wie  sie  in  meinera  damaligen  Aufsatz  und  in  meinem 
Stiicke  zu  finden  ist,  mochte  ich  um  eine  Notiz  in  der  ,Weltbuhne* 
bitten,  die  mich  vor  dem  kurzen  Gedachtnis  der  Leser  ein  wenig 
schiitzt.  Erich  Kastners  Gedichte  haben  ihn  mit  Recht  zu  einem  Lieb- 
ling,  man  kann  sagen;  Star  (im  besten  Sinne)  gemacht.  Wenn  mor- 
gen  mein,  indessen  etwas  zuruckgeriicktes,  Stuck  wieder  auftaucht, 
heifit  es  im  Handumdrehen;  Das  hat  er  vom  Kastner  abgeschrieben. 
Deshalb  also  meine  Bitte,  diese  Zeilen  abzudrucken." 

Gorlitzer.  Sie  jammern  iiber  Ihre  Provinzpresse,  und  die  berliner 
Zeitungen  gefielen  Ihnen  auch  nicht?  Abonnieren  Sie  die  ,Neue  Zii- 
richer  Zeitung*  —  da  bekommen  Sie  ein  gutes  und  klares  Bild,  wie  es 
draufien  in  der  Welt  aussieht.  Vor  allem  werden  Sie  aus  diesem 
Blatt  einmal  sehen,  wie  Deutschlands  Position  nun  wirklich  ist. 

Raucher.  Von  den  Nummern  46  und  52  des  Jahrgangs  1929,  in 
denen  T.  H.  Tetens  zum  erstenmal  die  Geschaftsmethoden  der  deut- 
schen  Zigarettenindustrie  aufgezeigt  hat,  sind  noch  einige  Exemplare 
beim  Verlag  der  ,Weltbuhne*  zu  beziehen, 

Eifriger  Leser.  Sie  wollen  die  Broschure  tfDas  Geheimnis  des 
13.  Juli"  von  Hans  E.  Priester  lesen  und  kennen  den  Verlag  nicht. 
Sie  ist  bei  Georg  Stilke  in  Berlin  erschienen. 

Ktilner.  Auch  bei  Ihnen  hat  sich  eine  Ortsgruppe  der  „Jungen 
Volksbiihne"  gebildet.  Auskunft  erteilt  die  Geschaftsstelle  Koln, 
Krefelder  Str.  52  II. 

Mamukripts  sind  nur  an  die  Redaction  der  Weltbuhne,  Charlottenbury,  Kantstr.  162,  in 
ricfaten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizutegen,  da  const  keine  Rucksendun?  erfo'yen  kann. 
Das  Auf  f  ahrung-Brecht,  die  Verwertung  von  Tit  ein  a.  Text  im  Rahaten  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  tod  Radtovortragen 
bleiben  {fir  alia  in  der  WeltbOhne  erscheinenden  Beitraye  ausdrucklich  Torbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  beyrfindet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietxky 
ooter  Mitwirkuny  von   Kurt  TuchoUky  geleitet  —  Vemnt  wortlich :   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin  t 

Verlag  der  Weltbiihne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Chartottenburg. 

Tclcprion:  CI,  Steinplatz  7757.   —   Postschedtkonto :  Berlin  11958. 
Bankkonto:     Darmstadter    a.    NationsBank.       Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.    112. 


XXVItt.  Jatiff ang  9.  Febrnir  1932  Mummer  6 

Die  Krise  Wachst  von  Thomas  Tarn 

Wer  im  Friihjahr  1931  geglaubt  hatte,  daB  das  Tempo  der 
rCrisenverscharfung  nachlassen,  daB  sich  die  Produktion 
auf  einem  gewissen  Ticf  stabilisieren  wtirde,  ist  durch  die  Er- 
eignisse  im  letzten  Halbjahr  eines  Bessern  belehrt  worden. 
Resigniert  stellt  die  Reichskreditanstalt  in  ihrem  Bericht  an 
der  Jahreswende  1931/32  fest: 

Im  crsten  Halbjahr  schien  der  Ruckgang  der  Erzeugung  in  den 
Landern,  die  ihm  am  fruhesten  und  bisher  am  starksten  ausgesetzt 
waren,  Landern,  die  sich  als  besonders  konjunkturempfindlich  erwie- 
sen,  also  in  Deutschland,  den  iibrigen  mitteleuropaischen  Landern 
und  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  sich  zu  verlangsamen  oder 
aufzuhoren.  SaisonmaBige  Erholungen  vermochten  sich  starker  als 
bisher  durchzusetzen.  Die  Kapitalabziehungen  aus  Deutschland  und 
den  meisten  iibrigen  mitteleuropaischen  Landern  jedoch,  die  im  zwei- 
ten  Quartal  einsetzten,  haben  einen  neuen,  jahen  Abfall  der  Be- 
schaftigung  zur  Folge  gehabt.  Dieser  erneute  Konjunkturriickgang 
beginnt  mit  den  Schwierigkeiten,  die  der  Ingangsetzung  des  Hoover- 
planes  bereitet  wurden,  dem  daraus  entspringenden  Run  der  auslan- 
dischen  Glaubiger  auf  Deutschland  und  andre  kurzfristig  verschul- 
deten  Landern,  der  darauffolgenden  vorubergehendeh  SchlieBung  der 
Banken  und  der  Beschrankung  der  Auslandszahlungen  in  einer  groBen 
Reihe  von  Landern ...  Im  letzten  Vierteljahr  hat  sich  die  Abwarts- 
bewegung  zunachst  wieder  verlangsamt,  urn  zum  Jahresschlusse  zu 
einer  —  zum  Teil  saisonmaBig  bedingten  —  Produktionseinschran- 
kung  Platz  zu  machen. 

Der  scharfe  Ruckgang  der  Produktion  blieb  nicht  etwa  auf 
den  deutschen  Kapitalismus  beschrankt;  im  Gegenteil,  inter- 
national hat  die  Produktion  grade  der  entscheidenden  Schliis- 
selindustrien  ihren  Umfang  weiter  einschranken  mtissen.  Be- 
sonders deutlich  zeigt  sich  das  in  der  Schwerindustrie.  Wenn 
man  die  Eisenerzeugung  1913  mit  100  aussetzt,  so  betrug  sie 
im  Jahre  1929,  also  vor  der  Weltwirtschaftskrise,  fast  130.  Im 
Jahre  1930  noch  91,7,  im  ersten  Vierteljahr  1931  noch  72,1,  urn 
bis  November  auf  50,1  zurtickzugehen,  Jetzt  macht  sie  nicht 
mehr  die  Half te  der  Vorkriegsproduktion  aus.  Gegenuber  1929 
ist  in  Deutschland  die  Roheisenproduktion  auf  ein  reichliches 
Drittel  heruntergegangen;  in  den  Vereinigten  Staaten  betragt 
sie  nicht  einmal  mehr  ein  Drittel,  und  dieser  riesenhafte  Ruck- 
gang ist  ja  nur  symptomatisch  fur  die  katastrophale  Lage,  in 
der  sich  die  Schwerindustrie  der  ganzen  Welt  befindet.  Damit 
geht  die  auBerordentlich  ansteigende  Kurve  der  Arbeitslosig- 
keit  parallel.  Die  deutschen  Ziffern  sind  bekannt  genug.  We- 
sentlich  ist  aber,  daB  auch  die  Lander,  die  sich  bisher  einen 
gewissen  Oasencharakter  erhalten  hatten,  wie  zum  Beispiel 
Frankreich,  immer  starker  in  die  Krise  einbezogen  werden. 
Auch  in  Frankreich  nimmt  die  Arbeitslosigkeit  standig  zu. 
Dreiviertel  Millionen  Vollarbeitslose,  zweieinhalb  Millionen 
Kurzarbeiter,  das  zeigt,  wie  stark  auch  dort  bereits  der  Ruck- 
gang der  Produktion  ist,  denn  wir  nnissen  bei  der  Beriicksichti- 
gung  der  absoluten  Zahlen  bedenken,  daB  Frankreich  mehr 
als   anderthalb    Millionen   fremde   Arbeiter   aufgenommen  hat, 

1  191 


die  es  nunmehr  abzuschieben  sucht,  daB  aber  auch  sein  Cha* 
rakter  als  Kleinbiirger-,  Kleinbauer-,  Kleinstadter-Land  nicht 
solchc  Arbeitsiosigkeit  aufkommen  lafit  wic  in  den  groBen  In- 
dustrielandern. 

Die  Arbeitslosenzahlen  in  den  Vereinigten  Staaten  wer- 
den hoch  immer  nicht  publiziert,  die  amtlichen  Stellen  wissen 
warum.  Denn  eine  exakte  Statistik  wiirde  die  ganze  Welt  in 
Aufruhr  bririgen.  Man  wird  nicht  zu  hoch  greifen,  wenn  man 
die  amerikanische  Arbeitsiosigkeit  zur  Zeit  mit  10  bis  11  Mil- 
Uonen  einschatzt.  Wenn  man  namlich  die  Zahl  der  Beschaf- 
tigten  von  1929  mit  100  ansetzt,  so  ist  der  Riickgang  des  Be- 
schaftigungsgrades  ungefahr  ebenso  groB  wie  in  Deutschland, 
wie  auch  der  gesamte  Riickgang  der  Produktion  ungefahr  dem 
der  deutschen  entspricht.  Wir  naben  in  Deutschland  zur  Zeit 
fast  sechs  Millionen  Arbeitslose.  Die  Vereinigten  Staaten,  deren 
Bevolkerung  fast  doppelt  so  groB  wie  die  deutsche  ist,  wer- 
den  daher  eine  Arbeitsiosigkeit  haben,  die  ungefahr  die  dop- 
pelte  der  deutschen  betragt.  Besonders  bemerkenswert  ist,  daB 
grade  in  Deutschland,  wo  die  Preissenkungsaktionen  mit 
solchem  Tamtam  in  Szene  gesetzt  werden,  die  Preise  weit 
weniger  ge  sunk  en  sind  als  in  den  andern  hochkapitalistischen 
Landern,  obwohl  man  dort  keine  Notverordnungen,  keinen 
Preiskommissar  hat.  Die  Reichskreditanstalt  bringt  dafiir  sehr 
instruktives  Material  Wenn  man  die  Preise  fur  1913  mit 
100  aussetzt,  so  betrugen  sie 

1929      1930  1931 

Sept        Okt.      Nov. 
in  Deutschland  137,2        124; 6      108,6    107,1     106,8 

in  England  136,5        119,5        84,0      83,6  .    81,9 

in  den   Vereinigten    Staaten  138,3        123,8        99,0      98,0 

Sowohl  in  England  wie  auch  in  den  Vereinigten  Staaten 
ist  also  die  Preissenkung  weit  starker  als  in  Deutschland;  und 
die  Grtinde  liegen  auf  der  Hand,  Mit  ihrer  agrarischen  Schutz- 
zollpolitik  hat  die  Briiningregierung  grade  die  Preise  jener  Pro- 
dukte  stark  verteuert,  die  fur  den  Haushalt  der  breiten  Mas- 
sen  schlechthin  entscheidend  sind. 

Mit  dem  Riickgang  der  gesamten  Weltproduktion  ist  ein 
Riickgang  im  gesamten  WeltauBenhandel  verbunden.  Sein 
Umfang  ist  nicht  nur  wegen  des  Riickgangs  der  Preise  sondern 
auch  wegen  des  Riickgangs  der  Warenmengen  stark  ein- 
geschrumpft.  Der  WeltauBenhandel  stent  bereits  unter  dem 
Niveau  der  letzten  Vprkriegsjahre.  Aber  trotzdem  ist  ein  sehr 
bemerkenswerter  Umschlag  eingetreten,  dessen  Wichtigkeit 
grade  fur  die  weitere  Entwicklung  in  Deutschland  schwer 
uberschatzt  werden  kann.  Der  Riickgang  in  der  ganzen  Pro- 
duktion ist  weit  groBer  als  der  im  AuBenhandel,  und  daher 
haben  wir  ganz  international  festzustellen,  daB  der  Anteil  des 
AuBenhandels  an  der  Produktion  bedeutend  gestiegen  ist.  Diese 
Steigerung  des  Anteils  gilt  in  besonders  starkem  MaBe  fur 
Deutschland.  Denn  die  deutsche  Ausfuhr  hat  sich  in  der  Krise 
weit  besser  gehalten  als  die  Ausfuhr  der  iibrigen  Lander. 
Ging  der  Erlos  fur  die  deutsche  Ausfuhr  1931  gegeniiber  1929 
urn  28,8  Prozent  zuriick,  so  der  der  englischen  um  46,8  Prozent 
und   der    der    amerikanischen  um  53,5  Prozent.    Der  deutsche 

192 


AuBenhandel  hat  dahcr  in  der  Krise  nicht  nur  den  englischen 
iiberfliigelt  sondern  in  letzter  Zeit  auch  den  amerikanischen.  In 
der  Konjunktur  betrug  der  Antcil  des  deutschen  AuBenhandels 
an  der  Produktion  etwa  25  Prozent,  in  der  Krise  ist  er  er- 
heblich  groBer  geworden.  In  manchen  Industriezweigen  be- 
tragt  er  bereits  50  Prozent,  in  manchen  liegt  er  noch  dariiber. 
So  heiBt  es  zum  Beispiel  tiber  die  Maschinenindustrie  im  Be- 
richt  der  Reichskreditanstalt: 

Die  Maschinenindustrie  unterlag  einer  ahnlichen  Entwicklung  wie 
die  Eisenindustrie:  Kern  weiterer  Riickgang  mehr  in  der  ersten  Jah- 
reshalfte,  neues  starkes  Absinken  seit  der  Jahresmitte.  Der  Auf- 
tragseingang  aus  dem  Inlande  betrug  im  November,  dem  letzten  Mo- 
nat,  fur  den  Ziffern  bekannt  sind,  ein  Viertel  des  durchschnittlichen 
Auftragseinganges  aus  dem  Inlande  wahrend  der  Jahre  1927  bis  1929, 
. . .  Auf  die  Ausfuhr  entf alien  jetzt  zwei  Drittel  des  gesamten  Ab- 
satzes, 

Diese  groBe  Steigerung  ist  darum  so  bemerkenswert,  weil 
sie  die  vollige  Scharlatanerie  aller  der  Plane  aufdeckt,  die 
die  Oberwindung  aus  der  heutigen  Not  von  einer  starkern 
Autarkie  erwarten  und  dies  grade  an  dem  Zeitpunkt,  wo  bei 
einer  Stagnation  der  Ausfuhr  ganze  Industriezweige  vollig  still- 
gelegt  werden  miiBten. 

Im  ganzen  Jahre  1931  hat  sich  die  Produktionskrise  wei- 
ter  vertieft,  und  daraus  ist  sie  immer  mehr  eine  Krise  der  Ban- 
ken,  der  Finanzen,  der  Wahrung  geworden,  Auf  die  Lander, 
die  sich  vom  Goldstandard  gelost  haben,  fallt  mehr  als  die 
Halfte  des  Welthandels.  Und  die  Antwort  der  kapitalistischen 
Staaten  auf  die  weitere  Zuspitzung  ist  nicht  etwa  der  Versuch 
zu  gemeinsamen  solidarischen  Aktionen,  sondern  die  starkere 
ge^enseitige  Abschniirung,  der  zunehmende  Handelskrieg.  Je 
geringer  die  Ventile  zur  Kriseniiberwindung  wirkeri,  desto  er- 
bitterter  geht  der  Kampf '  um  jede  einzelne  Chance.  Die 
Reichskreditanstalt  —  die  wir  hier  zitieren,  weil  sie  die  Tat- 
sache  richtig  darstellt,  ohne  naturlich  eine  Erklarun,g  geben 
zu  diirfen  —  bemerkt  hierzu: 

Die  Schwierigkeiten  jedoch,  die  seiner  Ingangsetzung  (der  des 
Hooverplans)  bereitet  wurden,  liefien  die  Hoffnungen  auf  die  Zusam- 
menarbeit  in  fast  alien  Landern  schwinden,  weckten  die  Furcht,  daB  es 
vorlaufig  weniger  als  je  moglich  sein  werde,  die  politischen  und  sozia- 
len  Spannungen  zu  losen.  Sie  wurden  der  Ausgangspunkt  einer 
neuen  Politik  des  ,Rette  sich,  wer  kann',  die  rucksichtsloser  und 
hemmungsloser  war  als  zuvor,  einer  Politik,  die  keine  andre  Folge 
haben  konnte,  als  es  dem  Schuldner  erst  recht  unmogHch  zu  machen, 
seinen  Verpflichtungen  nachzukommen.  Voriibergehende  SchlieBung 
der  Banken  in  mehreren  Landern,  iiberall  Zusammenbruch  und  Stut- 
zung  einer  groBen  Anzahl  von  Geldinstituten,  Kontrolle  des  Devisen- 
verkehrs,  Borsenschliefiungen,  Stillhaltungsabmachungen,  Zollerhohun- 
gen,  Einfuhrsperren,  Kundigung  von  Handelsvertragen,  Drohungen 
mit  Beschlagnahme  von  Privatvermogen  und  Drohungen  mit  Gegen- 
mafinahmen,  Wahrungsentwertungen  in  vielen  Landern  folgten  ein- 
ander.  Alle  diese  MaBnahmen  konnten  zunachst  nur  die  Wirkung 
haben,  die  Erregung  und  die  Gegensatze  zu  steitfern  und  die  Aus- 
nutzung  der  Produktionseinrichtungen  und  den  Warenaustausch  zu 
erschweren. 

Seit  diesem  Bericht  ist  der  Handelskrieg  nicht  abgeflaut. 
Die   internationale   Finanzkrise   nimmt   zu.     Im   Baseler   Aus- 

193 


schufi  wurde  erklart:  wenn  hier  nicht  bald  cine  Anderung  ein- 
trete,  stehen  Katastrophen  bcvor.  Mit  dicser  Perspektive 
gingen  wir  in  das  Jahr  1932.  Es  ist  nicht  damit  zu  rechnen,  daB 
die  internationale  Produktionskrise  gebremst  werden  konnte. 
Dariiber  sind  sich,  liber  die  Kreise  der  Sozialisten  hinaus,  die 
vorgeschrittensten  Vertreter  der  biirgerlichen  Wissenschaf t 
einig.  Bei  seinem  Vortrag  im  hamburger  Obersecklub  sagte 
Keynes; 

Die  dringendsten  Problemc,  urn  deren  Losung  sich  die  Welt  heute 
muht,  unterscheiden  sich  wesentlich  von  dehen  des  Vorjahres. 

Damals  handelte  es  sich  um  die  Frage,  die  akute  Stockung,  in 
die  wir  hineingeraten  waren,  zu  uberwinden  und  die  Produktion  und 
den    Beschaftigungsgrad   wieder   auf   einen   Normalstand    zu   bringen. 

Heute  aber  besteht  die  Hauptaufgabe  darin,  eine  tiefgreifende 
und  umfassende  finanzielle  Krisis  zu  vermeiden.  Es  besteht  jetzt 
keine  Moglichkeit  mehr,  in  kurzer  Zeit  ein  normales  Produktions- 
niveau  zu  erreichen;  unsre  Bemuhungen  sind  auf  die  Erreichung 
eines  minder  hohen  Ziels  gerichtet.  Sind  wir  in  der  Lage,  einen  fast 
vollstandigen  Zusammenbruch  der  f inanziellen  Struktur  des  moder- 
nen  Kapitalismus  zu  verhindern?  Man  fangt  an,  nachdenklich  und 
zweifelhaft  zu  werden,  wenn  man  sieht,  daB  wir  keine  f inanziellen 
Fuhrer  mehr  haben,  und  daB  an  den  verantwortlichen  Stellen "  ein 
tiefes  Verkennen  der  Ursachen  und  Heilmittel  besteht,  Auf  jedcn 
Fall  wird  kaum  jemand  bestreiten,  daB  das  Vermeiden  des  finanziel- 
len  Zusammenbruches  und  nicht  die  Ankurbelung  industrieller  Tatig- 
keit  heute  die  Hauptsache  ist  Der  Wiederaufbau  der  Industrie  ist 
an  die  zwelte  Stelle  geruckt. 

An  diesen  Ausfiihrungen  von  Keynes  ist  das  letzte  ent- 
scheidend,  daB  er  den  Wiederaufbau  der  Industrie  im  Jahre 
1932  fur  unmoglich  halt.  Wenn  aber  der  Umfang  der  Pro- 
duktion weiter  abnehmen  wird,  dann  wird  auch  die  Finanz- 
krise  weiter  zunehmen,  und  das  Jahr  1932  wird  nicht  unter 
der  Perspektive  der  Liquidierung  stehen,  sondern  unter  der 
Perspektive  des  Handelskrieges  und  dariiber  hinaus  der  im- 
perialistischen  Spannungen.  Der  Raubzug  der  Japaner  in  die 
Mandschurei  ist  nur  ein  Symptom.  Imperialistische  Kriegs- 
gefahr  droht.  Eine  nationalistische  Welle  geht  durch  die 
ganze  Welt,  die  Ideologien  vom  4.  August  1914  linden  im- 
mer  starkere  Verbreitung. 

Aber  der  Unterschied  gegeniiber  1914  ist  ein  ganz  ge- 
waltiger.  Die  Arbeiterklasse  streift  immer  mehr  die  reformi- 
stischen  Illusionen  ab.  Die  Krafte,  die  gegen  den  imperiali- 
stischen  Krieg,  den  Fascismus  und  die  Konterrevolution  die 
tinke  organisieren,  sind  im  Wachsen.     Sie  gilt  es  zu  starken. 

Der  President  von  Kurt  Huier 

Nimmer  sich  beugen, 
Kraftig  sich  zeigen, 
Rufet  die  Anne 
Der  Gotter  herbei. 

TPakt  und  eine  Notverordnung  verbieten,  des  bfeitern  darzu- 

legen,  warum  der  Generalfeldmarschall,  welcher  „die  deut- 

schen  Waffen  siegreich  in  ferne  Lander  trug"  (mit  den  Worten 

des    Sahm-Ausschusses:    einen  Tag    vor    Eroffnung    der  Ab* 

194 


riistungskonferenz),  unsereinem  nicht  geeignet  scheint,  die 
Nation  zu  fiihren.  Was  vor  sieben  Jahren  gait,  gilt 
weiter;  interessierte  Leser  mogens  in  Heft  XXI/19  der  ,Welt- 
buhne'  nachlesen.  Sic  werden,  ibei  der  Gelegenheit,  fest- 
stellcn  konnen,  daB  alle  Prophezeiungen,  die  ich  damals  wagte, 
die  bosen  wie  die  guten,  exakt  eingetroffen  sin-d  (dafi  ich  nur 
in  einem  Punkte  blamiert  bin:  seliges  Vertrauen  zu  Joseph 
Wirth);  und  sie  werden  im  Zuge  jener  Betrachtungen  auch  den 
Satz  finden: 

Was  heute  vor  sich  geht,  das  sctzt  nicht  Wilhelm  dem  Zweiten 
noch  Wilhelm  dem  Dritten,  aber  All  em  die  Krone  auf,  was  an  „re- 
publikanischer"     Schlappschwanzig  keit  seit   1918  geleistet  wurde. 

Dieser  Satz,  glaube  ich,  trifft  die  gegenwartige  Situation  erst 
recht.  Wahrend  die  Republikaner  von  1925  dem  Marschall 
immerhin  einen  untauglichen  Kandidaten  entgegenstellten  (das 
Mannchen  W.  Marx),  stellen  ihm  die  von  1932  uberhaupt  kei- 
nen  entgegen  —  eine  wahre  Orgie  der  Selbstentmannung!  Die 
Unterlassung  geschieht  aus  Furcht,  durch  eine  Gegenkandi- 
datur  dem  Ultrarechten  zum  Siege  zu  verhelfen,  dem  Erkorenen 
der  Hitlerpartei,  womaglich  Adolf  selber.  Ganz  ahnlich  wie 
vor  sieben  Jahren  —  wo  man,  vor  dem  zweiten  Wahlgang, 
Otto  Braun  zuruckzog,  aus  Furcht,  durch  dessen  Kandidierung 
gegen  W.  Marx  dem  Marschall  zum  Sieg  zu  verhelfen.  Er 
siegte  dennoch!  Damals  die  Angst  vor  dem  groBen  Schnurr- 
bart,  diesmal  vor  dem  kleinen.  Die  Mittelchen  helfen  nicht. 
Feiger  Gedanken  bangliches  Schwanken,  weibisches  Zagen, 
angstliches  Klagen  wendet  kein  Elend,  macht  dich  nicht  frei. 

DaB  man  mit  Riicksicht  auf  das  Ausland  am  Marschall  des 
Weltkriegs  festhalten  musse  (sonst  hielten  die  Glaubiger  nicht 
stille),  ist  ein  Argument,  dem  man  schmeichelt,  nennt  man  es 
lendenlahm.  Es  ist  lendenlos;  Widerlegung  eriibrigt  sicL  Ge- 
wiB,  der  amtierende  Reichsprasident  stellt  den  Inbegriff  der 
Soliditat  dar;  unzweifelhaft,  Herr  v.  Hindenburg  ist,  was  man 
von  seinen  Ruhmrednern  nicht  durchweg  behaupten  kann:  ein 
Charakter;  aber  Charakter  geniigt  nicht, 

Charakter  wiirde  geniigen,  wenn  die  deutsche  Verfassung 
dem  Prasidenten  der  Republik  so  geringe  Rechte  gabe  wie  die 
franzosische  Verfassung;  oder  wie  die  parlamentarischen  Mon- 
archien  GroBbritanniens,  Hollands,  Belgiens,  Skandinaviens 
ihren  Monarchen;  oder  wie  Mussolini  dem  Re;  tatsachlich 
kommt  die  Macht  des  deutschen  Reichsprasidenten  beinahe 
der  des  Prasidenten  der  Vereinigten  Staaten  gleich,  welcher, 
kraft  der  amerikanischen  Konstitution,  nicht  viel  weniger  ver- 
mag  als  ein  orientalischer  Despot  alten  Stils.  Die  deutsche 
Reichsverfassung,  bekanntlich,  enthalt  einen  Knopf,  auf  den 
der  President  driicken  darf  —  und  sie  ist  auBer  Kraft  gesetzt; 
dieser  Knopf  heiBt  Artikel  48.  Eine,  sozusagen,  technisch  amii- 
santere  Demokratie  war  noch  nicht  da;  wo  in  aller  Welt  und 
Zeit  trifft  man  noch  eine  mit  derart  tadellos  funktionierender 
Selbstaufhebevorrichtung?  Aber  eben  diese  Vorrichtung  macht 
den  Reichsprasidenten  zu  einem  Machtfaktor  ersten  Ranges. 
Er  besorgt  viel  mehr  als  bloB  Representation,  er  ist  keine  „de- 
korative  Angelegenheit",  er  ist  nicht,  wie  der  Konig  von  Eng- 

3  195 


land,  nur  die  Achse,  urn  die  das  Gewolbe  des  staatlichen  Le- 
bens  sich  dreht;  er  ist  bewegender  Bestandteil  dieses  staat- 
lichen Lebens,  einer  seiner  starksten  Motoren,  er  ist  ein  poli- 
tisches  Ens  realissimum.  Aus  diesem  Grunde  bleibt  zu  sagen: 
Charakter  geniigt  hier  nicht. 

Eberts  und  Hindenburgs  EinfluB  auf  die  deutsche  Ge- 
schichte  der  letzten  dreizehn  Jahre  lachelnd  zu  bagatellisierent 
ist  das  Geschaft  iiberlegen  tuender  Trottel, 

Das  Geschaft  iiberlegen  tuender  Trottel,  links,  ist  es  aucht 
den  Arbeitern  einzureden,  sie  seien  an  Prasidentenwahlen  un- 
interessiert;  Energien  daran  zu  wenden,  sei  ^parlamentarischer 
Kretinismus".  Gewifi,  Stinunzettehin- eine  Urne  werfen,  hilft 
dem  Proleten  nicht  vorwarts,  bringt  nicht  die  Revolution.  Sehr 
wahr!  Indes  der  wirkliche  Kretinismus  besteht  in  dem  Ver- 
kennen  der  Tatsache,  daB  zwar  ein  guter  President  den  Sozia- 
lismus  nicht  einfiihren,  aber  ein  schlechter  die  Propaganda  fur 
den  Sozialismus  hochst  merkbar  hemmen  kann,  zum  Beispiel 
durch  zweckdienliche  Notverordnungen,  Der  wirkliche  Kreti- 
nismus besteht  in  der  Gesperrtheit  fur  die  Einsicht,  wie  kraf- 
tig  ein  zuinnerst  dem  GroBgrundbesitz  verbundener  President 
die  elementaren,  die  vitalen  Interessen  des  Arbeiters  und  des 
Arbeitslosen  zu  schadigen  vermag.  Der  wirkliche  Kretinismus 
besteht  in  dem  Mangel  einer  Fhantasie,  die  sich  klarmachen 
wiirde,  daB,  etwa  um  1937,  ein  neunzigjahriges  Reichsober- 
haupt,  und  mag  es  noch  so  riistig  sein,  Spielball  in  den  Handen 
seiner  Kamarilla  ware,  welche  dann  am  Ende  den  Krieg,  sei  es 
den  gegen  Frankreich-Polen,  sei  es  den  gegen  die  Sowjets,  fur 
opportun  halt.    Auch  Kaiser  Franz  Joseph  war  ein  Charakter. 

Es  gibt  keine  politische  Perspective,  unter  der  die  Men- 
schen  der  arbeitenden  Klassen  in  Deutschland  nicht  das  aller- 
starkste  Interesse  an  der  bevorstehenden  Prasidentenwahl 
hatten, 

Ist  dies  klar,  dann  ist  auch  klar,  daB  die  Linke  die  Pflicht 
gegen  sich  selbst  hat,  Einsicht  zu  uben  und,  ihrer  Zerspalten- 
heit  zum  Trotz,  hinreichende  Disziplin  aufzubringen,  um, 
anders  als  1925,  zur  Prasentierung  eines  gemeinsamen  Kan- 
didaten  zu  gelangen. 

Stehen  die  Fraktionen  des  sozialistisch  gewillten  Proleta- 
riats sich  auch  diesmal  wieder  feindlich  gegeniiber,  so  unter- 
liegt  keinem  Zweifel,  daB  entweder  der  konservative  oder  der 
knallreaktionare",  der  Kandidat  der  braunen  Schlagetote,  siegt. 
Je  unwahrscheinlicher  es  bleibt,  daB  Hitler  und  der  Bnining- 
block  sich  auf  einen  Kandidaien  einigen  werden,  desto  groBer 
die  Chancen  eines  gemeinsamen  Kandidaten  der  Linken.  Die 
Stimmenzahlen  der  letzten  Reichstagswahl  zugrunde  gelegt:  21 
bis  22  Miilionen  Stimmen  der  Rechten  und  der  Mitte  wiirden 
sich  auf  zwei  Kandidaten  verteilen,  wahrend  13  bis  14  Mii- 
lionen Stimmen  von  Linksrepublikanern,  von  Sozialisten  und 
von  Kommunisten  aller  Richtungen  einheitlich  abgegeben 
wiirden.  Bei  dieser  Verteilung  der  Krafte  lohnt  sich  wahr- 
haftig  ein  Kampf  —  zu  schweigen  von  dem  ungeheuren  mo- 
ralischen  Erfolg,  von  der  grandiosen  Aufrichtung  aller  prole- 
tarischen  Herzen,    die   solch   eine  zum  ersten  Mai    gelungene 

1% 


einheitliche  Kampagne  bcdeuten  wiirde.  Welch  Beispiel! 
Welch  legendarer  Anfang!  Die  Impotenz  einer  bis  ans  Idio- 
tische  verkalkten  Bonzenbureaukratie  ware  der  Arbeiterbe- 
wegung  mit  einem  Schnitt  fortoperiert, 

Konnen  denn  nun  die  Gruppen  der  Linken,  also  vor  allem 
Sozialdemokraten  und  Kommunisten,  sich  auf  einen  Kandidaten 
einigen?  Ich  weiB;  sie  wollen  nicht,  das  heiBt:  die  Bonzeien, 
die  Bureaus  wollen  nicht;  sie  wollen  nichtt  obwohl  objektiv 
ein  gemeinsames  Interesse,  zumindest  ein  gemeinsames  Ab- 
wehrinteresse,  vorliegt.     Wenn  sie  wollten,  konnten  sie. 

Natiirlich  ist  keinein  Sozialdemokraten  ein  abgestempel- 
ter  Kommunist  zuzumuten,  natiirlich  keinem  Kommunisten  ein 
abgestempelter  Sozialdemokrat.  Gibt  es  unabgestempelte  Mit- 
glieder  dieser  Parteien,  die  obendrein  Qualitat  haben  oder  we- 
nigstens  Ansehen  genieBen?  Ich  weiB  es  nicht  und  glaub  es 
nicht.  Gibt  es  in  den  kleinen  Zwischengruppen  Hervor- 
ragende,  die  den  Andern  zumutbar,  Zumutbare,  die  prominent 
genug  sind?  In  der  SAP  gabe  es  Ledebour;  der  Name  klingt 
immer  noch.  Es  fragt  sich  nur,  ob  der  Zweiundachtzigjahrige 
den  Strapazen  gewachsen  ware;  und  es  fragt  sich  noch  mehr. 
Die  ubrigen  Kopfe  dieser  neuen  Partei,  auch  die  der  Kommu- 
nistischen  Opposition,  werden  auf  beiden  Seiten  zu  sehr  als 
Typen  zwischen  den  Stiihlen  empfunden,  sind  bei  Sozialdemo- 
kraten und  Kommunisten  gleichermaBen  zu  unbeliebt,  alsdaB  sie 
ernsthaft  in.Frage  kamen.  Einem  Manne  wie  Willi  Eichler, 
dem  Fiihrer  des  ISK,  wiirde  ich  mit  Freuden  meine  Stimme 
geben;  denn  dieser  Sozialist  kampft  auf  granitnem  geistigen 
Grunde  klar,  rein  und  kr,aftvoll  fiir  die  Sache  des  Proletariats; 
fur  die  Sache  der  Kultur;  nur  ist,  leider,  sein  Name  einstweilen 
noch  nicht  Gemeingut;  alle  Voraussetzungen  waren  hier  er- 
fiillt  —  auBer  den  psychologischen.  An  Personlichkeiten  wie 
Albert  Einstein,  Ernst  Toller  oder  den  starksten  Wirtschaft's- 
denker  des  zeitgenossischen  deutschen  Sozialismus :  Alf ons 
Goldschmidt,  samtlich  Linke  zwischen  den  Lagern,  darf  der 
Gedanke  sich  nicht  mal  herantraumen . . .  von  wegen  der 
Rasse.N  Ein  reprasentativer,  in  die  Parteikampfe*  nicht  allzu 
verstrickter  Gewerkschafter,  wie  die  Internationale  ihn  in  dem 
Hollander  Edo  Fimmen  besitzt,  iehlt  in  Deutschland. 

Aber  Deutschland  hat  Heinrich  Mann. 

Ich  weiB,  was  ich  sage,  wenn  ich  diesen  Namen  nenne;  und 
daB  bei  unsern  Abderiten  ein  Gelachter  ausbricht,  wenn  je- 
mand  wagt,  fiir  ein  hohes  nationales  Amt  einen  GroBherrn  des 
Geistes  vorzuschlagen.  Sie  unterscheiden  nicht  zwischen  Dich- 
tern  in  Wolken  und  jenen  schaffenden  Geistern,  die  von  An- 
fang an  unter  die  Pflicht  getreten  sind,  dem  Gesamtbestand 
des  sozialen  Seins  und  der  Forderung,  die  ihm  entspriiht,  in 
ihrem  Werke  Gestalt  zu  geben.  Heinrich  Mann  weiB  vom 
Wesen  der  Politik  und  von  der  Aufgabe  eines  republikanischen 
Staatsmanns  und  sogar  von  den  okonomischen  Hintergriinden 
und  vom  Sozialismus  mehr,  als  jeder  verstockte,  in  Quisquilien 
Yerhockte  und  verbockte  Parteisekretar.  Heinrich  Mann  hat 
den  Oberblick,  den  grofien  Aspekt  der  Dinge;  er  hat  ein  Herz, 
und   das   wohnt   im   Him.    Nicht  die   formensichere   Ausiibung 

197 


seiner  Chefschaft  in  der  Dichterakademie  —  aber  dafi  er  schon 
1910  den  „abtrunnigen  Literaten"  vorhielt:  ,,Sie  haben . . ,  ihre 
schone  Leidenschaft  nie  in  die  Kampfe  dort  unten  eingemischt" 
und:  „Ein  Intellektueller,  der  sich  an  die  Herrenkaste  heran^ 
macht,  begeht  Verrat  am  Geist.  Denn  der  Geist  ist  nichts  Er- 
haltendes",  das  beweist  seine  Eignung.  Er  wiirde  einem  «4Volk 
von   Herren"  prasidieren   (sein  Wort!),   nicht  von  Untertanen. 

Es  kommt  hier  auf  alles  andre  eher  an  als  darauf,  ob  die 
publizierten  Meinungen  Dessen,  der,  aus  Enthusiasmus  fiir  den 
geschichtlichen  Strom  zwischen  Voltaire  und  Zola,  den  Geist 
zur  Tat  rief  und  der  ,Die  Diktatur  der  Vernunft'  verkundete, 
dem  Einen  von  uns-zu  demokratisch,-denv  Andern^zu  dikta- 
turistisch  sind;  worauf  es  ankommt,  ist;  daB  hier  eine  groBe 
geistige  Personlichkeit  von  ausgesprochen  politischem  Na- 
turell,  klar-links,  dennoch  iiber  den  Parteien,  das  Vertrauen 
der  proletarischen  Massen  verdient,  in  deren  Breite  sein  Werk 
schon  zu  dringen  begonnen  hat. 

Man  frage  einen  Burger  der  Tschechoslowakei,  ob  ihm 
das  Faktum  Grund  zum  Lachen  gebe,  daB  ein  Professor  der 
Philosophic  an  der  Spitze  seines  Staates  stent,  Und  in  Deutsch- 
land soil  ein  Schriftsteller  als  Oberhaupt  unmoglich  sein?  Ein 
Schriftsteller  in  Deutschland  prinzipiell  weniger  tauglich  zum 
Fiihrer  als  ein  Sattler,  als  ein  General? 

Fiir  Ernst  Thalmann  wird  jene  Minderheit  stimmen,  die 
dem  Zentralkomitee  der  Kommunistischen  Partei  gehorsam 
folgt;  selbst  durch  die  Wiisteheien  der  Dummheit,  Gewonnen 
ist  damit  nichts;  SchwarzweiBrot  geht  als  Sieger  durchs  Ziel. 
Fiir  Heinrich  Mann,  falls  sich  die  Parteibureaus  einigen,  wiirde 
die  Gesamtlinke  stimmen,  alle  Fraktionen  des  Marxismus  samt 
der  radikal-freiheitlichen  Schicht  des  Biirgertums.  Selbst  die 
Niederlage  ware  hier  fast  ein  Sieg;  aber  der  Sieg  ware  so  gut 
wie  verbiirgt,  Und  er  wiirde  wahrhaftig  in  Paris  einen  guten 
Eindruck  machen  und  keinen  schlechten  in  Moskau.  Zum 
ersten  Male  in  Deutschland  ein  Reprasentant  des  „andern" 
Deutschlands  an  der  Spitze,  ein  Exponent  der  schopferischen 
deutschen  iibernationalen  Kultur,  im  Goethe-Jahr  ein  Goethe- 
Deutscher  (und  nicht  mal  ein  blofi  kontemplativer!};  die  Wir- 
kungen  wiirden  bis  in  den  Geldmarkt,  bis  in  den  Arbeitsmarkt 
spiirbar  sein. 

Phantasiere  ich?  Zweifel  an  der  Vernunft  der  Andern 
kann  mich  nicht  hindern,  meine  zu  betatigen,  Ich  schame  mich 
nicht,  auszusprechen,  was  not  tut  und  sich  bei  gutem  Willea 
verwirklichen  lieBe,  wenn  ich  auch  weiB,  dafi  die  Philister 
nicht  danach  handeln  werden.  Ich  kenne  meine  roten  und 
rosaroten  Pappenheimer;  was  hier  vorgeschlagen  wird,  be- 
kommt  ein  Etikett:  ,,biirgerliche  Ideologie"  oder  MLiteraten- 
hochmut"  oder  „Verstiegenheit  eines  politischen  Astheten"; 
die  Sache  verstoBt  namlich  gegen  ihren  Komment,  und  der  ist 
bewahrt.  Er  fiihrte  sie  bekanntlich  von  Erfolg  zu  Erfolg  . . .  fiir 
die  arbeitenden  Klassen;  und  nun  soil  das  Gebirge  ihrer  Er- 
folge  sich  aufgipfeln;  sie  werden,  ob  direkt  ob  mittelbar,  lieber 
dem  Gendarmeriekommissar  von  Hildburghausen  den  Sieg  be- 
scheren  als  Heinrich  Mann. 

198 


RtistlingS-HaUSSe  von  Alfred  Kolmar 

C  tahl-,  Sprengstoff-  und  Metallanteile  waren  an  den  groBen 
*~*  internationalen  Effektenborsen  in  den  letzten  Tagen  recht 
stark  gefragt.  Die  Bewcgung  nahm  ihren  Anfang  in  New  York 
und  griff  d'ann  auch  auf  London  und  Paris  liber.  Etwa  seit 
dem  28.  Januar,  also  seit  dem  ersten  Bombardement  von 
Schanghai  durch  die  Japaner,  stellten  samtliche  Berichte  tiber 
den  Verlauf  der  dortigen  Borsen  ein  vorwiegendes  Interesse 
des  Publikums  fiir  Riistinigswerte  fest. 

Die  Borsen  haben  also  auch  diesmal  wieder  sehr  prompt 
reagiert.  Sie  wittern  neue  Kriegskonjunkturen,  wobei  es  ihnen 
wie  immer  vollig  egal  istt  wer  mit  wem  Krieg  fuhrt  oder  Krieg 
iiihren  soil;  die  Hauptsache  ist,  daB  nur  moglichst  viel  in- 
dustrielle  Erzeugnisse  in  die  Luft  gepulvert  werden,  um  end- 
lich  einmal  wieder  den  Absatz  krattig  zu  beleben.  Was  man 
an  den  Borsen  so  unter  ,,Belebung"  versteht. 

Nun  haben  ja  die  Weltborsen  seit  Jahren  alle  politischen 
und  wirtschaftlichen  Entwicklungen  mit  unfehlbarer  Sicher- 
heit  falsch  eingeschatzt.  In  der  gegenwartigen  Riistungs- 
hausse  kann  man  daher  vielleicht  eine  gewisse  Garantie  fiir 
eine  baldige  Beilegung  des  japanisch-chinesischen  Konfliktes 
erblicken,  Aber  auch  dann,  wenn  diese  nicht  gelingen  sollte, 
tippen  die  Borsen  hier  offenbar  doch  wieder  faisch,  und 
zwar  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  glucklicherweise  weder 
China  noch  Japan  Geld  genug  haben,  um  sich  einen  „Material- 
krieg"  nach  beriihmten  europaischen  Mustern  leisten  zu 
konnen.  Es  sieht  jedenfalls  zur  Zeit  noch  nicht  so  aust  als  ob 
China  mit  einer  Kriegsanleihe  in  Amerika,  oder  Japan  mit 
einer  solchen  in  Europa  Gluck  haben  soilten.  Nicht  etwa,  als 
ob  die  Industrien  dieser  beiden  freundlichen  Erdteile  den  gel- 
ben  Gegnern  aus  irgendwelchen  pazifistischen  Grundsatzen 
heraus  kein  Material  auf  Kredit  verkauien  wiirden.  Gott  be- 
hiite!  Soweit  pazifistisch  degeneriert  sind  wir  in  Europa  und 
Amerika  doch  noch  nicht.  Aber  mit  dem  cash  ist  es  so  eine 
Sache,  und  faule  KriegsauBenstande  hat  man  ja  wahrlich  ge- 
nug. So  wirkt  hier  im  Augenblick  die  Angst  urns  Geld  in 
einem  Sinne,  der  auch  andern  Leuten,  die  keine  Angst 
urns  Geld  zu  haben  pflegen,  weil  sie  keins  besitzen,  durchaus 
recht  sein  kann. 

Die  liebenswiirdigen  Herren  also,  die  die  Bombenabwiirfe 
auf  Schanghai  sofort  zu  ihrem  personlichen  Vorteil  in  eine 
kleine  Riistungshausse  umzudeuten  gewuBt  haben,  liegen  — 
um  einen  Ausdruck  aus  ihrem  nicht  minder  liebenswiirdigen 
Jargon  zu  verwenden  —  in  Bezug  auf  das  ostasiatische  Ge- 
schaft  zunachst  noch  schief.  Das  ist  um  so  mehr'der  Fall,  als 
ja  China  leider  (iberhaupt  nur  einen  sehr  geringfiigigen  Bestand 
an  Artillerie  und  Bombenflugzeugen  besitzt  und  es  den  Ja- 
panern  daher  ziemlich  schwer  machen  wird,  ausreichende  Ge- 
legenheit  zum  Einsatz  imponierender,  das  heiBt  im  Sinne  der 
Borse  imponierender,  „Absatz-Beiebungsmittel"  zu  finden.  Mit 
Infanterie-Gewehrfeuer  ist  aber  ein  groBes  Geschaft  nicht  zu 
machen.  Aus  sechshundert  Kilo  Kupfer  und  vierhundert  Kilo 
Zink     kann   man    ungefahr     siebzigtausend    Messing-Patronen- 

199 


hiilsen  fur  Infanteriegeschosse  herstellen,  Tausend  Tonnen 
Messing  also  ergeben  Hiilsen  fur  siebzig  Millionen  SchuB.  Die 
Japaner  haben  gegenwartig  in  China  etwa  fiinfunddreiBig- 
tausend  Mann  regularer  Infant erie.  Wenn  jeder  hiervon  zwei- 
tausend  SchuB  verfeuert,  so  werden  hierfiir  nur  tausend 
Tonnen  Messing  als  Hulsenmaterial  „verwertet'\  Das  Zeug 
kann  man  aber  auch  noch  sammeln  und  wieder  umschmelzen. 
•  1st   das   ein  Geschaft? 

Nein,  das  ist  kein  Geschaft  und  jedenfalls  keine  „groBe 
Sache",  Oder  glatubt  man  an  den  Borsen  etwa\  der  Konflikt 
im  Fernen  ^Osten  werde  sich  nicht  lokalisieren  lassen,  und  ist 
man  deshalb  so  ,,haussig"  gestimmt?  Vielleicht  gibt  es  so  einea 
kleinenf  frischen,  frohlichen  'Konflikt  noch  wo~andersr~einenr 
der  sich  wirklich  lohnt,  Diese  Hoffnung  kann  man  den  Borsen 
ruhig  gonnen.  Denn  wenn  sie  sich  verwirklicht,  so  miiBte  eine 
Belebung  des  Munitionsabsatzes  davon  ausgehen,  die  die  Bor- 
sen  endgiiltig    to  ten   wiirde. 

MuSSOlini  Und  der  Tod  von  Angelica  Balabanoff 

A  Is  ich  vor  einigen  Jahren  Gelegenheit  hatte,  Rabindranath 
^^  Tagore  nach  seinem  Aufenthalt  in  Italien  uber  den  Fascis- 
mus  und  diejenigen,  die  ihn  verkorpern,  aufzuklarenf  bemerkte 
er,  daB  dast  was  ich  ihm  erzahlte,  ihm  zwar  neu  seif  weil  er 
als  Gast  der  italienischen  Regierung  keinen  Einblick  in  die 
Verhaltnisse  des  Landes  gehabt  habe,  den  Eindruck,  den 
Mussolini  auf  ihn  gemacht  hatte,  das  Komodienhafte,  das  da- 
bei  zum  Vorschein  gekommen  wart  aber  vollends  erklare  und 
bestatige, 

Er  betrachtete  es  als  seine  Pflicht,  seine  Eindriicke  auch 
offentlich  zur  Sprache  zu  bringen,  und  zwar  unter  anderm 
deswegen,  weil  ich  ihm  gesagt  hatte,  das  italienische  Volk 
empfande  es  als  eine  Schmach,  daB  nach  den  Behauptungen  der 
italienischen  Presse  der  Menschenfreund,  Philosoph  und  Dichter 
Tagore  von  demt  was  er  im  fascistischen  Italien  gesehen  habe, 
begeistert  sei.  Das,  was  Tagore  unmittelbar  nach  dieser  Un- 
terredung  iiber  den  Fascismus  veroffentlichte,  gehort  wohl  zu 
dem  Packendsten  und  Mutigsten,  was  je  von  nichtsozialisti- 
scher  Seite  iiber  ein  allmachtiges  Regime  gesagt  wurde,  und 
enthalt  so  viel  Treff endes  und  Vernichtendes,  daB  es  wohl 
mit  der  Zeit,  das  heiBt,  wenn  der  Fascismus  durch  die  Macht, 
die  er  heute  auszustrahlen  scheint,  die  Menschen  nicht  mehr 
blende t,  als  das  maBgebende  Urteil  uber  den  Fascismus  und 
seinen  Anfiihrer  gelten  wird,  Einem  groBen  Dichter,  wie  es 
Tagore  ist,  ist  es  gestattet  —  besonders,  wenn  seinen  Wort  en 
Intuitives  und  Exotisches  anhaftet  —  Gedanken  auszudriicken, 
die,  von  einem  gewohnlichen  Sterblichen  ausgedriickt,  als  naiv 
und  ,,demagogisch"  verschrien  waren.  Wenn  es  auch  wahr  ware, 
daB  der  Fascismus  dem  Volke  diejenigen  materiellen  Vorteile 
schafft,  von  denen  dazumal  noch  die  Rede  war,  so  wiirde  auch 
das  noch  nicht  geniigen,  die  moralischen  Qualen  des  Volkes, 
die  Vernichtung  der  Freiheit  zu  rechtfertigen.  Die  langen 
Ausfuhrungen  Tagores  gipfelten  in  einem  Satze,  der  ebenso 
200 


als  gemale  Diagnose  wie  als  Prophezeiung  und  Mahnung  eines 
Hellsehers  gelten  kann.  Rabindranath  Tagorc  sagte  namlich, 
im  Hinblick  auf  das  italienischc  Regime:  noch  schlimmer 
als  von  einem  Tyrannen  unterdriickt  zu  werden,  sei  es  fiir  ein 
Yolk,  ein  Individuum  verherrlichen  zu  miissen,  von  dem  es 
.sich  mit  der  Zeit  herausstellen  muB,  daB  nur  die  Gunst  des 
Zufalls  und  das  Zusammentreffen  von  Umstanden,  die  weit 
davon  entfernt  sind,  positiven  Wert  zu  haben,  ihm  den  Schein 
der  GroBe  verleihen.  Nur  diejenigen,  die  den  Fascismus  ken- 
nen  und  die  Regie,  auf  die  es  vor  allem  bei  dem  Regisseur  und 
Komodianten  Benito  Mussolini  ankommt,  konnen  davon  Zeug- 
nis  ablegen,  wie  treffend  das  Urteil  und  die  Prophezeiung  Ta- 
gores  sind. 

Liest  man  zum  Beispiel  das,  was  beim  Tode  von  Musso- 
linis Bruder  in  den  italienischen  und  teils  auch  nichtitalieni- 
schen  Zeitungen  gesagt  und  beschrieben  wurde,  so  wird  es 
einem  tatsachlich  bange,  nicht  nur  um  das  italienische  Volk 
sondern  um  die  ganze  Menschheit, 

*  *  * 

Es  gibt  keine  Eigenschaft  intellektueller  oder  moralischer 
Art,  die  heute  dem  Bruder  Mussolinis  nicht  zugeschrieben 
wurde,  Lauter  Eigenschaften,  Tugenden  und  Fahigkeiten,  von 
denen  man  sogar  nach  dem  Aufstieg  des  Bruders  nicht  viel 
verspiirte;  Auch  im  fascistischen  Italien  war  es  allgemein  be- 
kannt,  daB  der  Ministerprasident  seineti  ,,Bruder"  einerseits 
als  quantite  negligeable  andrerseits  als  Versuchskaninchen  be- 
handelte. 

Als  die  beiden  Mussolinis  um  1904  herum  in  die  Schweiz 
kamen,  stachen  sie  vom  italienischen  proletarischen  Milieu 
dadurch  ab,  daB  sie  durch  die  ihnen  vererbten  Krankheiten 
und  durch  Mangel  an  Disziplin  und  personlicher  Wiirde  auBer 
Stand  gesetzt  waren,  sich  den  Forderungen  einer  proletarischen 
Existenz  anzupassen,  das  heiBt,  daB  sie  keinerlei  Begabung 
oder  Kenntnisse  auf wiesen,  um  sich  durch  physische  Ar- 
beit ihren  Lebensunterhalt  zu  verdienen.  Der  Altere  lebte 
von  der  Solidaritat,  um  nicht  zu  sagen  von  den  Almosen  sei- 
ner Landsleute,  die  als  Maurer  oder  Handlanger  in  schwerer 
Fron,  aber  ohne  jemandem  zur  Last  zu  fallen,  ihr  karges  Brot 
verdienten.  Um  sein  Parasitentum  zu  rechtfertigen  und  grofie- 
res  Mitleid  zu  erregen,  pflegte  er  immerfort  von  seiner  erb- 
lichen  Belastung  zu  sprechen  und  seinen  Krankheitszustand 
immer  wieder  anzufuhren,  Der  zweite  Bruder  brauchte  es 
nicht  zu  tun;  die  zuckenden  Bewegungen  des  Kopfes,  das 
Stottern  und  andre  Symptome  fielen  jedem  auf,  so  daB  dafiir 
gesorgt  werden  muBte,  ihn  aufs  Land  zu  bringen,  Irgendeine 
schweizerische  Familie,  die  ein  Gut  besaB,  hatte  Mitleid  mit 
ihm  und  gab  ihm  die  Moglichkeit,  auf  dem  Lande  zu  leben. 
Zu  jener  Zeit  verkehrten  die  beiden  Bruder  auch  unter  den 
russischen  Studenten,  deren  Gastfreundschaf t  allgemein  be- 
kannt  war,  Der  nunmehr  verstorbene  Arnaldo  Mussolini  pflegte 
unendlich  lange,  konfuse,  von  orthographischen  Fehlern  strot- 
zende  Briefe  an  russische  Studentinnen  zu  schreiben,  in  denen 
er  sich  uber  seinen  Krankheitszustand  beklagte    und  liber  die 

201 


Einsamkeit,  zu  der  sie  ihn  verurteilte,  da  sie  ihn  der  'Mog- 
lichkeit  beraube,  in  nahere  Beziehungen  zu  andern  Menschen 
zu  treten,  vor  allem  zu  Frauen.  Ein  jcdcr  dicser  Briefe  endctc 
mit  dem  Bekenntnis  zur  sozialen  Revolution,  dcr  allein  er  scin 
Leben  widmen  wolltef  obwohl  grade  scin  krankhafter  Zustaiid 
ihn  auBer  Stand  setzte,  sich  politisch  zu  betatigen.  Der  altere 
Bruder  machte  kein  Hehl  aus  seiner  Einschatzung  des  jxin- 
gern,  dessen  Zustand  in  ihm  keinerlei  Mitgefiihl  oder  Solidari- 
tat  erweckte;  er  hatte  fiir  ihn  ntir  verachtungsvolles  Achsel- 
zuckcn  wie  fur  ein  minderwertiges  Wesen.  Nur  wenn  er 
ihn  brauchte,  um  von  ihm  etwas  Unangenehmes  verrichten  zu 
lassen,  zu  dem  er  selbst  nicht  den  notigen  Mut  aufbringen 
konnte,  wandte  er  sich  an~ihn.  Als  "die  Amnestie/dem  Deser- 
teur  Benito  Mussolini  die  Moglichkeit  gab,  in  die  Heimat  zu- 
riickzukchren,  folgtc  ihm  auch  der  jiingere  Bruder,  dem  nach 
einiger  Zeit,  aus  Mitleid  mit  scinem  Zustand,  eine  untergeord- 
nete  Stellung  in  dcr  Gemeindeverwaltung  zugewicsen  wurde* 
Als  der  bereits  zum  Machthaber  Erhabene  einen  Komplizen 
brauchte,  von  dem  er  alles  verlangen  konnte,  bcrief  er  Arnoldo 
nach  Mailand  und  ernanntc  ihn  zu  seinem  Nachtolger  in  der 
Redaktion  des  .Popolo  dltalia*.  Mussolini  der  GroBe  brauchte 
jemanden,  der,  obwohl  offizieller  Leiter  des  Blattes,  sich  den 
Text  dcr  von  ihm  gezcichnctcn  Artikel  von  andern  dik- 
ticrcn  licB.  Der  plotzlich  zum  Staatslenker  Erhobene  brauchte 
jemanden,  der  sich  dazu  hergab,  auch  solche  Artikel  zu  unter- 
schreiben,  die  am  nachsten  Tag  eventuell  widerrufen  wcrden 
miiBtcn.  Auf  den  Bruder  konnte  er  sich  um  so  mehr  verlasfien, 
als  dieser  rapid  anfing,  aus  seiner  Position  finanziellen  Nutzen 
zu  ziehen.  Zwischen  den  zwei  Briidern  entstand  ein  Verhalt- 
nis,  einc  Arbeits-  und  Gewinnverteilung,  die  fiir  die  Perfidie 
und  Feighcit  des  altera  bezeichnend  genug  isi  Die  „Ge- 
schafte1',  die  allerunsaubersten,  besorgtc  der  Jiingere,  seine 
Beteiligung  an  alien  Unternehmungen,  die  ihm  als  „Bruder" 
kolossale  Summen  cintrugen,  ist  allgemein  bckannt  und  sprich- 
wortlich  geworden. 

*  *  * 

Die  f ascistische  Presse  widmet  nicht  nur  dem  verstor- 
benen  Mussolini,  sondern  auch  der  Art,  wie  sein  Bruder  sich 
anlaBlich  seines  Todes  aufspielte,  ausfiihrliche  Berichte,  Die 
Welt  soil  und  muB  erfahren,  wie  der  „Retter  Italiens"  das 
Haupt  crhoben  oder  gesenkt  hat,  wo  er  gesessen  oder  ge- 
s  tan  den,  wieviel  Tranen  er  vergossen,  wie  und  wann  er  ge- 
seufzt  hat.  Unter  anderni  wird  berichtet,  daB  er  die  erste 
Nacht  nach  dem  Tode  des  Bruders,  als  die  Leiche  im  untersten 
Stockwerk  des  ,Popolo  d'ltalia'  anfgebahrt  war,  im  zweiten 
Stock  des  Hauses  verbrachte. 


Als  Mussolini  noch  der  sozialistischen  Bewegung  angehorte 
und  am  ,Avanti*  tatig  war,  erschienen  in  der  Redaktion  zwei 
seiner  Landsleute,  die  aus  der  Romagna  nach  Mailand  ge- 
kommen  waren,  weil  ein  Landsmann  und  Parteigenosse  von 
ihnen  einem  Messerstich  erlegen  war  und  es  sich  darum  han- 

202 


delte,  die  Identitat  der  Leiche,  die  sich  in  der  Morgue  des 
Cimitero  Monumentale  befand,  festzustellen  und  dem  Ver- 
storbenen  das  letzte  Geleit  zu  geben.  Ganz  natiirlich  war  es, 
daB  die  Proletarier  aus  der  Romagna  sich  an  ihren  in  Mailand 
weilenden,  als  Redakteur  den  Behorden  bekannten  Landsmann 
wandten,,  auch  versprach  dieser  sofort  auf  den  Friedhof  zu 
gehen,  Kaum  aber  hatten  die  zwei  Arbeiter  die  Redaktion 
verlassen,  als  er  sich  an  mich  mit  der  Bitte  wandte,  ihn  bei 
der  Leichenschau  zu  vertreten.  Vergebens  setzte  ich  ihm  aus- 
einander,  daB  dies  nicht  gut  moglich  sei,  weil  ich  den  Ver- 
storbenen  gar  nicht  kannte,  vielleicht  nur  fliichtig  in  einer " 
Versammlung  gesehen  hatte,  wahrend  er  seinen  Jugendfreund 
und  engern  Landsmann  ohne  weiteres  erkennen  wiirde.  Ver- 
gebens suchte  ich  ihm  beizubringen,  seinen  Landsleuten  liege 
doch  daran,  daB  er  sich  mit  der  Sache  beschaftige.  Der  Held 
drang  in  mich  und  gestand,  er  fiirchte  sich  so  sehr  vor  Toten 
und  dem  Friedhof,  daB  er  es  einfach  nicht  fertigbringen  wiirde, 
sein  Versprechen  zu  halten,  er  habe  sich  aber  geschamt,  seine 
Feigheit  einzugestehen,  und  wage  es  nur  mir  gegenuber  zu  tun, 
weil  er  wuBte,  daB  ich  seine  Bitte  erfiillen,  ihn  bemitleiden 
wiirde  ...   So  war  es  auch, 

Dasselbe  Gefiihl  mag  den  inzwischen  groB  gewordenen 
Mussolini  verhindert  haben,  bei  der  Leiche  seines  Bruders  zti 
wachen.  Die  Regie  und  Publizitat  verlangten  ein  Verweilen 
im  selben  Hause  und  sei  es  auch  in  einem  andern  Stockwerk, 
wo  der  Anblick  der  Leiche  seinen  Mut  nicht  auf  eine  so  harte 
Probe  zu  stellen  brauchte.  Nicht  ausgeschlossen  ist  es,  daB 
diej  Angst  vor  dem  Tode  und  den  Toten  in  der  Zwischenzeit 
grade  bei  dem  ins  Uferlose  gewachsen  istf  der  so  viele  Tote 
auf  seinem  Gewissen  hat  und  sich  wie  kein  andrer  vor  der 
Abrechnung  Eiirchtet. 

*  *  * 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Presse  auf  den  Tod  des 
Arnaldo  Mussolini  reagierte,  der  sich  lediglich  auf  dem  Gebiete 
des  Schiebeftums  und  der  Korruption  ausgezeichnet  hat,  ist  be- 
zeichnend  daiiir,  wie  Legenden  von  den  ,,groBen  Mannern" 
fabriziert  werden.  Und  zwar  gilt  es  im  gegenwartigen  Falle 
viel  mehr  furs  Ausland  als  fiir  Italien,  wo  man  den  Werde- 
gang  der  Briider  Mussolini  geniigend  kennt  und  mit  knir- 
schenden  Zahnen  die  Komodie  mitmachen  muB.  Im  Aus- 
land aber  sagt  sich  so  Mancher:  „Etwas  muB  doch  in  der 
Familie  stecken,  seht  Euch  mal  an,  wie  intelligent  auch  der 
Bruder,  dieser  Doktor  Mussolini  gewesen  sein  muB,  wie  die 
Presse  sein  Dahinscheiden  beklagt,  und  gar  noch  der  Konig,  * 
der  Papst  und  Gabriele  d'Annunzio!" 

Die  servile  fascistische  Presse  unterstreicht  das  Parvenu- 
tum  des  „unersetzlichen"  Arnaldo  Mussolini  noch  dadurch, 
daB  sie,  im  Gegensatz  zu  den  italienischen  Gepflogenheiten, 
seinem  Namen  stets  den  Titel  Doktor  vorausschickt.  Das  ist 
um  so  geschmackloser,  als  Arnaldo  Mussolini  sich  diesen  Titel 
iiberhaupt  nicht  zu  erwerben  brauchte.  Er  wurde  ihm  in  seiner 
Eigenschaft,  als  MBruder"  von  der  Universitat  einer  kleinen 
Provinzstadt     verliehen.     Somit     sind     beide     Bruder    Ehren- 

3  203 


doktoren.  Der  Alteste  wurde  ebenfalls  fur  seine  groBen  Ver- 
dienste  zum  Ehrendoktor  der  Universitat  Bologna  ernannt. 

Der  Einblick  in  die  Regie,  durch  die  man  vom  verponten, 
minderwertigen  Gotteslasterer  und  vaterlandslosen  Gesellen, 
vom  Lumpenproletarier  zum  hochsten  Wiirdentrager,  zur 
Stiitze  von  Thron  und  Altar  erhoben,  von  den  kirchlichen  und 
weltlichen  Behorden  trotz  seinem  Siindenregister  heilig  ge- 
sprochen  wird,  soil  dazu  dienen,  den  Burgern  der  Lander,  die 
zwar  die  meisten  Annehmlichkeiten  des  Fascismus  bereits  ge- 
nieBen,  sich  aber  noch  immer  im  Wahn  befinden,  das  sei  noch 
nicht  Fascismus,  dieser  konne  nur  durch  ,,groBe  Manner"  ver- 
wirklicht  werden,  zu  beweisen,  wie  leicht  es  ist,  die  er- 
wunschten™^groBen   Manner"   zu  faforizieren.   -  - 

Allein  zu  dem  Zwecke  sind  diese  Reminiscenzen  hier  an- 
gefuhrt. 

Brief  meines  Vaters  von  ignaz  wrobei 

TWfein  Vater  starb,   als  ich  fiinfzehn  Jahre  alt  war. 

Ich  kann  mich  nicht  besinnen,  daB  er  mit  mir  viel  iiber 
Politik,  iiber  Krieg  und  Frieden  gesprochen  hat;  sicherlich 
haben  solche  Unterhaltungen  stattgefunden,  aber  eine  starke 
Einwirkung  ist  mir  nicht  im  Gedachtnis  geblieben.  Mein 
Vater  stammte  aus  kleinen  Verhaltnissen.  Politisch  ist  er  nie- 
mals  tatig  gewesen. 

Vor  mir  liegt  ein  Brief  vom  14,  Dezember  1894,  Darin 
schreibt  er: 

„Ich  reiBe  mich  nicht  danach,  mich  als  Futter  fiir  die 
Kater-Ideen  der  hohen  Herren  herzugeben,  im  Gegentheil, 
mir  tut  heute  schon  unser  Junge  leid,  wenn  ich  daran  denke, 
daB  er  mal  als  Vaterlandsverteidiger  figurieren  soil.  Wenn 
ich  Schriftsteller  ware,  wiirde  ich  die  Suttner  noch  tiber- 
suttnern.  Krieg  heiBt  doch  schlieBlich  auf  Deutsch  privile- 
gierter  Mord;  wenn  die  Leute  an  der  Spitze  in  Verlegenheit 
sind  und  nicht  mehr  aus  noch  ein,  mit  der  Politik  und  ihren 
Finanzen  wissen,  dann  wird  aus  der  Rumpelkammer  die  Puppe 
Patriotismus  herausgeholt  und  ihr  Kleid  und  Mantel  r-  Erb- 
feind  und  Heldenmuth  —  umgehangen,  und  dann  ist  der  Po- 
panz  fertig-  Jeder  verficht  dann  natiirlich  die  gerechte  Sache* 
jeder  packt  seinen  Privat-Gott  an  den  FiiBen,  und  schlieBlich 
haben  die  dummen  Manner  und  Weiber,  Eltern  und  Kinder  die 
Zeche  zu  bezahlen,  der  Generalfeldmarschall  kriegt  sieben  Or- 
den  und  ein  Rittergut,  und  die  armen  Hinterbliebenen  der  Er- 
schossenen  holt  der  Teufel,  wenn  sie  nicht  3  M  Pension  fiir 
den  verlorenen  Vater  monatlich  bekommen;  Sohne  werden 
nicht  bezahlt,  die  gibt  es  zu/' 

Ehre    seinem    Andenken. 

Jetzt  darf  Goebbels  den  Mann  beschimpfen,  und  das 
Kriegsministerium  darf  einen  Strafantrag  gegen  den  Toten 
stellen: 

wegen  Herabwiirdigung  des  Krieges,  wegen  Staatsver- 
leumdung  und  wegen  Storung  der  Belange  der  deutschen  Holz- 
kreuz-Industrie, 

204 


Vormarsch  ins  XX.Jahrhundert  waitheTiursch 

In  einer  Zeit  schwankender  MaBstabe  auf  alien  Gebieten 
unsres  Daseins,  also  (und  vornehmlich)  auch  aui  dcm  der 
Kunst,  beriihrt  die  Begegnung  mit  einem  Buche  angenehm, 
dessen  Autor  man  nachsagen  kann,  daB  er  ein  sicher  gezeich- 
netes  Weltbild  aufzuweisen  hat.  Wenn  daher  hier  iiber  Ger- 
hart  Pohls  gesammelte  Aufsatze  , .Vormarsch  ins  XX.  Jahrhun- 
dert"  (W.  R.  Lindner,  Leipzig)  gesprochen  wird,  dann  bleibt 
die  Frage,  was  an  seinen  Darstellungen,  Analysen  und  Po- 
lemiken  gegliickt,  was  miBghickt  ist,  so  lange  miiBig,  bis  man 
nicht  dieses  Weltbild  aui  seine  Richtigkeit  gepriift  hat.  Der 
Gegenstand,  mit  dem  Pohl  es  zu  tun  hat:  die  Literatur  der 
letzten  hundert  Jahre  und  ihr  Weg  in  die  Zukunft,  ist  so  kom- 
plex,  daB  grade  wer  der  Verworrenheit  dieser  Tage  sein  gut- 
betoniertes  Credo  entgegenzuhalten  vermag,  Gefahr  lauft,.  alles 
und  jedes  ganz  eng  auf  den  Inhalt  dieses  Glaubensbekennt- 
nisses  zu  beziehen.  Dieser  Gefahr  weicht  Pohl  leider  auch  nur 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  aus.  Die  Grundhaltung  seines 
Denkens  nimmt  ihm  die  Moglichkeit,  iiberhaupt  erst  den  Kon- 
takt  zu  manchen  Erscheinungen  unsrer  Literatur  zu  finden.  So 
ist  das,  was  er  iiber  die  MSpotterbank  der  Zivilisation"  sagt, 
also  in  erster  Reihe  iiber  Kastner  und  Kesten,  ganz  daneben 
gegangen,  ebenso  gelingt  es  ihm  nicht,  einem  Typus,  wie  ihn 
etwa  Kerr  darstellt,  gerecht  zu  werden>  Hier  setzt  das  Ver- 
standnis  aus,  diese  Er$cheinungen  sind  zu  kompliziert,  als  daB 
sie  in  das  Schema  seiner  Begriffe  eingespannt  werden  konnten, 
wenn  sicfy  dieses  Schema  auch  wohltuend  von  der  Starrheit 
ahnlich  angelegter  und  auf  ahnlichen,  ja  gleichen  Grundsatzen 
beruhender  Untersuchungen  abhebt.  Aber  selbst  diese  weit- 
herzigste  marxistische  Analyse  der  Literatur,  die  mir  bisher 
begegnet  ist,  liefert  den  strikten  Beweis,  daB  sich  die  Pha- 
nomene  des  Kiinstlerischen  mit  dieser  Methode  nicht  ausdeu- 
ten  iassen. 

Fur  Pohl  ist  es  klar,  daB  die  wirtschaftlichen  Faktoreri  be- 
stimmend  fur  den  Gesamtzustand  der  Literatur  einer  Zeit  sind. 
Pagegen  ist  deutlich  herauszulesen,  das  er  ganz  andre  Grund- 
lagen  als  maBgeblich  fiir  das  Schaffen  des  Kimstlers  anerkennt. 
Hier  ist  es  die  schopf erische  Personlichkeit,  die  mit  dem 
alleinigen  Baumaterial  des  Schriftstellers,  dem  Wort,  umzu- 
gehen  weiB.  Die  sich  ergebende  Divergenz  weiB  Pohl  nicht  zu 
iiberbriicken,  und  so  zerreiBt  sie  das  ganze  Buch  und  fast  jeden 
einzelnen  Aufsatz  in  zwei  Stiicke.  Es  ist  so:  der  Kiinstler  in 
Pohl  wehrt  sich  gegen  seine  eigne  Theorie.  Dabei  kommt  er 
innerhalb  dieser  standigen  Auseinandersetzungen  mit  sich 
selbst  oft  genug  nahe  an  den  Punkt,  wo  sich  die  Antithese  auf- 
losen  lassen  wiirde. 

Greifen  wir  das  hervorstechendste  Beispiel  heraus,  zu- 
gleich  das  beste  Kapitel  des  ganzen  Buches,  wo  Pohl  die 
Frage:  MGibt  es  eine  proletarische  Dichtung?'*  leidenschaftlich 
und  mit  guten  Griinden  negiert,  Wenn  namlich,  wie  die 
Marxisten  doch  immer  behaupten,  die  proletarische  Diktatur 
nur  ein  Obergangsstadium  zum  Sozialismtis  sein  soil,  dann  wird 

205 


es  wohl  unmoglich  sein,  daB  sich  innerhalb  dicser  kurzen  Zeit- 
spanne,  in  der  nichts  fest  stent  sondern  alles  fluktuiert,  so 
ctwas  wie  eine  Dichtung  herausbilden  wirdt  die  man  als  pro- 
letarisch  bezeichnen  diirfte.  Trotzki,  den  Pohl  zitiert,  hat  das 
so  ausgedruckt:  die  Diktatur  des  Proletariats  ist  Mkeine  kul- 
tureil-produktive  Organisation  einer  neuen  Gesellschaft,  son- 
dern eine  revolutiohare  Kampfesordnung  zu  deren  Erkamp- 
fung1'.  Also  denken  jene  Marxisten,  die  eine  proletarische 
Kultur  propagieren  oder  gar  deren  Existenz  bereits  feststellen 
wollen,  unmarxistisch,  Logisch  ware  doch  nun,  daB  eine  ,tprole- 
tarische  Dichtung1'  in  erster  Linie  von  Proletariern  getragen 
wird.  Doch  wer  stent  neben  einigen  Abkommlingen  des  Pro- 
letariats in  der  vordersten~R^ihe-xener  Schriftleiter,die-sich- 
zum  Klassenkampfgedanken  bekennen,  sich  urn  seinetwillen  in 
die  Kommunistische  Partei  eingeordnet  haben?  Barbusse, 
Becher,  Renn.  Proletarier?  Wohl  nicht*  Wo  aber  finden  sich 
die  Proletarier  Barthel,  Broger,  Lersch  und  Schonlanck,  urn 
wieder  Pohls  Aulzahlung  zii  folgen?  Vergeblich  wird  man  sie 
da  sucben,  wo  der  Sozialismus  seinen  bisher  starksten  lite- 
rarischen  Ausdruck  gefunden  hat  Also,  folgert  Pohl  ganz 
richtig:  es  kommt  auf  die  „das  Gegenstandliche  durchdringende 
Kraft  der  Secle  und  des  Geistes"  an.  Und  hier  fehlt  ihm  der 
EntschluB  zu  dem  entscheidenden  Schritt,  Wenn  es  also  dies 
ist,  was  den  Kunstler  ausmacbt,  warum  sollendann  okonomische 
Faktoren  einen  so  entscheidenden  EinfluB  auf  den  Gesamtzu- 
stand  der  Literatur  haberi?  Pohl  sieht  das  wirtschaftliche 
Chaos  und  daneben  die  Verwirrung  in  alien  geistigen  und 
kttnstlerischen  Dingen  und  schlieBt,  diese  komme  von  jenem. 
DaB  -es  ebenso  umgekehrt  stimmen*  konnte,  scheint  selbst  fur 
einen  kunstlerisch  sehr  oft  ganz  richtig  empfindenden  Menschen 
wie  Pohl  ketzerisch  zu  sein.  Und  dabei  "liegt  der  logische 
SchluB  doch  lifoeraus  nahe.  Wenn  es  die  seelisch-geistige  Kraft 
des  Menschen  ist,  die  ihn  zum  Dichter  macht,  dann  ist  es  doch 
erst  einmal  ganz  gleichgiiltig,  welche  okonomischen  Verhalt- 
nisse  er  antrifft,  sich  durchsetzen  und  zu  eigner  Form  und  Ge- 
staljtung  gelangen  wird  er  auf  jeden  Fall.  Nehmen  wir  das 
Beispiel  Lessing,  auf  den  sich  auch  Pohl  bei  jeder  Gelegenheit 
beruft  Lessing  war  in  eine  Zeit  hineingeboren,  die  das 
Burgertum  in  voller  wirtschaftiicher  Entfaltung  und  in  abso- 
luter  politischer  Ohnmacht  sah.  Alle  sogenannten  Voraus- 
setzungeh  fur  die  politische,  geistige  und  kulturelle  Vorherr- 
schaft  des  Biirgertums  waren  gegeben,  aber  es  kam  nicht  dazu. 
Bis  dann  die  Lessing  und  die  andern  auf traten,  das  Recht  auf 
die  Herrschaft  ihrer  Klasse  verkiindeten  und  ihm  zum  Siege 
verhalfen.  Es  ist  der  geistige  Mensch,  der  die  Tendenzen 
seiner  Epoche  aufzuspiiren  weiB,  sie  ausgrabt,  auf  sein  Schild 
schreibt  und  sie  zum  Siege  fuhrt.  Ist  der  nicht  da,  dann  blei- 
ben  die  herrschenden  Machte  unerschuttert,  ganz  egal  ob  die 
okonomischen  Verhaltnisse  gebieterisch  ihren  Abgang  fordern 
oder  nicht*  Gilt  das  alles  fur  den  politischen  Dichter,  um  so 
mehr  erweist  es  sich  als  richtig,  wenn  man  die  ansieht,  denen 
„politisch  Lied  em  garstig  Lied"  war.  Ihre  Zeit;  war  sie  wirt- 
schaftlich  oder  gar  politisch  eine  Blutezeit?  In  Deutschland 
herrschte  die  finsterste  Reaktion,  als  Goethe  den  Faust  schuf. 
206 


DaB  dieser  Faust  eine  Hochstlei^tung  deutscher  Pichtkunst  istf 
wird  auch  nicht  bestreiten,  wen  er  kalt  lafit  GewShnen  wir 
tins  endlich  die  einseitige  Anschauungsweise  ab:  im  wirtschaft- 
lichen  Elend  die  Ursachc  fur  den  Verfall  auf  alien  andern  Ge- 
bieten,  also  auch  fiir  die  kulturelle  Niveaulosigkeit  zu  suchen, 
Machcn  wir  ebenso  dicse  Niveaulosigkeit  verantwortlich  fur 
den  wirtschaft lichen  Verfall,  dann  kotnmen  wir  de*  LSsung 
erheblich  naher,  Sie  ist  geistlos  geworden,  die  herrschende 
Klasse,  sie  hat  keine  Beziehung  mehr  zum  Geist,  zurKunst,  zur 
Kultur,  sie  fiihlt,  wie  hohl  und  sinnlos  ihre  Existenz  geworden 
ist,  Hier  liegt  eine  entscheidende  Ursache  fiir  unsre  anarchi- 
schen  Zustande,  zumiiidest  so  entscheidend  wie  das  Gko- 
nomische> 

Und  weil  Pohl  dies  nicht  sieht,  weil  er  nicht  sieht,  wie 
hier  Wechselwirkungen  am  Werke  sind,  steht  so  manches 
schiefe  Urteil  in  seinem  Buch.  Trotzdem  ist  es  ein  Wegweiser 
durch  die  Vielfaltigkeit  der  dichterischen  Exist  enzen,  init  gut  en 
Einzelbewertungen.  Ausgezeichnet  die  Abrechnung  init  den 
Federhelden  des  „nationalen  Schrifttums",  am  geistreichsten 
die  Analyse  der  ,,Politischen  Novelle"  von  Bruno  Frank:  wie 
er  da  an  der  MiBhandlung  der  Sprache  die  ganze  Minderwer- 
tigkeit  des  Autors  aufdeckt,  das  ist  sehr  gut  gelungen* Uber* 
haupt,  wenn  Pohl  ganz  dicht  an  die  Wurzeln  des  kunstle- 
rischen  Schaffens  gerat,  dann  gibt  es  Stellen,  die  man  nur  be- 
jahen  kann,  Aber  die  Theorie,  <lie  f&lsche,  sie  hemmt  ihn 
immer  wieder,  lenkt  seinen  Blick  ab  und  laBt  ihn  zu  Fehl- 
urteilen  kommen.     Was  schade  ist 


Die  Furcht  der  Intellektuellen  vor  dem  Sozialismus 

von  B61a  BaUzs 
IV 

XIII.  Es  ist  dasBedenken  gegen  zu  enggezogene,  gegen  zu  sehr 
auf  das  Praktisch-okonomische  gerichtete  ZieL  Doblin  prazisiert  als 
nachstliegende  Aufgabe  seines  jungen  Mannes:  MDie  Position  der 
menschlichen  Freiheit  einzunehmen,"  Und  falls  der  bald  wahlberechtigte 
Jtingling  noch  immer  nicht  wUBte,  wie  er  morgen  zu  handeln  hat,  so 
empf iehlt  ihm  Doblin  als  naheres  politisches  Programm  den  tf Wider- 
willen  gegen  Neid  und  HaS  und  Unrccht",  Denn  nur  die  Gesellschaft 
f)freier  und  natiirlioher  Menschen'*  ware  Sozialismus, 

Wir  lachen  und  spotten  nicht  uber  diese  etwas  allgemeinen  Fonnu- 
Herungen,  Wir  fratfen:  Kann  in  dieser  GesellschaftsOrdnung  jener 
t,freie  und  nattirliche  Mensch"  entstehen?  MuB  nicht  erst  diese 
kapitalistische  Gesellschaft  gesturzt  werden?  MuB  nicht  zuerst  die 
okonomische  Basis  der  freien  und  gleichen  Produzenten  aufgebaut 
werden,  damit  ein  freier  Mensch  entstehen  kann?.  Wer  aber  J-s 
Gute  will,  der  muB  auch 

Was  nun  das  politische  Programm  des  Widerwillens  gegen  Neid 
und  Hafi  betrifft,  so  wollen  wir  mit  Geduld  auch  darauf  antworten. 
Was  soil  man  denn  gegen  diese  bosen  Triebe  tun?  Das  Predigen 
hat  selbst  Jesus  von  Nazareth  nichts  genutzt.  Ein  guter  Arzt  behan- 
delt  nicht  die  Symptome,  sondern  die  Ursachen  der  Krankheit,  Der 
einzige  ernst  zu  nehmende  Kampf  gegen  diese  Ursachen  ware,  die 
Gelegenheiten  dieser  bosen  Triebe,  soweit  wie  mdglich,  zu  eliminieren. 

207 


1st  es  nun  wahr  oder  nicht,  dafi  es  in  einer  klassenlosen  Gesellschaft 
ohne  Privateigentum  weniger  Anlafi  zu  Neid,  Gier  und  Ver- 
suchung  gabe?  Bestimmt  werden  die  Menschen  auch  in  einer  so- 
ziaiistischen  Gesellschaft  keine  Engel  werden.  Vielleicht  werden 
sogar  neue  Laster  entstehen,  die  wir  noch  gar  nicht  kennen.  Eines 
aber  ist  gewifi,  dafi  eine  ganze  Reihe  von  Versuchungen  und  Anlassen 
verschwinden  wird.  Und  noch  eines  ist  gewifi:  wenn  jemand  fur  den 
bessern  Menschen  etwas  wirklich  tun  will,  der  mufi  fiir  eine  Gesell- 
schaft kampfen,  in  der  dieser  zumindest  moglicher  sein  wird. 

XIV.  Hier  sollen  zwei  haufige  Zweifel  der  ethisch  besonders  tief 
Veranlagten  angefuhrt  werden.  Die  einen  sind  die  Entweder-Oder- 
Menschen,  die  nur  darum  keine  Kommunisten  werden  wollen,  weil  sie 
den  Forderungen,  die  sie  sich  dann  stellen  wurden,  nicht  entsprechen 
konnten.  Sie  sind  bescheiden  und  demtitig  und  sagen:  ich  bin  nicht 
stark  genug  ftir  einen  wirklichen  Revolutionar,  Nach  meiner  _  Ober- 
zeugung  miifite  ich  dann  all  mein  Hab  und  Gut  hergeben,  Weib  und 
Kind  verlassen  etcetera.  Da  ich  aber  das  nicht  vermag,  fange  ich 
gar  nicht  an  und  zahle  auch  nicht  die  zwei  Mark  fur  die  LA.H. 

Dann  gibt  es  noch  den  moralisch  so  iiberaus  Empfindlichen,  der 
an  die  Menschheit  iiberhaupt  nicht  mehr  glaubt.  Er  gibt  den  Kom- 
munisten in  allem  Recht.  Er  meint  blofi,  es  sttinde  nicht  dafur.  Der 
Mensch  sei  es  nicht  wert.  Es  wird  so  und  so  nichts  daraus.  Der 
Mensch  sei  schlecht. 

Den  ersten  kann  man  entgegenhalten,  dafi  niemand  von  ihnen  so- 
viel  verlangt.  Man  tut,  was  man  kann  und  gebraucht  keine  heroischen 
Vorwande  zum  Auskneifen.  Die  vielen  Millionen  kommunistischer 
Parteiganger  sind  nicht  alle  Helden  und  Martyrer.  Kommunismus  ver- 
kundet  auch  keine  Askese,  Es  kommt  nicht  darauf  an,  eine 
moralische  Prufung  mit  Auszeichnung  zu  bestehen,  sondern 
der  Bewegung  ein  klein  wenig  praktisch  zu  helfen,  Und  ist 
man  einmal  dabei  und  weifi  man  warum,  so  lassen  sich  auch  die 
unvermeidlichen  Unannehmlichkeiten  leichter  ertragen  als  man  glaubt; 

Den  andern  sagt  man  am  besten:  also  hang  dich  aufl  Lohnt  es 
sich  denn  zu  leben,  wenn  der  Mensch  so  hoffnungslos  schlecht  ist, 
dafi  es  sich  nicht  lohnt,  ihm  zu  helfen?  Im  iibrigen  ist  dieMetamoral 
dieses  Pessimismus  auch  nur  ein  Auskneifen.  Eine  Flucbt  vor  dem 
Problem.  Um  nicht  zugreifen  zu  mtissen,  meint  man  von  vornherein, 
man  konne  gar  nicht  helfen.  Aber  man  kann  diesen  Pessimisten  auch 
die  Antwort  geben,  die  Gorki  in  einer  Novelle  einem  Bauern  erteilen 
liefi:  „Ist  der  Mensch  so  schlecht,"  sagt  der  Bauer,  MdaB  man  das 
ganze  Geschlecht  ausrotten  miifite?"  Moglich.  Machen  wir  aber 
noch  einen  letzten  Versuch.  Lassen  wir  sie  einmal  alle  satt  werden 
ohne  dafur  einander  peinigen  und  ausplundern  zu  mtissen.  • 

XV.  Das .  Bedenken  gegen  eine  ,tAssimilation  des  Intellektuellen 
zum  Arbeiter*.  Denn  das  ware  „Aufgabe  seiner  selbst",  ruft  Doblin 
aus.     HEs  ware  unehrlicher,  feiger  Verrat."  ' 

Niemand  verlangt  vom  Intellektuellen  eine  Assimilation.  Man 
verlangt  von  ihm  blofi  eine  Einsicht,  Die  Einsicht,  dafi  seine  Inter - 
essen  als  geistiger  Arbeiter  dieselben  sind  wie  die  des  Proletariats,  und 
zwar  nicht  nur  im  Okbnomischen,  sondern  auch  im  Kulturellen,  weil 
der  Sozialisinus  eine  f reiere  Ehtf altung  seiner  Qeistigkeit  verbtirgt. 

tfur  die  ehrlichen  Konsequenzen  aus  dieser  Einsicht  werden  ver- 
langt. Aber  Weg-  und  Kampfgemeinschait  sind  noch  keine  Assimila- 
tion/ Audh  in  4er  gemeinsamen  Front  erfullen  die  Intellektuellen  als 
spezifische  \fraffengaUung  am  besten  ihre  Auf  gabe,  Man  verlangt  auch 
voin  reWutiqnareh *  Bauern  t  keine  Assimilation  an  den  Arbeiter. 

Uemeinsame  Weltanschauung,  phne  die  es  keinen  gemeinsamen 
Kampf  ^ibt,  ist  auch  noch  keine  Assimilation.  Es  gibt  ambitiose 
IntelleJkJueli«,  die  «ich;  auf  Proletarier  kostumier«n.  Sie  bemiihen  sich, 
308 


ihr  Argot  und  ihre  Manieren  nachzuahmen,  wenn  sie  unter  die  Ar- 
beiter  gehen,  Der  Prolet  lacht  diese  Affen  aus,  auch  wenn  sie  es 
sonst  ehrlich  meinen.  Die  Sprache  des  Arbeiters  sprechen  heiBt  nicht 
sein  Argot  zu  sprechen,  sondern  seiner  klassenmafiig  angemessenen 
Denkweise  klaren  Audruck  zu  geben,  Daftir  aber  sollten  grade  die 
marxistisch  geschulten  Revolutionare  die  Spezialisten  sein,  zumal  es 
ja  auch  ihre  Denkweise  ist,  Der  Rest  ist  Sache  des  naturlichen 
Taktgeftihls. 

Gemeinsame  Weltanschauung,  gleiche  Lebensbedingungen  und  vor 
allem  das  Aufhoren  der  Klassen-Bildungsunterschiede  werden  auto- 
matisch  eine  gewisse  Angleichung  mit  sich  bringen,  Aber  brauchbare 
Bildungswerte  jetzt  aufzugeben,  nur  darum,  weil  dem  Proleten  heute 
die  freie  Bildungsmoglichkeit  vorenthalten  wird,  ware  dumme  Sabo- 
tage. Die  Werke  von  Marx  und  Engels  sind  mit  dem  Riistzeug  der 
entwickelten  burgerlichen  Wissenschaft  geschrieben  und  gar  nicht  im 
proletarischen  Argot,  und  wenn  heute  auch  noch  die  wenigsten  Pro- 
leten die  ungemein  konzentrierte,  mit  den  Termini  der  klassischen 
Philosophie  durchtrankte,  zuweilen  paradox  pointierte  Sprache  von 
Karl  Marx  verstehen,  so  hat  er  doch  fur  das  Proletariat  geschrieben 
und  gesprochen, 

XVL  Kurt  Hiller  formuliert  so:  „Der  Prolet  ist  nicht  deshalb  ein 
Heiland,  weil  er  ein  Prolet  ist"  . , ,  „Wir  rutschen  nicht  auf  dem  Bauch 
vor  einem  Stand"-.,  Ob  etwas  wahr  ist  oder  nicht,  „das  folgt  aus 
den  Erwagungen  der  Philosophie,  nicht  aus  den  Formen  des  Produk- 
tionsprozesses", 

Gewifi,  aus  den  Erwagungen  der  Philosophie.  Diese  aber  ist  be-  - 
dingt  durch  die  Formen  des  Produktionsprozesses.  Gibt  es  einen 
wesentlichen  Unterschied  zwischen  feudaler  und  btirgerlicher  Philo- 
sophie? Gibt  es  einen  bis  auf  die  Grundprinzipien  und  auf  die  Gesamt- 
einstellung  zuruckgehenden  Unterschied  zwischen  der  Denkweise 
verschiedener  Klassen  und  Zeiten?  (Wet  eine  Geschichte  der  Philo- 
sophie einmal  durchblattert,  der  muB  es  merken.)  Die  verschiedenen 
historischen  Denkweisen  grenzen  sich  zeitlich  nicht  scharf  ab.  In 
jeder  Gegenwart  gibt  es  vom  Alten  und  vom  Neuen,  Aber  jeder  Ge- 
genwart  entspricht  nur  eine  richtige  Erkenntnis. 

Das  Proletariat  von  heute  hat  nicht  darum  recht,  weil  die  einzelnen 
Proleten  intelligenter  als  die  Burger  sind.  Sie  haben  es  bloB  leichter, 
das  Richtige  zu  treffen.  Sie  haben  nicht  bessere  Augen  sondern  eine 
bessere  Aussicht  vom  Halteplatz  ihrer  Klasse.  Und  darum  ist  der  Pro- 
let  wahrlich  auch  der  Heiland,  eben  nur  darum,  weil  er  ein  Prolet 
ist,  Nicht  als  Person,  sondern  weil  seine  Klasse  die  historische  Mis- 
sion hat,  Weil  seine  Klasse  die  Tragerin  der  einzigen  Zukunftsmog- 
lichkeit  ist,  Weil  es  nicht  nur  stehende  Tatsachen  zu  erkennen  gibt, 
sondern  einen  sozialen  ProzeB,  dem  das  Proletariat  am  nachsten  steht, 
weil   er  sich  in  ihm  entscheidet. 

XVII.  Kurt  Hiller  schreibt:  „Wir  kdnnen  nicht  anerkennen,  dafi 
einer  bestimmten  Partei  ein  Monopol  zustehe  auf  Aktivitat  zur  Ver- 
wirklichung  des   Sozialismus  in  Deutschland." 

Konnen  wir  zugeben,  dafi  den  Beinen  ein  Monopol  zum  Gehen 
zustehe?  Konnen  wir  zugeben,  daB  dem  Schiff  ein  Monopol  zustehe, 
tiber  See  zu  fahreh?  Kurt  Hiller  weiB,  dafi  man  es  weder  mit  einem 
individuelleri  Paddelboot  noch  mit  einem  Achter  schafft.  Die  groBen 
Schiffe  der  politischen  Reederei,  die  Massen  zu  tragen  imstande  sind, 
haben  ihren  Kurs,  Wenn  ich  mit  einem  Endziel  einverstanden  bin, 
so  muB  ich  mich  eben  auf  das  betreffende  Schiff  setzen,  auch  wenn 
ich  sehr  vieles  an  ihm  auszusetzen  hatte,  Es  gibt  eben  kein  andres. 
das   mich  und   die   anderen   dahin   tragen  konnte. 

XVIIL  Die  beliebte  letzte  Reserve  heiBt:  „Moskau  ja  V- 
aber    das     Karl-Liebknecht-Haus     nicht,"     Nicht    der   Bolschewismus, 

209 


riur  die  deutsche  Partei  sei  unzulanglich,  Moskau  brauchc  andre 
Methoden,  die  deutsche  Partei  muBte  f,originell"  sein,  mit  andrer 
Strategie  arbeiten. 

Hiller  wirft  der  KPD  vort  sie  ware  „stolz  auf  fremde  Erfolge". 
Der  Erfolg  der  sozialistischen  Idee  in  RuBland  ist  kein  fremder  Er- 
folg, Es  ist  der  Erfolg  der  kommunistischen  Idee,  Ein  Erfolg  des- 
Proletariats.  Mit  Recht  erfiillt  er  auch  den  deutschen  Kommunisten 
mit  Vertrauen  auf  die  historische  Kraft  seiner  Idee, 

,,Zeigt  erst,  was  Ihr  selber  konnt!"  ruft  Kurt  Hiller  der  KPD  zu. 
Stellt  er  das  als  Bedingung  fur  seinen  Anschlufi?  Will  er  also  erst 
nach  dem  Siege  kommen?    Das  ware  fast  zu  vorsichtig. 

XIX.  Das  MiBtrauen  des  Proletariats  und  der  Partei  gegen 
Intellektuelle.  lfStatt  zu  sammeln,  stoBen  sie  ab.  Statt  auszudehnen* 
verengen  sie  die  revolutionare  Front  und  isolieren  die  Partei/' 

Dieses  MiBtrauen  ist  in  den  aufgezahlten  Bedenken  begriindet. 
Man  kann  nie  wissen,  in  welchem  Augenblick  einer  dieser  innern  Kon- 
flikte  plotzlich  aufbricht.  Sie  sind  teils  ganz  tief  im  UnbewuBten 
verankert.  Aber  es  stehen  ja  von  jeher  massenhaft  Intellektuelle  in 
der  proletarisch-revolutionaren  Bewegung,  Es  ist  also  nicht  unmog- 
lich,  das  MiBtrauen  zu  iiberwinden.     Man  hat  sich  zu  beweisen. 

Warming  an  Phantasten  und  Optimisten!:  Es  geht  nicht  im  Hand- 
umdrehen,  Man  wird  manche  Demiitigung  und  auch  manche  un- 
gerechte  Ablehnung  dulden  mussen.  Man  verstehe,  daB  man  fur  die 
Sunden  der  Andern  leidet  und  freue  sich  uber  die  wachsame  Vorsicht 
des  klassenbewuBten  Proletariats.  Nur  der  verdient  Vertrauen,  der 
dieses  MiBtrauen  versteht.  Eitle  Empfindlichkeit  gilt  nicht.  Und 
wer  liebt,  der  wirbt.  Wer  etwas  wirklich  will,  laBt  sich  nicht  ab- 
schrecken. 

Was  aber  die  Verbreiterung  der  Front  betrif ft,  so  ist  eine  Ver- 
breiterung  nur  ohne  eine  Verfalschung  moglich.  Was  nach  kleinen 
Unterschiedsnuancen  aussieht,  ftihrt  in  seinen  Konsequenzen  ins  feind* 
liche  Lager. 

Auch  Sympathisierende  sind  fur  die  Partei  von  Wert,  selbst  wenn 
sie  politisch  und  ideologisch  in  Einzelheiten  noch  nicht  ganz  klar 
sind.  BloB  eine  Bedingung:  daB  sie  tatsachlich  sympathisieren.  Das 
heiBt  mit  der  Partei  und  nicht  blofi  mit  abstrakten  und  verschwom- 
menen  Endzielen.  Wer  die  Partei  nicht  prinzipiell  bejaht  und  nicht 
die  Konsequenzen  daraus  zieht,  der  verbreitert  die  Front  nicht,  son- 
dem  verwischt  sie,  Je  naher  er  steht,  um  so  mehr  kann  seine  Sym- 
pathie  zu  einem  ideologischen  Nebelangriff  werden.  Grade  Intellek- 
tuelle muBten  fur  die  Wichtigkeit  genauer  Distinktion  Vers  tan  dnis 
haben, 

Und  den  Hochmut,  den  Hochmut  der  Gehirnspezialisten  mussen 
wir  uns  abgewohnen!  Alfred  Doblin  spricht  zum  Beispiel  von  einer 
„Verpflichtung  der  Intellektuellen  geistige  Hilfe  zu  leisten". 

Man  hat  auf  sie  gewartet!  Der  Intellektuelle  helfe  dem  Prole- 
tariat? Geistige  Hilfe  muB  dem  Intellektuellen  heute  vom  Prole- 
tariat kommen.  Nicht  etwa  aus  der  „Tiefe  des  Volksinstinktes",  von 
dem  romantische  Naiionalisten  singen,  sondern  von  der  Ideologic  des 
klassenbewuBten  Proletariats,  so  die  einzige  Realitat  der  Gegenwart 
darstellt  im  Chaos  der  subjektiven  Stimmungen  und  Hirngespinste,  m 
der  Stoff-  und  Gegenstandslosigkeit  der  btirgerlichen  Philosophic 
Nur  diese  Ideologic  kann  den  Intellektuellen  helfen,  ihre  Krise  zu 
iiberwinden. 

Nein,  man  braucht  nicht  dringend  Generate,  Wir  sollen  nicht 
fiihren,  nicht  retten,  nicht  entscheidende  Missionen  erftillen.  Blo& 
einfach  uns  einreihen  in  unserm  eigensten  Interesse, 

210 


Die  Anmafiung  der  Sinne  von  Rudolf  Amheim 

r^er  Grad  der  Wertschatzung,  deren  sich  die  Methoden  der 
*^  exakten  Wissenschaft  erfreuen,  wechselt  auf  dialektische 
Art:  einmal  iiihrt  die  stoke  Freude  dariiber,  wie  sich  Voraus- 
sagen  bewahrheiten  und  wie  bisher  verschiedenartige  Natur- 
erscheinungen  plotzlich  zu  einer  einzigen,  umfassenderen  und 
einfacheren  verschmelzen,  zu  der  Uberzeugung,  daB  nun  das 
Licht  in  der  Finsternis  scheine,  daB  nichts  Irdisches  mehr  zu 
erklaren  sei  und  daB  nichts  Oberirdisches  mehr  geduldet  zu 
werden  brauche;  und  dann  wieder  findet  der  Blick  zuriick  von 
der  Formel  zur  Wirklichkeit,  zu  dem  vielgestaltigen,  verwirren- 
den  Objekt  der  Wissenschaft  —  das  Erreichte  erscheint  durr„ 
pedantisch,  unpassend,  und  enttauscht  retiriert  man  zu  den 
Glaubigen  und  den  Didhtern.  Dies  Hin  und  Her,  priifender 
Vergleich  zwischen  Erklarung  und  Erklartem,  bringt  in  das  Le- 
ben  des  einzelnen  Forschers  wie  in  das  Leben  der  sich  ge- 
schichtlich  entwickelnden  Wissenschaft  viel  Verzweiflung 
aber  zugleich  die  entscheidenden  AnstoBe  zum  Fortschritt. 

Es  ist  natxirlich,  daB  gegen  Ende  des  ,,Jahrhunderts  der 
Naturwissenschaft",  des  neunzehnten,  viele  glaubten,  man  sei 
nun  endgiiltig  hinter  die  Schliche  der  Schopfung  gekommen* 
Dies  Weltbild,  das  uns  noch  heute  durch  seine  Schneidigkeit 
erfrischt  und  durch  seine  kindliche  Blindheit  verwundert,  be- 
deutete  nichts  andres  als  Ersetzung  der  Wirklichkeit  durch  das 
Geriist  der  exakten  Begriffe.  Ernst  Haeckel  nannte  in  den 
^Weltratseln"  Gott  ein  (fgasformiges  Wirbeltier"  —  solche  an- 
griffsfreudigen  Formulierungen  stammten  aus  dem  Vergniigen 
an  den  frisch  erkampften  Waffen  eines  herzhaft  erdgebunde- 
nen,  erfolgbegleiteten  Denkens,  Heute  fiihren  wieder  die  Geg- 
ner  das  Wort,  obschon  die  Einzelforschung  fortfahrt,  durch 
immer  neue  groBartige  Entdeckungen  ihre  Kraft  zu  erweisen. 
Diese  Gegner  sprechen  so,  als  sei  es  ganz  allgemein  das  Wesen 
wissenschaftlichen  Denkens,  die  Wirklichkeit  durch  Formeln 
zu  verarmlichen,  und  von  hier  aus  sieht  man  in  einem  bestimm- 
ten  weltanschaulich-politischen  Lager  die  Methode  der  Wissen- 
schaft gradezu  als  ein  Produkt  jiidiscben  Zersetzungsgeistes, 
den  die  Schonheit  der  Schopfung  nicht  ruhen  lasse. 

Demgegentiber  ist  laut  zu  sagen,  daB  der  Geist  echter  Na- 
turforschung  diesen  Vorwurf  keineswegs  verdient.  Der  For- 
scher  spricht  nicht  von  der  „Leiche  der  Natur",  wie  man  be- 
hauptet  hat.  Denn  am  Sektionstisch  wird  nicht  vom  Tode  son- 
dern  vom  Leben  gehandelt  Wie  der  Maler  das  Skelett  stu- 
diert,  nicht  um  an  die  Stelle  des  Menschen  ein  Knochengestelt 
zu  setzen  sondern  um  in  der  unbestimmten,  vieldeutigen  An- 
sicht  des  lebendigen  Fleisches  zugleich  das  Gesetz  des  Baues 
zu  erschauen,  so  erscheint  dem  Erkennenden  in  der  Sinnenwelt 
das  Gesetz;  nicht  aber  das  Gesetz  statt  der  Sinnenwelt!  Und 
wenn  Gustav  Theodor  Fechner  schon  1879  in  seiner  Schrift 
„Die  Tagesansicht  gegeniiber  der  Nachtansicht"  sich  dariiber 
beschwerte,  daB  die  schone  Augenweide  der  naiven  Wirklich- 
keit abgelost  werden  solle  von  der  schweigenden  Dusternis 
einer  wissenschaftlichen  Welt,  so  iibersah  er,  daB  er  damit  die 

211 


eine  Sinnenwelt  durch  eine  andre  ersetztet  wohingegen  der 
Naturforscher  von  unsinnlichen  Dingen  spricht,  urn  die  sinn- 
lichen  zu  verstehen. 

Was  gegen  die  Wissenschaft  ausgespielt  wird,  ist  die  Er- 
kenntnis  durch  bloBes  Schauen,  durch  Intuition  von  Gottes 
Gnaden.  Man  argument icrt  vom  Glauben  her,  der  natiirlich, 
wie  die  mathematischen  Axiome,  „eines  Beweises  weder  fahig 
noch  bedtirftig  ist",  weil  er  auf  „Offenbarung"  oder,  wie  die 
Unglaubigen  sagen,  auf  konstitutiven  Gemutsbediirfmssen  der 
menschlichen  Seele  beruht  Die  Interpretation  der  Unglaubi- 
gen besagt  nichts  gegen  den  Glauben  als  subjektive  Gemiits- 
stiitze  der  Frommen,  aber  alles  gegen  den  Glauben  als  Er- 
kenntnismethode  und  Wahrheitsquelle,  Denn  nur  wenn  er  aus 
der  Offenbarung  stammt,  ist  er  unfehlbar;  stammt  er  aber  aus 
irdischer  Seelenangst  und  Hilflosigkeit,  so  ist  er,  als  Erkennt- 
niswerkzeug,  mit  alien  Fehlern  eines  subjektiven,  interessierten 
Denkens  behaf tet.  Ganz  ahnlich  steht  es  mit  der  Intuition  und 
Schau.  Stammt  sie  aus  einer  Offenbarung  oder  aus  einer 
a  priori  in  den  Menschen  gelegten  Fahigkeit,  so  ist  ihre  Be- 
Aveiskraft  unantastbar.  Stammt  sie  aber,  wie  wir-  glauben,  aus 
phylogenetisch  und  ontogenetisch  aufgehauftem  Erfahrungs- 
material,  das  vom  UnbewuBteh  her  den  Denker  in  Richtungen 
lenkt,  die  zunachst  noch  keine  exakte  Oberlegung  mit  stichhal- 
tigen  Argumenten  zu  stutzen  weiB,  so  gehort  sie  keiner  er- 
habeneren  Sphare  an  als  die  bewuBte  Forschung  sondern  ist 
anfechtbarer,  weil  unkritischer.  Niemand  wird  bestreiten,  daB 
grade  die  groBen  Entdeckungen  und  Einfalle  aus  dieser  dunk- 
len  Gegend  kommen,  wo  Verstand  und  Gefiihl  noch  nicht  ge- 
trerint  sondern  als  Verstandesgefiihle  wirken,  —  es  gilt  nur, 
sich  von  der  prinzipiellen  Gleichartigkeit  der  bewuBten  und 
der  unbewuBten  Form  des  Denkens  zu  iiberzeugen.  Daraus 
folgt,  daB  die  unreflektierten  Erkenntnisse,  die  im  Erlebnis  so 
wirken,  als  Helen  sie  stracks  vom  Himmel  oder  flossen  unmit- 
telbar  aus  dem  Wesen  des  angeschauten  Gegenstandes,  in 
Wirklichkeit  vollgestopft  sind  mit  alten  Denkergebnissen,  von 
denen  man  sich  keine  Rechenschaft  gibt  und  die  deshalb  be- 
sonders  gefahrlich  werden  konnen, 

Man  darf  den  Kult  der  Intuit ionsglaubigen  nicht  verwech- 
seln  mit  der  Krise  der  sogenannten  analytischen  Methode 
innerhalb  der  Naturwissenschaft,  Von  Seiten  der  Verstandes- 
gegner,  aber  auch  der  Geisteswissenschaftler  wird  immer  noch 
vielfach  behauptet,  die  Naturwissenschaft  benuihe  sich  nach 
wie  vor,  die  Welt  als  einen  additiven  Aufbau  von  Elementen 
zu  begreifen,  obwohl  alles  Natiirliche  sich  solcher  Analyse 
^rundsatzlich  entziehe.  Beides  ist  falsch.  Denn  einerseits  hat 
grade  die  Lehre  von  den  Elementarbausteinen  in  der  neuen 
theoretischen  Physik  zu  den  erschiitterndsten  Erfolgen  gefiihrt, 
und  andrerseits  beimiht  man  sich  auf  alien  Gebieten  der  Wis- 
senschaft, der  Erkenntnis  gerecht  zu  werden,  daB  es  ohne  ad- 
equate Erfassung  der  ganzheitlichen  Strukturen,  der  festal- 
ten",  nicht  weitergeht  Man  glaubt  aber  keineswegs,  daB  diese 
Ganzheiten  exakter  Erforschung  grundsatzlich  unzuganglich 
bleiben  miifiten  und  nur  durch  Schau  odei*  Glaube  zu  erfassen 

212 


seien,  sondern  man  sucht  die  Methoden  entsprechend  zu  modi- 
fizieren.  Die  sogenannten  Vitalisten  zwar  Ziehen  zur  Erkla- 
rung  der  biologischen  Regulationsphanomene  ein  nicht  weiter 
zuruckfiihrbares  Lebensprinzip,  die  Entelechie,  heran,  ahnlich 
der  von  Aristoteles  erfundenen  und  von  den  Alchimisten  ge- 
suchten  quinta  essentia,  die  als  formendes  Agens  zu  den  Ele- 
menten  hinzutreten  sollte.  Wenn  man  etwa  im  Tierexperiment 
feststellt,  wie  ein  Stuck  Bauchhaut,  das  man  iiber  die  Retina 
des  sich  entwickelnden  Auges  gepflanzt  hat,  sich  den  Erforder- 
nissen  der  neuen  Umgebung  anpaBt  und  zur  Augenlinse  wird, 
so  erkennt  man  zwar,  daB  man  fur  die  Erklarung  solcher  Natur- 
vorgange  nicht  mit  der  Annahme  eingeborener,  maschinenhaft 
invariabler  Funktionen  'der  Einzelteile  auskommt,  aber  das 
heiBt  noch  nicht,  daB  im  Bezirk  des  Organischen  ein  wissen- 
schaftlich  unbegreif  barer  Gott  zauberische  Spiele  auffiihre. 
Sondern  das  heiBt  nur,  daB  die  alten  mechanistischen  Vorstel- 
lungen  vom  Funktionieren  der  Teile  zu  eng  sind  und  daher 
besser  angepaBten,  aber  nicht  weniger  exakten  und  konkreten 
Begriffen  weichen  mussen. 

Wahrend  also  Intuitionisten  und  Wissenschaltler  auf  grund- 
satzlich  verschiedenem  Wege  zur  Erkenntnis  zu  gelangen 
suchen,  finden  wir  heute  in  beiden  Lagern  eine  ahnliche  Art, 
das  alte  atomistische  Denken  blind  und  verachtlich  zu  nennen. 
Aber  das  sollte  man  nicht  tun,  auch  nicht,  wenn  man,  wie  die 
Wissenschaftler,  dariiber  hinaus  gekommen  ist,  Man  sollte 
nicht  vergessen,  daB  diese  Denkweise,  die  von  den  griechischen 
Philosophen  der  Antike  stammt,  den  verehrungswiirdigen  ersten 
Versuch  darstellt,  iiber  den  Augenschein  der  Sinnenwelt  hin- 
weg  zur  Wahrheit  vorzudringen.  Der  Atomismus  ist  wohl  das 
friiheste  dramatische  Beispiel  fiir  die  Kiihnheit  des  hypotheti- 
schen  Denkens,  fiir  den  frommen  Glauben  an  die  Gesetzlich- 
keit  der  Welt  Die  Erfahrung  zeigt  nichts  als  eine  bestiirzende 
Mannigfaltigkeit  einander  hochst  unahnlicher,  werdender  und 
vergehender  Dingformen,  Es  gehorte  viel  Mut  und  Glauibig- 
keit  dazu,  sich  von  diesem  Eindruck  freizumachen  und  zu  be- 
haupten,  alle  diese  verschiedenen  Gegenstande  seien  Abwand- 
lungen  weniger  Grundelemente,  Es  kostete  viel  Miihe  und 
brachte  wenig  Erfolg,  wenn  man  fiir  diesen  Satz  anschauliche 
Beweise  aus  der  Erfahrung  beibringen  wollte.  Vielmehr  ver- 
kundete  aller  Augenschein  laut  das  Gegenteil,  und  dennoch 
setzte  sich  das  Grundbediirfnis  alles  menschlichen  Welt- 
anschauensf  der  Ordnungstrieb,  der  Glaube  an  die  kosmische 
Struktur  der  Welt  eindringlich  durch.  In  groBartiger  Nackt- 
-  heit,  frei  von  jeglicher  Zustimmung  der  Sinneserfahrung,  steht 
hier  als  spontaner  Denkakt  das  Postulat  vor  uns,  das  bis  heute 
jeder  Forschende  an  den  Anfang  seiner  Arbeit  setzt,  Und  es 
ist  wohl  das  ergreifendste  Ereignis  der  Geistesgeschichte,  wie 
diese  gegen  das  Zeugnis  der  Sinne  aufgestellte  alte  Forderung 
dann  lange  Jahrhunderte  spater  durch  die  Sinne  ihre  beweis- 
kraftige  Bestatigung  erfahrt.  Als  um  1800  John  Dalton  die 
Verbindungsgewichte  der  chemischen  Elemente  entdeckte  und 
damit  den  Siegeszug  der  modernen  Atomistik  eroffnete,  da 
,,sah"  man    im    leibhaftigen  Experiment    die  Unstetigkeit    im 

213 


stofflichen  Aufbau  und    die  strenge  Gesetzlichkeit,    nach    dcr 
sich  die  kleinsten  Baustcine  verbinden. 

Der  Atomismus  bleibt  —  ganz  gleich,  wie  viel  von  ihra  in 
das  Weltbild  <ier  Zukunft  eingeht  —  das  erste,  grofie  Dcnkmal 
fiir  den  Kampf  dcr  Wahrheit  gegcn  den  Augenschein.  Dieser 
Kampf,  der,  wie  die  Religion,  begann  mit  dem  credo  quia  ab- 
surdum  est,  der  aber,  sehr  anders  als  die  Religion,  dazu  gefiihrt 
hat,  daB  wir  heute  die  Bahn  des  Heliumatoms  leibhaftig  photo- 
graphiert  vor  uns  sehen! 

Und  ein  solches  Denkmal  kann  als  zeitgemaBes  Wahr- 
zeichen  dienen,  denn  immer  noch  stehen  wir  mitten  in  dem 
Kampf  der  Wahrheit  gegen  den  Augenschein.  Von  der  grofien 
Umwertung,  die  sich  vollziehen  miiBte,  ist  noch  wenig  zu 
merken.  Alle  idealistische  Philosophic,  alle  Untersuchungen 
uber  das  Ding  an  sich  haben  bisher  nicht  vermocht,  in  unsre 
Anschauung  das  lebendige  Gefiihl  dafiir  zu  bringen,  daB  unsre 
Sinne  nicht  die  Mwirkliche  Welt"  vermitteln  sondern  ein  in 
vielfacher  Beziehung  unvollkommenes  Abbild,  Die  Schonheit 
der  Welt  soil  nicht  zerstort,  das  Schauen  "nicht  verboten  wer- 
den  —  das  sind  kindliche  Schreckgespenster!  — ,  aber  wir 
miissen  immer  mehr  dazu  kommen,  im  Fleische  das  Skelett  zu 
sehen,  den  Sinn  des  Sichtbaren  zu  begreifen.  Das  wird  unsre 
Anschauung  niemals  zerstoren  sondern  sie  nur  weiser  machen, 
Wir  miissen  lernen,  daB  es  nicht  die  Aufgabe  der  Wissenschaft 
ist(  dieser  scheinbar  Meigentlichen*'  Welt,  der  Sinnenwelt,  ge- 
recht  zu  werden,  sondern  umgekehrt  unsre  Aufgabe,  unsre  An- 
sicht  von  der  Welt  so  zu  verbessern,  daB  sie  dem  Charakter 
jener  wahren  Welt,  von  der  die  Wissenschaft  handelt,  immer 
mehr  entspricht. 

Geht  das?  Falls  wirklich  etwas  ganz  andres  gemeint  ist 
als  Ersetzung  der  lebendigen  Anschauung  durch  ein  abstraktes 
Netz  definierter  Begriffe?  LaBt  sich  die  Anschauung  modifi- 
zieren?  Haben  wir  irgend  eine  Macht  iiber  das,  was  von  auBen 
in  unsre  sensorischen  Nerven  stromt?  Sind  wir  nicht  in  bezug 
auf  die  Sinnlichkeit  reine  Empf anger?  Beispiele  mogen  zeigen, 
wie  es  damit  steht.  Auf  den  primitiven  Naturmenschen  wirkt 
das  plotzliche  Umsturzen  eines  Baumes  als  ein  gegen  ihn  ge- 
richteter  Angriff,  Das  Angreiferische  eines  solchen  Vorgangs 
ist  in  seinen  Sinneseindruck  unausscheidbar  eingebettet.  Der 
Europaer  mag  ihm  noch  so  eindringlich  von  morschem  Holz  und 
kraftigen  WindstoBen  erzahlen,  der  Naturmensch  wird  ihm 
bestenfalls  glauben  aber  niemals  davon  abgehen,  daB  das  We- 
sentliche  des  Vorgangs  damit  in  keiner  Weise  beruhrt  seL  fiir 
uns  haben  solche  Naturvorgange  den  anthropomorphistischen 
Beigeschmack  des  personlich  Aggressiven  fast  vollig  verloren. 
(Reste  davon  kann  man  konstatieren,  wenn  einer  beim  Box- 
training  auf  den  Punchingball  wiitend  wie  auf  einen  bosen 
Feind  einschlagt.  Die  Dynamik  des  Nachvornschnellens  ist  da 
so  stark,  daB  atavistische  Urgefuhle  wieder  auftauchen.)  Nicht 
nur  das  Verstandnis  fiir  den  Vorgang  hat  sich  bei  uns  verstarkt, 
sondern  dies  Verstandnis  ist  bereits  modifizierend  in  die  An- 
schauung eingegangen.  Und  die  Anschauung  bleibt  oft  Jahr- 
hunderte  hinter  der  Erkenntnis  zuriick.     Im  Falle  des  umstiir- 

214 


zenden  Baumes  wissen  wir,  daB  die  Evident  dcs  Sinnenehv 
drucks,  den  dcr  Primitive  empfangt,  nicht  der  „eigentlichen 
Welt"  angehort  sondern  ein  menschlich  gefarbtes  Abbild  ist. 
Mit  unsern  eignen  Anschauungen  steht  es  nicht  anders, 

Sie  sind  auf  gewissen  Gebieten  grade  in  Wandlung  be- 
griffen-  Manche  Menschen  sehen  heute  schon  das  Tier,  nicht 
nur  den  Affen,  als  ein  dem  Menschen  ganzlich  gleichartiges 
Wesen,  Es  handelt  sich  hier  nicht  urn  Wissen  und  Meinung 
sondern  urn  den  unmittelbar  en  Sinneseindruck,  um  das  Verhal- 
ten  im  lebendigen  Fall.  Fur  andre  Menschen  ist  das  Tier 
ebenso  selbstverstandlich  noch  ein  unverstandliches,  fremdes 
Pariageschopf ;  wennschon  man  hier  scharf  auf passen  muB: 
mancher,  der  alien  Darwinismus  emport  ablehnt,  strait  sich  auf 
die  liebenswiirdigste  Weise  Liigen,  wenn  er  mit  seinem  Hunde 
umgeht! 

Gewisse  Ergebnisse  der  Psychoanalyse,  besonders  die  Fehl- 
leistungslehre,  sind  schon  jetzt  so  fest  in  die  Anschauung  ein- 
gegangen,  daB  die  betreffenden  Menschen  den  psychologischen 
Sinn  bestimmter  Handlungen  ebenso  unmittelbar  „sehen"  wie 
der  Primitive  den  Angriff  des  stiirzenden  Baumes,  Ebenso 
steht  es  fur  manche  Menschen  mit  Kretschmers  Konstitutions- 
typen  oder  mit  Einsteins  Relativierung  der  Bewegung. 

In  andern  Fallen  wiederum  ist  die  Anschauung  der  For- 
schung  zwar  noch  nicht  nachgekommen,  aber  es  besteht  einige 
Hoffnung  fiir  die  Zukunft.  Die  sinnliche  Qualitat  der  „Festig- 
keit",  des  festen  Korpers,  etwa  hat  fiir  uns  noch  nichts  von  der 
dynamischen  Kraftespannung,  als  welche  die  Physik  sie  er- 
kannt  hat.  Aber  man  versuche  einmal,  eine  Tischplatte  zwi- 
schen  den  Fingern  hin  und  her  zu  driicken,  als  wolle  man  sie 
verbiegen,  und  man  versuche,  den  Widerstand  als  eine  Gegen- 
kraft  zu  erfuhlen.  Das  sind  nicht  Phantastereien,  Man  be- 
denke  nur,  wie  wir  beim  Anblick  eines  gespannten  SchieB- 
bogens  die  Spannung  des  Bogens  und  der  Sehne  unmittelbar 
sehen,  wahrend  jemand,  der  den  Sachverhalt  nicht  versteht, 
wohl  ungespannte  Ruhe  sehen  wird.  Ja  selbst  bei  einer  in 
Bronze  gegossenen  Dianafigur  sehen  wir  die  Spannung  des  Bo- 
gens, obwohl  faktisch  gar  keine  da  ist.  Die  Anschauung  ist 
eben  voin  Wissen  vollig  untrenmbar. 

Wir  werden  also  vielleicht  lernen,  die  scheinbare  Ruhe 
eines  Dinges  als  einen  Spannungszustand  zu  sehen  und  zu  er- 
tasten.  Unwahrscheinlich  hingegen  ist,  daB  wir  die  Erwarmung 
jemals  als  eine  Beschleunigung  der  Molekularbewegung  emp- 
finden  werden.  Unwahrscheinlich,  daB  wir  die  stabile  Glatte 
^ler  materiellen  Dinge  jemals  als  einen  lose  geschichteten, 
lochrigen  Haufen  kleinster  Teile  werden  erfassen  konnen.  Uni 
wahrscheinlich,  daB  der  sinnliche  JJnterschied'  zwischen  Gas 
und  Fliissigkeit  jemals  einem  Gefiihl  fiir  die  Gleichartigkeit 
von  Wasserstoff,  Sauerstoff  und  Wasser  weichen  wird.  Aber 
grade  hier,  wo  die  Anschauung  aussetzt,  hat  die  Umbewertung 
der  Anschauung  einzusetzen.  Es  ist  nicht  Aufgabe  der  Wissen- 
schaft,  das  „eigentlich  Wasserhafte",  die  sinnliche  Qualitat  des 
Flussigen,  auch  fiir  unsre  Sinne  anschaulich  zusammenzusetzen. 
Sondern  es  gilt  zu  verstehen,  daB  an  dieser  trugerischen  Quali- 

215 


tat  die  roh  mikroskopische  Rasternummer  unsrer  Sinnesorgane 
schuld  ist.  Wir  miissen  ein  Geftihl  dafiir  bekommen,  wic  zu- 
fallig  dcr  Scharte-  und  Feinheitsgrad  unsrer  Sinnesorgane  ist, 
Damit  wir  uns  die  AnmaBung  abgewohnen,  die  Sinnenwelt  als 
die  oberste  Instanz,  als  die  ,,eigentliche  Welt"  anzuseheri  und 
die  Ergebnisse  der  Wissenschait  daran  zu  messen,  wieweit  sie 
diesem  scheinbar  „WirkIichen"  gerecht  werden.  Denn  der  Weg 
des  Fortschritts  geht  umgekehrt.  Die  Sinnenwelt  muB  lernen, 
Sie  wird  dadurch  nicht  armer  sondern  imraer  reicher,  immer 
sinnvoller,  immer  lebendiger,  immer  menschenwiirdiger  werd^en, 

James  Joyce  von  iwan  goii 

r\  ie   giinstigste   Vorstellungt   die  sich  ein   gesunder  Europaer 

heute  von  einem  Dichter  macht,  ist  die  eines  zarten  Idio- 
ten,  -der,  um  nicht  offentlich  zu  foetteln,  mit  Versen  ge- 
schmiickte  Papierzettel  herumschickt,  wie  sonst  eirier  Schniir- 
senkel  anbietet,  statt  zu  mairmeln:  MIch  bin  Vater  von  achtzehn 
Kindern . .  /'.  Gott  sei  Dank  gibt  es  nicht  mehr  viele  von  diesen 
Kretins,  die  ihr  Let) en  damit  verbringen,  Verse  an  Verse  zu 
reihen.  Die  etwas  Begabten  sind  in  der  Filmbranche  angestellt, 
wo  das  Publikum  der  Peripherie  ihr  Talent  erkannt  hat.  Die 
andern,  die  Unheilbaren,  lafit  man  schlieBlich  doch  frei  herum- 
laufen,  weil  sie  zwar  hur^gern,  aber  aus  einem  Wahn  heraus, 
den  sie  HIdeal"  nennen,  genau  wie  das  beste  Warmekissen,  sich 
nicht  zu  dem  Heer  der  Arbeitslosen  gesellen  wollen. 

Aber  es  ist  anzunehmen,  daB  die  Dichter,  die  es  bleiben 
wollen,  ohne  Steine  essen  zu  miissen,  oder  sich  steinigen  zu 
lassen,  nur  in  verkappten  Stellungen  weiter  existieren.  Die 
eleganteste  Tarnung,  unter  der  sie  niemand  entdeckt,  ist  die 
Prosa, 

Selten  fallt  es  jemand  ein,  James  Joyce  zum  Beispiel 
einen  Dichter  zu  nennen,  und  doch  ist  er  das.  Und  nur  das, 
^Ulysses"  ist  ein  Epos.  Aber  die  Buchhandler  taufen  ihn 
Roman,  um  ihn  verkaufen  zu  konnen.  Joyce  war  ganz  zu 
Beginn  Lyriker:  er  schrieb  als  junger  Mann  die  zarten  Melo- 
dien  der  „Chamber  Music". 

In  dem  soeben  erschienenen  Kommentar  „Das  Ratsel 
Ulysses"  von  Stuart  Gilbert  (im  Rheinyerlag)  heiBt  es: 

„James  Joyce  ist  der  Fortsetzer  der  mit  Homer  beginnen- 
den  klassischen  Tradition;  wie  seine  Vorganger,  unterwirft  er 
sein  von  wildem  Leben  spriihendes  und  scheinbar  ungeord- 
netes  Werk  einer  Disziplin,  die  der  der  griechischen  Drama- 
tiker  nicht  nachsteht.  Die  ,-Einheiten*  des  Ulysses  zum  Bei- 
spiel sind  viel  umfassender  als  die  klassische  Dreiheit;  sie 
sind  mannigfach  und  symmetrisch  wie  das  labyrinthartige  Netz- 
werk  der  Nerven  und  Adern,  die  den  lebendigen  Organismus 
durchziehen  . . .  Jede  Episode  des  Ulysses  entspricht  einem  be- 
sonderen  Korperorgan,  bezieht  sich  auf  eine  gewisse  Kunst, 
hat   ihr  besonderes  Symbol,  ihre  Technik,  ihre  Farbe ..." 

Aber  mitten  in  diesem  grandiosen  Aufbau  wird  das  Ein- 
zelne  mit  nicht  minderer  Intensitat  behandelt.  Joyce  versucht, 
von    jedem    Begriff    die    allerletzte  Definition   zu   geben,   jedes 

216 


Ding  so  zu  gestalten,  daB  es  drei-,  wenn  nicht  vierdimensional 
erfiihlt  wird.  Er  prcBt  aus  cinem  Begriff  das  Vitalc  aus  wie 
den  Saft  aus  ciner  Zitronc,  so  daB  es  den  Anschein  hat,  als 
wiirde  kein  Dichter  nach  ihm  mehr  eine  Aussage  dariiber 
raachen  konnen.  So  gibt  es  im  Ulysses  einen  Abschnitt  uber 
das  ,,Wasser",  der  definitiv  wirkt.  Mit  der  liturgischen  Ruhe 
des  Berichtes  und  der  Aufzahlung,  aber  mit  der  gespannte- 
sten  Intensitat  des  Dichters  gelingt  es  Joyce,  uns  vorzuzahlen, 
vorzutauschen,  vorzubeten,  was  Wasser  ist.  Nichts  laBt  er 
aus,  nichts  vergiBt  er.  Alles,  was  Wasser  kann,  das  kann  sein 
Stil.  Er  lauscht,  er  flotet,  er  schweigt.  Er  erdriickt  einen, 
streichelt,  interessiert  und  klagt.  Alle,  alle  Metamorphosen 
und  Verkorperungen  des  Wassers  sind  angerufen.  Nicht  eine 
ist   vergessen.      Unfehlbar  wie    Gott. 

Das  ist  Dichtung.  Aber  doch  kalte  Dichtung.  Ohne  Pa- 
thos, ohne  Improvisationen,  ohne  Pomp;  aber  nicht  ohne  Me- 
lodie,  nicht  ohne  innere  Gestaltung,  nicht  ohne  Gefiihl.  Das 
ist  dichteste  Dichtung-  Joyce  ist  im  Gegensatz  zu  den  aui- 
brausenden,  betrunkenen  Romantikern  ein  kaltes  Genie,  das 
sich  an  der  GesetzmaBigkeit,  an  der  Arithmetik  des  Sternen- 
himmels  berauscht,  nicht  an  den  Sternschnuppen.  Er  ist  kein 
alkoholischer  Taumler,  sondern  ein  Hirndichter,  Ein  Denker 
und   Arbeiter. 

Die  Sprache  ist  sein  Material,  nicht  der  Gedanke.  An! 
Anfang  war  das  Wort.  Die  Sprache  ist  die  Erde,  die  er 
immer  und  immer  wieder  pfliigt  und  formt.  Die  Sprache  ist 
seine  Erde.  Er  geht  mit  ihr  urn,  wie  der  Steinklopfer  mit 
einem  formlosen  Berg;  Er  schlagt  sie  kreuz  und  klein,  urn 
darauf   radfahren   zu  konnen. 

Im  HUlysses"  hat  Joyce  gezeigt,  daB  er  ein  groBgestaltetesf 
durchdachtes  Werk  bauen  kann  wie  eine  Pyramide,  Aber  nun, 
in  seinem  neuen  Buch,  das  den  vorlaufigen  Titel  ,tWork  in 
Progress"  tragt,  und  von  dem  man  erst  wenige  Kapitel  kennt, 
geht  er  an  seine  Lieblingsarbeit  heran.  An  eine  vollige 
Revolutionierung  der  Sprache.  Hier  ruckt  das  „Wort"  an 
die  erste  Stelle.  Er  liebt  das  Wort  beinahe  physisch,  er  sieht 
die  Zeichen  neu,  stellt  sie  urn,,  auf  den  Kopf,  jongliert  mit 
ihnen,  wie  nur  ein  Rastelli,  gibt  ihnen  einen  neuen  Akzent, 
einen  andern  Sinn.  Beziehungent  Verwandtschaften  undFeind- 
schaften  der  Worte  untereinander  ergeben  eine  neue  unter- 
griindige,  phantastische  Welt.  Die  Worte  werden  Eigenwesen, 
Sie  tummeln  sich  im  Hirn  des  Dichters,  werden  gebrutet  und 
fliegen  als  schone  funkelnagelneue  Geistschmetterlinge  heraus. 
Joyce  spielt  mit  den  Worten  Kegel,  wirft  sie  um,  schichtet  sie 
anders,  verleiht  ihnen  nie  gehorten  Klang,  nie  geschaute  Bild- 
kraft,   eigne  Atmosphare,  personlichen  Duft. 

Bei  jenem  neuesten  Opus  darf  niemand  mehr  fragen,  was 
ein  Satz  eigentlich  bedeutet.  In  erster  Linie  ist  er,  klingt  er. 
Aus  den  Buchstaben  steigen  die  Visionen.  Da  sind  alte,  ver- 
beulte,  umgekrempelte,  neuziselierte  Worte,  die  zunachst  mehr 
um  ihrer  selbst  willen  da  sind,  als  um  des  Sinns,  den  sie  ber- 
gen.  Mehr  Klanggebilde  als  Sinngebilde.  Mehr  Zeichen  als 
Deutung.     Die  Leser   fassen  sich   an  den  Kopf   und   sprechen 

217 


sofort  von  Irrsinn,  weil  ihr  Sinn  nicht  darin  ist,  Es  ist  abcr 
lediglich  Dichtung,  gottliches  Spiel  mit  Feuern,  mit  Gcist  und 
Geistern.  Joyce  ist  ein  grausamer  Mystiker,  der  weiB,  wie  es 
urn  ,,die  Zeit"  bestellt  ist.  Er  tabt  in  den  Schluchten  der 
Einsamkeit,  er  lacht  sich  eins,  und  gibt  den  Menschen  harte 
Niisse  zu  knacken.  Den  Menschen,  die  ahnungslos  von  ihm 
verlangen,  daB  er  (der  Dichter)  ihnen  allenfalls  die  Zeit  ver- 
treibe,  und  die  sich  argern,  daB  sie  ihn  nicht  verstehen.  In 
hundert  Jahren,  wenn  sie,  nach  ihrem  Wirtschaftsfimxnel  und 
nach  ihrem  Kriegswahn,  wieder  mal  ruhig  spielen  und  denken 
konnen,  dann,  dann  erst  werden  sie  sich  wundern. 

Heute  aber  wird  James  Joyce  erst  fiinfzig  Jahre  alt  und 
ist  fur  viele  nur  ein  Pornograph. 

Friseur  antwortet  Kastner 

\7"erehrter   Herr   Kastner!    Entschuldigen   Sie, 
*     wenn  ich   ein    Momentchen   Sie    store, 
Sie  gossen  ein  Schalchen  Ironie 
iiber   die    Friseure. 

Sie  miissen  nicht   denken,  wir  seien  so  dumm. 
Unser  Hirn  ist   nicht   aUs-  Emaille, 
und  wir   sind  nicht   diimmer   als  andere.     Zum 
Beispiel  lese  ich  in  „Herz  auf  Taille". 

Wir  reden,   selbst   wenn  wir   viel  reden,   nicht   gern, 
unser   Kopf   ist   bei   anderen  Dingen. 
Ja,  ahnen   Sie  nicht,   daB  unsere  Herrn 
zum   Reden   uns  zwingen? 

„Sein  Sie  vorsichtig,  Mann,  mein  Hals  ist  wund  .  .  ." 
t,K6nnen   Sie   acht  Rumgrogs    vertragen?  . . ." 
<(Ohne  Hitler   kommt   Deutschland   bestimmt  auf   den   Hund  .  .-." 
,,Bei  mir   schlagt  der  Zorn  auf  den  Magen  ..." 

Da  mufl  man  doch  quatschen,  ob  man  will  oder  nicht, 

das  ist   notwendig  und  okonoraisch. 

Sie  machen  dariiber  sieben  Verse  Gedicht 

und  finden   uns   komisch. 

Wir  plaudern   mechanisch,   es   schadet   uns   nichts, 
wer   wollte  deswegen  uns   schelten? 
Nur   Gebildete   verziehen   emport   das  Gesicht, 
wenn  wir  plaudern   —   doch   die  sind   selten. 

Ich  gab  Ihnen  Auskunft,  entschuldigen  Sie, 
ich   sprach  nur   fur   die  Friseure. 
Sie   sehen:    die   wirklichen   Griinde    sind   die, 
die  man  nicht   sieht.    Ich  habe   die  Ehre. 

/.  A.:  Erna  Michel 

•it 

Kleine  Replik 

„Man  muB  quatschen,  ob  man  will  oder  nicht!  Das  ist  notwendig 
und  okonomischr  Liebes  Fraulein  I.  A.:  Wenn  schon  die  Friseure 
so  argumentieren,  konnen  die  Partei-  und  Wirtschaftsfiihrer  nicht 
klagen,  Dann  haben  sie  ihre  historische  Aufgabe,  Vorbild  zu  sein 
und  Schule  zu  machen,  nachweislich  erfullt.  Dann  haben  sie  nicht 
umsonst   getjuatscht. 

Erich   Kastner 

218 


OthellO  von  Alfred  Polgar 

VV7ir  haben  diesmal  versucht,  die  humorige  Theaterfreudig- 
»  ™  keit  herzustellen,  die  Shakespeare  auch  in  seinem 
Othello  bekundet",  schreibt  Leopold  JeBner,  seine  Regieab- 
sichten  erlauternd,  „. . .  da  ja  der  Humor  nach  dem  WUlen  des 
Dichters  alle  Tragik  nur  herausheiben  und  steigern  soil/'  Im 
neuen  Othello  des  Staatstheaters  geschieht  das  nicht,  Der 
Humor,  welcher  da  bekundet  wird,  erweist  sich  als  Parasit  des 
Tragischen,  dessen  Kraft  und  GroBe  mindernd. 

Der  Othello  Heinrich  Georges  ist  ein  Elementarwesen. 
Sein  Atem  geht  wie  Sturm  (selbst  bei  Windstille  im  Gemiit 
blast  es  heltig).  Gerat  er  in  Hitze,  hat  es  den  Anschein,  als 
ob,  umgekehrt  wie  ublich,  Feuer  einen  Blasebalg  entfache.  Er- 
regt,  stoBt  der  monstrose  General  Schreie  aus,  die  als  Stimme 
des  Urwalds  sich  deuten  lieBen,  und  seine  Art,  in  Augenblicken 
hililoser  Freude  oder  hilflosen  Zorns  mit  den  Handen  durch 
die  tuft  zu  paddeln,  scheint  wie  rudimentares  Oberbleibsel 
einer  von  den  Ahnen  vor  noch  nicht  gar  zu  langer  Zeit  abge- 
legten  Gewohnheit,  auf  alien  Vieren  zu  gehen.  Er  ist  viel 
mehr  Neger  als  Mohr,  von  der  Kultur  zwar  beleckt,  aber  so, 
als  hatte  die  Kultur  damit  nur  einer  an  sie  gerichteten  groben 
Aufforderung  Othellos  entsprochen,  DaB  Brabantios  Tochter 
von  einem  Geschopf  wie  ihm  sich '  angezogen  fuhlen  konnte, 
.  miiBte  eigentlich  dieses  Othello  starkster  Verdachtsgrund 
wider  sie  sein;  denn  anders  als  mit  einer  Sinnlichkeit,  die  nach 
Nahrung  von  starkstem  Hautgout  verlangt,  mit  einer  wilden 
animalischen  Neugier,  der  alles  zuzutrauen  ist,  lieBe  sich  so 
desdemonischer  Geschmack  kaum  erklaren.  Es  ist  riihrend, 
und  George  hat  da  auch  seine  schonsten  Augenblicke,  wenn 
das  ungeschlachte  Fabelwesen  zarter  Regung  unterliegt,  wenn 
Othello  die  Geliebte  mit  einer  Behutsamkeit  streichelt,  als 
traute  er  seinen  Handen  so  geiinde  Beriihrung  gar  nicht  zu, 
oder  wenn  er,  sie  kiissend,  den  Atem  anhalt*  als  furchte  er, 
die  Leichte  zu  verwehen. 

Der  Eindruck,  daB  es  sich  bei  Desdemonens  Liebe  urn  eine 
Nervenlaune  handelte  (urn  die  Erwartung,  der  Mohr  werde 
seine  Schuldigkeit  tun,  besser  als  ein  WeiBer),  wird  durch 
Elisabeth  Lennartz  bestarkt.  Sie  ist  glatt  und  seelen-kiihl,  ein 
Fraulein  von  heute,  dem  ein  Schwarzer  von  der  Jazzband, 
nicht  trotz,  sondern  wegen  seiner  Abnormitat,  es  angetan  hat. 
GewiB  sagt  sie  mon  cheri  zu  ihm. 

Emilia,  Frau  Koppenhofer(  wird  in  der  neuen  Inszenierung 
nicht  von  ihrem  Mann  erstochen.  Sie  bleibt,  nach  Andeutung 
einiger  Betrofieriheit  iiber  Desdemonens  Tod,  gelassene  Beob- 
achterin  des  Folgenden,  sieht  dem  Drama  zu  wie  einer  Amts- 
handlung,  in  die  man  sich  lieber  nicht  einmengt 

Das  Besondere  des  Abends  gibt  Werner  KrauB  als  Jago, 
den  er  zu  einem  sonnigen  Filou  macht,  zu  einem  rechten  SpaB- 
vogel  der  UbeltatereL  Sein  schauspielerisches  Brio  ist  be- 
wundernswert,  Er  entwickelt,  den  Absichten  der  Regie  ge~ 
maB,  eine  humorige  Theaterfreudigkeit,  die  den  Sauerstoff- 
gehalt  der  Luft  vermehrt,  Scherz  in  den  Ernst,  Leben  in  den 

219 


Tod  bringt.  DaB  ein  derart  geloster  Jago  sein  Wcib  nicht 
gradezu  umbringen  darf,  leuchtet  ein.  Launiges  Erdolchcn  (ein 
andres  kame  foei  solchem  Bruder  Lustig  nicht  in  Frage)  ware 
vielleicht  doch  eine  in  sich  zu  widerspruchsvolle  Nummer  hu- 
moriger  Theaterfreudigkeit,  Dieser  Jago  ist  mehr  boshaft  als 
bose,  ein  Schelm  z war,  aber  ein  schelmischer  Schelm,  Johann, 
der  muntre  Giftesieder,  Eine  Witzigkeit,  wie  KrauB-Jago  sie 
in  sich  hat,  mag  liir  Shakespeares  skurril-gruselige  Episodisten 
taugen,  fiir  die  Halunken-Originale  und  Morder-Spezialisten 
am  Rand  des  Geschehens,  kurz,  fiir  die  Kleinen  von  den  Sei- 
nen,  welche  nur  Handlanger  des  Schicksals  sind,  das  die 
GroBen  einander  bereiten,  Aber  fiir  den  Jago,  den  planvollen, 
aktiven,  aus  eignem  Wunsch  und  Willen  handelnden  Zer- 
storer,  der  die  Seelen  seiner  Opfer  aus  ihren  Angeln  hebt, 
taugt  das  Kreuzfidele  schlecht.  Es  verkleinert  das  Format  der 
Figur,  macht  das  UbermaB  ihres  bosen  Tuns  (und  das  ObermaB 
von  dessen  bosen  Folgen)  lacherlich,  die  Tragodie  zur  Ko- 
modie,  Eingeheimst  wird  dagegen  der  fragwurdige  Gewinn 
einer  „interessanten  Auffassung". 

Na  alSO  — !  von  Theobald  Tiger 

p\er  altc  Kahl,  ordensbesternt, 

*-^  Geheimrat   und   so,    hat   umgelernt. 
Er  hat  einen  ganzen  Hinrichtungsakt 
gesehn  —  der  Kopf  wurde  abgehackt, 

Und  Geheimrat  Kahl   schrieb  juristisch  und  kuhl: 

,,Das  ist  gut  fiir  das  Gerechtigkeitsgefiihl. 

AllemaL" 

(gez.)   Kahl. 

Dann  hat  der  Mann  an  Einsicht  gewonnen, 

hat   nachgedacht  und  sich  besonnen. 
Und  er  sprach  und  schrieb,  wo  es  auch  sei; 
eine  Hinrichtung  ist  eine  Barbarei, 

Ein  zweiter  Mord,    Zu  gar  nichts  niitze, 

Justiz  gedeiht  nicht  in  blutiger  Pfiitze. 

Ein  braver  Mann  sprach  im  Reichstagssaal. 
Kahl. 

Darauf  haben  die  Nazis  ihn  angegriffen. 
Darauf   haben  die1   Stammtische  auf  ihn  gepfiffen. 
Und  jetzt  auf  einmal,  ein  neuer  Ton 
ertont  in  der  Reichstagskommission: 

«,Wir  brauchen  die  Todesstrafe,  ziur  Zeit! 

Insonderheit   im   politischen    Streitl 

Humanitat  in  alien   Ehren  — 

wir  konnen   den  Hackklotz  nicht  entbehren." 

(Wir  verurteilen  bekanntlich  nach  dieser  Methode 

alle  Nazi-Morder  zum  Tode.) 

„Heraus   mit   dem  Beil!    Die  Wage  bleibt  drin. 

Richtet  sie  nicht!    Richtet  sie  hinf" 

Na  also  — I  Da  hat  in  bewegten  Stunden 
ein  deutscher  Professor  heimgefunden. 
Christus  sate.    Es  wuchs  nicht  viel. 
Rode  aus  die  Pflanzchen  mit  Stumpf  und  Stiell 
Das  christliche  Feld  bleibt  allemai 
kahl 
220 


Bemerkungen 

Der  Staatenlose 

Im  ,8  Uhr-Abendblatt'-wendet  sich 
Herr  Doktor  Felix  Hirsch  in 
fibrigens  sehr  freundschaftlicher 
Form  gegen  die  Meinungen,  die 
wir  hier  in  der  Prasidentschafts- 
frage  vertreten  haben,  Herr  Dok- 
tor Hirsch  verweist  zunachst  auf 
die  ..Realitaten",  die  auch  uns 
sehr  gut  bekannt  sind.  Sie  be- 
stehen  vornehmlich  in  der  Uri- 
fahigkeit  der  Linksparteien,  die  es 
soweit  kommen  lieBen,  daB 
schlieBlich  nur  die  Wahl  Hinden- 
burg  oder  Hitler  blieb.  Herr  Dok- 
tor Hirsch  meint  aber  auch,  wir 
hatten  1925  die  Entwicklung  nicht 
absehen  und  zum  Beispiel  nicht 
wissen  konnen,  was  Herr  Marx, 
der  Kandidat  des  ftVolksblocks" 
bald  anstellen  wiirde,  Hindenburg 
habe  aber  -  inzwischen  durch  die 
Art  seiner  Amtsfiihrung  viele  Be- 
denken  seiner  fruhern  Gegner  zer- 
streut. 

Demokraten  wie  Felix  Hirsch 
lassen  sich  allzu  leicht  von  den 
heutigen  Kampfansagen  der  Rech- 
ten  gegen  Hindenburg  tauschen. 
1925  gab  es  noch  keinen  organi- 
sierten,  grob  zur  Macht  drangen- 
den  Fascismus.  Aber  das,  was  vor 
sieben  Jahren  die  gesammelte  Re- 
aktion  von  der  Prasidentschaft 
Hindenburg  erwartet,  das  hat  sie 
erfullt.  Das  Parlament  ist  bis  auf 
ein  paar  Scheinfunktionen  abge- 
baut,  es  wird  auf  dem  Verord- 
nungswege  regiert,  die  militari- 
schen  Interessen  stehen  im  Mittel- 
punkt,  und,  last  not  least,  die  Er- 
ftillungspolitik  ist  beendet.  Das 
Hindenburg-Programm  von  1925 
ist  heute  Wirklichkeit.  Natiirlich 
haben  sich  Hugenberg  und  Seldte 
und  die  andern  Taufpaten  die 
Entwicklung  etwas  turbulenter 
vorgestellt,  wohl  auch  nicht  daran 
gedacht,  dafi  die  Tucke  der  frak- 
tionellen  Kampfe  ihnen  die  Aus- 
fiihrung  entwinden  und  in  die 
Hande  eines  Zentrumskanzlers  le- 
gen  konnte.  Nicht  von  Herrn  von 
Hindenburg  wurde  die  Verfassung 
demoliert,  darin  haben  die  Demo- 
kraten recht,  wohl  aber  unter  ihm. 
Ist  das  empfehlenswert  ftir  den 
Kandidaten  der  Linken? 


Die  Nationalsozialisten  setzen 
gegen  Hindenburg  eine  sehr  wirk- 
same  Drohung:  einen  Hohenzol- 
lernprinzen.  Sie  wissen  ganz  gut, 
dafi  sich  der  President  der  Deut- 
schen  Republik  innerlich  von  sei- 
nen  dynastischen  Vorgangern 
noch  nicht  gelost  hat,  daB  er  vor 
Auwi  oder  gar  dem  Ex-Kronprin- 
zen  sofort  resignieren  wiirde. 
.Berlin  am  Morgen*  teilte  zuerst 
mit,  daB  bei  Herrn  von  Schleicher 
eine  Begegnung  zwischen  Briining 
und  Friedrich  Wilhelm  stattgefun- 
den  habe  zu  dem  Endzweck,  dem 
Prinzen  die  Kandidatur  auszu- 
reden.  Zuerst  wurde,  wie  es  sich 
versteht,  kraftig  abgestritten,  jetzt 
gibt  man  amtlicherseits  schon  das 
Zusammentreffen  zu;  allerdings 
handle  es  sich  um  eine  „Privat- 
angelegenheit".  Was  haben  sich 
die  Herren  Briining  und  Hohen- 
zollern  wohl  privat  zu  sagen? 
Wir  sind,  keine  besonders  heiBen 
Verehrer  von  Fragen  des  republi- 
kanischen  Zeremoniells,  aber  der 
Vertreter  des  republikanischen 
Staates  hat  nicht  mit  dem  Ver- 
treter der  gestiirzten  Monarchie 
an  einem  Tisch  zu  sitzen.  Es  ist 
wenigstens  nicht  bekannt,  daB  sich 
die  Hohenzollern  mit  dem  republi- 
kanischen Regime  ausgesohnt 
hatten.  Dieses  ganze  Arrangement 
ist  im  hochsten  Grade  anstoBig, 

Die  Vermittlung  lag,  wie  das  in 
letzter  Zeit  iiblich  geworden  ist, 
bei  Herrn  von  Schleicher,  In 
fruhern  Jahren  fanden  die  diplo- 
matischen  De  j  euners  bei  Bor- 
chardt  statt,  Es  ware  beaser,  wenn 
sie  auch  in  Zukunft  bei  der  Gast- 
wirtsbranche  blieben,  schon  der 
bessern  Kontrolle  halber.  Der  un- 
konzessionierte  Frtihstiicksbetrieb 
bei  Herrn  von  Schleicher  solltt: 
umgehend  geschlossen  werden.  Er 
wird  in  seinen  politischen  Konse? 
quenzen  etwas  zu  kostspieltg. 

Auf  die  Dauer  wird  diese  Ka- 
binettsoolitik  unertraglich.  Herr 
Briining  hat  sich  bestens  ans  Dik- 
tieren  gewohnt.  Warum  legt  er 
nicht  in  einer  Notverordnung  fest, 
daB  die  Angehorigen  der  fruhern 
furstlichen  Familien  keinen  An- 
spruch    auf    Staatsamter    haben  ? 

221 


Damit   ware   die   Sache   doch   er- 
ledigt,      Aber     wiirde     das     der 
Reichsprasident   unterzeichnen? 
* 

Dieses  Hohenzollern-Friihstuck 
jedoch  ist  nur  ein  Teilstuck  aus 
dem  weitverzweigten  Intrigenspiel, 
das  sich  urn  die  Kandidatur  Hin- 
denburg  entwickelt  hat,  Es  ist, 
nebenbei  gesagt,  ein  im  geistigen 
Sinne  sehr  kleines  Spiel,  die  Teil- 
nehmer  wollen  sich  nicht  etwa 
gegenseitig  vernichten  sondern 
nur  ein  bifichen  madig  machen. 
Im  Grunde  streben  sie  zueiri- 
ander.  Der  Reichsprasident 
mochte  am  liebsten  wieder  von 
der  Rechten  nominiert  werden. 
Ein  weites  Feld  fur  freundwillige 
Vermittler,  die  Vorbedingungen 
dazu  zu  schaffen. 

Hitler  hat  nach  Kraften  ver- 
sucht,  Briining  zu  kompromittie- 
renf  dafur  rachte  sich  dieser  wie- 
der durch  ein  kleines  scherzhaf- 
tes  Zwischenspiel,  indem  er  Hitler 
dem  Gelachter  preisgab. 

Das  Reichsinnenministerium  hat 
der  Offentlichkeit  ein  paar  Doku- 
mente  iibergeben,  aus  denen  er- 
sichtlich  wird,  in  welcher  Weise 
Herr  Frick  als  thiiringischer  Mi- 
nister seinem  Chef  das  deutsche 
Staatsbiirgerrecht  verschaffen 

wollte.  Frick  hat  vom  munchner 
Polizeiprasidium  her  noch  einige 
Obung  in  solchen  Dingen.  Adolf 
Bonaparte  sollte  als  Gendarme- 
riekommissar  in  Hildburghausen 
anfangen. 

Das  ist  gewifi  recht  komisch, 
denn  selten  deckten  sich  Mann 
und  Atnt  so  sehr.  Aber  der  Hei- 
terkeitserfolg  wird  bald  verrauscht 
seintl  und  wenn  diese  Zeilen  im 
Druck  erschienen  sind,  wird  sich 
das  Braune  Haus  vielleicht  schon 
durch  eine  Enthullung  tiber  seine 
Gegner  revanchiert  haben,  und 
dann  lacht  halt  die  andre  Seite, 
und  wir  sind  nicht  viel  weiterge- 
kommen. 

Denn  auch  diese  Einbiirgerungs- 
komodie  zeigt  nur  die  Schwache 
und  Inkonsequenz  der  Reichs- 
regierung.  Dieser  Herr  Hitler  ist 
staatenlos,  gehort  also  einem 
sonst  ganz  besonders  unseligen 
Menschenschlag  an,  der  das  ewige 
Freiwild  der  international  en  Poli- 

222 


zei  ist  und  fiir  jede  Amtsperson, 
wie  in  frtihern  Zeiten  die  Dirne, 
die  rote  Lilie  auf  der  Schulter 
tragt,  Und  dieser  eine  Staaten- 
lose  wirft  sich  zum  Parteihaupt 
auf,  er  unterhalt  eine  Privatarme© 
von  300  000  Mann,  er  schickt 
Emissare  in  fremde  Hauptstadte, 
welche  die  offizielle  Auflenpolitik 
zu  durchkreuzen  suchen,  man  ver- 
handelt  mit  ihm  als  gleichberech- 
tigter  Macht,  er  versichert  seine 
Legalitat,  wahrend  seine  Anhan- 
ger  Plane  zur  Abschlachtuhg  eini- 
ger  zehntausend  deutscher  Staats- 
biirger  entwerfen,  er  fruhstiickt 
mit  den  Reichswehrgewaltigen,  er 
wird  vom  Reichsprasidenten  emp- 
fangen,  Eine  anstandige  Karriere 
fiir  einen  Menschen  ohne  Staats- 
zugehorigkeit. 

Ich  glaube,  es  gibt  hier  nur 
zwei  Moglichkeiten:  Hitler  wird 
entweder  eingebiirgert  oder  ausge- 
wiesen.  Was  das  Reichsinnen- 
ministerium unternimmt,  ist  nur 
eine  kleine  Neckerei  und  durch- 
aus  nicht  geeignet,  die  Autoritat 
wieder  aufzurichten.  Herr  Hitler 
wird  an  ein  kleines  Manko  in  sei- 
nen  Papieren  erinnert.  Ein 
Manko,  das  sich  mit  hundertsechs 
Parteigangern  im  Parlament  und 
einer  einexerzierten  Halsabschnei- 
dertruppe  schon  ertragen  laBt. 

Zurfleich  erfahren  wir  durch  den 
rLokaIanzeiger',  dafi  die  National- 
sozialisten  bei  der  Reichswehr 
nicht  mehr  zu  den  staatsfeind- 
lichen  Parteien  gerechnet  werden. 
Wir  atmen  beruhigt  auf.  Diese 
Gegner  fechten  mit  umwickelter 
Soitze.  Sie  wurden  untrostlich 
sein,  wenn  sie  sich  etwas  ernst- 
liches  zu  leide  taten. 

Carl  v.  Ossietzky 

Der  Leopard 

Am  Sonmiahend,  dem  30.  Ja- 
"  nuar.  wurde  in  Berlin  dler 
Angeklagte  Nandsh  im  Wege 
ernes  Schmelliverfahrens  von  der 
Polizei    erschossen, 

Namosh  war,  wie  bekannt,  eia 
Leopard.  Er  wohnte  fast  wie  ein. 
Meinsch,  nein  ibesser:  wtie  ein 
Hund,  Tur  an  Ttir  mat  seinem 
Herrn,  einiem  Kunstmaler,  In- 
nerhal'b  der  Leopardenklasse 
schiem   er   nach  dessen  Versiche- 


rung  en  eine  friedf  ertige  Ge  - 
sinmung  bekundet  xu  haben,  Er 
kam  aul  Anruf,  kroch  aui  Pfiff 
in  seinen  Wiinkel  zurtick,  Hefi 
sich  Fleischstuicke  gutmiititg  aus 
dem  Rachen  aehmen,  Mtt  einem 
solchen  Kameraden  das  Schlaf- 
zimmer  zu  fteilen,  mu'B  schon  ein 
merkwiirdiges  GetuM  sein,  Man 
hat,  fast  wie  in  Strindberg- 
stiicken.  den  Todfeind  als  Bluts- 
freund  neben  sich  liegen;  die  Be- 
drohilichkeit  des  Geiahrten  giikt 
ein  prickelndes  Schutz.£eiiihL 
Jedenfalils:  Wenn  schon  Hund  — 
dann  Leopard,  Doktor  Lutz  Heck, 
der  saichverstandig'e  Leiter  des 
Zoo.  diirfte  sich  kaum  mit  seinen 
Leoparden  in  dassel'be  Zimmer 
legen. 

Eines  Tages  besichriit  die 
Nachibarin  mit  ihfrem  zweiiahri- 
gea  Kind  den  Rauim,  Die  Ur- 
wald-  uiid  Steppenbestiien'  sind 
nun,  wie  die  Tropemkenner  er- 
zahlen,  in  ihrer  Mischunig  von 
Appetit  und  Anigriffsgeist  anders 
geartet  als  die  kriefgfuhrenden 
Vol'ker:  Allies  was  klein  und 
vierbeinig  vor  ihnen  auftaucht, 
tfehort  in  den  Bereich  der  Nah- 
Tum$,  allies  Zweibe'inige,  Ausge- 
wachseme  in  den  Bereichi  des 
dtiplomatischen  Verkehrs.  Ein 
kleines  Kind  zahlt,  selbst  wenn 
es  sich  miuhsam  schon  ein  biB- 
chen  aui  seinen  zwei  Be'iauen  hal- 
ien  kann,  fur  Leoparden  zum 
Bestand  der  kleinen  Kriechtiere. 
Nanosh  gimg,  sobald  er  den  Ge- 
ruch  eines  solchen  Wesens  im 
Raum  spiirte,  sofort  in  Offensive, 
Er  zerriB,  wie  mam  weiB,  das 
arme   kleine  Kind  zu  Fetzen. 

Es  ist  klar,  daB  die  Sohuld  an 
dem  grausamen  Vorfalt  den  Be- 
sitzer  des    Leoparden,   nicht    den 


Leoparden  selber  triift.  Kinder 
anzufallen  und  zu  zerfleischen 
ist  die  innere  Mission  des  Leo- 
parden. Man  verigegemwartige 
sich,  da B  sie  nur  d'eshalb  vom 
Publikum  hinter  GSttem  die  Aus- 
rufe:  SiiiB!  Putzig!  Entziickend! 
empfangen,  weal  es  ein  amgeneh- 
mer  KLtziel  ist  —  nicht  -ganz  un- 
ahnlich  d'emi  GefiiM,  einen  Kiir- 
ten  im  Amgeklagtenktafig  zu  se- 
hen  — ,  ein  Raubtier  in  gezahimter 
Ohnmacht  vor  isich  zu  sehen,  das 
einent  anidernfalls  bis  aul  die 
Knochen  zerfleischen  wiirde. 
W'enn  man  wegen  dieses*  Kitzels 
in  den  Zoo  geht,  diirfte  man  sich 
iiiber  die  Mantieren  des  freige- 
lassenen  Leoparden  nicht  wun- 
dern.  Das  ist  bier  als  nuchterne 
Feststellung  fiesa^t,  nicht  zur 
Verteidigung  des  Tieres,  Die 
Presse  hat  hind'angliich  hervor^e- 
hoiben,  wie  deplaziert  taer- 
echiutzlerische  Re^ungen  im 
Augeniblick  eines  solchen  Un- 
gliicksfaMes  wirken,  Ihr  ware 
freiEch  zu  erwidem,  daB  auch  die 
menischensichutzleriscben  Regun- 
gen  in  der  Regel  nicht  anders 
wirken,  da  beide,  Tier-  wie 
Menschensohutzfreuiiide,  sich  er- 
lahrunsiJstgeimaB  nur  d«shalb  zu 
der  einen  Partei  scbilag'en,  urn 
fiir  lire  Gefuhllosigkeit  und  Harte 
gegen  die  andre  einen  Vor- 
wand  zu  haben.  Die  Kinder- 
freunde  wollen  die  Katzen  und 
Hunde  ausrotten,  den  Tierfreun- 
den  sind  die  Kinder  ^I'eichgtiltig, 
so  wagt  sich  das  Universum 
igleich, 

Bei  unverirrtem  Geist  hatte 
man  also  nach  dem  furchtb-aren 
Vorfall,  seibst  wenn  der  -Leopard 
nur  ein  Leopard  ist,  nichts  anr 
dres  sagen    konnen    als:   Schadel 


Bleiben  Sie  ruhig 

bei  Ihren  iiberkommenen  Anscbauungen,  wenn  Sie  sich  dabei  gliicklich 
fuhlen!  Nur  wenn  Sie  Ihrem  Lebensinhalt  hSheren  Wert  geben  wollen 
und  Ihrer  Erkenntnis  absolute  Sicherheit,  dann  werden  die  dutch  uns  verlegten 

B6  Yin  Rd-BUcher 

Ihnen  uuentbehrlich  sein. 

B6  Yin  R&  J.  Schneiderfranken  hat  nur  solchen  Menschen  etwas  zu 

sagen,    die  ihr  Erdenleben  bewufit   zur  hochsten   Form  bringen  wollen. 

Weiteres  erklart  die  Einfiihrungsschrift  vod  Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin : 

„Weshalb  B6  Yin  R&?u,  die  Sie  kostenfrei  verlanpen  wollen.    Kober'sche 

Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 

223 


paBt  nachstens  auf  Euire  Leo- 
parden foesser  auf!  Aber  es  ist 
merkrwiiT*d£&  wie  Stchnell  sich 
hierzulande  ^etreu  dem  Satz: 
„Jeder  deutsche  Tag  ist  der 
1,  August  1914  tind  am  fedem 
Vorfall  kommt  ihr  es  bewiesen 
sehen",  mat  'Hilfe  der  Presse 
auch  in.  den:  kieinsten  Dinigen  die 
Geister   verwirren. 

Der  Leopard,  der  ein  Blutbad 
angerichtet  hatte,  war  fiir  die  Or- 
gane  der  offentlichen  Meinung 
tags  darauf  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  als  ein  Feind,  eine  Partei. 
Die  ganze  Tonleiter  der  politi- 
schen  Phraseologie,  vom  kurzen 
AtemstoB  der  Entriistung  bis  zum 
Einerseits  -  andrerseits  -  Gewackel 
^  des  demokratischen  Schreibers 
klang  an  der  causa  „LeopardM 
auf.  Die  ,D.A.Z,'f  gegen  die  Sto- 
rungen  des  offentlichen  Lebens 
vom  Pfeifen  der  Schuljungen  bis 
zum  freien  Herumschweifen  der 
Volker  immer  mit  beleidig- 
ter  strafheischender  Professo- 
renstrenge  umgiirtet,  verlangte 
in  der  grofiten  Drucktype  so- 
fort  Strafsanktionen  gegen  den 
aus  land  is  chert  Leoparden,  der  sich 
gegen  die  inlandischen  Gesetze 
vergangen  hatte.  Wehrgeist,  nicht 
Kinderliebe  knirschte  durch  die 
Zeilen;  der  emporte  Appell  an 
die  Behorden  las  sich  wie  eine 
Aufforderung  zur  Aushebung 
eines  Pazifistenklungels.  „Der 
Gedanke  daran",  so  hiefi  es  etwa, 
,,dafi  dieser  Leopard  mit  dem  Le- 
ben  davonkommen  soil,  beleidigt 
unser  Gefuhl".  Die  Presse  der 
Mitte,  bereits  ins  Schlepptau  die- 
ser Affekte  genommen,  also  wie 
immer  und  bei  jedem  politischen 
AnlaB  auBerstande,  eine  eigne 
Meinung  auszubilden,  sprach 
zwar  nicht  mit  so  harter  Deut- 
lichkeit,   verschloB   sich    naturlich 


„keineswegs  der  Auffassung",  hob 
auch,  wie  im  Falle  Jakubowskv 
und  mehrern  ahnlichen,  die  Un- 
schuld  des  Angeklagten  heryor, 
konnte  aber  zum  SchluB  nicht 
umhin,  im  Sinne  der  besorgten 
Mutter  sich  dem  Rui  nach  Erle- 
digung  des  Taters  anzuschlieBen, 
Bei  der  auBersten  Linken  vollends 
gehort  Antipahie  gegen  Tiere  zum 
Protframm  der  Menschenliebe,  Der 
politische  Kreis  urn  Nanosh  war 
geschlossen .  Zwar  lief,  wie  die 
Blatter  berichteten,  das  Tier  als 
die  Polizeikommission  erschien, 
auf  den  Pfiff  seines  Herrn  in  eine 
Zimmerecke,  zeigte  sich  so  um- 
ganf*lich   wie   vor   der   Untat. 

Am  Samstag,  dem  30.  Januar, 
um  %5  Uhr,  wurde  der  Leopard 
nach  PressebeschluB  hingerichtet. 
Die  Menschenmenge,  die  der  Ju- 
stifizierung  beiwohnte,  nahnv,  laut 
Bericht  der  Lokalpresse  „in  er- 
regten  Rufen  teils  fiir,  teils  gegen 
den  Leoparden  Stellung".  Man 
sieht,  dafi  der  Leopard  teils  Erb- 
feind,  teils  Klassenbruder  war; 
aber  man  sieht  auch,  daB  das 
Volk  nie  zur  Ganze  fiir  Revanche- 
krieg  und  Strafsanktionen  ist.  Es 
nutzte  dem  Leoparden  nichts 
mehr. 

Doch  da  er  nun  schon  begraben 
liegt,  mochte  ich  den  Gedanken 
nicht  unterdriicken,  daB  der  Af- 
fekt,  aus  dem  ein  Leopard  im 
Augenblick  ein  Kind  anspringt, 
tausendmal  anstandiger  ist  als 
jener,  aus  dem  man  nachher  mit 
allem  Aufgebot  moralischer  Nach- 
drucklichkeit  und  namens  Kant 
und  der  Volkswurde  an  ihm  ein 
Exempel  statuiert.  .  Der  reiBende 
Leopard  hat  wenigstens  kerne 
Ausrede  gebraucht.  Sein  Motiv  war 
FreBgier.  Der  reifiende  Leitartik- 
ler  richtet  im  Namen  des  Wehr- 
geistes.  Anton  Kuh 


IlllflllllJIIIIflillllililllltlllllll 
ANTOON   THIRY 

DAS  SCHONE  JAHR  DES  CAROLUS 

Roman  aus  aem  Hollandischen.    Leinen  5,50  RM 

Dieser  Roman  des  Jugendfreundes  Felix  Tlmmermanns  gibt,  elnzigartig  in  Plastik 

und  Farblgkelt  der  Schilderung,  das  Bild  elner  klelnen   hollandischen   Stadt,  daft 

Schlcksat  Ihrer  Bewohner  und  three  stOrmischen  Hetden. 

TRANS  MAR  t    VIR  LAO   A.-G.,    BIRLIN    W    10 

224 


Michel  Simon 

r\a  lauft  in  Paris  eine  Nummer 
~  auf  der  Buhne  herum,  das 
ist  eine  sympathische  Z'wider- 
wurzn;  Michel  Simon.  Spielt  viel 
bei  Louis  Jouvet,  aber  auch  an- 
derswo;  ihn  zu  sehen  sollte  kei- 
ner  versaumen. 

Sieht  aus  wie . . ,  Kennt  ihr  den 
dritten  Sohn  in  der  Familie,  der 
noch  auf  der  Schule  ist,  wahrend 
die  altern  Geschwister  schon 
studieren  und  verheiratet  sind? 
Er  sitzt  noch  in  dem  schlecht  ge- 
Iufteten  Jungenszimmer  unter 
der  Lampe,  hat  Tintenflecke  auf 
den  Fingern  und  mutiert.  HaB- 
lich  ist  er  und  hat  Ringe  unter 
den  Augen,  er  tut  einem  leid, 
aber  man  muB  doch  uber  ihn 
lachen  Er  spuckt  beim  Sprechen 
und  hat  Seelennote.  Manchmal 
gibt  es  Well  en,  dann  quakt  er 
aus  dem  Familiensumpf  . . .  Das 
ist  er. 

Dieser  Michel  hat  so  gut  wie 
gar  keine  Augen,  es  ist  nicht 
nennenswert,  was  an  Augen  vor- 
handen  ist.  Dafur  aber  sehr  viel 
Kinn,  aufierordentlich  viel  Kinn, 
ein  Maul  wie  ein  Briefkasten 
und  einen  ganzen  Zaun  vonZah- 
nen.  Schon  ist  er  nicht.  Aber 
er  ist  so  haClich,  dafi  man  den 
ganzen  Abend  keinen  Blick  von 
ihm  wenden  kanh. 

Er  ist  in  seinem  Element,  wenn 
er  nicht  in  seinem  Element  ist. 
Dann  wallt  es  und  wogt  es  iiber 
das  Gesicht,  dann  steht  er  da 
wie  ein  Bernhardiner,  mit  den 
FiiGen  im  Tintenfafi,  und  blickt 
Mitspieler,  Zuschauer  und  sein 
eignes  Schicksal  gutmiitig-zer- 
knirscht  an.  Dabei  immer  etwas 
bose,  stets  bereit,  auszubrechen, 
sein    Kopf    dreht    sich  wie    auf 


einer  Stange,  und  vielerlei  Wi- 
defwartigkeiten  fallen  ihm  aus 
dem  Maule.  Zum  Streicheln 
bose. 

Einmal  latschte  er  als  Zoll- 
wachter  in  Giraudoux  „Siegfried 
et  le  Limousin"  herum  —  das 
wog  das  ganze  Stuck  auf.  Der 
heimgekehrte  Held  wollte  den 
geliebten  Heimatboden  betreten  . . , 
„Einlafi  nach  Frankreich  8  Uhr 
38",  sagte  jener,  und  er  roch  so 
nach  Staub  und  Tabak  und  Stie- 
felschmiere  , . .  dem  Heimkehrer 
standen  wahrscheinlich  die  Tra- 
nen  in  den  Augen,  denn  siehe — : 
dieses  war  Frankreich.  Frank- 
reich hatte  keinerlei  Augen,  nur 
etwas  Uniform,  die  vorn  auf- 
stand,  und  eine  himmlische 
schlechte  Laune. 

Gestern  stand  er  da,  mit  dem 
Riicken  zu  seinen  Feinden,  der 
eine  sollte  herausgehnt  ging  aber 
nicht  — ■  Schlemiehl  Simon  liefl 
alles  hinter  sich  geschehn,  dann 
aber  stampfte  er  mit  dem  FuB 
auf  und  quietschte:  „Geht  er  nun 
endlich?"  Und  drehte  sich  mit- 
nichten  herum. 

Manchmal  aber  schmtlzt  dieses 
Bimssteinherz,  Wasser  lauft  aus 
den  Augen  die  Nase  entlang, 
auch  diese  tropft,  und  das  ist 
dann  Trauer.  Das  Merkwurdige 
ist  nur,  dafi  dieser  groBe  Kunst- 
ler  jedes  Herz  leiser  klopfen 
laBt,  so  unmerklich  gleitet  er  aus 
der  Komik  in  die  Running. 

Filmt  auch.  Gibt  in  „Jean  de 
la  Lune",  einem  sehr  schonen 
Film,  einen  furchterlichen  Bur- 
schen  von  kuppelndem  und  leicht 
angewarmten  Bruder  .  .  ,  zum 
Kiissen  unsympathisch. 

Der  Herr  sind  fruher  in  Genf 
Photograph   gewesen,    bis    er  bei 


ELIZABETH  RUSSELL  /  HOCHZEIT,  FLUCMT 
UND  EHESTAND  DER  SCHONEN  SALVATIA 

Roman. 

Diese  Geschichte  von  einem  weiblichen  Parsifal  Ist  so  lustlg,  wie  man  es  sich  jr 
wOnschen  kann.  Man  lacht  beim  Lesen  oft  laut  auf.  Es  ist  elner  jener  nicht  hSu- 
flgen,  wirkilch  unterhaltenden  Romane,  fUr  den  man  dem  Ver- 
fesser  ebenso  dankbar  sein  mu8  wie  Freundent  die  urts  einen 
hetteren,  sorgenlosen  Abend  bereitet  haben.      Literarlsche  Welt. 

TRANSMARE  VERLAQ  A.Q.,  BERLIN  W  10 


Leine:. 

4.80  RM 


225 


Dullin  auftauchte.  Von  diesem 
Lichtbildner  hatte  ich  mich 
gern  photographieren  lassen 
mogen,  aber  es  ware  nichts  ge- 
worden.  Ich  hatte  alles  verlacht, 
Ein  Glaschen  Essig  mit  Rosen- 
geschmack  auf  Ihr  Wohl,  Michel 
Simon  — ! 

Peter    Panter 


Reichsrichterltches  Deufsch 

1  m  Jahre  1929  ist  ein  umendlich 
*  dicker  Kommentar  zum  Reichs- 
stTafgesetzbuch  bed  Walter  de 
Gruvter  erschienen,  Nach  dem 
TiteLblatt  ruhrt  der  Konnmientar 
her  von  Doktor  L.  Ebermayer, 
Oberreichsanwalt  i.  R.,  Doktor 
Adolf  Lobe,  Senatsprasidentt  am 
Reichsgericht  i.  R„  und  Doktor 
Werner  Rosenberg,  Reichs- 
£ericiitsrat  1  R.,  also  vom  Leuch- 
ten  oder  wena<gtsteais  verflossenen 
Leuchten  unsres  hochsten  Ge- 
richtshofs, 

Durch  Zufall  stiefi  ich  bei  der 
Lektiire  der  Erlauterumgeii  zu 
§  43,  der  vom  Versuch  handelt 
auf  S.   225   auf  folgende1  Satze: 

„Haufig  wird  der  Fall  des  Ab- 
treibunigsversuch®  mit  dem  Dieb- 
stahlisversuich  mittelss  Griffs  in 
die  leeren  Taschen  gleichgestellt 
und.  weil  letzterer  als'  Versuch- 
gekennizeichnet  werd'en  mufl  — 
in  den  oben  b  ezeichne  t  en 
Fallen  — ,  geschlossen,  daB  auch 
j  ener  Vers  tich  s  ei,  tund  da  mit 
glatibt  man,  die  Unhaltbarkeit 
der  Oibjektiiven  Theofie  nachtge- 
wiicsen  zu  haben,  Der  Trug- 
schluB  lieigt  fedoch  darin.  daB  die 
miensohldche  Frucht  kein  Objekt 
ist,  das,  wie  etwa  Geld,  sich  in 
di  e  s  e  m  o  der  tfenem  Ut  e  r us  b  e  - 
fhudcn  kanmi,  imd  zufallig  mal  da, 
mal   dort    ist , . ." 

Das  Reichs<£ericht  ist  sehr 
findig.  Aber  Geld  in  einem 
Uterus  zu  finden,  diirfte  selbst 
iib  er  s  eim  FindSigikeitsver  mogjen 
gehen. 


Hellmut   von   Gerlach 


Friedetnann  Bach 

D  udolph  Lothar,  den  Textdich- 
"  ter,  scheint  die  unbestreitbare 
Tatsache  fasciniert  zu  haben,  daft 
so  vielen  ganz  ausgezeichnete* 
Opern  die  denkbar  miserabelstea 
Libretti  zugrunde  liegen:  offenbar 
hielt  er  einen  schlechten  Text  fur 
die  unerlaBliche  Pram  is  se  einer 
guten  Oper  und  hat  diese  Voraus- 
setzung  treulich,  wenn  auch  er- 
folglos,  erftillt.  GewiB,  gewiB,  i& 
der  Oper  hat  man  lediglich  zu 
lauschen  und  nicht  etwa  nachzu- 
denken.  Fiir  den  aber,  der  das 
doch  nicht  lassen  kann,  sprudeln 
hier  Quellen  heiterster  Gemisse. 
Da  ist  also  Lothars  Friedemana 
Bach,  der  weder  mit  dem  von  Jo- 
hann  Sebastian  noch  mit  dem  von 
Brachvogel  erzeugten  viel  zu  tun 
hat.  Kommt  in  der  Gloriole 
jungen  Ruhms  nach  Dresden,  una 
den  bekannten  Wettkampf  seines 
Herrn  Papa  mit  Maestro  Mar- 
chetti  mutig  auszufechten,  singt 
munter  j  enes  lange  Zeit  dem 
Alten  falschlich  zugeschriebene 
Lied  ,,Willst  du  dein  Herz  mir 
schenken",  ferner  —  und  hier 
wirds  besonders  kompliziert  — 
sozusagen  ein  eignes  Falsifikat,  es 
ist  ebensowenig  von  ihm  wie  das 
andre  von  seinem  Vater,  und 
stirbt  nach  Brachvogelschen  Lie- 
bes-  und  Gefangnisaventiiren  an 
der  Orgelbank  im  Dom,  an  der 
ihn  selbst  der  Autor  jenes  un- 
sterblichen  Lieblingsromanes  des 
deutschen  Volkes  mitleidig  wei- 
terwirken  HeB.  Zu  all  den  Hel- 
dentaten  dieses  frei  erfundenea 
Prachtreprasentanten  romantisie- 
render  Kitschphantasie  versichert 
das  Orchester  nimmermud,  es 
ware  Bach:  b-a-c-h,  b-a-c-h!  Und 
erst  der  zweite  Aktl  Die  jahe  Lei- 
denschaft  zur  holdjungfraulichen 
Komtesse  Briihl,  dem  dubiosen 
AnlaB  spatern  Liebestodes,  die 
ihn  mitnichten  hindert,  der 
gleichfalls  holden,  wenn  auch  kei- 
nes  wegs  j  ungf  raulichen  Frau 
Grafin  Schlafzimmerschliissel  be- 
geistert  am  Busen  zu  bergen! 
Der  tragische  Konflikt  des  losen 
Knaben,  die  hohnische  Gelassen- 
heit  des  Grafen  Bruhl,  dieses 
Provinztheatergrandseigneurs  par 
excellence,  vom  dtistern  Intrigan- 


226 


ten  Sipmann  ganz  zu  schweigenl 
Diese  unhistorische  Historie, 
diese  unbiographische  Biographie, 
dieses  undramatische  Drama, 
diese  phantastische  Phantasie- 
losigkeit,  diese  brillante  Opern- 
parodie  muO  man  mitangesehn 
haben  !  Wie  sehr  auch  Brach- 
vogel  die  Wirklichkeit  ubertraf, 
er  wurde  von  Lothar  noch  viel 
schoner  ubertroffen. 

Da  es  Graener.  versagt  ist,  die 
Welt  des  achtzehnten  Jahrhun- 
derts  in  personlichem  und  neuem 
Klangmaterial  einzufangen,  wurde 
es  altmeisterliche  Musik  ruck- 
wartsgewandter  Sehnsucht,  mit 
Sarabande,  Gavotte,  Siciliano  als 
Ballettmusik,  mit  Fugatoeinsatzen 
und  b-a-c-h-Symbolikf  voller  Re- 
miniszenzen  an  die  Zeit  des 
groBen  Bach,  typische  Musik  im 
alten  Stil,  die  nicht  Stilkopie  ist 
sondern  SHlparodie  mit  den  Mit- 
teln  der  Romantik.  Die  Oper  hat 
mit  unsrer  Zeit  und  unsrer  Musik 
so  wenig  zu  tun  wie  mit  dem 
achtzehnten  Jahrhundert,  sie  ist 
und  bleibt  .ein  Nachzugler  des 
neunzehnten ... 

Die  Auffuhrung  war,  von  eini- 
gen  guten  Gesangsleistungen  ab- 
gesehen,  iiberaus  maBig.  Der  In- 
tendant  Ebert  ist  um  seine  Ver- 
antwortung  fur  solche  Abende 
durchaus  nicht  zu  beneiden.  Er 
ist  an  Vertrage  gebunden,  die  er 
nicht  abgeschlossen  hat,  muO 
Werke  herausbringen,  die  er  nicht 
annahm,  und  Mitarbeiter  beschaf- 
tigen,  von  deren  Qualitaten  er 
.wahrscheinlich  ebensowenig  halt 
wie  wir;  und  wird,  da  er  daran 
geht,  das  Institut  von  traditio- 
neller    MittelmaBigkeit     zu     be- 


freien,  sofort  Mittelpunkt  heftiger 
Angriffe.  So  sehr  jeder  Kunstler 
zu  bedauern  ist,  der  heute  seine 
Stellung  verliert,  so  sehr  muO 
man  sich  dariiber  klar  sein,  daB 
eine  Oper  kein  Wohltatigkeitsr 
institut  ist,  daB  sie  in  unsern 
Tagen  nur  dann  Lebensberechti- 
gung  hat,  wenn  VortreffHches  ge5- 
leistet  wird*  Alle  Versuche  Eberts 
in  dieser  Richtung  sind  zu  be- 
jahen  und  kraftig  zu  unter- 
stutzen.  Er  wird  seinen  Weg  zu 
gehen  wissen;  das  Wichtigste 
dtirfte  wohl  die  Beseitigung  der 
{Coordination  der  Kapellmeister 
sein:  jede  Oper  braucht  die  Kon- 
zentration  der  musikalischen  Lei- 
tung  in  einer  Hand,  die  stadtische 
macht  davon  keine  Ausnahme. 
Sie  braucht  einen  Mann,  mag  er 
nun  Generalmusikdirektor  oder 
einfach  erster  Kapellmeister 
heiBen,  der  ein  vernunftiges  Re- 
pertoire jenseits  der  nbrmalen  Zu- 
fallswirtschaft  aufzubauen  ver- 
mag,  der  den  notigen  Schwung 
fur  das  Neue  und  Werdende  mit- 
bringt.  Sie  braucht  einen  musi- 
kalischen Fuhrer  ersten  Ranges! 
Wir  sind  tiberzeugt  davon,  daB 
Ebert  gar  nicht  lang  zu  suchen 
brauchte,  um  diesen  Mann  zu 
finden:  Fritz  Stiedry  hat  mehr  als 
einmal  bewiesen,  was  er  kann. 
Warum  gibt  man  ihm  nicht  die 
Bewegungsfreiheit,  die  er  braucht? 
Die  Zusammenarbeit  Eberts  und 
Stiedrys  bei  Macbeth  war  vorbild- 
lich,  das  Echo  ungeheuer.  Ein 
standiges  Zusammenwirken  beider 
Kunstler  wurde,  bei  musikalischer 
Autokratie  Stiedrys,  sicherlich 
Erfolg  haben. 

Arnold  Walter 


II.  Jahrgang 


DIE  ENTE 


Die  Hnksgerlchtete  satirlsche  Wochenschrlftgegen 
Kulturreaktlon,  SpleBertum  und  Presee.  Aus  dem 
Inhalt  der  NummerS:  Wurde  Maqlnot  ermordet?  / 
„MMM  und  „BVZ"  <  Mussolinls  Esel  /  Emmenialer 
Jungfrauen  /  Beamta  mit  Paplerkragen  /  Sahm 
als  Harun  Al  Raschld. 


10  Pfennig 


Bel  alien  Zeltunqshandlern.  Probenummern  gratis 
vom  Verlag  der  ENTE.  Berlin  W  80.  Haberlandstr.  7. 


227 


Lfebe  WeUbOhne! 

A  uf  den  Stufen  dcr  berliner 
**  Borse  sitzen  zwci  Juden.  Sie 
unterhalten  sich  damit,  ein  Zehn- 
pfennigstuck  in  die  Luft  zu  wer- 
fen  und  auf  den  Boden  fallen  zu 
lassen,  Ein  Passant,  der  diese 
Beschaftigung  eine  zeitlang  mit- 
angesehen  hat,  tritt  hinzu  und 
fragt,  was  sie  eigentlich  taten. 

„Wir  befragen  das  Schicksal 
fiber  das  Los  der  deutschen  Ban- 
ken.  Haben  wir  Schrift,  so  platzt 
die  Bank  in  drei  Tagen;  haben 
wir  das  Ahrenbundel,  so  wird 
sie  sich  noch  eine  Woche  halten. 
Wenn  aber  der  Groschen  in  der 
Luft  bleibt,  dann  ist  die  Bank 
gut/1 

Nette  Zustflnde  in  Moabit 

L'  ie  Vormittagssitzung  ist  mit 
der  Vermehrung  des  jetzt  54jah- 
rigen  Ludwig  Katzenellenbogen 
ausgeftillt, 

v~nnkfurter  Zeitung' 
30.  Januar 

Zu  Ende  gesagt 

YV7enn      die      Deutschen      reich 
w  waren,      wtirde      sich      jeder 
einen    besondern     Konig     halten. 
Bismarck 


„Dle  neuen  Herren1* 

Uaben  Sie  sich  das  mal  vorgestellt, 

Wte  das  sein  wird,  wenn  die  Herrn  regieren? 
Lauter  Bismarcke  von  Etsch  bis  Belt, 
Schwertgtklirr  und  immerfort  Marschieren. 

Wenn  die  Harzburgisten  an  der  Macht, 
Roll  en  Hilhrberg-  und  Hugen-Marken, 
Und  wo  Deutschland  fortgesetzt  erwacht, 
Sieht  man  schnitlig  Fuhrer- Autos  parken. 

Und  den  Kaufpreis  fur  ein  halb  Pfund  Brot 
Mufit  Du  wieder  schwer  im  Koffer  tragen, 
In  der  Reichsbank,  hetlgenschein-umtoht, 
Silzt  Herr  Hjalmar  im  Stehecken-Kragen. 

Und  Herr  Stohr  hat  eine  Hanffabrik 
Und  Herr  Goebbels  laflt  Legales  rollen, 
Denn  Minister  ist  Herr  Doktor  Frick. 
Und  aus  Judenkopfen  trinkt  man  Mollen. 

Ir^endwo  in  einer  Reichskanzlei, 
Wo  Herr  Duster  berg  ihn  hinbefohlen, 
Sitzt  ein  Doktor  namens  Dingeldey, 
Und  der  darf  den  Osafs  Kaffee  holen. 

Und  Herr  Heye  schreibt  das  Volk  k.  v, 
Und  Herr  Sceckt  kennt  keine  faUche  Gnade 
Und  Herr  Hugenberg  dreht  Wochenschau; 
„Grofle  Auwi-SchlofipJatz-Wachtparade". 

Taglich  werden  Scheiben  eingenaun, 
Dafi  die  Jugend  auch  regieren  lerne. 
AHe  Synagogen  streicht  man  braun. 
Und  der  Reichstag  wird  S.A.-Kaserne! 

sKarl  Sdinog 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten  und  Gesellschaft  fur  politische  Theorie.  Freitag  20,00, 
Cafe  Adler  am  Donhoffplatz  (Kommandantenstr.  84).  Oeffentlicher  Aussprache- 
J.j9ti<\:  Reformation  der  marxistischen  Ideologic?  Es  sprechen:  Willi  Eichler  (ISK), 
Kurt  Hiller,  M.  Narrowski. 

Deutsche  Psychoanalytiscfae  Gesellschaft.  Freitag  20.00.  Breitkopf-Saal,  Steglitzer 
StraQe  35:  Heilung  des  Kximinellen  durch  Psychoanalyse,  Hugo  Staub. 

Individualpsychologische  Gruppe.  Moo  tag  (15.)  20.00.  Klubhaus  am  Knie,  Berliner 
StraBe27:  Das  Ende  der  franzosischen  Revolution,  Hans  Rehfisch. 

Hamburg 

Gesellschaft  der  Freunde  zur  Ffirderung  des  fudischen  Siedlungswerkes  in  der  UdSSR. 

Montag  (15.)  Konventsgarten,    Theatersaal  20.15:    Die  Krise   des  Kapitalismus  und. 

die  Losung  der  Judenfrage.  Otto  Heller. 
Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.    Dienstag  (16.)  20.00.    Volksheim,  Eichenstr.  6t  (Saal). 

Eiserne  Front  —  oder  Rote  Einheitsfront  gegen  den  Fascismus,  Oskar  Seipold  (M.  d.  L.) 

Rundfunk 

Dienstag.  Konigswucterhausen  20.15*  Kommunismus  und  Eigentumsbegriff,  Hermann 
Dunker,  Alfons  Goldschmidt  und  Resch.  -  Mittwocb.  Berlin  22.30:  Tonfilmausschnitt 
aus  den  Volkerbundsverhandlungen.  —  Donnerstay.  Berlin  17.30:  Hans  G.  Brenner 
liest.  —  Miihlacker  22  15.  Siegt  der  Autarkie-Gedanke  im  britischen  Reich?  Ein 
Zeitbericht  von  Actualis  —  Freitay.  Hamburg  21.00.  Paulskircbe  Frankfurt  a.  M. 
von  Rudolf  Frank  und  Georg  Licbey.  —  Sonnabend.  Berlin  18.35:  Redensarten, 
Herbert  Ihering. 

228 


Antworten 


Redaktion  ,Der  Neue  Wcg(.  Sie  ersuchen  uns  zu  der  Antwort 
„Schauspieler"  aus  der  vorigen  Nummer  urn  die  Aufnahme  dcr 
folgenden  Feststellung:  „Die  Ausfiihrungen  des  Bezirksverbandes  Ber- 
lin im  ,Neuen  Weg'  sind  nichts  andres  als  eine  Berichterstattung  tiber 
das  fur  die  Mitglieder  Wissenswerte,  wie  sie  periodisch  von  alien  Be- 
zirksverbanden  erfolgen.  Sie  stehen  in  keiner  Verbindung  mit  der  Er- 
offnung des  ,Klubs  der  Biihnen-  und  Filmangehorigen*.  Der  Artikel 
war  langst  geschrieben  und  gesetzt,  ehe  uberhaupt  die  Einladung  zur 
Eroffnung  dieses  Klubs  hier  einging,  wie  auch  aus  der  Erscheinungs- 
zeit  des  ,Neuen  Weg*  hervorgeht,  Der  Inhalt  beziehi  sich  auf  nichts 
andres  als  auf  die  Erfahrungen  der  Vergangenheit.  Jede  andre  In- 
sinuation ist  willkurlich  und  bosartig.  Sie  wunschen  etwas  mehr  Rit- 
terlicbkeit  im  gewerkschaftlichen  Kampfe?  Wir  auch.  Doch  warum 
stellten  Sie  diese  Forderung  nicht  schon  auf,  als  von  der  von  Ihnen 
immer  wieder  geforderten  Gruppe  ehrenriihrige  Verleumdungen  auf  die 
Leiter  der  Genossenschaft  losprasselten?  Da  Sie  einen  Wunsch  aus- 
sprechen,  muB  uns  dies  auch  freistehen,  und  wir  wunschen  etwas  mehr 
Objektivitat  gegenttber  der  Genossenschaft,  die  —  nebenbei  bemerkt  — 
auch  zu  der  linken  Seite  gehort,  gegen  deren  Zerkliiftung  Sie  auf  den 
vordern  Seiten  Ihres  Blattes  mit  Recht  ankampfen,  die  Sie  aber  durch 
derartige  Glossen  erheblich  fordern,"  Wenn  der  fragliche  Artikel 
langst  vor  der  Eroffnung  des  ,Klubs  der  Biihnen-  und  Filmangehori- 
gen' geschrieben  und  gesetzt  war,  so  beneiden  wir  Sie  um  Ihre  pro- 
phetische  Gaben.  Welcher  Hanussen  konnte  damit  konkurrieren? 
Wir  sind  objektiv  genug,  Ihnen  wenigstens  diesen  Vorzug  zuzugestehen, 

Freifrau  von  Bissing.  Sie  haben,  wie  die  .Kieler  Neusten  Nach- 
richten*  vom  31.  Januar  melden,  in  der  dortigen  Ortsgruppe  des  Deut- 
schen  Offiziersbundes  einen  Vortrag  iiber  „Wehrhaftigkeit  im  Volke" 
gehalten  und  dabeiausgefuhrt:  „DerKampf  gilt  besonders  den  Jsmen', 
wie  Pazifismus,  Internationalismus  und  Bolschewismus.  Diese  Gifte 
miissen  aus  dem  Volkskorper  beseitigt  werden  und  die-Frauen  konnten 
hier  viel  mehr  geben  und  mehr  sein.  Das  ist  die  vertikale  Arbeit  an 
der  Wehrhaftmachung  des  deutschen  Volkes."  Entschuldigen  Sie  die 
neugierige  Frage:  was  ist  denn  nun  aber  die  horizontale  Arbeit? 

Walter  Mehring.  Sie  schreiben  uns:  „t)ber  das  Cabaret  hat  in 
der  letzten  ,Weltbiihne'  Friedrich  Hollander  geplaudert  und  dabei  ver- 
merkt:  ,Heute  noch  giiltige  Musik  im  Cabaret  machte  zu  dieser  Zeit 
nur  einer:  Bruant  in  Paris,  der  mit  seinen  stampfenden,  revolutio- 
nierenden  Rhythmen  die  Menge  aus  Liedern  zu  Taten  hinrifi.'  Das 
klingt  zwar  sehr  schon,  stimmt  aber  nicht.  Bruant  war  ein  prach- 
tiger  Chansonnier,  doch  weder  hat  er  in  seinen  Liedern  stampfende 
Rhythmen  gebracht,  sondern  — '■ '  wie  seine  Kollegen  Botrel  und  der 
pereFr6d6  —  alsMittel  die  Monotonie  alter  Chorale  verwandt.  Noch 
hat  er  je  die  Menge  aus  Liedern  zu  Taten  hingerissen.  Obwohl  er  als 
Stoffgebiet  stets  das  Leben  der  Lumpenproletarier  wahlte,  ist  er  zeit- 
lebens  ein  Reaktionar  geblieben,  der  Zola  verleumdet,  den  General- 
streik  gehohnt  und  zum  Kriege  gehetzt  hat.  Aus  Bruants  ,Mirliton', 
aus  der  ganzen  Monmartreliteratur  des  ,Club  des  Hydropathes',  des 
,Chat  noir'  ist  ein  iibler  Amiisierbetrieb  geworden  fiir  CookspieBer, 
die  das  Gruseln  lernen  mochten;  Ausbeute  fixer  Verdiener,  die  als 
Attraktion  Gesinnung  mimen.  Revolutionierende  Rhythmen,  die  stara- 
men  von  Clement,  von  Pottier,  der  auBer  der  Internationale  ein  groBes 
Repertoire  sehr  unbequemer,  zur  Tat  hinreifiender  Sange  geschaffen 
hat.  Nicht  zu  vergessen  der  noch  lebende,  alte,  jugendliche  MontShus, 
Anarchist,  Liebling  des  pariser  Proletariats,  der  mit  seiner  Truppe, 
seinen  Stticken  und  Liedern  gegen  Imperialismus,  Krieg  und  Kapital 
allabendlich  in  den  Vorstadten  auftritt." 

229 


Internationale  Arbeiter-Hilfe.  Im  Neuen  Deutschen  Verlag  ist 
aus  AnlaB  eures  zehnjahrigen  Bestehens  ein  Rtlckblick  auf  eure 
Arbeit  crschienen.  Das  Buch,  betitelt  „Solidaritat"  und  von  Willi 
Munzenberg  herausgegeben,  vermittelt  einen  sehr  interessanten  Ein- 
blick  in  die  Vielseitigkeit  und  die  Schwierigkeit  eurer  Tatigkeit. 
Eine  groBe  Anzahl  von  Dokumenten  und  Bildern  unterstreicht  die 
Schilderung,  Alfons  Goldschmidt  hat  hier  vor  langerer  Zeit  eure 
Arbeit  gewurdigt.  Wet  wissen  will,  wie  diese  verlauft,  was  ibr  in 
den  zehn  Jahren  geleistet  habt,  mit  welchen  Widerstanden  ibr 
kampfen  muBtet,  der  sei  nachdrucklichst  auf  diese  Publikation  ver- 
wiesen, 

Theaterfreund,  Zu  der  beabsicbtgten  ScblieOung  des  Schiller- 
Theaters  bat  das  kunstlerische  Personal  der  Staatsbubnen  eine  Reso- 
lution angenommen,  aus  der  wir  entnehmen,  daB  die  als  notwendig 
bezeichrieten  MaBnabmen  nicbt  gerecbtfertigt  sind.  Vierundzwanzig 
Krafte  sollen  entlassen  werden.  Diese  mehr  als  vierzigprozentige  Ver- 
minderung  des  kiinstlerischen  Personals  geht  weit  iiber  das  durcb  die 
ScblieBung  des  Schillertheaters  bedingte  MaB  hinaus,  was  aucb  dar- 
aus  erhellt,  daB  der  nunmebrige  Bestand  tief  unter  der  vor  der  tlber- 
nahme  des  Schillertheaters  iiblichen  Starke  liegt.  Dieser  Abbau  be- 
deutet  eine  Schadigung  des  Ensemblegedankens,  Dariiber  hinaus  aber 
richten  sich  die  Kiindigungen  in  erheblicbem  MaBe  gegen  Mitglieder, 
die  zum  Teil  seit  Jahrzehnten  am  Staatstheater  sind,  deren  materielle 
Existenz  mit  der  Entlassung  vollstandig  vernichtet  ware,  da  es  fur 
sie  kaum  eine  Moglichkeit  unterzukommen  gibt.  Die  EntschlieBung 
fordert  in  erster  Linie,  daB  alle  fur  das  Ensemble  im  Etat  vorgesehe- 
nen  Geldmittel  restlos  der  Erhaltung  und  dem  Ausbau  des  Ensembles 
zugute  kommen  sollen.  Selbstverstandlich  miisse  aucb  der  Drosselung 
des  Personaletats  entgegengearbeitet  werden.  Schliefilich  erhebt  die 
Kiinstlerschaft  die  Forderung,  die  beschlossene  AbstoBung  des  Schil- 
lertheaters ruckgangig  zu  machen.  Uns  scbeint,  daB  trotz  den  sicher 
sehr  unerfreulicben  finanziellen  Verhaltnissen  in  PreuBen  ein  Weg  ge- 
funden  werden  konnte,  diesen  Kulturabbau  zu  verhindern.  Sollte  dies 
aber  ganz  und  gar  unmoglicb  sein,  dann  miiBten  sich  zumindest  ge- 
wisse  Harten  vermeiden  lassen. 
/ 
Ernst  Toller.  Sie  haben  hier  in  der  Nummer  41  des  vorigen  Jahres 
den  MordprozeB  „Ridel-Guala"  behandelt  und  dabei  auf  die  Grau- 
samkeit  hingewiesen,  die  die  Benutzung  des  sogenannten  Gatters  im 
schweizerischen  Strafvollzug  darstellt.  Dazu  teilt  uns  die  Schweize- 
rische  Liga  fiir  Menschen-  und  Burgerrechte.mit,  daB  sie  und  andre 
Stellen  auf  Grund  dieses  Artikels  bei  der  Direktion  des  Zuchthauses 
in  Thorberg  interveniert  haben.  Diesen  Interventionen,  und  damit 
also  in  erster  Linie  Ihnen,  ist  es  zu  verdanken,  wenn  das  Gatter 
in  Thorberg  heute  verschwunden  ist. 

Leser  in  Tel-Awiw.  Wenn  Sie  nach  RuBland  reisen  wollen,  so 
wenden  Sie  sich  an  das  nachste  Intourist-Bureau,  das  beiBt  also  nach 
Persien;  Teheran,  Khiabane,  Cbah-Adad  Nr.  73. 


Mamukripte  afad  our  an  die  Redaktion  der  WeltbSbne,  Charlottenburg,  Kantstr.  1B2,  iu 
richten;  es  wfrd  gebeten,  ihnen  RGckporto  beizutegen,  da  1011st  keine  Rudoendutig  erfolgee  kann, 
Daa  AwrfQhnanffsrecht,  die  Verwertung  Ton  Tlteln  a.  Text  im  Rahmen  des  Film*,  die  muslk- 
mechanlache  Wiedergabe  alter  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  tod  Radiovortrlgen 
bleiben  fttr  alia  in  der  WeUbOhne  erachelnenden  BeltrHge  auadruckiicfa  vorbehalteu. 

Die   Weltbuhne   wurde   begriindet   von   Siegfried  Jacobsohn   und  wird   von   Carl  v.  Otsietxky 

utter  Mitwirkung   ven    Kurt  TucJiolsky   geleitet  —   Verantwortlich:   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin  t 

Veriag  aer  Weltbuhne,  Siegfried  Jacob&ohn  &  Co.,  Charlottenburg, 

Telepnon:  C  1,  Steinptatz  7767.  —   PosUcbcckkoato:  Bartio  11958. 

Bankkontol     Darmitadter    u.    Natioaalbank.       DepositeukasM    Charlottenburg,    Kantstr.    112. 


XXVIII.  Jahrgang  16.  Febrnar  1932  Nnramcr  7 

Gedanken  eines  Zivilisten  von  cari  v.ossietzky 

LJerr  Minister  Groencr  hat  jetzt  durch  einen  ErlaB  festge- 
stellt,  daB  Nationalsozialisten  Angehorige  dcr  Reichswehr 
werden  konnen.  Die  einzige  Partei,  der  es  verwehrt  ist,  ihrc 
Lcute  in  die  Reichswehr  zu  schicken,  ist  also  die  KPD.  Ge- 
nauer  gesagt:  da  die  Rekrutierung  der  Reichswehr  bisher  ziem- 
lich  ausschlieBlich  von  der  rechten  Seite  her  besorgt  wurde,  so 
bestatigt  der  neue  ErlaB  Groeners  nur  einen  alten  Zustand. 
Oberraschend  ist  also  nur  die  sehr  schroffe  Form  der  Ver- 
fiigung  und  der  Zeitpunkt,  Gute  Menschen  sind  bisher  der  v 
Meinung  gewesen,  der  Reichswehrminister  befinde  sich  in 
vollem  Kampf  gegen  die  Nationalsozialisten,  so  wie  etwa  zur 
Zeit  sdes  Scheringer-Prozesses.  Wie  kann  man  indessen  die 
Reichswehr  den  Anhangern  eines  Mamies  sperren,  mit  dem  es 
sich  so  angenehm  friihstucken  laBt?  Groener  und  Schleicher 
standen  in  einem  lebhaften  Konflikt  zwischen  ihren  Pflichten 
als  Amtspersonen  und  als  Gastgeber,  und  schlieBlich  siegte  der 
Gastgeber.  Von  jetzt  ab  friihstiickt  die  ganze  NSDAP  mit,  und 
unter  dem  Tranchiermesser  liegt  die  Deutsche  Republik. 

Zuerst  hatten  uns,  die  Herren  Sozialdempkraten  und  Demo- 
kraten  gesagt,  man  muB  Herrn  Groener  nur  gewahren  lassen, 
auch  wenn  sein  Tun  manchmal  merkwiirdig  anmutet.  Denn  im 
Grunde  meint  er  es  gut,  und  er  und  sein, Schleicher  wolien  die 
Nazifiihrer  nur  in  eine  \Falle  hineinfriihstiicken.  Heute  laBt  sich 
diese  gutmiitige  Lesart  nicht  mehr  so  leicht  aufrechterhalten. 
Die  innenpolitische  Praponderanz  des  Reichswehrministeriums 
ist  offensichtlich.  Minister  Groener  fallt  in  seinen  Erlassen 
Verdikte  iiber  politische  Gruppen,  die  ihm  nicht  zusagen. 
Minister  Groener  laBt  durch  die  Zensur  in  Rundfunk  und 
Presse  Stimmen  unterdriicken,  die  ihm  den  Wehrinteressen 
nicht  zutraglich  scheinen.  Minister  Groener  sichert  einer  De- 
putation unsrer  jiidischen  Mitbiirger  groBmiitig  Schutz  zu,  well 
ja  auch  die  Juden  im  Kriege  fur  Deutschland  geblutet  haben. 
Man  beachte  dies  kostliche  ,,weil"!  Die  ganze  verquere  Welt- 
und  Staatsauffassung  eines  Berufsmilitars  liegt  darin. 

Kurzum,  der  Diktatur  Hitlers  zu  entgehen,  sind  wir  all- 
gemach  unter  die  Diktatur  Groeners  gerutscht.  Die  biirgerliche 
Republik  wird  damit  zu  einem  etwas  ungepflegten  Supplement 
des  militarischen'Ressorts,  Die  liberalen  und  sozialistischen 
Burger  nehmen  diesen  Zustand  wie  eine  Art  Fatum  hin,  und 
selbst  das  Reichsbanner  protestiert  schwachlich  genug  gegen 
jenen  ErlaB  Groeners,  in  dem  diese  friedfertige  Gemeinschatt 
mit  den  langen  Messern  von  Boxheim  auf  eine  Stufe 
gestellt  wird.  Dabei  ist  kaum  jemals  in  Deutschland  eine 
politische  Richtung,  der  schlieBlich  hunderttausende  an- 
gehoren,  die  taglich  in  Versammlungen  und  Proklamatio- 
nen  ihre  Treue  zu  dem  Staat  versichern,  dessen  Minister 
Herr  Groener  ist,  in  einer  so  grobschlachtigen  Weise 
nachHause  geschickt  worden,  IJ^utlicher  konnte  es  der  Herr 

1  231 


Minister  nicht  sagen,  daB  ihm  die  Staatstreue  keinen  Pfiffer- 
ling  gilt,  Wir  wollen  nicht  mit  dem  Reichsbanner  hadern,  das 
sich  solche  Behandlung  gefallen  laBt,  nur  unsre  Verwunderung 
aussprechen  iiber  einen  Minister,  der  sich  so  unklug  de- 
couvriert.  Herr  Groener  gehort  in  Deutschland  trotz  seinen 
fleiBigen  Rundfunkreden  nicht  zu  den  popularen  Mannern,  Fur 
die  breiten  Massen  ist  er  nur  ein  Bureaugeneral,  eine  Art  von 
Obergendarm  ohne  besondres  und  eignes  Gesicht,  Diener  eiries 
fatalen  und  reaktionaren  Ordnungsbegriffes,  der  immer  wieder 
in  Gegensatz  geraten  mu6  zu  dem  lebendigen  Freiheitswillen 
des  Volkes,  das  zwar  nicht  grade  einheitlich  ftihlt  und  denkt, 
sich  in  der  Abneigung  gegen  den  Obrigkeitsstaat  alten  Musters 
dennoch  begegnet, 

Herr  Groener  ist  heute  in  legalster  Form  Inhaber  aller  Ge- 
walt,  wie  es  vor  ihm  nur  einmal  der  General  von  Seeckt  ge- 
wesen  ist.  Aber  1923  wuBte  man,  daB  dieser  Zustand  ein  zeit- 
lich  begrenzter  war  und  mit  der  zunehmenden  Stabilisierung 
sich  selbst  aufheben  wiirde.  1932  sind  alle  andern  konstitutio- 
nellen  Autoritaten  erschiittert,  der  Reichstag  ist  nur  noch  ein 
Schatten  seiner  selbst,  und  gegen  die  gemaBigte  Diktatur  der 
Reichsregierung  stehen  die  Anspriiche  des  Fascismus  auf  eine 
hochst  ungemaBigte.  Groener  kann  sich  also  fur  langere  Zeit- 
dauer  einrichten  und  damit  wird  auch  die  Frage  nach  dem  Sinn 
und  Zweck  dieser  Diktatur  akut. 

Neben  dem  italienischen  Fascismus  oder  den  Diktaturen  in 
Polen  oder  Ungarn  nimmt  sich  die  Groener-Diktatur  bis  auf 
weiteres  natiirlich  noch  recht  zahm  und  leidlich  zivilisiert  aus. 
Zugleich  aber  wird  offenbar,  daB  sie,  in  Parallele  gestellt  mit 
andern  Diktaturen,  die  odeste  und  sinnloseste  ist.  Wahrend 
selbst  die  Horthy,  Pilsudski  oder  Zivkovich  doch  mehr  oder 
weniger  einem  volkstumlichen  politischen  Gedanken  dienen 
oder  zu  dienen  vorgeben,  entbehrt  die  Diktatur  Groeners 
vollig  eines  solchen  hohern  Motivs.  Sie  ist  nicht  mehr  als  eine 
reine  Ressort-Diktatur/  Sie  kennt  kein  hoheres  Ziel,  als  die 
Sonderanspriiche  der  Reichswehr  moglichst  gerauschlos  und  als 
Allgemeininteresse  getarnt  durchzusetzen.  Sie  dient  nur  dem 
Zweck,  das  Expansionsstreben  des  militarischen  Kanzleibetriebs 
moglichst  schnell  und  sicher  zu  fundamentieren.  Mehr  nicht 
als  eine  sehr  energische,  sehr  riicksichtslose  Interessenwahr- 
nehmung,  kein  geistiges  Motiv,  kein  erregender  politischer  Ge- 
danke  und  erst  recht  kein  Ziel.  Der  in  den  Mittelpunkt  ge- 
riickte  Kriegsminister  benutzt  die  giinstige  Gelegenheit,  um  aus 
dem  Staat  herauszuholen,  was  nur  herauszuholen  ist,  und  zu- 
gleich mit  den  Mitteln  des  Staates  diejenigen.beiseite  zu  schie- 
ben,  die  diesen  megalomanen  Ressortanspruchen  noch  immer 
Widerstand  leisten  oder  wenigstens  auf  Kontrolle  dringen. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daB  diese  Taktik  beste  Tradition 
hat.  In  den  meisten  Landern  fiihlt  sich  ja  die  Armee  als  das 
Zentrum  aller  Dinge,  als  der  vornehmste  Stand  neben,  den 
Pygmaen  im  Zivilrock.  Wenn,  sagen  wir,  ein  Postminister  die 
Behauptung  aufstellen  wollte,  er  reprasentiere  mit  seinen 
Schalteroffizials  und  Briefboten  die  edelste  Blute  der  Nation, 
und   alles  habe  sich   den  Interessen  des  von  ihm  verwalteten 

23f 


Amtcs  unterzuordnen,  und  wollte  cr  diese  Anspriiche  zugieich 
in  herabsetzende  Invektiven  gegen  die  Brief-  und  Paketbeforde- 
rung  andrcr  Lander  kleiden,  so  wurde  ihm  sehr  schnell  be- 
deutet  werden,  von  seinem  Platz  zu  verschwinden,  Jedenfalls 
ware  der  Zwischenfall  baldigst  und  nicht  ohne  Gelachter  er- 
ledigt.  Nur  einem  bramarbasierenden  Kriegsminister  bleibt  es 
vorbehalten,  ernst  genommen  zu  werden,  mag  er  sich  auch 
noch  so  absurd  gebarden, 

Es  ist  das  stille  Vorrecht  der  meisten  Kriegsminister,  ge- 
legentlich  den  Mund  etwas  voll  zu  nehmen  und  sich  und  seine 
Leute  als  den  Hort  des  besten  und  auserwahltesten  Patrioiis- 
mus  zu  feiern.  Das  kommt  auch  in  Landern  mit  guter  demo- 
kratischer  Tradition  vor.  Dprt  ist  der  Kampf  zwischen  Militar- 
und  Zivilgewalt  schon  histofisch  geworden  und  zugunsten  des 
burgerlichen  Elements  entschieden.  Dort  ist  der  Patriotismus 
im  allgemeinen  bereits  in  eine  feste  Form  gegossen,  und  selbst 
seine  gelegentlichen  Exzesse  tun  aus  diesem  Grunde  nicht 
mehr  weh.  Kein  Kriegsminister  wurde  es  dort  wagen,  Leuten, 
die  seine  Politik  nicht  gutheiBen,  die  anstSndige  nationale  Ge- 
sinnung  abzusprechen.  Aber  Deutschland  ist  ohne  freiheitliche 
Tradition,  ihm  fehlt  das  wirkliche  BiirgerbewuBtsein,  ihm  fehlt 
der  Stolz  des  Zivilisten  gegeniiber  der  Uniform.  Immer  wieder 
ist  den  deutschen  Untertanen  in  der  Kaiserzeit  eingebleut 
worden,  daB  es  ein  Frevel  am  Volke  seif  dem  Militarismus 
irgend  etwas  zu  verweigern.  Das  ist  in  der  Republik  urn  kein 
Jota  besser  geworden,  im  Gegenteil.  Und  diese  Situationen  be- 
nutzen  nun  seit  zehn  Jahren  die  Reichswehrchefs,  um  dem 
Herrschaftswillen  ihres  Amts  immer  neue  Gebiete  zu  unter- 
werfen  und-  sich  in  Dinge  einzumischen,  die  sie  nicht  das 
mindeste  angehen.  Wir  haben  es  zum  Beispiel  erlebt,  daB  Gene- 
ral von  Seeckt  gern  auf  eigne  Faust  AuBenpolitik  trieb.  Da- 
mals  erhoben  Stresemann  und  zahlreiche  biirgerliohe  Politiker, 
denen  es  durchaus  nicht  an  starkem  deutsch-patriotischem  Ge- 
fiihl  im  herkfimmlichen  Sinne  fehlte,  Einspruch  und  wieseri  den 
General  in  seine  Schranken  zuriick.  Heute  jedoch  kommt  das 
nicht  mehr  vorf  und  es  ist  auch  gar  nicht  mehr  notig,  weil  sich 
die  AuBenpolitik  in  aller  Ruhe  dem  Reichswehrministerium  an- 
gepaBt  hat.  Wir  konnen  seit  Stresemanns  Tode  die  Linie  ver- 
folgen,  wie  die  AuBenpolitik  immer  mehr  ihren  soliden  Boden  ver- 
lieB  und  sich  in  einen  Programm-Nationalismus  verlor,  wie  er 
grade  von  der  Reichswehr  und  ihren  offentlichen  und  privaten 
Hilfsorganen  gepflegt  wird,  Heute  sind  wir  so  weit  gekommen, 
dafi  der  sogenannte  Wehrgeist  ausschlieBlich  im  Mittelpunkt  der 
Politik  steht;  der  Staatsbiirger  wird  nicht  mehr  danach  gefragt, 
wie  er  es  mit  der  Republik  halt,  sondern  ob  er  „wehrfreudig" 
ist.  So  sah  sich  also  auch  Herr  Groener  um,  und  obgleich  auf 
der  Linken  der  Nationalismus  gar  nicht  so  schlecht  entwickelt 
ist,  schien  ihm  doch  die  Rechte  zu  grofiern  Hoffnungen  AnlaB 
zu  geben,  auch  fand  er  dort  die  f,Wehrfreude°  hoher  ent- 
wickelt. So  wurde  aus  dem  vor  ein  paar  Jahren  noch  viel  ge- 
feierten  republikanischen  General  Groener  ein  Minister,  der 
die  Rechte  poussiert,  der  sich  als  natiirliche  Brticke  zur  Re- 
aktion  fiihlt,  der  den  Nationalsozialisten  die  Reichswehr  offnet 

233 


und,  um  den  ncuen  Frcunden  ein  klcines  Sondervergniigen  zu 
bcrcitcn,  nicht  davor  zuriickschreckt,  die  alten  Verbiindeten  zu 
verunglimpfen  und  den  Boxheimern  gleichzusetzen. 

Das  ist  ja  das  Eigentiimliche  der  Diktatur  Groeners.  Sie 
ist  an  sich  gar  nicht  bosartig,  sie  fiihrt  hochstwahrscheinlich 
gegen  Republik  und  Verfassung  gar  nichts  Obles  im  Schilde,  denn 
das  hiefie  Nachdenken  voraussetzen,  Plane,  also  etwas,  das  man 
ihr  nicht  so  ohne  weiteres  zutrauen  darf.  Mit  solchen  intellek- 
tuellen  ScheuBlichkeiten  hat  sie  nichts  zu  tun.  Sie  will  nicht 
mehr  als  die  moglichst  weitgehende  Sicherung  des  Ressorts 
Reichswehr,  sie  sucht  Alliierte,  die  beim  Wehretat  keine  Spe- 
renzien  machen,  sie  sucht  AnschluB  an  militarbegeisterte 
Schichten,  die  ihr  fur  die  Rekrutierung  besonders  geeignet  er- 
scheinen.  DaB  dabei  in  aller  Ruhe  der  republikanische  Staat 
seinen  Feinden  ausgeliefert  wird,  das  scheint  Herrn  Groener, 
diesen  jovialsten  und  pausbackigsten  aller  Tyrannen  gar  nicht 
weiter  zu  storen.  Hauptsache,  daB  sein  liebes  Militar  das 
Seinige  erhalt.  Auf  diesem  Wege  entfernen  wir  uns  immer  wei- 
ter von  den  biirgerlichen  Voraussetzungen  unsrer  Staatspolitik, 
geraten  wir  in  Intrigenspiele  hinein,  die  zu  meistern  der 
Scharfsinn  der  Herren  Generale  gar  nicht  imstande  ist,  geraten 
wir  mit  dem  freundlichen  Herrn  Groener  immer  tiefer  in  Irr- 
wege  hinein,  die  mit  dem  Abgang  Seeckts  und  GeBlers  fur  er- 
ledigt  gehalten  wurden. 

So  scheint  es  das  ewig  gleichbleibende  deutsche  Schicksal 
zu  sein,  iiber  die  geistigen  Formen  des  Militarstaates  nicht  hin- 
auswachsen  zu  konnen,  Aber  trotzdem  sind  hier  noch  einige 
Unterschiede  zu  beachten.  Das  bismarcksche  Kaiserreich  ist 
ein  Militarstaat  gewesen  kraft  eines  natiirlichen  Schicksals,  Es 
ist  auf  dem  Schlachtfelde  geboren,  und  es  setzte  damit  nur  die 
alte  brahdenburgisch-preuBische  Tradition  fort,  deren  Entwick- 
lung  nicht  friedliche  Politik  bestimmt  hat  sondern  der  Krieg. 
Die  deutsche  Republik  aber  ist  aus  einem  entgegengesetzten 
Prinzip  heraus  entstanden.  Sie  ist  namlich  das  Produkt  eines 
verlorenen  Krieges.  Sie  ist  errichtet  auf  den  Trummern  eines 
Systems,  das  mitten  in  einer  kaum  zu  bewaltigenden  kriege- 
rischen  Aufgabe  zusammengebrochen  war.  Die  Republik  muB 
also,  wenn  sie  leben  will,  diesem  entgegengesetzten  Prinzip 
Rechnung  tragen.  Der  Kriegsminister  der  deutschen  Republik 
muBte  es  wissen,  daB  die  Einmauerung  der  kriegerisch-mili- 
taristischen  Tradition  in  den  Bau  des  neuen  Staates  ein  Gegen- 
prinzip  bedeutet,  das  er  nicht  tragen  kann,  ohne  an  diesem 
Widerspruch  zugrunde  zu  gehen.  WeiB  der  Herr  Minister  das 
nicht,  so  ist  er  untauglich,  die  kleine  in  Vertragsgrenzen  ge- 
haltene  Wehrmacht  zu  leiten,  der  alles  zu  einer  kriegsfahigen 
Armee  fehlt  und  die  viel  mehr  das  Symbol  staatlicher  Hoheit 
darstellt  als  eine  zu  militarischer  Leistung  bestimmte  Truppe. 

Die  Reichswehr  zur  Verlangerung  der  alten  Armee  stem- 
peln  zu  wollen,  das  ist  ein  wahrhaft  strafwiirdiges  Vergehen 
gegen  den  G'eist  des  neuen,  des  nachkaiserlichen  Staates.  Das 
heiBt  aber  auch  <iie  Entwicklung  verkennen,  die  Deutschland 
in  ganz  andre  Bahnen  gewiesen  hat  als  in  die,  seine  Stellung 
mit  dem  Schwerte  zu  behaupten  oder  zu  vergroBern.   Gemessen 

234 


an  den  andern  Institutioncn  Deutschlands,  gemessen  an  den 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Aufgaben  andrer  Organe  des 
Staates  nimmt  die  Reiohswehr  sogar  einen  hochst  bescheidenen 
Platz  ein,  Sie  ist  nicht  Mittelpunkt,  ist  nirgendwo  ausschlag- 
gebend,  Sie  besitzt  weder  geistig  noch  zahlenmaBig  den  Rang, 
um  eine  zentrale  Machtstellung  zu  beanspruchen,  Sie  ist  nicht 
mehr  als  eine  Nebensache. 

Einer  Armee,  die  gesiegt  hatf  die  mit  umkranzten  Trophaen 
zuriickkehrt,  mag  man  mit  einigem  Recht  Herrschaftsanspriiche 
nachsehen.  Vielleicht  auch  einer  Armee,  die  fest  in  einer 
sic  hern  Tradition  ruht  und  von  der  man  nach  altemRuhm  neue 
Bewahrung  erwarten  kann.  Aber  eine  Armee,  die  durch  einen 
Friedensvertrag  oktroyiert  ist,  die  die  ersten  Beweise  ihrer 
Tuchtigkeit  ausschlieBlich  in  Biirgerkampfen  gegeben  hat,  kann 
nicht  den  moralischen  Anspruch  erheben,  Gegenstand  der 
allgemeinen  Kristallisation  zu  sein. 

Die  Reichswehr  ist  ein  sehr  neues  Prodiikt.  Kein  roman- 
tischer  Schimmer  ist  um  sie,  kein  biBchen  Glorie,  kein  Mythos, 
Kurz  nichts,  was  eine  Armee  den  Herzen  aller  Kochinnen  und 
Zeitungsschreiber  teuer  macht.  Ihr  Geltungsbedurfnis  steht  in 
einem  grotesken  MiBverhaltnis  zu  ihrer  Funktion.  ,  Es  ist  ein 
Unding,  daB  sich  Herr  von  Schleicher  zum  Lord-Protector  der 
innern  Politik  aufwirft  und  sich  jeder  Schnosel  von  Leutnant 
wie  ein  kleiner  Coriolan  gebardet. 

Die  Reichswehr  ist  nur  eine  Behorde  wie  andre 
auch,  mehr  nicht.  Und  eine  Behorde  hat  sich  dem 
Ganzen  unterzuordnen  und  keine  iibertriebenen  Geltungs- 
anspriiche  zu  stellen.  Was  wiirde  man  eigentlich  dazu*  sagen, 
wenn  eine  so  segensreich  wirkende  Einrichtung  wie  die  Feuer- 
wehr  plotzlich  politische  Pratentionen  a  nm  el  den  wollte?  Man 
wiirde  wahrscheinlich  ihren  Chefs  bedeuten,  sich  moglichst  um- 
gehend  mit  ihren  eignen  Kaltwasserspritzen  zu  behandeln. 
Aber  die  Reichswehr  darf  dast  obgleich  sie  ohne  Zweifel  lange 
nicht  so  nutzlich  gearbeitet  hat  und  lange  nicht  so  tief  in  die 
Popularity  eingegangen  ist  wie  die  Feuerwehr. 

Wahrscheinlich  wird  man  entgegenhalten,  daB  ein  solcher 
Vergleich  etwas  despektierlich  sei.  Nun,  demgegeniiber  miissen 
wir  darauf  verweisen,  daB  Herr  Groener  in  sein  em  beriihmten 
ErlaB  ja  selbst  eine  Analogic  gefunden  hat,  die  im  Sinne  des 
stolzen  Soldatenstandes  nicht  besonders  erhebend  ist.  Groe- 
ner hat  namlich,  um  die  Unabweisbarkeit  der  Einstellung  von 
Nationalsozialisten  in  die  Reichswehr  kundzutun,  ein  Reichs- 
gerichtsurteii  herangezogen,  das  sich  gegen  eine  kieler  Werft 
richtet,  die  Arbeiter  wegen  ihres  Bekenntnisses  zum  National- 
soziaiismus  vor  die  Tiir  gesetzt  hatte.  Wie  gesagt,  der  Berufs- 
soldat  und  namentlich  der  vom  Leutnant  aufwarts,  wird  den 
Vergleich,  mit  einem  so  zivilen  Erwerbsstand,  wie  es  die  Werft- 
arbeiter  sind,  nicht  grade  mit  heitermGesichte  aufnehmen.  Herr 
Groener  hat  mit  einer  Ironic,  deren  Zweischneidiglceit  ihm 
wohl  nicht  recht  zum  BewuBtsein  gekommen  ist,  seine  tapfern 
Krieger  mit  Lohnarbeitern  verglichen,  und  auf  diesem  Umwege 
auch  so  ziemlich  das  Richtige  getroffen. 

Diese  ganzen  Auseinandersetzungen  wiirden  unmoglich  in 
einem  Lande  sein,  in  dem  das  Gefiihl  fur  biirgerliche  Wiirde 

-  235 


etwas  verbreiteter  ware.  Dort  bedcutet  dcr  uniformierte  Sol- 
dat  kein  Problem  mehr,  Er  ist  ein  Diener  des  Staates  wie 
andre  auch,  nicht  cin  Aspirant  auf  die  Alleinherrschalt,  nicht 
einer,  der  den  Marschallstab  der  Diktatur  imTornister  tragt. 
Ob  Herr  Groener  sich  heute  noch  fiir  einen  guten  Republi- 
kaner  halt,  weiB  ich  nicht  und  interessiert  mich  auch  nicht. 
Aber  er  ist  ira  Effekt  ein  eben  solches  Ungliick  geworden  wie 
seine  Vorganger  Noske  und  GeBler.  Durch  sein  Double  im 
Reichsinnenministerium  ist  ihm  eine  Allmacht  zuteil  gewor- 
den, die  den  schonsten  Ausblick  eroffnet.  MuB  erst  eine 
deutsche  Dreyfus-Affare  kommen,  um  die  politisierende 
Schleicher-Kamarilla  in  der  Bendler-StraBe  zum  Platzen  zu 
bringen?  Bereitet  sich  Groener  auf  die  Rolle  des  Generals 
Mercier  vor? 

Tardieu  und  Briining  von  Heiimnt  v.  Geriaeu 

In  den  franzosischen  Wahlkampfen  haben  oft  die  .(Manoeuvres 
de  la  derniere  heure"  eine  peinliche  Rolle  gespielt:  jene  am 
Wahlmorgen  auftauchenden  verlogenen  Flugblatter  oder  An* 
schlage  voll  personlicher  Infamien  gegen  den  Gegenkandidaten, 
die  nicht  mehr  widerlegbar  sind,  weil  es  an  Zeit  dafiir  fehlt, 
Sie  haben  schon  manchen  ehrenhaften  Kandidaten  zu  Fall  ge- 
bracht.  Aber  sie  kehren  sich  im  Endeffekt  immer  gegen  die 
Partei  ihrer  Urheber.  Mit  Unlauterkeit  macht  man  vielleicht 
einmal  ein  Geschaft.     Aber  man  ruiniert  damit  die  Firma. 

Die  EinfiihrungsSrede,  die  Tardieu  in  Genf  gehalten  hat, 
war  ein  , .Manoeuvre  de  la  premiere  heure"  voll  seltsamer,  fast 
zauberhafter  Einpragsamkeit,  Vielleicht  wirklich  in  erster 
Linie  nur  als  Manover  gedacht,  um  Frankreich  die  iiihrende 
Rolle  auf  der  Konferenz  zu  sichern.  Aber  solcher  Gedanke 
oder  Hintergedanke  konnte  nicht  als  Unlauterkeit  bezeichnet 
werden,  wenn  er  nur  verbunden  ist  mit  der  ehrlichen  Absicht, 
die  Riistungslasten  der  Welt  zu  mindern  und  die  Friedens- 
garantien  zu  vermehren. 

Tardieu  ist  kein  Mann  von  Grundsatzen,  aber  ein  Staats- 
mann  beachtlichen  Formats.  Er  weiB,  daB  die  V6lker  der 
Erde,  das  seine  voran,  nach  Dauerfrieden  lechzen,  und  daB 
grade  Vorgange  wie  die  schauerlichen  in  Ostasien  das  Seh- 
nen  der  Welt  nach  einer  wirklichen  Friedensgarantie  verzehn- 
rachen.  Darum  wirft  er  einen  zwar  nicht  neuen,  aber  in  die- 
sem  Augenblick  als  neu  wirkenden  Gedanken  in  die  von  Pessi- 
mismus  durchsetzte  genfer  Atmosphare.  Er  verkiindet  den 
Willen  Frankreichs,  alle  Staaten  der  Erde  der  Angriffswaffen 
zu  entkleiden,  das  Monopol  dieser  gefahrlichsten  Werkzeuge 
dem  Volkerbund  zu  (iberweisen  und  ihm  auBerdem  eine  be- 
waffnete  Truppe  zur  Verfugung  zu  stellen. 

Bisher  ist  der  Kellogg-Pakt  e^ne  lex  imperfecta,  ein  Ver- 
botsgesetz  ohne  Strafandrohung,  ein  Messer  ohne  Klinge. 

Durch  den  Antrag  Tardieu  soil  ihm  eine  scharf  schneidende 
Klinge   gegeben  werden. 

Emport  lehnte  die  deutsche  Presse,  bis  weit  in  die  Kreise 
der   Linken   hinein,    die   franzosische   Anregung   ab.      Sie   lehnt 

236 


ja  allcs  ab,  was  „Madc  in  France"  abgestempelt  ist.  Das 
Wort  vom  Erbfeind  ist  cin  biBchen  aus,  der  Mode  gekommen- 
Der  Begrifl  npch  nicht. 

-Auch-  Briining  scheint  deo  franzdsischen  Vorschlag  grund- 
satzlich  zu  verwerfen.  Wenigstens  kann  man  die  Stelle  seiner 
Rede  kaum  anders  verstehen,.wo  er  von  dem  ,,pflichtgemaBen 
Widerstand  gegen  Vorschlage"  spricht,  „die  eher  einer  Um- 
gehung  als  einer  Verwirklichung  des  Konierenzziels  dienen". 

Ob  sich  der  franzosische  Antrag  auf  der  Abriistungskonfe- 
renz  ganz  oder  auch  nur  teilweise  verwirklichen  laBt,  steht 
dahin.  Die  technischen  Schwierigkeiten  fiir  die  Schaffung  einer 
Volkerbundsarmee  sind  fast  iiberwaltigend.  Wer  soil  sie  be- 
fetiHgen?  Wo  soil  sie  garnisonieren?  In  welcher  Sprache 
soli  sie  kommandiert  werden?  Solche  und  ahnliche  Fachfragen 
tauchen  zu  hunderten  als  ebenso  viele  Steine  des  AnstoBes  auf. 
v  Aber  alle  technischen  Schwierigkeiten  konnen  iiberwun- 
den  werden,  wenn  der  Wille  dazii  da  ist.  Sie  mtiBten  uber- 
wunden  werden,  wenn  die  Volkerbundsarmee  das  einzige  oder 
wenigstens  das  beste  Mittel  ware,  den  Weltfrieden  zu  sichern. 

Alle  Leute,  die  iiberhaupt  denken  konnen,  sind  sich  dar- 
uber  klar,  daB  die  Abriistungskonferenz  keinesfalls  die  Welt- 
abrustung  sondern  bestenfalls  eine  gewisse  Riistungsminderung 
bringen  kann, 

Jede  Riistungsminderung  ist  vom  Standpunkt  der  Steuer- 
aahler  aus  mit  Freuden  zu  begriifien, 

Unter  dem  Gesichtspunkt  des  Pazifismus  feedeutet  sie 
nicht  allzuviel,  wenigstens  nicht  fiir  den  Augenblick.  Sie  min- 
dert  namlich  die  Gefahr  von  Kriegen  zunachst  kaum.  Wenn 
jedes  Land  in  Zukunft  25  Prozent  weniger  Truppen  hat  als 
bisher,  kann  es  mit  den  verbleibenden  75  Prozent, noch  ebenso 
gtii  Krieg  fiihren  wie  mit  den  100  Prozent.  Seine  Siegesaus- 
sichten  sind  durch  die  Reduktion  in  keiner  Weise  vermindert, 
da  ja  der  Feind  in  seiner  Truppenstarke  genau  um  denselben 
Prozentsatz  geschwacht  ist. 

Wenn  alle  Pazifisten  trotzdem  leidenschaftlich  fiir  eine 
Riistungsminderung  eintreten,  so  aus  einer  psychologischen  Er- 
wagung  heraus,  Sie  sagen  sich,  dafi  eine  Herabminderung  der 
Rtistungsbudgets  um  zunachst  vielleicht  nur  25  Prozent  den 
Vdlkern  den  iiberzeugenden  Beweis  liefern  wiirde,  dafi  es  mit 
weniger  Heeresausgaben  ebenso  gut,  ja  besser  als  zuvor  gehe. 
Und  dann  wiirden  die  Volker  selbst,  die  aus  Steuerzahlern  zu- 
sammengesetzt  sind,  schon  nach  wenigen  Jahren  stiirmisch  von 
ihren  Regierungen  und  ihren  Generalstaben  verlangen,  in  der 
Sohmalerung  der  Riistungsausgaben  fortzufahren.  Warum  nur 
25  Prozent  weniger?  Warum  nicht  50  Prozent?  Warum  nicht 
75  Prozent? 

Hat  erst  der  Einbruch  der  Abrtistungsvernunft  in  den  Rii- 
stungswahnsinn  begonnen,  so  wird  ganz  automatisch  im  Ver- 
lauf  nicht  allzu  langer  Zeit  der  ganze  nationale  Riistungs- 
gedanke  zusammenbrechen.  Er  wird  zertnimmert  werden  von 
dem  ftbereinstimmenden  Willen  aller  Menschen,  moglichst  we- 
nig  Steuern  zu  zahlen, 

237 


Jede  nationale  Armee  ist  oder  kann  wenigstens  ein  Instru- 
ment des  nationalen  Egoismus  werden.  Also  ist  sie  cine 
Kriegsgefahr. 

Der  cwige  Friede,  den  Immanuel  Kant  forderte,  wird  erst 
gesichert  sein,  wenn  die  nationalen  Armeen  restlos  verschwun- 
den  sind. 

Sie  konnen  nur  verschwinden,  wenn  die  Sicherheit  jedes 
einzelnen  Volkes  garantiert  ist  durch  das  Vorhandensein  einer 
internationalen  Schutztruppe. 

Bisher  lautete  die  deutsche  These:  Abriistung  der  aridern! 
Und   die  franzosische;  Erst  Sicherheit,  dann  Abriistung! 

Gibt  es  zwischen  These  uml  Antithese  eine  mogliche  Syn- 
these? 

Wer  nur  die  Reden  Tardieus  und  Briinings  einander  ge- 
genuberstellt,  mochte  daran  verzweifeln. 

Briinings  Rede  hat  in  Genf  viel  Beifall  gefunden.  Er  gait 
mehr  dem  Mann  als  dem,  was  er  sagte,  Briining  geniefit  in 
der  ganzen  Welt  den  Ruf  eines  ehrlichen  und  anstandigen 
Mannes,  der  ein  Volk  zu  vertreten  hat,  dessen  Not  unermeBiich 
groB  geworden  ist.  Seine  Ausfiihrungen  wurden  als  unbedingt 
aufrichtig   empfunden. 

Was  die  kritisch  veranlagten  Politiker  und  Staatsmanaer 
vermiBten,  war  der  greifbare  Kern*  Tardieu  hatte  positive 
Vorschlage  gemacht,  die  man  vielleicht  bekampfen  kann,  aber 
zu  denen  man  unbedingt  Stellung  nehmen  muB.  Deutsche  Vor- 
schlage waren  in  Briinings  Rede  nicht  enthalten. 

Sie  kommen  natiirlich  noch,  sehr  bald  wahrscheinlich, 
Aber  Frankreich  hat  den  Vorteil  der  Initiative.  Dasselbe  Frank- 
reich,  von  dem  man  in  Deutschland  geflissentlich  die  Meinung 
zu  verbreiten  gewuBt  hatte,  daB  es  nach  Genf  lediglich  gehe, 
um  die  Abriistung  zu  sabotieren.  Nun  kommt  es  mit  einem 
verwiinscht  realen  Programm,  wahrend  sich  bisher  Deutsch- 
land auf  den  Ausdruck  einer,  an  sich  lobenswerten  Gesin- 
nung  beschrankt  hat. 

Die  deutsche  Regie  hat  wieder  einmai  versagt 

Die  deutsche  Delegation  kame  jedenfalls  in  eine  sehr 
schlechte  Position,  wenn  sie  sich  darauf  beschrankte,  alte, 
langst  vorbereitete  Kolleghefte  zu  verlesen.  Die  Internationale 
Lage  ist  in  Genf  durch  Tardieus  mindestens  taktisch  uberaus 
geschickten  VorstoB  ganz  verandert,  und  nicht  grade  zugun- 
sten  Deutschlands.  Ein  einf aches  Nein  Tardieu  gegeniiber 
wiirde  uns  zwar  nicht  vollig  isolieren,  aber  wahrscheinlich  da* 
Scheitern  der  Konferenz  bedeuten  und  uns  einen  erheblicheti 
Teil  der  Verantwortung  dafiir  aufbiirden. 

Die  alte  deutsche  These  muB  mit  Riicksicht  auf  die  modi- 
fizierte  franzosische  These  auch  ihrerseits  modifiziert  werden. 

Vollig  unklar  ist  bei  alien  franzosischen  Ausfiihrungen  ge- 
blieben,  ob  Frankreich  gewillt  ist,  eine  fiihlbare  Minderung  sei- 
nes nationalen  Heeresbudgets  zuzugestehen.  Das  ist  der 
schwache  Punkt  in  seiner  Stellung.  Hier  gilt  es,  einzuhakeriu 
Wenn  wir  hier  einhaken,  haben  wir  die  Sympathien  aller  V5l- 
ker  auf  unsrer  Seite.  Denn  alle  erwarten  von  der  Abrustungs- 
konferenz   vor   allem,    daB   die   20  Milliarden   Mark   jahrlicber 

238 


Riistungsausgaben,  die  die  von  der  Wirtschaftskrise  erschiit- 
terte  Welt  sich  heute  noch  leistet,  um  einen  erheblichen  Briich- 
teil  vermindcrt  werden.  Eine  Minderung  um  25  Prozcnt  wiirde 
als  erheblich  empfunden  wcrdcn.  Sic  wiirde  einen  moralischen 
Triumph  fur  die  Konferenz  und  einen  Sieg  des  *  Volkerbunds- 
gedankens  bedeuten, 

Natitrlich  erheischt  die  allgemeine  Herabsetzung  der  Rii- 
stungsausgaben  zu  einem  bestimmten  Prozentsatz  die  Einset- 
zung  einer  internationalen  Instanz  zur  Kontrolle,  ob  die  Herab- 
setzung auch  iiberall  ehrlich  durchgefiihrt  wird.  Den  Militars 
ist  vom  Kriege  her  das  Tarnen  ja  zur  zweiten  Natur  geworden. 

Wenn  wir  Frankreich  gegeniiber  auf  einer  Minderung  aller 
und  damit  auch  seiner  eignen  Riistungsabgaben  bestehen  miis- 
sen,  so  mussen  wir  andrerseits  positiv  Stellung  nehmen  zu  den 
grofien  Aspekten  in  Tardieus  Programm:  Schaffung  einer 
bewaffneten  Macht  fur  den  Volkerbund,  Stellung  der  schweren 
Angriffswaffen  zur  Verfiigung  des  Volkerbundes,  Internationali- 
sierung  der  gesamten  zivilen  Luftschiffahrt  zugunsten  des  Vol- 
kerbundes. 

Bisher  hat  man  von  Brtining  und  Tardieu  den  Eindruck; 
zwei  Schachspieler,  jeder  bemiiht,  den  andern  matt  zu  setzen. 

Fiir  eine  Abriistungskonferenz  ware  es  zweckmaBiger, 
wenn  sich  der  deutsche  und  der  franzosische  Staatsmann  in 
dem  Geiste  zusammensetzten,  in  dem  einst  in  Thoiry  Strese- 
mann  und  Briand  gemeinsam  Forellen  aBen, 

Dreh  dich  hin,  dreh  dich  her  — 

kleine  Wetterfahne  — !        von  Theobald  Tiger 

r\er  Zeitungsverleger  MiilvoB,  als  welcher  ein  krummer   Jid, 
*^  sprach:  „Wissen  Se  —  ich  bin  namlich  Antisemit! 
Sie  haben  eben  keinen  Sinn  fiir  Wehrhaftigkeit! 
Ich  und  mein  Blatt,  wir  gehen  mit  unsrer  Zeit! 
Mit  der   Zeit  mufi  man  mitgehn!" 

Und  es  erhob  sich  ein  Wispern  im  Blatterwalde. 
Und  jeder  Mitarbeiter  fiihlte:  Warte  nur,  balde,.,( 
Und  die  Redakteure  bildeten  sich  im  Kunstfliegen  aus, 
und  je  jiidischer  einer  hieB,  desto  raufierer  flog  er  raus. 
Mit  der  Zeit  muB  man  mitgehn. 

Und  siehe,  es  entdeckten  manche  Spitzen  der  Verlegerei, 
daB  es  mit  dem  Militarismus  gar  nicht  so  bose  sei, 
Denn  wer  nicht  reiten  kann,   der   ist  entweder  Pazifist, 
oder  er  bewundert  alles,  was  ein  Kommifiknopp  ist. 
Mit  der  Zeit  muB  man  stramm  stehn. 

Abler   denkt   denn  der  Druckereibesitzer   von  solchem  Blatt, 
dafl  der  Adolf  Hitler  so  ein  kurzes  Gedachtnis  hat? 

Und  nimmt  nichts  mehr  krumm? 

Dumm  ist  er  ja.    Aber  so  duram...! 
Und  das  ist  das  Beschamende  an  diesem  Gesindel,  das  den  Fascismus 

stfitzt: 
daB  ihm  der  Umfall  auch  nicht  das  geringste  niitzt, 

Mit   der  Zeit  werden  sie  eingehn, 

239 


Schneider-Creusot  von  w.  coiepepper 

Im  Fernen  Osten  wiitet  der  Krieg.  Der  Volkerbund  demon- 
striert  seine  Ohnmacht  Amerika  und  England  werden  ner- 
vds  und  protestieren  in  Tokio,  Nur  Frankreich  allein,  dessen 
Interessen  in  China  mindestens  ebenso  bedroht  sind  wie  die 
Londons  und  Washingtons,  scheint  sich  um  die  Vorgange  ifl 
China  nicht  kummern  zu  wollen;  seine  Proteste  in  Tokio  sind 
nur  formelle  Kundgebungen.  Und  diese  Nachsicht  der  Re- 
gierung  Laval-Tardieu-Flandin  gegeniiber  Japan  hat  im  Aus- 
land  AnlaB  zu  der  Vermutung  gegeben,  daB  ein  Geheimvertrag 
Frankreich  mit  dem  Mikado  verbinde. 

Das  ist  vielleicht  etwas  iibertrieben  und  daher  leicht  zu  de- 
mentieren.  Nichtsdestoweniger  gehen  Geriichte  um,  deren  Glaufe- 
wtirdigkeit  nicht  immer  leicht  zu  priifen  ist.  Es  wird  behaup- 
tett  daB  Frankreich  in  der  Mandschurei  Japan  freies  Spiel  lasse 
als  Tausch  gegen  eine  ganz  bestimmte  Dienstleistung  des  ja- 
panischen  Delegierten  am  Haager  Gerichtshof  wahrend  der 
AnschluBaHare.  Halt  man  dem  entgegen:  der  japanische  Rich- 
ter  am  Haager  Gerichtshof,  Herr  Adatschi,  habe  am  5.  Sep- 
tember fur  die  Zollunion  gestimmt,  so  wird  man  darauf  zur 
Antwort  bekommen,  Adatschi  sei  President  des  Gerichtshofes 
gewesen,  und  in  manchen  Fallen  sei  es  kliiger,  die  Freiheit 
seines  Stimmrechtes  beizubehalten.  Andre  behaupten,  Japan 
hatte  Frankreich  seine  Unterstiitzung  bei  der  Abriistungskonfe- 
renz  versprochen.  Eine  dritte  Version  ist,  Japan  ware  durch 
die  Bekampfung  der  revolutionaren  Propaganda  in  Asien  an 
Frankreich  gebunden  und  hatte  in  Paris  versprochen,  bei 
der  Verteidigung  Indochinas  mitzuheljen. 

Es  wird  auch  davon  gesprochen,  Frankreich  habe  ver- 
gangenen  Sommer  Tokio  Geld  geliehen.  Man  gibt  sogar  De- 
tails an:  genau  500  Millionen  habe  die  ,,Caisse  des  Frets  et 
Consignations",  ein  Institut,  das  die  Fonds  der  Sozial- 
versicherungen  verwaltet,  durch  die  Vermittlung  der  Banque 
Franco-Japonaise  ausgezahlt.  Und  es  heiBt  weiter:  250  Mil- 
lionen Francs  seien  von  verschiedenen  Banken  geliefert 
worden,  unter  andern  von  der  Banque  des  Pays  du  Nord,  der 
Banque  de  l'Union  Parisienne,  in  deren  Aufsichtsrat  sich  Herr 
Schneider-Creusot  befindet,  und  der  Union  Europeenne  In- 
dustrielle  et  Financiere,  die  von  ihm  kontrolliert  wird, 

Ein  altes  franzosisches  Sprichwort  sagt,  es  gabe  keinen 
Rauch  ohne  Feuer.  Wie  steht  die  Sache  also  wirklich?  Spieit 
Frankreich  tatsachlich  mit  Japan  ein  abgekartetes  Spiel,  und 
wenn  ja<  welches  sind  die  Tatsachen,  die  bewiesen  werden 
konnen?    Sagen  wir  es  gleich:  es  gibt  zahlreiche  Beweise. 

Tatsache  ist,  daB  Frankreich  und  Japan  in  Asien  gemein- 
schaftlich  die  revolutionare  Bewegung  bekampfen,  daB  die  ja- 
panische Aktion  in  der  Mandschurei  die  Sympathie  der  Regie- 
rung  Frankreichs  besitzt  und  daB  nach  der  Privatmemung  des 
General  Weygand  ,,diese  Aktion  die  Stellung  der  Zivilisation 
im  Orient  gegen  den  Bolschewismus  starkt*'.  Mit  andern  Wor- 
ten,  Japan  spieit  im  Osteh  die  gleiche  reaktionare  und  anfi; 
russische  Rolle  wie  Frankreich  im  Westen. 

240 


Zweite  Tatsache  ist,  daB  Frankreich  in  Asicn  nicht  nur 
mit  Japan  verbiindet  ist  sondern  auch  mit  England,  Holland 
und  Siaru,  und  daB  einc  Foderation  der  Kolonialmachte  in 
Asien  gauz  gut  eines  der  beweiskraftigsten  Rcsultatc  dcr  Ab- 
x.ustungskonferenz  scin  konnte.  Rcistc  nicht  zu  dicscm  Zwcck 
Paul  Reynaud,  der  Kolonialminister,  im  Herbst  nach  Indochina? 

Dritte  Tatsache;  Aristide  Briand  beabsichtigte  auf  der  No- 
vember-Dezember-Tagung  in  Genff  dem  Rat  des  Volkerbundes 
eine  bewaffnete  Intervention  gegen  Japan  vorzuschlagen.  Er 
mufite  jedoch  seinen  Plan  unter  dem  Druck  der  einfluBreich- 
sten  Mitglieder  der  franzosischen  Regierung  aufgeben. 
Dies  war  das  erste  Mai,  so  wird  behauptet,  daB  sich 
Briand  bewuBt  wiirde,  nicht  mehr  Herr  iiber  die  franzosische 
AuBenpolitik  zu  sein. 

Eine  vierte  Tatsache  ist-nicht  weniger  wichtig:  am  1.  Sep- 
tember 1931,  das  heiBt,  achtzehn  Tage  vor  der  Intervention  Ja- 
pans in  China,  veroffentlichte  die  , Revue  Militaire  Francaise\ 
die  unter  dem  Patronat  des  franzosischen  Kriegsministeriums 
erscheint,  einen  sensationellen  Artikel  iiber  den  japanisch- 
chinesischen  Konflikt.  In  den  Kreisen  dieser  quasi  offiziellen 
Revue  erklart  man,  der  Artikel  ware  etwas  zu  friih  er- 
schienen,  besser  gesagt,  die  japanische  Intervention  in  China 
hatte  eigentlich  schon  im  August  stattfinden  sollen.  Was  folgt 
daraus;  das  Kriegsministerium  wuBte  schon  im  August  ganz 
genau,  daB  Japan  in  den  nachsten  Tagen  in  China  einfallen 
werde.  Die  Erklarung,  daB  der  bewuBte  Artikel  durch  die 
Ungeschicklichkeit  eines  Redakteurs  zu  friih  eingeriickt  sei, 
andert  daran  nichts;  im  Gegenteil:  sie  bestatigt  doch  nur  diese 
Auffassung. 

Funfte  Tatsache:  die  franzosische  Regierung  riihrte  sich 
erst,  nachdem  Japan  in  Schanghai  gelandet  und  Nanking  be- 
schossen  hatte.  Man  muB  anerkennen,  daB  dieser  Umstand  die 
Voraussagen  jener  bestatigt,  die  schon  im  Dezember  be- 
haupteten,  Frankreich  werde  erst  dann  wagen,  Japans  Vorgehen 
zu  miBbilligen,  wenn  dieses  den  Vertrag,  den  es  mit  .  Paris 
abgeschlossen  hatte,  brechen  sollte,  das  heifit,  wenn  es,  iiber 
die  Mandschurei  und  die  Mongolei  hinaus,  Peking  oder 
Schanghai  bedrohte,  sowie  das  Tal  des  Yang-Tse-Kiang, 
der  den  Weg  nach  Indochina  eroffnet.  Und  wie  kommt  es,  daB 
die  vor  einem  Monat  noch  japanfreundlichen  politischen  Kreise 
Frankreichs  heute  erklaren:  „ Japan  ginge  doch  etwas  zu  weit"? 
Die  Mandschurei  war  nicht  zu  weit,  aber  Schanghai...! 

SchlieBUch  ist  eine  sechste  Tatsache  auch  nicht  zu  unter- 
schatzen:  von  Anfang  August  an,  das  heiBt,  sechs  Wochen  vor 
Ausbruch  des  japanisch-chinesischen  Konfliktes,  arbeiten  die 
Schneider-Creusot-Werke  unter  Hochdruck  fur  Japan. 

* 

Kein  andrer  als  Herr  Eugene  Schneider  aus  Creusot  lenkt 
schon  seit  Jahren  die  Politik  des  franzosischen  Kriegsministe- 
riums; er  hat  noch  mehr  als  die  de  Wendel  und  Briand  be- 
siegt;  er  will  nun  auch  die  Fuhrung  der  Politik  am  Quai  d'Orsay 
an  sich  reiBen;  in  seiner  Absicht  liegt  es,  die  Donaufodera- 
tion  zu  schaffen;  iiber  ihn  ist  Herr  Schober  gestolpert;  sein 
Ziei-ist   es,  Europa  in  funf  oder  sieben  Jahren  gegen  Sowjet- 

241 


ruBland  zu  crganisieren  und  zu  dressieren;  und  schliefllich  ist 
er  dcr  Inspirator  der  franzosischen  Politik  in  Japan  und  China, 

Man  sagt,  daB  Japan  franzosisches  Geld  durch  die  Ver- 
mittlung  der  Banque  Franco-Japonaise  bekam,  die  Filialen  in 
Paris,  Tokio,  Kobe  und  Yokohama- hat,  Beruht  dies  auf  Wahr- 
heit?  Die  nachste  Zukunft  wird  uns  dariiber  aufklaren,  Doch  eine 
Tatsache  steht  fest:  der  President  des  Aufsichtsrates  ist  Herr 
Charles  Dumont,  Minister  der  Kriegsmarine  und  Frankreichs 
Delegierter  bei  der  Abriistungskonferenz.  Doch  noch  schwer- 
wiegender  ist  der  Umstand,  daB  diese  Bank  von  Herrn  Schnei- 
der-Creusot  kontrolliert  wird,  und  zwar  durch  die  Vermittlung 
seines  Schwagers  und  Vertrauensmannes,  des  Grafen  von 
Saint-Sauveur,  und  durch  den  fruhern  Botschafter  Maurice 
Paleologue.  Dieser  Strohmann  Schneiders  sitzt  auch  im 
Aufsichtsrat  der  Union  Europeenne  Industrielle  et  Finan- 
ciere,  einer  Schopfung  Schneiders,  die  Skoda  und  alle  Rtistungs- 
werke  Ungarns,  Jugoslawiens,  Rumaniens  und  Polens  kon- 
trolliert. 

Hat  also  Frankreich  Japan  Geld  gegeben  oder  nicht,  dies 
laBt  sich  nicht  bestreiten:  der  Minister  der  Kriegsmarine  steht 
in  engster  Verbindung  mitjenen,  die  Japan  Kanonen  verkauf en. 
Man  wird  jetzt  auch  verstehen,  warum  die  gesamte  pariser 
Regierungspresse  zusammen  mit  jener  des  Comite  des  Forges 
Japan  hartnackig  verteidigt  und  sich  bis  zu  der  Behauptung 
versteigt,   China  habe  Japan  angegriffen,  nicht  umgekehrt. 

Doch  fehlt  dieser  Affare  noch  die  Poihte.  Jeder  ehrliche 
Kanonenfabrikant,  der  etwas  auf  sich  halt,  sei  er  nun  Fran- 
zose,  Deutscher,  Englander  oder  Amerikarier,  hat  eine  heilige 
PHicht:  namlich  beiden  feindlichen  Teilen  Waff  en  zu  liefern. 
Und  wir  konnen  sicher  sein,  Herr  Schneider  hat  seine  pa- 
triotischen  Pflichten  erfiillt.  Einer  seiner  Str<ohmanner, 
Herr  Litzellmann,  dessen  Bureau  sich  in  den  Schneiderwerken 
selbst  befindet,  vertritt  seinen  Herrn  in  der  Societe  Franco* 
Chinoise  des  Constructions  Metallurgiques  et  Mecaniques  Kiou- 
Sin,  deren  Sitz  in  Schanghai  ist.  President  dieser  Gesell- 
schaft  ist  Herr  Georges  Philippar,  Mitarbeiter  von  Admiral  La* 
caze,  von  Theodor  Laurent,  von  Herrn  Saint-Sauveur,  ailes 
Leute  des  Comite  des  Forges. 

Herr  Schneider  sorgt  dafiir,  daB  die  Rohstoffpreise  steigen. 

Die  SpaniSChe  Revolution  von  Pierre  Dominique 

Dieser  Aufsatz    steht    im   letzten    Heft   der    jungen   pariser 
Zeitschrift    .Plans'.      Die    lesenswerte   Zeitschrift,    vielseitig,   un- 
feuilletonistisch,  ihrer   Richtung  nach  undogmatisch  marxistisch, 
beginnt  ihren  zweiten  Jahrgang  mit  einer  Programm-Einleitung, 
in  der  es  heifit:  „Der  Kapitalismus  zerstort  sich  selber ...  Zer- 
storung  wird  also  immer  weniger  unsre  Sache.     Es  handelt  sich 
jetzt  darum,  aufzubauen."     Und  zum  SchluB:   „Wenn  man  uns 
fragt,  wer  wir  sirid,  sagen  wir:   Ie  parti  de  la  Revolution  con- 
structive". 
r\  ie  franzosische  Revolution  ist  wie  die  alten  Frauen,  die  an 
der  Schwelle  des  Alters  noch  einmal  ein  Kind  bekommen, 
einen  Benjamin,  den  sie  dann  mehr  lieben  als  die  andern.  Nach 
ihrem  Sohn,  dem  internationalen  Sozialismus,  und  ihrer  Enke- 

242 


lin,  der  russischen  Revolution,  hat  sic  nun  noch  einen  Nach- 
kommen:  die  spanische  Revolution.  Ein  Kind,  das  man  auf 
1816  taxieren  wurde;  und  tatsachlich  ahnelt  die  spanische  Re- 
publik  Zug  um  Zug  nicht  nur  jener  kurzfristigen  von  1867  son- 
dern  auch  den  Republiken,  die  Bolivar  und  seine  Leutnants 
zwischen  Panama  und  dem  Feuerland  gegriindet  haben.  Die 
siidamerikanischen  Revolutionare,  die  Liberalen,  reagierten  vor 
allem  gegen  den  Konig,  ebenso  die  spanischen  Republikaner. 
Und  gegen  einige  konservative  Gewalten,  soziale  und  religiose, 
die  den  Konig  stiitzten.  .Denn  Bolivar,  ein  Kind  der  Enzyklo- 
padisten,  gehort,  obwohl  er  Aristokrat  war,  zu  derselben  gei- 
stigen  Familie  wie  die  Liberalen,  Radikalen,  Sozialisierer 
—  ich  sage  nicht  Soziafisten,  weil  sie  sich  zwar  so  nennen, 
aber  keine  sind  — ,  die  am  vierzehnten  April  die  Revolution 
gemacht   haben. 

Zu  einer  Stunde  also,  in  der  die  politische  Grundfrage, 
wenn  sie  iiberhaupt  noch  gestellt  wird,  nicht  mehr:  „ Monarchic 
oder  Republik?"  heiBt,  zu  einer  Stunde  vor  allem,  in  der  die 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Fragen  mit  ihrem  Schatten  alles 
andre  zudecken,  macht  Spanien  aus  dem,  was  es  die  Revolu- 
tion zu  nennen  beliebt,  die  banale  Geste  unsrer  Vater,  Diese 
Pseudorevolution  ist  ganzlich  von  gestern.  Wer  sich  etwas 
mit  der  russischen  Revolution  befaBt  hat  oder  auch  nur  mit 
Mussolinis  Staatsaufbau-Arbeit,  der  wird  mit  Staunen  horen, 
daB  sich  die  spanische  Revolution  bis  zum  heutigenTag  auf 
folgendes  beschrankt: 

1.  Die  Flucht  des  Konigs. 

2.  Ein  paar  Tage  Volksbelustigungen. 

3.  Die   wahl  der  sogenannten   ,,konstituierenden"   Cortes. 

4.  Verbrennung  von  ungefahr  zweihundert  Kirchen  und  Klo- 
stern  —  in  einem  Lande,  das  von  Kirchen  und  Klostern 
tibersat  ist. 

5.  Parlamentarische  Diskussion  iiber  eine  Verfassung,  in  der 
man  durcheinander  eine  Reihe  von  Grundgesetzen  for- 
muliert,  die  mehr  oder  weniger  denen  der  Republik 
Frankreich  nachgemacht  sind. 

Als  Lenin  und  seine  Freunde  ihre  Revolution  machten, 
erlieB  Lenin,  ich  glaube  innerhalb  von  vierundzwanzig  Stun- 
den,  zwei  Dekrete:  das  uber  den  Boden  und  das  iiber  den 
Frieden.  Im  Flur  der  kleinen  Wohnung,  die  er  damals  im 
Smolny-Institut  hatte,  sieht  man  die  beiden  Dekrete  noch  heute 
an  der  Wand.  Sofort  zwei  Bomben,  und  was  fiir  Bomben!  Sie 
bewirkten,  daB  die  Soldaten,  die  Tausende  bewaffneter 
Bauern,  aufs  Land  zuriickfluteten;  sie  hoben  mit  einem  Schlag 
den  ganzen  Landadel  auf,  den  ganzen  feudalen,  kapitalistischen 
und  kirchlichen  Privatbesitz.  Ein  furchtbarer  Axthieb,  der 
wirksamste,  der  jemals  in  RuBland  gefiihrt  worden  ist.  Aber 
der  franzosische  Axthieb,  1789  bis  1793,  war  ebenso  wirksam. 
Die  franzosische  Revolution  bestand  nicht  in  der  Absetzurig 
und  Hinrichtung  des  Konigs  sondern  schaffte  die  Vorrechte 
zweier  Stande  —  man  konnte  sagen:  einer  Klasse  —  ab,  kon- 
fiszierte  ihre  Giiter  und  verkaufte  dies  so^enannte  National- 
eigentum  zum  Besten  der  Staatskasse. 

3  243 


Nichts  davon  in  Spanien.  Wir  wollen  an  vier  Hauptr 
punkten  untersuchen,  was  -die  spanische  Revolution  hatte  sein 
konnen, 

Siaatsreform.  Theoretisch  ist  der  Koriig  der  SchluBstein, 
dci*  die  franzosische  Republik  nicht  recht  zu  ersetzen  gewufit 
hat.  Dadurch  entstand,  wie  Sembat  in  sein  era  Buch  sagt,  das 
Loch  im  Dach,'  durch  das  es  ins  Haus  regnete.  Die  franzosische 
Revolution  hat  den  Konig  fiir  einige  Zeit  durch  einen  mit  Voll- 
machten  ausgestatteten  Konvent,  durch  Wohlfahrts-  und  Ober- 
wachungsausschiisse  und  durch  den  Jakobinerklub  ersetzt, 
aber  toaeh  1795  war  nichts  mehr  davon  iibrig.  Man  brauchte 
Konsuln,  Kaiser  und  Konige  und  stiirzte  schlieBlich  in  den  Zu- 
stand  von  uneihgestandner  Anarchie,  den  man  das  parlamen- 
tarische  Regime  nennt. 

Alle  Staaten  sind  dem  Irrtum  des  Parlamentarismus  mehr 
oder  weniger  verf alien,  aber  allmahlich  machen  sie  sich  frei 
davon:  Amerika  durch  Plutokratie  und  maschinellen  Wahl- 
betrieb;  Siidamerika  und  einige  europaische  Volker  durch  Dik- 
taturen  von  Einzelpersonen;  Italien  .durch  den  Fascismus;  Sow- 
jetruBland  durch  die  Diktatur  des  Proletariats.  Die  parlamen- 
tarische  Demokratie  lehnt  man  entweder  ab,  wie  in  RuBland 
und  Italien,  oder  man  stellt  sie  kalt,  wie  in  Spanien  unter  der 
Diktatur  und  in  Jugoslawien,  oder  man  vergewaltigt  sie,  in 
Amerika  durch  personliche  Vollmachten  des  Prasidenten  und 
die  Macht  der  Wahlmaschine,  in  Deutschland  durch  eine  kai- 
serlich-parlamentarische  Diktatur,  in  Polen  durch  personliche 
Vollmachten  des  Prasidenten  und  so  weiter.  In  diesem  Augen- 
blick  macht  Spanien  eine  Revolution,  wie  unsre  Vater  von 
Achtundvierzig  sie  gemacht  hatten,  und  autorisiert  ein  Par- 
lament  alten  Stils.  Fiir  Spanien  ist  die  Zeit  stehen  geblieben, 
gibt  es  keine  Staatsreform.  Ein  gutes  Parlament  geniigt  fiir 
alles.  Und  die  Verhandlungen  iiber  die  Verfassung,  die  jedem 
auslandischen  Beobachter  als  ein  Schauspiel  volliger  Anarchie 
in  die  Augen  sprangen,  brachten  Spanien  keinerlei  Erleuch- 
tung. 

Kirehenreform  und  Religion.  Man  trennt  die  Kirche  vom 
Staat.  Man  erklart  alle  Konfessionen  fiir  gleichberechtigt,  und 
Spanien  ist,  wie  d'er  President  Azora  verkiindet,  nicht  mehr 
katholisch.  Das  ist  abgemacht,  und  dazu  kommen  einige  Ge- 
setze  iiber  die  religiosen  Orden,  von  denen  kein  Gebrauch  ge- 
macht wird.     Nichts  Durchgreifendes. 

Das  Spanien  von  1931  hatte  wie  das  Frankreich  von  1789 
zu  einer  Staatsreligion  Stellung  zu  nehmen.  Es  gab  da  zwei 
Moglichkeiten;  entweder  leugnen,  daB  eine  Staatsreligion  notig 
sei,  und  zu  Toleranz  und  weltlichkeit  iibergehen;  oder  ver- 
kiinden,  eine  Staatsreligion  sei  notig,  nur  die  bisherige  set 
schlecht,  und  eine  Staatsphilosophie  schaffen.  Kurz,  entweder 
Frankreich  oder  RuBland  folgen.  Spanien  ist  Frankreich  ge- 
folgt.  Man  beachte  wohl,  daB  in  diesem  Fall  der  Staat  sich 
keineswegs  neutral  halt,  wie  es  scheint,  sondern  daB  diese 
Indifferenz  eine  gewisse  uneingestandene  und  diirftig  belegte 
Philosophic  voraussetzt.     Das  heiBt,  man  halt  sich  —  und  dar- 

244 


um    hat    sieh    die    franzosische  Republik    stets    bemiiht  ■  —    im 
Zweideutigen. 

WirfsrhaftHche  und  soziale  Fragen.  In  wirtschaftlichei* 
und  sozialer  Beziehung  brauchte  Spanien  eine  industrielle  und 
agrarische  Reform  oder  Revolution.  Sieht  man  etwas  davon? 
Spanien  verabschiedet  ein  Agrargesetz,  das  die  groBen  Be- 
sitzungen  aufteilt.  Die  einen,  die  als  Apanagen  gegeben 
waren,  werden  einfach  eingezogen  (das  ist  die  einzige  wirk- 
lich  revolutionare  Unternehmung);  fur  die  andern  ist  eine  Ent- 
schadigung  vorgesehen.  Man  will  zuerst  die  Apanagen  auf- 
teilen,  dann  die  groBen  Besitzungen,  soweh  sie  vernachlassigt 
sind,  dann  die  iibrigen,  entsprechend  ihrer  Grofie  und  Vernach- 
lassigung.     Aber  das  alles  ist  nur  geplant,  nicht  durchgefiihrt. 

Damit  vergleiche  man,  wie  man  bei  uns  die  beweglichen 
und  die  Kirchenguter  eingezogen  und  als  Staatseigentum  ver- 
kauft  hat.     Man  vergleiche  Lenins  BodenerlaB, 

Das  ist  noch  nicht  alles.  Man  wird  das  Land  also  auf- 
teilen,  aber  an  wen  vergeben?  Hier  gibt  es  zwei  Modeller  das 
franzosische,  nach  dem  sich  Polen  und  Rumanien  gerichtet 
haben  —  man  verkauft  das  Land  den  Bauern;  das  russische 
oder  besser  sowjetistische:  man  schafft  groBe  Staatsfarmen 
oder  Bauernkollektive,  Spanien  schwankt  zwischen  beiden 
Systemen,  und  man  kann  wetten,  daB  es  sich  fur  das  erste 
entscheiden  wird,  weil  das  zweite  weder  mit  dem  Zustand  der 
Anarchie  vereinbar  ist,  in  dem  das  Land  sich  befindet,  noch 
auch  mit  dem   Individualismus  des  spanischen  Volkes, 

Soviel  iiber  die  Agrar-Reform  respektive  -Revolution.  Auf 
industriellem  Gebiet  hat  das  republikanische  Spanien  nichts 
getan,  es  hat  nichts  sozialisiert,  und  die  Bergwerke,  Banken 
und  Eisenbahnen  sind  heute  in  keiner  andern  Verfassung  als 
vor  einem  Jahr, 

Einheitsstaat\oder  Bundessfaat  Hat  Spanien  hier  Neues 
geschaffen?  Bekanntlich  stehen  sich  in  Spanien  zwei  Grup^ 
pen  gegeniiber;  einerseits  die  Sozialisten,  die  Leute  aus  den 
Arbeiterverbanden  (unsern  Gewerkschaften  entsprechend), 
viele  gemaBigte  und  radikale  Republikaner,  die  unitarisch  den- 
ken  und  nur  im  Rahmen  Spaniens  und  nach  unendlichen 
Schwierigkeiten  sich  mit  gewissen  Autonomien  einverstanden 
erklaren.  Auf  der  andern  Seite  die  baskischen,  katalanischen, 
galicischen  Autonomisten  und  eine  Anzahl  valencischer,  an- 
dalusischer,  aragonischer  Regionalisten.  Aber  fur  diese  Auto- 
nomisten und  Regionalisten  gelten  eigentlich  nur  lokale  Ge- 
sichtspunkte;  man  findet  beispielsweise  keinen  Kastilier,  der 
genug  Staatsgefiihl  hatte,  um  an  einen  Bundesstaat  Spanien 
zu  denken.  Unsre  Revolutionare  hatten  einen  sol.chen  Plan, 
einen  groBartigen  Plan,  denn  er  hatte  es  ihnen  ermoglicht 
—  wennschon  sie  dies  „eins  und  unteilbar"  auf  die  gemeine 
Sache,  die  res  publica,  den  Staat,  die  Union,  nicht  auf  die 
franzosische  Nation  bezogen  hatten,  die  nur  innerhalb  einiger 
Provinzen  ein  Eigendasein  fiihrte  — ,  er  hatte  es,  sage  ich, 
ihnen  ermoglicht,  die  belgischen,  batavischeu,  linksrheinischen, 
cisalpinen,    helvetischen,    romanischen,    parthenopaischen    Re- 

245 


publiken  wieder  zu  vereinigen.  Auch  Lenin  hatte  diesenPlan. 
Er  lcitctc  den  Nationalismus  auf  das  ukrainische,  georgischet 
tatarische  Element  ab  und  schuf  zwar  nicht  einen  Bundesstaat, 
aber  eine  Union  von  Republiken,  eine  Union,  zu  der  morgen 
Finnland,  Estland,  Rumanien  und  Spanien  hinzutreten  konnen, 
ohne  daB  sie  irgend  etwas  an  ihrer  Eigenkultur  zu  andern 
oder  etwas  von  ihrer  Seele  zu  verlieren  brauchen.  GewiB  ist 
es  sehr  moglich,  daB  der  Panslavismus  eines  Tages  in  RuBland 
siegt,  so  wie  in  Frankreich  der  Nationalismus  iiber  den  Ge- 
danken  des  Bundesstaats  gesiegt  hat.  Jedenfalls  hat  Spanien 
beschlossen,  dem  franzosischen,  vom  Kaiserreich  bis  ins  Ejc- 
trem  getriebenen  Verfahren  zu  folgen,  und  ist  ihm  gefolgt;  die 
augenblicklichen  Herren  des  Landes  sehen  Spanien  als  eine 
Gruppe  von  Prafekturen  —  ein  nur  verwaltungstechnisches, 
zentralistisches  Moment. 

SchlufifolQerung.  Eine  spanische  Revolution  im  wahren 
Sinne  des  Wortes  hat  es  nicht  gegeben.  Sie  steht  noch.  aus. 
Man  hat  den  Konig  abgesetzt,  die  Republik  ausgerufen,  die 
Cortes  gewahlt,  aber  all  dies  als  Nachahmung  der  verschie- 
denen  parlamentarischen  Republiken,  die  es  in  Europa  gibt, 
und  ohne  daB  man  von  einer  Staatsref orm  sprechen  konnte. 
Man  hat  iiber  einige  Schul-  und  Kirchengesetze  abgestimmt 
aber  ohne  die  Staatsreligion  durch  eine  Staatsphilosophie  zu 
ersetzen.  Man  hat  einige  Sozialreformen  erlassen  und  ein 
Agrargesetz  einzufiihren  versucht,  aber  von  einer  wirtschaft- 
lichen  oder  sozialen  Umschmelzung  kann  keine  Rede  sein.  Man 
hat  den  Gedanken  einer  fftderalistischen  Union,  den  Sowjet- 
rufiland  und,  in  ihren  Anfangen,  die  franzosische  Revolution 
vertreten,  ignoriert  und  abgelehnt  zugunsten  der  zentralisti- 
schen  Formel,  die  zu  Nation  und  Nationalismus  fiihrt,  einer 
Idee,  deren  Verteidigung  und  Verherrlichung  im  vorigen  Jahr- 
hundert  so  viele  Katastrophen  verursacht  hat. 

Es  hat  also  nicht  nur  keine  Revolution  in  Spanien  gege- 
ben;  sondern  die  spanischen  Pseudorevolutionare  sind  roman- 
tische  Nachztigler,  deren  Grundhaltung  sich  einer  modernen 
Revolution  gradezu  widersetzt.  1931  haben  diese  Leute,  die 
heutigen  Herren  des  Landes,  versucht,  auf  einen  modernen 
Staat  Grundsatze  anzuwendent  die  wahrend  der  franzosischen 
Revolution  Geltung  hatten  und  von  denen  die  meisten  sich  als 
verderblich  und  unzureichend  erwiesen  haben;  soweit  sie  fur 
ihre  Zeit  gut  waren,  sind  sie  es  heute  nicht  mehr.  Durch  eine 
Aktion,  die  noch  im  Fortschreiten  begriffen  scheint,  hat  man 
Spanien  aus  seinem  Loch  gezogen,  aber  deswegen  noch  nicht 
auf  das  Niveau  von  heute  gebracht  Ja  es  scheint,  als  ob  die- 
jenigen,  die  heute  an  der  Macht  sind,  in  ihrer  wilden  Abnei- 
gung  gegen  eine  wirkliche  Revolution  sich  und  dem  Lande  die 
revolutionafe  Maske  aufgesetzt  haben,  um  die  lebendigen 
Krafte  der  Halbinsel  zu  entmutigen  und  irrezuleiten,  die  iiber 
kurz  oder  lang  dennoch  das  Gebiet  zwischen  den  Pyrenaen  und 
Gibraltar  werden  revolutionieren  miissen. 

Deutsch  von  Rudolf  Arnheim 


246 


Grauenvolle  Zustande  in  Afrika 

von  Walter  Mehring 

t,Der  Neger  stellt  den  natiirlichen  Menschen  in  sei- 
ner ganzen  Wildheit  und  Unbandigkeit  dar:  von  aller 
Ehrfurcht  und  Sittlichkeit,  von  dem,  was  Gefiihl  heifit, 
muB  man  abstrahieren,  wenn  man  ihn  richtig  auffassen 
will;  es  ist  nichts  an  das  Menschliche  Anklingende  in 
diesem  Charakter  zu  finden. 


Wir    verlassen    hiemit    Afrika,    um    spaterhin    seiner 
keine  Erwahnung   mehr   zu  tun," 

Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel, 
Philosophic  der  Geschichte 
rjcn  Blick    zu    weiten,    durch    die  Kenntnis    frcmder  Lander, 

durch  das  Studium  aller,  auch  der  rassisch  minderwertigen 
Ebenbilder  Gottes:  kann  man  es  nicht  aus  eigner  Anschauung, 
so  sucht  man,  aus  den  Dichtungen  Cook-  und  seebefahrener 
Erzahler,  aus  dem  Wissensschatz  kiihner  Forscher  seine  Bil- 
dungsmangel  aufziiwerten.  Afrika  vor  allem  —  von  des  Strabo: 
Geographika  bis  zu  Hollywoods  auf  Neger  dressierten  Film- 
lowen,  von  dem  leider  semitisch  verseuchten  Emin  Pascha 
bis  Richard  Huelsenbecks  ,, Afrika  in  Sieht"  —  Afrika  hat  es 
mir  immer  angetan.  Was  Wunder,  dafl  ich,  um  iiber  den  dunk- 
len  Kontinent  auf  dem  Laufenden  zu  bleiben,  gierig  nach  dieser 
frischen  Schilderung  griff,  die  ich  in  der  ,t)bersee-  und  Kolo- 
nialzeitung*  Februarheft  entdeckte; 

Wilhelm  Rothaupt  /  Afrikanische  Reisebriefe 

Daressalam,  den  1.  Dezember  1931, 

Donnerwetter  —  das  klingt!  Welch  Zauberwort  der  Orts- 
angabe! 

Nach  einem  Absatz  obligater  Naturschilderung,  einem 
zweiten  iiber  geschminkte  Modedamchen  sieht  des '  Forschers 
blaues  Auge  das: 

„Es  war  dies  eine  bunthautige  Gesellschaft  von  WeiBen,  Gel- 
ben,  Braunen  und  Schwarzen,  nach  Gestalt  und  Gesichtsbildung  so 
gegensatzlich  zusammengestellt  wie  ein  Panoptikumsensemble.  Ich 
erkannte  bald,  daB  ich  Hafenarbeiter,  und  zwar  durchwegs  halfcaste, 
vor  mir  hatte.  Ein  schon  grauhaariger  Schwarzer  kommandierte  grofi- 
maulig  darauf  los.  —  Die  weififarbenen  Mischlinge  taten  sich  Sarin 
besonders  hervor;  es  war  ein  triiber  Anblick." 

Dieser  triibe,  um  nicht  zu  sagen;  schwarze  Anblick  ist 
nichts  gegen  das,  was  unser  scharfsichtiger  Gewahrsrhann 
—  der  so  rasch  Hafenarbeiter,  selbst  halfcaste  herauserkennt  — 
in  Port  Elisabeth  mitansehen  muB: 

„Weifle  Arbeiter  —  Farbige  Faullenzer. 

Als  ich  durch  die  Main  Street  schlenderte,  wurde  ich  so  r*>*,uc 
gewahr,  welche  Fortschritte  die  Eingeborenen,  man  nennt  si*:  ent- 
gegenkommend  ja  nur  mehr  Farbige,  in  ihren  *Bestrebungen  nach  so- 
zialer  Gleichberechtigung  schon  erreicht  haben.  Man  sieht  die  dunk- 
len  Herrschaften  modisch  und  korrekt  angezogen  die  Burgersteige 
entlang  promenieren,  selbstverstandlich  werden  sie  auch  in  der  Elek- 
trischen  wie  jeder  andre  Fahrgast  behandelt.  In  East  London  las 
ich  zwar  auf  alien  an  den  Haltestellen  der  StraBenbahn  aufgestellten 
Ruhebanken  die  kategorische  Weisung:  Europeans  only,  aber  mit  der 

247 


wirklichen  Vorzugsstellung  der  Weifien  stent  es  gerade  nicht  zum 
besten.  Hier  sah  ich  Huhderte  von  ,Poor  Whites*  mit  Pike  und  Schau- 
f  el  bei  den  Erdarbeiten  beschaftigt,  und  zwar  mit  Kolonnen  schwar- 
zer  Arbeiter  Schulter  an  Schulter.  Eine  meiner  east  londoner  Auf- 
nahmen  illustriert  sehr  bezeichnend,  wie  ein  sonntaglich  angezogener 
Neger,  faul  an  einen  Zaun  gelehnt,  zuschaut ..." 
wie  der  Verfasser  itn  SchweiBe  seines  weiBen  Angesichts 
knipst.  Nach  dem  erschiitternd  cchten  Kulturlichtbild  Siid- 
afrikas  noch  rasch  ein  Lichtblick  auf  ein  Missionshaus: 

„Die  mich  fuhrende  Oberin  war  besonders  stolz  auf  diese   (Strik- 
kerei)-Abteilung.     Sie  hatte,  urn  den  Anforderungen   der  christlichen 
Heilslehre ..." 
Ach  so!     Nein!     Verzeihung!  ... 

,,. . .  der  durbaner  Geschaftshauser  genugen  zu  konnen,  sogar  Mo- 
tore  auf  stellen  lassen.  Das  war  aber  dann  durch  Angeberei  einer  miB- 
giinstigen  Konkurrenz  der  weltlichen  Steuerbehorde  zu  Ohren  ge- 
kommen  und  diese  hatte  den  Missionsstrickereibetrieb  kurzerhand  fur 
eine  Erwerbsgesellschaft  erklart  und  mit  entsprechenden  Abgaben  be- 
lastet." 

Weshalb  <ier  weiBe  Rothaupt  seine  Forschungsergebnisse 
in  der  so  lapidaren  Kennzeichnung  zusammenfaBt: 

nAfrikaf  der  Kontinent  ohne  Gewerbe-,  Einkommen-  und  Vermo- 
genssteuer,  es  war,  es  war  einmal." 

Dahin(  dahin,  Du  Biedermeier  Afrikas!  Grauenvolle  Wirk- 
lichkeit  in  alien  Kontinenten!  Wahrend  Millionen  in  Deutsch- 
land  huhgern,  wahrend  Tausende  in  China  dem  Frieden  japani- 
scher  Vaterlandsverteidigung  zum  Opfer  fallen,  ist  es  mit  der 
wirklichen  Vorzugsstellung  der  WeiBen  im  Land  der  Neger 
nicht  zum  Besten  bestellt,  werden  Eingeborene,  die  wir  ent- 
gegenkqmmend  Farbige  nennen,  in  der  Elektrischen  wie  jeder 
andre  Rothaupt  behandelt. 

Aber  verliert  darum  nicht  den  Mut,  Ihr  Arbeitslosenf  denn 
—  wie  im  gleichen  Blatt  Missionsdirektor  Dr.  Freitag  be- 
richtet: 

,,So  widersinnig  es  erscheinen  mag  angesichts  unserer  Lage:  die 
christliche  Weltmission  findet  gerade  jetzt  in  Deutschland  eine  stei- 
gende  Beachtung.  Die  evangelische  Missionsgesellschaft  berichtet  von 
einer  immer  steigenden  Zahl  von  Gebern." 

Also  seid  mal  verniinftigl  Und  wenn  wirklich  die  berliner 
Winterhilfe  nicht  ganz  ausreicht,  wenn  wirklich  ein  paar  von 
Euch  iibrig  bleiben,  die  sich  mit  mehr  oder  minder  Grund  iiber 
Not  beklagen,  dann  sollen  sie  bedenken,  daB  man  schlieBlich 
auch  was  fur  die  Weltmission  geben  muB.  Die  Weltmission 
hat  namlich  furchtbar  viel  zu  tun. 

„Es  handelt  sich  bei  diesem  Werk  um  eine  gewaitige  geistige 
Auseinandersetzung,  die,  trotz  den  vorhandenen,  zum  Teil  hervor- 
ragenden  Fuhrerpersonlichkeiten,  iiber  die  Krafte  der  jungen  Christen-. 
heit  geht.  Das  politische  Problem  will  beantwortet  sein,  Im  Rassen- 
gegensatz  muB  konkret  fur  die  ortlich  sehr  verschiedenen  Verhaltnisse 
die  Frage  nach  dem  ttecht  beantwortet  und  bei  den  primitiven  Vol- 
kern  vor  einer  gedankenlosen  Angleichung  an  das  Abendland  gewarnt 
werden.  Dem  Nationalismus  gegeniiber  gilt  es,  die  Bejahung  des 
Rechts  zur  Eigengestaltung  des  staat lichen  und  kulturellen  Lebens  mit 
der  klaren  Abwehr  aller  romantischen  Verherrlichung  eigener  Ge- 
schichte  und  Wesensart  zu  verbinden  und  die  Tatsache  des  Aufein- 
ander-angewlesenseins  der  Volker  zu  sehen." 

248 


Aber  die  klare  Abwehr  „aller  romantischen  Verherrlichtuig 
eigener  Geschichte  und  Wesehsart",  „die  Tatsache  des  Aufein- 
ander-angewiesenseins  der  Volker",  das.  gilt  natiirlich  nur  fiir 
die  Primitiven,  fiir  die  dunklen  Herrschaften  und  triiben  Misch- 
linge,  bei  denen  man  von  allem,  was  Gefiihl  heiBt,  abstrahiereri 
muB,  wahrend  in  den  Kulturnationen  der  Rassengegensatz  kon- 
kret  durch  Killen  ausgeglichen  wird.  Doch  ist  das  nicht  die 
einzige  Mission.  Auch:  „Die  soziale  Frage  harrt  des  Eingrei- 
fens,"  Und  flie  hat  ihre  Tiicken.  Denn:  ,,Die  Hauptverbrei- 
tungsgebiete  des  Bolschewismus  liegen  da,  wo  die  soziale  Not 
am  handgreiflichsten  ist."  Ahnlich  der  Armut,  die  von  der 
Powerteh  kommt.  Man  soil  es  nicht  fur  menschenmoglich 
halten. 

„Es    geht   urn   den   Menschen    des    Ostens    und   Afrikas,     Urn    so 
schwerer  wiegt  es,  dafi  die  deutsche  missionarische  Arbeit  ganz  aufier- 
ordentlich  von   der   Wirtschaftskrise  -betroffen  wird." 
Im  Gegensatz  zur  Heimat  und  trotz  der  steigenden  Zahl  von 
Gebern- 

MNicht  nur  reichen  die  Gaben  der  Heimat  fiir  den  gesunden  Fort- 
gang  des  Werkes  nicht  aus,  sondern  auch  weithin  in  Sud-  und  West- 
afrika  und  besonders  in  China  fehlt  es  den  jungen  Christenheiten  an 
der  Moglichkeit,  eine  gesunde  finanzielle  Basis  fiir  ihre  Kirchen  zu 
schaffen," 

Proletarier  aller  Lander,  vereinigt  Euch!  Gebt  Euer  Aller- 
letztes  her,  opfert  Eure  Gesundheit  einer  gesunden  finanziellen 
Basis  fiir  Kirchen  in  Slid-  und  Westafrikal  Tiit  Ihr  es  nicht: 
Ihr  ahnt  nicht,  was  auf  dem  Spiel  steht;  Ihr  wiBt  nicht,  was 
das  bedeuten  wiirde: 

„Ein  Riickgang  der  Mission  wiirde  aber  bedeuten,  dafi  im  gegen- 
wartigen  Augenblick,  wo  in  der  ganzen  Welt  die  Entscheidung  fiir  die 
kunftige  Gestaltung  kommender  Jahrhunderte  gefallt  wird,  die  Front 
der  Christenheit  auf  das  Abendland,  dessen .  Einflufi  unzweifelhaft  im 
Riickgang  begriffen  ist,  beschrankt  wiirde." 

Und  das  kann  Gott,  bei  Gott!  nicht  wollen!  Denn  dazu 
gab  er  dem  Abendland  die  Kolonien,  damit  in  diesen  die  Front 
der  Christenheit  verbreitert  werde,  wenn  in  jenem  die  Ent- 
scheidung fiir  kommende  Jahrhunderte  gefallt  wird.,  Denn  seht, 
dies  ist  Mission;  eine  immer  wachsende  Zahl  von  Gebern  in- 
vestiert  Gaben  in  Missionen  und  Kriege  des  fernen  Ostens,  auf 
daB  dieser  den  EinfluB  des  Abendlandes  wieder  rentabel 
mache,  Wer,  aufler  etwa  den  „schwarzen  Minenarbeitern,  den 
Hauptobjekten  sowjetrussischer  Beeinflussung",  durfte  noch 
zweifeln  an  der  ewigen  Wahrheit  der  Kolonialzeitung  MdaB 
uns  alle  uns  unter  boswilligen,  unwahren  Vorwanden  (Kolo- 
nialschuldluge)  geraubten  Kolonien  wieder  zuriickgegeben  wer- 
den  miissen." 


Afrika,  du  ratselhafter  Erdteil!  Versunken  ist  die  Atlan- 
tis —  und  Missionsstrickereien  werden  steuerlich  erfaBt.  Ele- 
fanten  sielen  sich  in  Kolonialmandaten  —  auf  Biirgersteigen 
promeniert  der  gleichberechtigte  Hottentotte  ^-  und  die  Sphinx 
lachelt  aeonenhaft;  Europeans  only! 

249 


ReCtltederBuhnenautoren  von  Werner  Ackermann 

MDas  Verbandsorgan  ,Der  Autor'  soil  noch  mehr  als  bis- 
her  ein  Kampforgan  werden  und  Schaden  aufdecken,  wo  immer 
sie  sich  in  den  Bezirken  des  Theaters  und  der  mit  diesem  zu- 
sammenhangenden  Zweige  des  offentlichen  Lebens  bieten.  Wir 
fordern  zu  reger  Mitarbeit  auf . .  /'     (fDer  Autor'-) 

ttIch  habe  lange  geschwankt,  ob  es  mir  moglich  sein  wurde, 
Ihren  ausgezeichneten  Artikel  im  ,Autor'  zu  bringen,  und  habe 
iiber  ibn  auch  mit  verschiedenen  Vorstandskollegen  Riicksprache 
genommen,  die  alle  ubereinstimmend  der  Ansicht  waren,  es  sei 
ratsamer,  wenn  die  Veroffentlichung  unterbliebe.  In  unserm  Kampf 
gegen  den  Buhnenverein  sind  unsere  Verbiindeten  die  Verleger. 
...  So  sehr  ich  privatim  allem  zustimmen  muB,  was  Sie  in 
Ihrem  Aufsatz  darlegen,  fur  so  bedenklich  halte  ich . , . '  eine 
Publikation  Ihrer  Beschwerden,  die  ja  die  der  meisten  von  uns 
sind."      (Der    Geschaftsfuhrer   an   den   Verfasser.) 

TJ  m  den  Schutz  der  wirtschaftlich  Schwachern  ist  es  schlecht 
bestellt.  Die  groBe  Vereinspolitik  friBt  alle  auf.  Das  gilt 
auch  fur  die  Gebiete  der  Kunst.  Es  gibt  zwar  ansehnliche 
Organisationen,  die  den  Zweck  haben,  die  direkten  Interessen 
der  Schauspieler  oder  bildenden  Kiinstler  oder  Schriftsteller 
und  Komponisten  zu  vertreten.  Aber  die  Verbande  sind  ihren 
schweren  Aufgaben  nicht  gewachsen,  oder  sie  sind  sich  ihrer 
nachsten  Pflichten  nicht  bewuBt. 

Das  teilweise  Versagen  liegt  weniger  am  schlechten  Wil- 
len  als  am  schlechten  Mut  der  Leitungen.  Es  fehlt  ihnen  die 
uneingeschrankte  Verantwortungsfreudigkeit,  das  reinliche  Be- 
kennertum,  die  Tapferkeit,  das  Riickgrat  —  der  Sinn  fur  den 
Dienst  am  Mitglied.  Statt  die  Gesamtheit  der  Einzelnen  zu 
schutzen,  treiben  sie  Verbandspolitik  fiir  eine  illusionare  Ver- 
einsgesamtheit.  Dem  Verband  verschaffen  sie  allenfalls  einen 
Prestigegewinn;  den  Schaden  haben  die  Mitglieder.  Im  Kleinen 
sind  sie  riihrig;  im  GroBen  sind  sie  zufrieden,  wenn  alles  beim 
Alten  bleibt.  Die  Organisationen  wollen  von  Politik  zwar  bei- 
leibe  nichts  wissent  aber  sie  spiegeln  unfreiwillig  sehr  viel 
Politik  und  politische  Methoden  wieder.  Innenpolitisch,  da,  wo 
sie  die  Herren  sind,  da  leisten  sie  dies  und  jenes;  aber  auBen- 
politisch  sind  sie  schwach  und  unfahig,  Leider  sind  die 
Vorstandet  denen  die  Kiinstler  sich  anvertraut  haben,  nicht 
jung  sondern  angstlich.  Den  machtigen  Gegnern  —  etwa  den 
Arbeitgebern  —  gegeniiber  sind  sie  iiberaus  bescheiden.  Aus 
Furcht,  einfluBreiche  Gewalten  vor  den  Kopf  zu  stoBen,  geben 
sie  Rechte  und  Anspruche  preis;  sie  begniigen  sich  mit  fik- 
tiven  Gewinnen.  Selbstverstandlich  nutzen  ihre  Gegner  diese 
Saft-  und  Kraftlosigkeit  weidlich  aus. 

t)ber  Mifistande  in  der  Buhnengenossenschaft  und  Unzu- 
friedenheiten  im  Schutzverband  deutscher  Schriftsteller 
(S.D.S.)  ist  in  der  .Weltbiihne'  bereits  gesprochen  worden. 
Auch  im  Verband  deutscher  Biihnenschriftsteller  ist  nicht  alles 
so,  wie  es  sein  sollte.  Dort  regiert  die  helle  Angst  vor  den 
Theaterdirektoren,  Der  Verband  fiihlt  sich  von  vornherein 
uhterlegen;  aus  der  Defensive,  aus  einer  wenig  verhiillten  Re- 
signation heraus,  sucht  er  durch  Diplomatie  und  Lavieren  den. 
Schaden  nach  Moglichkeit  zu  verringern.  An  reelle  eigne  Ge- 
250 


winne  wagt  er  gar  nicht  zu  denken,  Aber  dieses  Verhalten 
entspricht  durchaus  nicht  den  Interessen  der  Mitglieder.  Die 
Forderung  von  effektivem  statt  fiktivem  Schutz  ist  urn  so  be- 
rechtigter,  als  der  Verband  eine  Zwangsorganisation  ist*-  Jeder 
Autor,  der  aufgefiihrt  wird,  muB  ihr  angehoren.  Er  zahlt  ihr 
nicht  nur  einen  jahrlichen  Beitrag,  sondern  auch  noch  eine 
Abgabe  von  seinen  Tantiemen.  Die  Unzufriedenheit  der 
Autoren  mit  dem  Verband  der  Buhnenschriftsteller  geht  aus 
dem  offiziellen  Bericht  iiber  die  vorletzte  Generalversammlung 
des  S,D.S.  deutlich  hervor:  MInsbesondere  haben  sich  im  letzten 
Jahre  auch  Buhnenschriftsteller  mit  der  Bitte  urn  Hilfe  an  den 
S.D.S.  gewandt,  da  sie  sich  durch  ihre  eigne  Organisation  gegen 
die  Buhnenvertriebe  nicht  gentigend  vertreten  glaubten." 

Die  Buhnenvertriebe  haben  das  Wohl  und  Wehe  der 
Autoren  in  den  Handen;  sie  konnen  die  wirtschaftlichen  Ge- 
fahren,  die  die  Stiickeschreiber  bedrohen,  abwenden  oder  bis 
zur  Niederlage  auswachsen  lassen,  konnen  den  Autor  schiitzen 
oder  verraten.  Leider  fallen  sie  ihm  oft  in  entscheidenden  Augen- 
blicken  in  den  Riicken.  Grade  jetzt,  wo  der  Kartellvertrag 
zwischen  den  Verbanden  der  Theaterdirektoren,  Verleger  und 
Buhnenschriftsteller  abgelaufen  ist  und  erneuert  werden  soil, 
muB  die  Autorenschaft  eindringlich  aussprechen,  daB  sie  nicht 
immer  wieder  das  Opf  er  eines  unwiirdigen  Kuhhandels  sein  will. 

Der  Autor  muB  sich  dem  Btihnenverlag  auf  Gnade  oder 
Ungnade  ausliefern.  Er  begibt  sich  auf  alle  Zeit  samtlicher 
Rechte  an  seinem  Stuck,  bezahlt  selber  die  Vervielfaltigung 
des  Manuskripts  und  hat  fur  die  Vermittlung  von  Auffiihrungen 
ein  Viertel  und  mehr  von  den  Tantiemeeinnahmen.  abzugeben. 
Solange  alle  Interessen  parallel  laufen,  ist  alles  in  Ordnung, 
Aber  es  gibt  naturgemaB  Storungen,  da  der  Autor  an  seinem 
Werk,  der  Verlag  aber  an  seinem  Geschaft,  dem  viele  Werke 
dienen,  interessiert  ist.  Diese  Divergenz  macht  den  Kartell- 
vertrag illusorisch.  Nicht  die  Direktoren  sondern  die  Ver- 
leger sind  schuld  daran,  daB  der  Vertrag  de  facto  nicht  mehr 
Wert  hat  als  ein  Fetzen  Papier.  Der  Biihnenvertrieb,  dem 
ein  Stuck  zu  treuen  Handen  ubergeben  worden  ist,  verwaltet 
das  ihm  anvertraute  Gut  schlecht,  sobald  es  gilt,  einem 
Theaterdirektor  gegeniiber  auf  eins  der  wenigen  Rechte  zu- 
gunsten  der  Autoren  zu  pochen.  Es  werden  keine  oder  ge- 
ringere  Tantiemen  gezahlt:  der  Verleger  zuckt  die  Achseln; 
eine  Auffuhrungsverpflichtung  wird  nicht  eingehalten:  der 
Verleger  zuckt  die  Achseln;  eine  Konventionalstrafe  ist  fallig: 
der  Verleger  zuckt  zweimal  die  Achseln.  Niemals  wagt  ert 
sein  Recht  als  Selbstverstandlichkeit  zu  fordern.  Dieses  Recht 
gehort  nicht  ihm.  er  hat  nnr  die  Pflicht,  es  zu  vertreten.  Aber 
er  erklart  sich  fur  ohnmachtig.  Er  kann  sich  im  Interesse 
seines  Geschafts  nicht  mit  einem  Theater  verieinden;  er.  muB 
das  einzelne  Werk  und  den  einzelnen  Autor  opfern.  Deshalb 
kann  er  nie  ein  rechter  Bundesgenosse  des  Autors  sein. 

Die  Moglichkeiten  zu  Differenzen  sind  damit  nicht  er- 
schopft.  Die  Rechtlosigkeit  des  Autors  hat  keine  Grenzen. 
Der  Verleger  verschieSt  nach  eignem  Gutdiinken  Auffiih- 
rungstermine;  er  tauscht  Stiicke  gegeneinander  aus;  er  redu- 
ziert  Tantiemensatze.     Er  darf  alles  tun,  was  er  will,  denn  er 

251 


hat  sich  vertraglich  voile  Handlungsfreiheit  gesichert  Und 
von  all  den.  Vorgangen  zwischcn  Theater  und  Verlag,  von  den 
Schicksalen  des  eignen  Werkes  braucht  der  Autor  nichts  zu 
erfahren,  Man  konnte  meinen,  daB  der  Vertrieb  aus  Anstand 
und  Achlungsgefiihl  den  Verfasser  des  Stuckes  informiert;  aber 
das  ist  durchaus  nicht  allgemein  iiblich.  Es  kommt  haufig  vor, 
daB  ein  Autor  vergebens  auf  eine  Auffuhrung  wartet,  ohne  je- 
mals  benachrichtigt  zu  werden,  daB  der  Verlag  alle  Verzoge- 
rungen  des  Theaters  duldet  oder  eine  Verlegung  auf  die  nachste 
Spielzeit  bereits  gutgeheiBen  hat. 

Manche  Buhnenvertriebe  haben  besonders  interessante 
Mittel  in  der  Hand,  um  ihre  Macht  den  Autoren  gegeniiber 
spielen  zu  lassen,  Sie  haben  private  Beziehungen  zu  Beihilfe- 
vergebern  und  konnen  ihren  Giinstlingen  aus  diversen  Fonds 
Vorteile  verschaffen.  Es  gibt  Verleger,  deren  Autoren  noch 
riie  einen  Pfennig  aus  den  Mitteln  dieser  Fonds  erhalten 
haben,  und  andre,  die  sich  vor  ihren  Autoren  groBtun 
konnen  mit  ihren  Beziehungen  und  Fiirsprachen,  Es  hat  so- 
g&r  den  Anschein,  als  ob  mit  Empfehlungen  an  die  Unter- 
^tiitzungsverteiier  ein  Verleger  einen  doppelten  Zweck  er- 
fiillen  kann:  sich  auf  billige  Art  die  Glorie  des  wohlwollenden 
Forderers  zu  verleihen  und  auf  dieselbe  billige  Art  der  mo- 
ralischen  Tflicht  zur  Zahlung  von  Vorschiissen  aus  dem  Wege 
zvl  gehen,  Es  ware  im  Interesse  der  Gerechtigkeit  sehr  wiin- 
schenswert,  wenn  eine  Zen£rale  gegriindet  wiirde,  die  die  Ver- 
teilung  von  Unterstiitzungen,  Stiftungen,  Beihilfen,  Preisen 
und  sonstigen  Zuwendungen  iiberwachen  wiirde.  Alle  Fonds 
mtiBten  bei  der  Zentrale  angemeldet  sein,  wo  iiber  ihre  Tatig- 
keit  Rechenschaft  und  Bericht  abzulegen  ware. 

Der  neuste  Angriff  auf  die  sparlichen  Rechte  der  Autoren 
ist  eine  Art  (fNotverordnung'\  Ein  Verlag,  der  irrefiihrender- 
weise  den  Namen  des  Verbands  deutscher  Biihnenschriftsteller 
f iihrt,  dekretiert,  daB  die  Autoren  in  Zukunft  starker  zur  Bestrei- 
lung  der  Unkosten  herangezogen  werden  mussen.  Er  nimmt 
eigenmachtig  kleine  Kiirzungen  der  Vertragsrechte  vor  und 
:geht  dann  zum  Generalangriff  uber:  die  Autoren  sollen  die 
Ankiindigungen  ihrer  Stiicke  selber  bezahlen.  Sie  werden  aber 
*nicht  etwa  erst  gefragt,  ob  sie  mit  dieser  einschneidenden 
Anderung  ihres  Vertrags  einverstanden  sind;  sie  werden  vor 
die  vollendete  Tatsache  gestellt.  Es  ist  also  wie  iiber- 
all:  auf  die  wirtschaftlich  Schwachen  sollen  die  Lasten  abge- 
ivalzt  werden.  Das  neue  System,  das  angeblich  auch  von 
andern  Verlegern  angewendet  wird,  hat  nicht  nur  eine  pe- 
kuniare  sondern  auch  eine  moralische  Seite.  Wenn  die  Re- 
klame  von  den  Autoren  bezahlt  wird,  so  kann  der  eitle  oder 
gut  gestellte  Autor  sich  groBe  Ankiindigungen  kaufen,  wahrend 
der  mittellose  Autor  iiberhaupt  nicht  in  der  Lage  ist,  sein  viel- 
leicht  bedeutend  wichtigeres  Werk  wirksam  anzukiindigen* 
Das  ganze  Bild  der  Propaganda  verschiebt  sich  und  wird  ver- 
schwommen,  Je  nachdem,  was  dem  Verlag  in  die  Hand  ge- 
driickt  wird,  ist  ein  Stiick  gut  oder  schlecht.  Nicht  mehr  das 
unbefangene  Urteil  des  Verlags  sondern  der  Geldbeutel  des 
Autors  tritt  entscheidend  in  den  Vordergrund,  Eine  Propa- 
ganda, die  aui  diese  Weise  ihren  objektiven  Charakter  ver- 
.252 


liert,  ist  also  nicht  nur  ganzlich  wertlos  scmdern  auch  im 
hochsten  MaBe  unsittlich. 

Und  was  hat  rait  all  diesen  Dingen  der  arme  Verband  dcr 
Biihnenschriftsteller  zu  tun?  Schr  viel!  Derin  er  tut  nichts, 
nichts  gcgen  die  Vcrlcger!  Er  nimmt  den  Autor  gegen  saumige 
Dramaturgen  in  Schutz,  laBt  durch  seine  Rechtsstelle  krasse 
Falle  von  Rechtsbrechung  behandeln,  fiihrt  in  seiner  Zeitschrift 
einen  ebenso  ehrenwerten  wie  vergeblichen  Kampf  gegen  die 
Selbstherrlichkeit  der  Direktoren.  Aber  niemals  nimmt  er  den 
Autor  gegen  die  Vertriebsanstalten  in  Schutz.  Er  schont  die 
Verleger,  obwohl  er  ihr  autorenfeindliches  Verhalten  genau 
kennt  und  miBbilligt.  Die  Verleger  mogen  aus  geschaftlichen 
Griinden  den  Theatern  gegeniiber  zur  Feigheit  gezwungen 
sein;  sie  sind  in  erster  Linie  Kaufleute,  die  ihren  eignen 
Nutzen  im  Auge  haben.  Der  Verband  der  Autoren  aber  ist 
fur  die  Autoren  da;  er  hat  kein  Recht  zur  Feigheit.  Er  hat 
nur  Sinn,  wenn  er  bereit  ist,  riicksichtslos  fur  die  Autoren  ein- 
zutreten  und  alle .  Nachteile,  von  denen  die  Autoren  betroffen 
werden,  of  fen  anzuprangern.  Der  Verband  macht  sich  mit- 
schuldig  an  den  MiBstanden,  da  er  sie  stillschweigend  duldet. 

Offenbar  bestehen  zwischen  einigen  Autorenfiihrern  und 
einigen  Verlegern  besondere  Freundschaften,  Geschaftsbii-nd-. 
nisse,  gemeinsame  Aktieninteressen  oder  sonstige  Verbindun- 
gen,  die  die  innere  Ursache  fur  die  Vertuschung  der  MiB- 
stande  bilden.  Die  Behauptung,  der  Kartellpartner  diirfe  im 
Augenblick  nicht  verargert  werden,  ist  eine  Ausrede  und  ein 
Zeichen  schlechter  Politik.  Eine  Ausrede,  weil  der  Verband 
die  Verleger  noch  niemals  angegriffen  hat;  schlechte  Politik, 
weil  es  nicht  anstandig  ist,  einen  Kuhhandel  auf  dem  Buckei 
der  eignen  Leute  abzuschlieBen.  Mag  der  Verband  die  Ver- 
offentlichung  der  Anklage  gegen  die  Verleger  aus  politischen 
Griinden  nicht  fur  opportun  halten:  die  Autoren  halten  es  fur 
opportun,  fur  ihre  Interessen  zu  kampf  en  und  die  diplo- 
matischen  Schleichwege  ihrer  Organisation  zu  desavouieren. 


SUlle  Strafie  von  Joachim  Ringelnatz 

^achts.    StraBe.    Fragen  Sic  nicht  wo  und  wann. 
*^  Auch  gleich  vorausgesagt,   daB  nichts  geschali 
Da  stand  ein  unscheinbarer,  alterer  Mann, 
Der  unverwandt  nach  einem  Fenster  sah. 

Vielleicht   war   er  —  ich  hatte   ieider   Zeit  — 
Ein  Kriminaler.    Oder  ein  Idiot. 
Doch  es  schlagt  niemals  eine  Moglichkeit 
Die  andere  tot. 

Wenn   solch  ein   Anblick   uns  sechs-,   siebenmal 
Um  einen  Hauserblock  spazierentreibt, 
Zu  seheh,  wie  der  Mann   dort  stehenbleibt; 
Vielleicht  sind  wir   dann  nur   sentimental. 

Aber   dem  Einsamen  ist   Stilles  nah, 
Wenn  er  das  Laute  nicht  bezahlen  kann. 

Da   stand  ein  unscheinbarer,   alterer  Mann, 
Der  unverwandt  nach  einem  Fenster  sah. 


2S3 


OttO  Reiltter  von  Peter  Panter 

Ein  gutes  Couplet  ist  nicht  iramer  wirkungsvoll, 
und  ein  wir  kungs  voiles   Couplet  ist  nicht   immer   gut. 

Otto  Reutter 

/"Western  habe  ich  eine  ganze  Nacht  verlacht.  ,,Otto  Reutter. 
^*  Ein  Gedenkbuch  uber  sein  Leben  und  Schaffen"  {im  Ver- 
lag  G.  Danner,  Miihlhausen  in  Thiiringen,  erschienen). 

Otto  Reutter  sang  etwas,  was  es  im  Deutschen  gar  nicht 
gibt,  denn  die  deutsche  Sprache  hat  keinen  Namen  fur;  Cou- 
plet, Chanson;  die  bessern  Herrn  nennen  das  ,,song".  Wie 
der  Franzose  unter  „le  lied"  etwa§  versteht,  was  er  nicht 
besitzt,  so  haben  wir  keine  Chansons.  *  Wir  miissen  uns  erst 
welche  machen.  Reutter  hat  sich  welche  gemacht:  weit  iiber 
tausend.  Ich  kenne  gut  die  Halite  davon,  denn  ich  habe  mir 
einmal  an  ein  paar  stillen  Vormittagsstunden  in  der  Musik- 
abteilung  der  Staatsbibliothek  in  Berlin  alles  zusammengesucht, 
was  von  ihm  da  ist,  und  es  ist  viel  da.  Eine  merkwiirdige 
Lekttire. 

Otto  Reutter  war  ein  Kiinstler  und  ein  Pachulke.  Das 
Buch  gibt  beide  Seiten  gut  wieder;  der  Begleittext  ist  aller- 
dings  unerlaubt  dumm,  die  Auswahl  ist  nicht  sehr  gut,  manche 
der.  beruhmtesten  Lieder  fehlen,  und  wahrscheinlich  ist  hier  und 
da  der  Text  sanft  ausgebessert,  denn  es  ist  nicht  anzunehmen, 
daB  Reutter  vor  dem   Kriege  von  „Marxisten"   gesungen  hat. 

Reutter  hatte  so  etwas  wie  eine  politische  Uberzeugung. 
Fur  ihn  spricht,  daB  er  nie  von  ihr  abgewichen  ist;  er  hatte 
sicherlich  kurz  nach  dem  Kriege  mit  gewaltigem  Eriolg  nach 
links  rutschen  konnen  —  das  hat  er  nie  getan.  Hut  ab  vor  so 
viel  Anstandigkeit. 

Geigen  seine  Uberzeugung  spricht,  daB  sie  fiirchterlich 
gewesen  ist  „Der  Deutsche  braticht  Kolonien"  —  Immer  feste 
druff!  —  und  was  er  nun  gar  erst  im  Kriege  getrieben  hat, 
das  war  bitter,  bitter.  Ein  Radaupatriotismus  iibelster  Sorte. 
Und   doch, ,  welch  ein  Konner  auf   seinem  Gebiet! 

Er  hatte  gegen  eine  Sprache  zu  kampfen,  die  schwerfallig 
ist,  die  man  erst  biegen  und  kneten  muB,  mit  der  man  Jahre 
und  Jahre  zu  iiben  hat,  bis  sie  tanzt . .  .  bei  ihm  hopste  sie. 
Massig,  polternd,  am  besten  und  gemutlichsten  im  Dreiviertel- 
Takt,  diesem  deutschesten  aller  Rhythmen,  lustig  im  Vier- 
viertel-Takt,  was  bei  uns  immer  wie  ein  beschleunigtes  Marsch- 
Tempo  anmutet  —  diese  beiden  Rythmen  hatte  er  im  Blut. 
Er  traf  Tone,  deren  Resonanzboden  sehr  tief  liegt  —  hier 
spricht  die  Seele  deines  Volkes,  wie  etwa  in  manchen  Kitsch- 
versen  bei  Hermann  Lons.  Was  heute  ibei  den  Nazis  als  Lyrik 
verzapft  wird,  lebt  von  diesen  alten  Mitteln,  nur  ist  dort 
alles  billig,  Maschinenspitze.     Reutter  nahte  mit  der  Hand. 

Dabei  war  sein  Deutsch  oft  grauslich.  Er  schreibt  fast  im- 
mer „gr6Ber'  als  wie  du",  er  benutzt  des  Reimes  halberFremd- 
worter,  daB  es  einen  kalt  iiberlauft,  und  doch,  und  doch . . . 

Seine  Texte  hatten  eine  Eigenschaft,  die  Paul  Graetz  ein- 
mal sehr    gut  definiert    hat:    sie  ,,tragen".     Das    heifit,    wenn 

254 


diese  Texte  von  cinem  schlechten  Vorstadthumoristen  ge- 
bracht  werden,  wenn  sie  der  jtingste  Lehrling  auf  dem  Jubi- 
laumsabend  der  Firma  singt,  dann  lachen  die  Lcute  auch  noch. 
Und    mit   Recht. 

Da  ist  zu  alleroberst  jenes  erhebende  Lied  ,,In  fiinfzig  Jah- 
ren  ist  alles  vorbei",  die  Musik  blieb  in  der  Terz  hangen,  und 
es  hatte  beinah  etwas  Fontanisches. 

Und   sitzt   auf   der  Bahn   du  ganz  eingezwangt, 
Und  dir  wird  noch  ne  Frau  auf  den  Schofi  gedrangt, 
Und  die  hat  noch  ne  Schachtel  auf  ihrem  SchoB, 
Und  du  wirst  die  beiden  Schachteln  nicht  lost 
Und  die  FtiBe  werden  dir  schwer  wie  Blei: 

In  fiinfzig  Jahren  ist  alles  vorbei! 
Oder  bist   du  beim  Zahnarzt  —  wenn  er  dich  greift, 
Und  dich  mit  dem  Zahn  durch  die  Zimmer  schleift, 
Und   er   zieht   und  zieht   und  bricht  alles   entzwei  — 

In  fiinfzig  Jahren  ist  alles  vorbei! 

Wie  das  sitzt!  Wie  das  klappt!  Wie  das  ablauft,  wie 
Wasser  einen  Berg  herunter,  es  kann  gar  nicht  and'ers  heifien, 
und  das  ist  immer  das  Kennzeichen  eines  gut  sitzenden  Ver- 
ses. Das  da  ist,  wie  mir  scheinen  will,  sein  schonstes  Lied, 
(es  hort  ganz  nachdenklich  auf).  Das  ist  sein  bestes,  wenn 
man  von  ,,Ick  wunder  mir  uber  jahnischt  mehr"  absieht, 

Einmal  kam  er  als  Idiot  heraus,  der  Text  hatte  eine  ganz 
dumme  Zeile  als  Kehrreim;  er  erzahlt  da,  wie  gutmiitig  er  sei, 
und  wie  er  alles  tue,  was  das  Gesetz  ihm  befiehlt,  zum  Bei- 
spiel  geht  er  ins  Theater 

Um  sieben  standen  schon  haufenweis 
Die  Leut  mit  Bons  an  alien  Kassen. 
BloB  ick  bezahlt  den  vollen  Preis  — 
und  nun,  sicherlich  mit  einem  Lachschluckser,  der  Refrain: 

BloB  ick  bezahlt  den  vollen  Preis  — 

Mir  ham  se  als  jeheilt  entlassen! 
Ganz  eigentumliche,  fast  melancholische  Einfalle  finden 
sich  da,  skeptische,  mit  Bier  geschrieben,  aber  nahe  an  den 
ClownspaBen  der  Genies,  Ja,  gewiB,  er  stammte  aus  Nord- 
deutschland,  sehr  grazios  ist  das  alles  nicht,  an  Nestroy  darf 
man  gar  nicht  denken,  und  doch: 

Der  Tod  ist  ein  schlechter  AbschluB  vom  Leben. 
Es  ware  viel  schoner  sicherlich: 
Erst  sterben,   dann  hatte  mans  hinter  sich  — 
und  nachher  leben  ... 
Ein    dicker,    gewohnlich    aussehender   Mann,    Knittelverse 
und  diese  ungeheure  Wirkung  —  was  ist  das? 

* 

Ware  lch  ein  feiner  Schriftsteller,  so  einer,  der  direkt 
aus  dem  Englischen  dichtet,  oder  ein  Mann,  der  seinen  klei- 
neh  Horizont  ,,HeimatM  nennt,  oder  ein  Walle-Walle-Bart  oder 
feine  blitzende  Brille:  dann  diirfte  ich  mich  mit  so  einem  wie 
Reutter  gar  nicht  abgeben,  ich  weiB.  Aber  mich  reizt  dies; 
worauf  ist  seine  Wirkung  zuriickzufiihren,  was  war  das  mit 
seinen  Couplets?  Es  muB  doch  etwas  gewesen  sein.  DreiBig 
Jahre  haben.die  Leute  uber  den  Mann  gelacht. 

255 


,,Ich  habc  vielleicht  Millionen  Mcnschcn  lachen  sehn",  hat 
er  einmal  zu  cincm  Interviewer  gesagt.  ,,Merkwurdig,  wie  sich 
der  Charakter  eines  Menschen  plotzlich,  ohne  daB  der  Be- 
treffende  es  will,  zu  offenbaren  scheint.  Der  gemeine  wie 
der  vornehme  Mensch  zeigt  sich  mit  blitzartiger  Schnelle 
beim  Lachen  seelisch  nackt,  Lacheln  verschont;  aber  Lachen 
verhaBlicht  eigentlich."  Er  hat  sehr  genau  aufgepaBt,  wenn 
er  da  oben  gestanden  hat,  sehr  genau. 

Seine  Wirkung  riihrt  an  .die  tiefsten  Tiefen  kiinstlerischer 
Wirksamkcit  iiberhaupt.  In  jedem  groBen  Schauspieler  muB 
ein  Wurstl  stecken,  sonst  wird  das  nichts.  In  jedem  Genie 
mufi  etwas  von  diesen  ganz  einfachen  Wirkungen  zu  spiiren 
sein,  sonst  bleibt  der  Kiinstler  mit  sich  und  einigen  wenigen 
allein,  was  weder  fur  noch  gegen  ihn  spricht.  Man  kann 
nun  von  diesen  so  einfachen  und  so  unendlich  schwer  zu  er- 
zielenden  Wirkungen  in  die  Hohe  klettern,  Reutter  ist  unten 
geblieben  —  aber  da,  wo  er  gestanden  hat,  da  sind  die  Wur- 
zeln  der  Kraft.  Wer  mit  den  Beinen  da  nicht  stent,  der 
wird  wohl  mit  dem  Kopf  nie  in  die  Sterne  ragen.  So  simpel 
braucht  man  nicht  zu  sein  wie  er,  so  primitiv  nicht,  doch  — 
auch  so  primitiv.  Shakespeare  hat  es  nicht  verschmaht.  Es 
war  zutiefst  nichts  andres,  verlaBt  euch  drauf:  es  war  nichts 
andres. 

Das  darfst  du  in  Deutschland  keinem  sagen.  Einer,  mit 
dem  man  lacht,  wird  leicht  einer,  iiber  den  man  lacht.  ,,Was 
kann  denn  das  schon  gewesen  sein,  wenn  wir  dariiber  gelacht 
haben!"  Feierlich  muBt  du  sein,  triefend  vor  Wichtigkeit,  ge- 
schwollen  und  von  tierischem  Ernst.  Irgend  ein  General- 
Anzeiger  schrieb  neulich:  „Kastner,  Mehring  und  Tucholsky 
nehmen  sich  selbst  nicht  ernst,  hafyen  also  auch  kein  Anrecht 
darauf,  ernst  genommen  zu  werden."  Dieses  Malso"  ist  der 
Grund,  weshalb  es  so  wenig   deutsche  Humoristen  gibt. 

Reutter  hatte  Humor  —  neben  seiner  bewundernswerten 
Technik,  durch  die  er  das  auBerste  aus  sich  herausholte. 
Diese  Technik  hatte  nur  einen  kleinen  Radius  —  ware  er 
Franzose  gewesen,  er  hatte  das  , genie  de  la  race'  gehabt,  und 
das  hatte  ihm  geholfen.  So  stand  er  da,  ganz  auf  sich  allein 
angewiesen  und  auf  diese  plumpen  Hilfsmittel,  wenig  Erbmasse 
half  ihm  weiter,  er  war  aus  Gardelegen  in  der  Mark,  und  so 
sang  er  auch.  Und  doch .  .  .  wie  gut  hat  er  das  gemacht! 
Diese  Refrains,  die  er  zum  SchluB  gar  nicht  mehr  vortrug,  er 
bewegte  nur  noch  die  Lippen  und  liefi  das  Publikum  die 
Pointe   erraten  —  er  verstand  sein  Handwerk. 

Es  gibt  da  einen  asthetischen  Reiz,  der  zum  Teil  in  der 
Freude  des  Horers  besteht,  daB  es  so  schon  klappt.i  Schopen- 
hauer nahm  dabei  als  primare  Wirkung  die  Wohl^efalligkeit 
des  Klangs  an,  iiber  den  hinaus  sich  dann  —  gewissermaBen 
als  unerwartete  Zugabe  —  auch  noch  ein  Sinn  ergibt.  Das  ist 
es./  Reutter  hat  mir  einmal  auf  meinen  Wunsch  fur  den  ,Ulk* 
eiri  Couplet  geschrieben.  Der  Zeichner  Willibald  Krain  zeich- 
nete  den  Dicken;  der  schrieb,  und  die  Sache  war  sehr  lustig; 
er   sang   vom   echten   Zigarrenblatt  in  einer  Zigarre  und   vom 

256 


konservativen  Wahizettel  in  der  Wahlurne,  und  das  mit  dem 
Refrain: 

Der  mufi  wohl  aus  Verseh»n 
da  reingekommen  sein, 

Und  zum  SchluB  hiefi  cs:  wie  denn  das  kame  —  der  Reutter 
sange  doch  sonst  Couplets,  schriebe  sie  aber  nicht. 

Im   Ulk   sieht   man  ihn  stehen, 
Dazu  ein  Bild  von  Krain. 
Der  mu3  wohl   aus  Versehen 


Da  sitzt  eben  der  Refrain  wie  der  Artikel  48  in  der  Reichs- 
verfassung.     Er  gehort  dazu. 

Doch  erklart  das  seine  Wirkung  noch  nicht  ganz.  Es 
gibt  eine  Tatsache,  die  viele  Menschen,  so  auf  Podien  stehn, 
nicht  zu'  wissen  scheinen:  das  Ohr  nimmt  weniger  auf  als  das 
Auge,  es  nimmt  viel  schwerer  auf,  eine  Sage  ist  keine  Schreibe. 
Das  ist  den  wenigsten  klar  zu  machen,  Wenn  ich  mich  be- 
klagen  wollte,  da8  man  mich  —  auBerhalb  der  Arbeiterorgani- 
sationen  —  auf  den  Podien  vorn  und  hinten  bestiehlt,  meine 
Arbeit  verwertend,  ohne  mich  zu  bezahlen,  dann  beklagte  ich 
mich  vor  allem  deshalb,  weil  man  mich  dadurch  so  oft  blamiert. 
Die  meisten  Verse,  die  ich  geschrieben  habe,  sind  fiir  das 
Auge  geschrieben  —  sie  klingen  nur  so,  als  wirkten  sie  auch 
gesprochen.  Das  tun  aber  manche  mitnichten,  ich  weiB  es. 
Die  fiir  das  Ohr  geschrieben  sind,  veroffentliche  ich  selten* 
denn  sie  erschienen  wieder  dem  Auge  leer.  Lesend  verstehn 
wir  sehr  rasch  —  horend  viel,  viel  langsamer.  In  einer 
zu  singenden  Strophe  ist  nur  fiir  einen  einzigen  Gedanken 
Platz  —  in  einer  gedruckten  darf,  ja,  sollte  jede  Zeile  etwas 
Neues  enthalten.  Reutter  hatte  das  Ohr  seines  Publikums* 
weil  er  gewufit  hat,  wie  dieses  Ohr  beschaffen  ist, 

Wirkt  das  heute  noch,  was  er  da  vorgetragen  hat?  Kaum. 
„Was  un$  heute  als  Triumph  des  guten  Geschmacks  vor- 
kommt,"  hat  Peter  Sturz  in  einem  Modebericht  des  Jahres 
1768  gesagt,  „sinkt  viejieicht  morgen  zum  Unsinn  herab<  Wir 
gahnen  bei  dem  Witz  unsrer  Vater;  merkts  euch,  ihr  Lustig- 
macher  des  Haufens,  die  ihr  von  Ewigkeit  traumt!"  Nein,  es 
wirkt  heute  wohl  nicht  mehr.  Zunachst  erscheint  uns  ja  bei- 
nah  alles,  was  wir  vom  Alltagskram  des  Gestern  lesen,  viel 
zu  lang.  Dann  aber  ist  in  diesen  Strophen  die  Luft  der  Zeitr 
Reutter  spielte,  wie  jeder,  der  nur  auf  den  Tag  wirkt,  mit  den 
Associationen  seiner  Zeit^enossen,  und  diese  Associationen  sind 
nicht  mehr  da-  Wenn  ich  seine  Verse  leser  dann  sehe  ich 
diistere  VorstadtstraBen  mit  roten  Laternen  vor  mir,  die 
FriedrichstraBe  mit  den  Pferdeomnibussen  und  einem  Nacht- 
leben,  das  roher,  bunter  und  bewegter  war  als  es  heute  ist, 
und  vielleicht  ist  diese  Beobachtung  unrichtig:  ich  war  junger. 
Der  blau  eingewickelte  Schutzmann  geistert  durch  die  Zeilenr 
der  Kaiser;  hohe  Kragen  der  Kavaliere  und  der  ganze  Kram 
von  dunnemals.  Er  war  nicht  besser  und  nicht  schlechter 
als  der  heutige  —  er  war  anders.     Daher  wirkts  nicht  mehr. 

Und  doch  halt  sich  manches,  Der  Witz  und  die  Schlag- 
fertigkeit  des  Mannes;  da  kam  einst  beim  Fruhschoppen  eine 

257 


Postanweisung  an.  Der  Pastor  seines  Heimatortes  fragte  ihn; 
^Was  machen  Sie  eigentlich  mit  dem  Siindengeld?"  Und 
Reutter:  ,,Ich  zahle  meine  Kirchensteuern  damit,  Herr  Pfarrerf* 

Un-d  dann  diese  Geschichte  hatte  ich  so  gem  von  ihin 
horen  mogen;  wie  der  alte  Direktor  des  berliner  wintergartens, 
Herr  Baron,  einen  Theateragenten  in  den  April  schickte:  in 
Frankfurt  ware  ein  Komiker,  der  hieBe  Schopenhauer,  und  den 
sollte  der  Agent  mal  bringen.  Der  Agent  ab  nach  Kassel,  netn, 
nach  Frankfurt.     Und   kam  zuriick.     Und  sprach: 

,,Na,  mit  den  neuen  Komiker,  den  Schoppenhauer.  Ick 
hab  Ihn  ja  jleich  jesacht;  Wat  ick  nich  kenne,  is  nischt,  un  mit 
den  neuen  Komiker  is  et  jahnischt."  Nicht  moglich!  sagte  der 
Direktor.  „Jahnischt*\  wiederholte  der  Agent.  ,,Da  ham  Se 
sich  n  scheenen  Barn  uffbinden  lassen.  Ick  bin  jeloofen  von 
Pontius  zu  Pilatusf  der  Kerl  war  nich  zu  finden  —  und  denn 
hab  ick  erfahrn,  det  a  dot  is,  jawoll,  schon  iiba  dreiBig  Jahre 
ist  der  dot,  und  denn  will  ick  Ihn  noch  wat  sahrn: 

Bekannt  war  er  ja-  Aba  —  ick  habe  mir  jenau  akundicht: 
so  sehr  komisch  is  der  Mann  nie  jewesen  — !" 

Nun  ist  Reutter  dahin.  Seinesgleichen?  Na,  viel  ist  es 
nicht  damit.  Da  gab  es  damals  Julius  Freund  vom  Metropol- 
theater,  der  war  in  der  Technik  des  Versbaus  mindestens  so 
gut,  aber  spitzer,  sudlicher,  spritziger  und  mitunter  fatal  kon- 
fektioniert.  Da  ist  jetzt  Marcellus  Schiffer,  der  fast  immer  die 
allerherrlichsten  Einfalle  hat,  und  manchmal  denke  ich,  verzeih 
mir  die  Siinde,  man  miiBte  ihm  die  Einfalle  fortnehmen,  denn 
was  er  daraus  macht,  ist  nicht  immer  gut,  und  dann  ist  da, 
aber  ganz  und  gar  allein,  Friedrich  Hollaender,  der  die  besten 
Texte  schreibt,  die  heute  bei  uns  geschrieben  werden.  Walter 
Mehring,  notre  maitre  a  tous,  ist  wieder  erne  andre  Sache  und 
gehort  nicht  ganz  in  diese  Schublade.  Und  driiben  bei  den 
Franzosen  haben  sie  Rip,  einen  geistvollen  Mann  von  voll- 
endeter  Gesinnun,gslosigkeitf  und  wenns  dem  gliickt,  dann 
gliickts   ihm  aber   richtig.     Freeh  wie  Oskar   und   so   ziseliert! 

Otto  Reutter  wuBte,  was  er  da  trieb>  „Ich  hatte  friiher 
mal  den  GroBenwahn,  bis  ich  an  ein  Variete  kam,  wo  ein 
dressierter  Affe  besser  gefiel  als  ich."  Jeder  gute  Schauspie- 
ler  wird  diesen  Satz  verstehn. 

Solche  Reutter  gibts  in  alien  Landern,  und  es  hat  sie  zu 
alien  Zeiten  gegeben.  Es  hieBe  an  einen  Fortschritt  glauben, 
wollte  man  annehmen,  daB  sich  die  Mittel  andern,  mit  denen 
man  auf  Menschen  wirkt.  Die  Formen  wandeln  sich  und  sind 
regional  verschieden,  der  tiefere  Grund  bleibt,  Diese  Komik, 
diese  Wirkungen  und  dieser  Humor  stoBen  mit  dem  Kopf  an 
die  Zimmerdecke  Reutters,  und  damit  an  den  FuBboden  jener 
Wohnung,  in  der  Jaroslav  Hasek  wohint,  der  Vater  des  gott- 
lichen  Schwejk,  dessen  Konfiskation  dem  Reichsgericht  hier- 
mit  herzlichst.  empfohlen  sei.  Denn  das  hat  Schwejkn  noch 
gefehlt. 

Otto  Reutter  aber  und  seine  Leute:  es  sind  Kiinstler 
der  untern  Stockwerke.  Doch  sollen  die  von  oben  nicht  hoch- 
miitig  tun.     Ohne  die  da  unten  waren  sie  nicht. 

258 


Drei  Milliarden  Defizit  von  Bernard  citron 

A  rthur  von  Gwinner,  einst  der  fiihrende  Kopf  der  Deutschen 
*"*  Bank,  hat  als  Mitglied  des  PreuBischen  Herrerihauses  lange 
vor  dem  Kriege  den  Vorschlag  gcmacht,      an   die  Stelle  def 

offentlichen  Etats  cine  Bilanzierung  nach  privatwirtschaft- 
lichem  Muster  zu  setzen.  Dieser  Vorschlag  war  aber  nicht  zu 
verwirklichen,  denn  dies  hatte  das  damais  noch  bestehende 
Grundrecht  des  Parlaments,  die  Entscheidung  iiber  das  Budget, 
verletzt.  Als  Bismarck  sich  vor  dem  Kriege  von  1864  den  Kriegs- 
etat  selbst  bewilligte  und  sich  erst  nachtraglich  Indemnitat 
erteilen  lieB,  grenzte  em  solches  Vorgehen  schon  an  Staats- 
streich.  Heute  waren  wir  ganz  zufrieden,  wenn  iiber  alle  im 
Laule  des  letzten  Jahres  vom  Reich  eingegangenen  Verpflich- 
tungen  Rechenschaft  abgelegt  werden  wiirde.  In  diesem  Falle 
allerdings  konnte  man  der  Indemnitat  einen  BilanzbeschluB  vor- 
ziehen.  Bei  deir~im  Krisenjahr  1931  vorgenommenen  Sonder- 
ausgaben  und  eingegangenen  Biirgschaften  ging  es  nicht  um 
kulturelle  oder  sozialen  Aufgaben  des  Reiches^  sondern  vieU 
mehr  um  Fragen  wirtschaftlicher  Opportunity.  Es  muB  also 
in  diesem  Falle  bewiesen  werden,  daB  die  Aufwendungen  etwas 
eingebracht,  respektive  Schaden  abgewandt  haben<  Lediglich 
dieses  Moment  kann  —  wenn  man  die  Sprache  des 
Aktienrechts  auf  die  Politik  anwendet —  fur  die  Ent- 
lastung  des  Vorstandes  ausschlaggebend  sein.  Allerdings  darf 
eine  solche  Bilanz  nicht  nach  dem  Schema,  das  bei  SchultheiB 
ublich  gewesen  ist,  aufgemacht  werden.  Aus  diesem  Jahres- 
abschluB  miifiten  namlich  nicht  nur  die  tatsachlichen  Ausgaben,, 
sondern  auch  die  Btirgschaf ten  deutlich  ersichtlich .  sein,  Es  ist 
schlieBlich  seit  Monaten  bereits  ein  offnes  Ge&eimnis,  d'aB 
zum  Beispiel  die  Garantie  fur  die  Danatbank  langst  in  An- 
spruch  genommen  worden  ist.  \ 

Vorlaufig  mtissen  wir  allerdings  auf  die  Bilanzierung  des 
letzten  Geschaftsjahres  verzichten,  und  auch  eine  etwaige  In- 
demnitatserteilung  wird  kaum  allzuviel  Licht  in  die  verworre- 
nen  Zusammenhange  der  Wirtschaf  tskrise  des  letzten  Jahres 
bringen.  Um  so  brennender  ist  die  Frage,  wie  sich  der  Etat 
1932  gestalten  soil,  Wenn  man  nicht  den  Kopf  in  den  Sand 
steckt,  kann  man  keineswegs  an  jenen  sohweren  Sorgen  der 
nachsten  Monate  voriibergehen.  Nach  dem  letzten  Ausweis  des 
Reichsfinanzministeriums  sind  1931  fur  die  Zeit  vom  1.  April 
bis  zum  31.  Dezember  5,78  Milliarden  Reichsmark  aufgekom- 
men.  Veranschlagt  sind  fur  das  ganze  Jahr  8*17  Milliarden 
Mark.  Demnach  miifiten  die  Monate  Januar  bis  Marz  noch 
2,39  Milliarden  Mark  bringen.  Im  Vorjahre  sind  in  diesent 
Zeitraum  2,75  Milliarden  Mark  aufgekommen.  Naoh  den  bisheri- 
gen  Erfahrungen  diirfte  der  Steuerertrag  fur  die  Monate  Januar 
bis  Marz  um  etwa  800  bis  900  Millionen  Mark  geringer  als 
1931  sein.  Man  muB  also  annehmen,  daB  die  Eingange  min- 
destens  um  500  Millionen  Mark  hinter  den  Voranschlag  zu-* 
riickbleiben.  Dazu  kommt  nun,,  daB  fur  1931  die  Ausgaben  des 
Reiches  8,94  Milliarden  betragen  haben,  die  veranschlagten 
Einnahmen  von  8,17  Milliarden  also  um  770  Millionen  Mark 

25$ 


iibersteigen.  Aus  Einnahme-  und  Ausgabeseite  ergibt  sich  be- 
rcits  ein  Fehlbetrag  von  mindestens  1,27  Milliarden  Mark. 
Aus  dem  Jahre  1930  wurde  im  ordentlichcn  Haushalt  cin  Fehl- 
betrag von  750  Millionen  Mark,  im  auBerordentlichen  von  260 
Millionen  Mark  iibernommcn.  Somit  verblcibt  am  Ende  des 
Etatsjahres  1931  ein  sichtbarcr  Fehlbetrag  von  schatzungs- 
weise   2,37    Milliarden   Mark. 

Im  Reichsrat  hat  der  Vertreter  PreuBens,  Ministerialdirek- 
tor  Brecht,  kiirziich  gefordert,  daB  den  Landern  und  Gemein- 
den  450  Millionen  Mark  iiberwiesen  werden  sollen.  Die  vor- 
sichtige  und  reiohstreue  Haltung  der  preuBischen  Regierung 
(selbst  in  Finanzfragen!)  ist  hinlanglich  bekannt,  um  die  An- 
nahme,  daB  jene  Wiinsche  nicht  aus  dringendster  Not  geauBert 
worden  sind,  von  vornherein  zu  widerlegen.  Selbst  wenn  man 
bei  der  ungeheuren  Finanznot  der  Stadte,  die  in  zahlreichen 
Fallen  sohon  zu  akuten  Schwierigkeiten  gefiihrt  haben,  die 
Forderungen  des  Reichsrats  auf  250  Millionen  Mark  herab- 
driickt  —  vorlaufig  hat  sich  das  Reichsfinanzministerium  ganz 
ablehnend  gezeigt  — ,  dann  erhoht  sich  Jer  oben  angenommene 
Fehlbetrag  auf  2,82  Milliarden  Mark. 

In  diesem  Zusammenhang  verdient  Beachtung  eine  kiirz- 
iich erfolgte  Auslassung  der  .iCdlnischen  Zeitung',  die  in  finan- 
ziellen  Dingen  trotz  ihrer  Verbindung  mit  Schwerindustrie  und 
Hochfinanz  eine  sehr  objektive  Haltung  zu  wahren  pflegt.  Das 
Blatt  erwahnt  drei  Moglichkeiten  zur  Oberwindung  der  Krise. 
Keiner  dieser  drei  Wege  aber  fiihrt,  das  ist  die  Tragik  solcher 
Betrachtungen,   aus  der  Krise  heraus. 

1     Ein  nochmaliger  verzweifelter  Versuch  der  Einnahmebeschaffung. 

2.  Eine  formal  vielleicht  statthafte,  aber  inhaltlich  desto  bedroh- 
lichere  Finanzierung  des  Geldbedarfs  durch  innere  Kreditmani- 
pulationen, 

3.  Ein  tatenloses  Hineingleiten  in  eine  akute  Kassennot,  an  deren 
Ende  die  Einschrankung  und  Einstellung  offentlicher  Zahlungs- 
verpflichtungen  stent. 

Wie  konnten  nun  die  Versuche,  Einnahmen  zu  erhohen 
oder  Ausgaben  zu  ermafiigen,  beschaffen  sein? 

3s  hat  sich  ergebent  daB  die  einzigen  Mehreinnahmen  auf 
Grund  der  Einfuhrung  der  Krisensteuer  und  der  Vorverlegung 
der  Zahlungstermine  fiir  die  Umsatzsteuer  Ergebnisse  zeitigten, 
die  erheblich  hinter  den  gehegten  Erwartungen  zuriickgeblieben 
sind.  Die  Erhohung  der  Umsatzsteuer,  die  durch  die  Notver- 
ordnung  vom  8.  Dezember  1931  verftigt  worden  ist,  wird  in- 
folge  des  weiter  zuriickgehenden  Verbrauchs  ebenfalls  nicht 
den  erhoff ten  Erfolg  bringen.  Diese  Umsatzsteuer  gait  nach 
einer  Auslassung  des  Reichsarbeitsministers  Stegerwald,  als 
die  allerletzte  Reserve.  An  auBersten  Steuermitteln  scheinen 
jetzt  Schlacht-,  Salz-  und  weitere  Erhohung  der  Umsatzsteuer 
zu  drohen,  Es  ist  also  vollig  darauf  verzichtet  worden,  andre 
ais  reine  Konsumentensteuern  einzufiihren.  Wenn  man  die 
Einnahmen  nicht  erhohen  kann,  sollen  die  Ausgaben  gesenkt 
werden.  Aber  auch  hier  ist  bereits  die  auBerste  Grenze  er- 
reicht.  In  einem  Jahre,  in  dem  die  Wohifahrtslasten  trotz  den 
grofien  Abztigen  fiir  den  einzelnen  Unterstiitzten  ungeheuer  an- 

260 


gewachsea  sind,  ist  eine  Ausgabensenkung  urn  2%  Milliardc 
Mark  durchgefiihrt  worden.  Da  von  entfalit  allerdings  mehr  als 
die  Halite,  namlich  1,23  Milliarden  Mark,  auf  die  Einsparung 
iafolge  des  Hooverjahres.  So  ist  auch  jene  Reserve,  auf  die 
jede  vollkommen  Hnationale  Regierung"  rechnen  zu  kon-r 
nen  glaubte,  illusorisch  geworden,  Wenn  keine  Reparationen 
gezahlt  werden,  kann  auch  nichts  mehr  durch  "rare  Aufhebung 
eiagespart  werden.  Zu  den  fixen  Kosten,  die  jedes  Land,  das 
nicht  in  chaotische  Zustande  verfallen  will,  tragen  muB,  gehort 
nach  einer  weit  verbreiteten  Ansicht  auch  der  Wehretat.  Ge- 
wiB  sind  auch  auf  diesem  Gebiet  im  Vorjahre  Einsparungen 
vorgenbmmen  worden;  aber  diese  beziehen  sich  nur  auf  soziale 
Verpflichtungen  des  Reiches  gegentiber  den  ehemaligen  Ange- 
horigen  der  wehrmacht,  den  Kxanken  sowie  den  Witwen  und 
Waisen,  Die  Einschrankung  dieser  Ausgaben  hemmt  allerdings 
die  Wehrfahigkeit  nicht,  sie  verlejtet  nur  zu  der  Vorsteliung, 
als  sei  am  eigentlichen  Wehretat,  den  sachlichen  Ausgaben 
namlich,  wirklich  etwas  gespart  worden.  Wir  miissen  befurch- 
ten,  daB  angesichts  der  zunehmenden  Starke  der  „wehrfreudi- 
gen"  Parteien  in  Deutschland  diese  noch  auszuschopfende  Spar- 
reserve   auch  im  nachsten  Etatsjahr  verschlossen  bleibt, 

Neben  dem  Defizit  von  annahernd  3  Milliarden  Mark 
diirfte  die  schwebende  Schuld  des  Reiches  am  End e  des  laufen- 
den  Etatsjahres  mehr  als  2  Milliarden  Mark  betragen.  Diese 
schwebende  Schuld  ware  an  sich  kein  AnlaB  zu  ernsten  Be- 
sorgnissen,  da  die  langfristigen  Schulden  des  Reiches  nur 
10  Milliarden  Mark  betragen  gegen  46  Milliarden  Mark  in 
Frankreich  und  (nach  altem  Kurs)  130  Milliarden  in  England. 
Die  schwebende  Schuld  konnte  also  durchaus  hingenommen 
werden,  wenn  es  gelange,  sie  in  irgend  einer  Form  zu  konsoli- 
dieren,  Diese  Aussicht  ist  aber  erstens  durch  das  vollige 
Brachliegen  des  Emissionsmarktes  und  zweitens  durch  die 
Vorrangstellung  versperrt,  die  private  Groflbanken  in  Deutsch- 
land vor  den  eigentlichen  Interessen  des  Reiches  einnehmen. 
Wenn  Schatzwechsel  ausgegeben  werden,  die  durch  Vermitt- 
lung  der  Reichsbank  das  Kreditvolumen  erhohen,  so  werden 
sie  ausschliefilich  zur  Bereinigung  der  Bankenfrage  dienen. 
Tatsachlich  ergeben  sich  daraus  folgende  Schliisse:  entweder 
erwachsen  dem  Reich  aus  off enen  und  stillen  Garantien  fur 
deutsche  Kreditinstitute  Ausgaben  in  Hohe  von  schatzungs- 
weise  1  Milliarde  Mark;  oder  aber,  wenn  die  Reichsbank  die 
Bankenreform  finanziert,  dann  werden  die  kiinftigen  Gewinne 
des  Reiches  aus,  der  Zentralnotenbank  weitgehend  ein- 
geschrankt  werden.  Fernerhin  wird  es  dann  dem  Reich  un- 
tnoglich  sein,  die  Reichsbank  fur  eigne  Finanzierungszwecke 
heranzuziehen.  Angesichts  dieser  akuten  Kassennot  linden 
die  Inflationsapostel  aller  Schattierungen  immer  mehr  Gehor. 
Man  denkt  dabei  meistens  daran,  einen  dem  Zugriff  des 
Reiches  gar  nicht  unterliegenden  Besitz  zur  Unterlage^  fiir  zu- 
satzliche  Notendeckung  zu  verwenden.  Dadurch  wiirde  aber 
die  offentliche  Finanznot  nicht  beseitigt,  sondern  nur  ein  Teil 
der  Lasten  von  schwach  gewordenen  Schultern  auf  noch 
schwachere  abgewalzt  werden. 

261 


Bemerkungen 


Friedrich  mitn  Mythos 
1  n  der  Literarischen  Welt  war 
■*  Friedrich  Hussong  zu  Gast;  der 
kluge  Willy  Haas  hat  ihn  dort 
im  Rahmen  einer  Sondernummer 
„Rechts  und  links"  zu  Wort  kom- 
men  lassen,  Es  ist  nicht  ganz 
leicht,  iiber  diesen  Gesellen  ohne 
Hohn  zu  sprechen,  er  ist  tjines 
der  wenigen  Talente  im  Hause 
Hugenberg,  dreist  und  klotzig,  wo 
seine  Begabung  nicht  ausreicht. 
Ich  wills  versuchen. 

Hussong  verbreitet  sich  in  der 
L.  W,  uber  die  „Volkheit": 

ftWichtiger  als  alio  Vivisek- 
tion  des  Intellektualismus  ist  das 
Wachstum  eines  nationalen  My- 
thos; eines  Mythos,  nicht  aus  den 
Nerven  geschwitzt,  sondern  aus 
dem  Blute  bltihend.  Denn  nicht 
der  Rationalismus,  der  Mythos 
zeugt  Leben,  Er  ist  in  der  Bil- 
dung  begriffen.  Das  ist  der  Sinn 
und  der  Inhalt  dieser  Zeit.  Darum 
ist  Feindschaft  gesetzt  und  muB 
gesetzt  sein  zwischen  Volkheit  und 
Intellektualismus.  Volkheit  ist 
Glaube  und  Wachstum,  Intellek- 
tualismus ist  Skeptizismus  und 
Darre.  Der  Geist  ist  in  der 
Volkheit;  bei  dem  Intellektualis- 
mus ist  nur  Gewitztheit. 

Es  lebe  der  alte  Spitzfaden!" 

Wer  ist  der  alte  Spitzfaden  — ? 
Das  wird  in  dem  Aufsatz  erklart. 

Der  alte  Spitzfaden  war  ein 
Dorflehrer,  der  Hussong  unter- 
richtet  hat,  Nach  den  Proben,  die 
er  gibt,  hat  der  Mann  seine 
Sache  recht  gut  gemacht.  Nun 
aber: 

DaB  Hussong  und  seine  Schul- 
kameraden  von  diesem  Schul- 
meister  iiberhaupt  unterrichtet 
werden  konnten,  verdanken  sie 
etwas,  was  ich  der  Kurze  halber 
mit  Voltaire  bezeichnen  will.  DaB 
Kinder  von  Bauern  und  Kiein- 
biirgern  diese  Bildung  genieBen 
konnten,  ist  das  Werk  des  In- 
tellektualismus gewesen,  welch 
ein  blodes  Wort!  das  Werk  des 
Liberalismus,  kurz:  Hussong  und 
die  Seinen,  sie  sind  Kinder  des 
Systems,    das    sie    so    sehr    ver- 

262 


dammen.  Diese  Schulmeister  fur 
die  kleinen  Leute  sind  den  my- 
thoshaften  Junkern  erst  aufge- 
drungen  worden,  sie  wollten  urns 
Verrecken  nicht  heran*  (Noch 
Bismarck  strich  bekanntlich  einen 
Lehrerposten  von  seinem  Guts- 
konto.)  Das  ganze  Kleinvolk, 
das  sich  heute  die  Kehlen  gegen 
die  Ratio,  gegen  die  Liberalen, 
gegen  die  Demokratie  heiser 
briillt,  ware  nicht*  wenn  die  Auf- 
klarer  nicht  gewesen  waren. 

Nun  kann  Hussong,  der  durch- 
aus  kein  Dummkopf  ist,  sagen; 
Diese  Aufklarer  haben  ihrc  histo- 
rische  Aufgabe  erfiillt  —  heute 
ist  andres  dran.  Dem  ist  zu  ent- 
gegnen; 

Nie  ist  die  Rolle  des  Intellek- 
tuellen  ausgespielt,  Sie  ist  -  es 
auch  in  RuBland  nicht  —  alle 
grofien  Theoretiker  des  Bolsche- 
wismus  sind  Intellektuelle.  Die 
gesunde  Reaktion  auf  uberspitzte 
Gewitztheit,  wie  Hussong  das 
nennt,  in  alien  Ehren  — ■  der 
fff-Skeptizismus,  der  wohl  darin 
besteht,  daB  man  nicht  alles 
glaubt,  was  einem  jeder  vor  der 
Front  stehende  Lummel  entgegen- 
briillt,  daB  man  die  bare  Miinze 
des  Mehrwertes  fur  bare  Miinze 
nimmt  — :  dieser  Skeptizismus  ist 
gesund,  bis  ins  Mark  hinein  ge- 
sund  und  sauber, 

Wenn  alles  das  Mythos  ist,  was 
sich  dem1  gesunden  Menschenver- 
stand  entzieht  — :  nieder  mit  dem 
Mythos !  Und  wichtiger  als  alle 
Volkheit  scheint  mir  zu  sein,  daB 
sich  der  Mensch'  nicht  zum  Vieh 
degradiere,  auch  nicht  fur  sein 
Vaterland.  Was  eirie  sanfte  Be- 
leidigung  des  Viehs  darstellen 
dtirfte.  Im  iibrigen  sagt  Hussong 
vom  Mythos  das  richtige,  ohne  es 
sagen  zu  wollen;  „Er  ist  in  der 
Bildung  begriffen," 

Was  ist  das  nur,  was  sich  da 
heute  als  theoretische  Begrunder 
des  deutschen  Nationalismus  auf- 
spielt  — ? 

Carl  von  Ossietzky  erlaube  mir, 
daB  ich  ihn  zitiere:  Germanisches 
Caf6. 

Il&naz   Wrobei 


F  else  neck 
r\a  es  doch  nun  so  weit  ist,  daB 
*-^  den  Nazis  die  Reichswehr  of- 
fensteht,  daft  Justiz,  Kirche, 
Schule,  Universitat  nebst  den  Be- 
horden  in  Nahe  und  Ferae  die 
Treppen  scheuern,  auf  welchen 
Herr  Hitler  mit  seinen  Mannen 
zur  Herrlichkeit  emporsteigen 
soil,  da  nun  die  Republikaner  die 
Manschetten  aus  den  Armeln 
zupfen  und  mit  belegtem  Hiisteln 
die  Kehlen  zum  Willkommens- 
gruB  stimmen,  finden  es  einige  an 
der  Zeit,  etwas  gegen  die  Auf- 
richtung  des  Hakenkreuzes  im 
Deutschen  Reich  zu  unternehmen. 
Es  scheint  ein  wenig  spat  zu  sein, 
und  die  Mittel,  mit  denen  man 
die  Gespenster  verscheuchen  will, 
die  langst  Fleisch  und  Bein  und 
reich  gefiillte  Geldborsen  haben, 
sehn  nicht  eben  furchterweckend 
aus.  Man  schafft  Munition, 
worunter  man  Stimmzettel  ver- 
steht,  man  rtistet  zum  Kampf,  wo- 
mit  man  Auszahlspiele  meint, 
man  blast  zum  Sammeln  an  die 
Urne,  worin  man  das  Dritte  Reich 
versenken  mochte  und  worin 
doch  nur  die  Weimarer  Ver- 
fassung  zu  Asche  wird, 

Wer  auf  eine  entschlossene  An- 
greiferschaft  Eindruck  machen 
will,  muB  ihnen  keine  Schwiire 
und  Kampfgesange  ins  Ohr  plar- 
ren,  sondern  ihnen  Beweise  eig- 
ner  tatkraftiger  Initiative  liefern. 
Oberdies  verhtndert  jedwede  Ini- 
tiative auch  den  alten  Obel stand, 
daB  Leute,  die  von  einer  Protest- 
versammlung  nach  Hause  kom- 
men,  sich  im  Gefuhl,  genugend 
Hochs  mitgeschrien  zu  haben,  zu 
Bett  legen  und  glauben,  das  Ihrige 
im  Kampfe  getan  zu  haben.  Erst 
dann,    wenn    jeder    Einzelne    mit 


der  Verpflichtung  vor  sich  selber 
eine  Kundgebung  verlaBt,  person- 
lich  einzugreifen,  und  zwar  nicht 
erst,  wenn  die  Fiihrer  zur  neuen 
Zusammenkunft  rufen,  sondern 
sofort,  am  nachsten  Tage  und  un- 
unterbrochen  weiter,  ist  mehr  ge- 
schehen  als  Gelegenheit  zu  einem 
larmend  ruhmenden  Zeitungs- 
bericht  geschaffen.  Wer  den  Fas- 
cismus  ernstlich  treffen  will,  hat 
sich  zunachst  einmal  mit  seiner 
Kampf-  und  Opferbereitschaft  an 
die  Seite  derer  zu  stellen,  die 
der  Fascismus  ernstlich  trifft. 

Taglich  erfahren  wir  von  neuen 
nationalsozialistischen  Oberf  alien 
auf  Arbeiter,  Wohnsiedlungen 
armer  Erwerbsloser  werden,  wenn 
dort  Kommunisten  wohnen,  zum 
Zielpunkt  regelrechter  „Straf- 
expeditionen"  erwahlt,  und  die 
deutsche  Justiz  erhebt  gegen 
solche  Methoden,  die  an  die  in 
der  gesamten  Kulturwelt  geachte- 
ten  Kolonialkriege  erinnern,  be- 
kanntermaBen  keine  besonders 
bedrohlichen  Einwendungen.  Den 
armen  kommunistischen  Jungen 
in  Essen  ist  es  schlimmer 
ergangen,  als  es  den  Mor- 
dern  von  Felseneck  ergehen  wird. 

Das  Elend  in  der  Kolonie  Fel- 
seneck war  schon  vor  dem  Uber- 
fall  grauenhaft.  Jetzt,  da  iiber 
zwanzig  der  Oberfallenen  in  Haft 
sitzen,  ist  es  unbeschreiblich.  Den 
Familien  der  Eingesperrten  ist 
mit  sympathievollem  Bedauern 
nicht  geniitzt,  Sie  brauchen  Le- 
bensmittel,  Kleidung,  Geld,  prak- 
tische  Nachstenhilfe.  So  wie  ihnen 
geht  es  alien  denen,  die  in  Braun- 
schweig, Eutin,  in  alien  deutschen 
Gauen  in  das  gleiche  Ungliick  ge- 
raten  sind,  dafl  ihre  Manner,  Va- 
ter,  Sohne,  Freunde,  urn  sich  uad 


Hunderttausende  in  ailer  Welt 

segneten  den  Tag,  an  dem  ihnen  das  erste  der 

B6  Yin  RaBikher 

in  die  Hande  kam.  Auch  Sie  werden  die  Stunde  nicht  vergressen,  die  Ilmer 
zum  ersten  Mai  zeigen  wird,  was  unsere  Zeit  in  diesen  Biichern  besitzt  \ 
B6  Yin  Rii  J.  Schneiderfranken  tragt  keine*  Theorien  vor.  Er  vermittelt 
nur  praktisch  Erwiesenes,  das  auch  nur  praktisch  erprobt  werden  kann. 
Naheres  sagt  Ihnen  die  Einfuhrungsschrift  von  Dr.  jur.  Alfred  Kober- 
Staehelin:  „Weshalb  Bo  Yin  Ra?u,  die  Sie  kostenfrei  verlangen  wollen. 
Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 

263 


die  Ihrigen  vor  Gewalttaten  zu 
schiitzen,  mit  Nazibanden  ins  Ge- 
drange  kamen  und  der  Staats- 
macfat  ins  Gam  liefen. 

Der  syndikalistische  Frauen- 
bund  in  Berlin  hat  eine  Sammel- 
stelle  zunachst  fur  die  Opfer  von 
Felseneck  errichtet  (Markisches 
Uier  20,  Freie  Arbeiter-Union) . 
Das  ist  ein  wertvoller  Anfang, 
aber  er  geniigt  nicht,  Es  rauB 
Hilfe  in  grotiem  Umfang  und  iiber 
das  ganze  Reich  organisiert  wer- 
dent  urn  der  Solidarity  willen, 
aber  auch  urn  der  Warming  wil- 
len, damit  die  Fascisten  nicht 
meinen,  die  Schadigung  ihrer 
Feinde  mache  diese  hilflos.  In  die- 
ser  Zeit  allgemeiner  Not  hat  es 
wenig  Zweck,  mit  einer  Sammel- 
liste  schnorren  zu  gehen,  Kom- 
men  wirklich  100  Mark  zusam- 
men,  ist  nur  fur  den  Augenblick 
und  nur  in  sehr  kleinem  Uxnfang 
geholfen.  Es  mufl  eine  standige 
Organisation  mit  dem  einzigen 
Zweck  gegriindet  werden,  denen, 
die  als  Leidtragende  fiir  alle 
Hakenkreuzgegner  geprugelt  und 
geschadigt  werden,  sofort  beizu- 
springen,  ihnen  und  ihren  Frauen 
und  Kindern  die  Sicherheit  zu 
geben,  daB  iiber  Partei-  und 
Weltanschauungsschranken  hin- 
weg  ihre  Sache  als  gemeinsame 
Sache  aller  anstandigen  Men- 
schen  angesehen  wird. 

Um  das  zu  erreichen,  mufi  eine 
geldliche  Unterlage  geschaffen 
werden,  die  selbst  nichts  kosten 
darf.  Niemand  soil  an  der  Or- 
ganisation zur  gegenseitigen  Un- 
terstutzung  verdienen,  und  diese 
Organisation  soil  keinen  andern 
Zwecken  dienstbar  sein  als  nur 
der  Nothilfe  fiir  Opfer  der  Fas- 
cisten, bei  deren  Abwehr  Polizei 
und  Justiz  versagt.  Ich  schlage 
vor:       Ein     Theater     stellt     seine 


Raume  kostenlos  fiir  eine  kunst- 
lerische  Veranstaltung  zur  Verfii- 
gung  (fur  das  Geld,  das  sonst 
der  Saal  kostet,  kann  schon  eine 
betroffene  Familie  eine  Woche 
leben) ,  Dichter,  Schauspieler, 
Vortragskiinstler,  Tanzerinnen 

vereinigen  sich  zu  einer  dffent- 
lichen  gemeinsamen  Darbietung, 
vollstandig  honorarfrei.  Das  Pro- 
gramm  braucht  keinerlei  poli- 
tische  Richtung  zu  umreiflen  oder 
umzureiBen.  Es  gentigt,  daB  auf 
dem  Zettel  vermerkt  steht,  \vo- 
fiir  das  Eintrittsgeld  bezahlt  wird, 
Freiplatze,  und  zwar  Ehrenplatze, 
sollen  den  Angehorigen  der  Nazi- 
opfer  gegeben  werden,  sonst  nie- 
mandem.  Erwerbslose  sollen 
einen  Groschen  zahlen,  andre 
nach  Belieben,  niemand  weniger, 
als  er  auf  dem  letzten  Fasching- 
ball  ausgegeben  hat.  Jeder  neue 
Mord,  jeder  neue  Uberfall,  jede 
neue  fascistische  Sc  hand  tat  soil 
mit  einer  Wiederholung  solcher 
Veranstaltung  beantwortet  wer- 
den. Solche  praktische,  Solidari- 
ty der  Kiinstler  wird  der  Soli- 
daritat  der  Arbeiter  zum  Beispiel 
dienen  und  den  Obermut  der  Re- 
aktionssoldner  dampfen.  Wer  mit- 
tun  will,  mag  sich,  iiber  die 
Adresse  der  ,Weltbuhne*t  bei  mir 
melden.  . 

Erich  Miihsam 

Japanische  Kriegsreportage 

YVTatch  Japan!  —  ist  unter  den 
™  Leichtathleten  der  angel- 
sachsischen  Volker  ein  populares 
Wort:  Beobachte  die  wachsenden 
leichtathletischen  Erfolge  Japans. 
Bald  wird  man  ahnliches  auch  von 
den  japanischen  Journalisten  sa- 
gen  konnen.  Denn  sie  haben  bei 
den  Kampfen  in  der  Mandschurei 
und  in  Schanghai  Vorbildliches  ge- 
leistet;    Pionierarbeit   fur   die   Be- 


lllllTllllfllllllllllllllllflliUIEIIllIllllIM 

ZWANZIG  JAHRE  WELTGESCHKHTE 

in  700  Biidem.  1910— 1930.  Einleitung  von  Friedrich  Sieburp.  Gr.8. 

Dieses  Bilderbuch  soil  dem  Betrachter   nicht  die  gelstige   MOhe   ersparen,  die   im 
Lesen  liegt  Diezusammenfaseende  Betrachtung  der  letzten  17  Oder 
20  Jahre,  ohne  dafi  die  Tatsachen  durch  eine  Deutung  verhtlllt  Oder 
gefarbt  wGrden,  mag  einen  neuen  Weg  weisen  Oder  erkennen  laesen. 


TRANSMARE  VERLAG  A»G.,  BERLIN  W  10 

264 


Leinen 


5.80  RM 


richterstatter  des  kommenden 
Krieges; 

Nicht  nur  die  modernsten 
Kampfmittel  wurden  von  den  Ja- 
panern  eingesetzt,  Auch  bei 
der  Repfoduktion  des  Mordens 
haben  sie  sich  der  neusten  und 
raffiniertesten  Met  ho  den  bedient. 
Rundfunk,  Tonfilmkamera;  Flug- 
zeug  zur  Weiterbeforderung  von 
Negativen  und  Kampfberichten, 
alles  war  zur  Stelle.  Eine  kleine 
Generalprobe. 

Alle  groBen  japanischen  Zeitun- 
gen  macbten  es  sich  zur  Ehren- 
pflicht,  eigne  Berichterstatter  an 
die  Front  zu  senden,  Daneben  — 
und  das  ist  der  Fortschritt  gegen 
die  historiscbe  Peribde  der  Alice 
Schalek  —  entsandten  die  groBen 
Blatter  auch  eigne  Photographen 
und  Kino-Operateure,  die,  wie  in 
e  in  era  Bericht  stolz  vermerkt 
wird,  unter  Einsetzung  des  eignen 
Lebens  auf  ibren  Filmstreifen  die 
einzelnen  Episoden  des  Kampfes 
einfingen. 

Eine  der  groBten  j  apanischen 
Nachrichtenagenturen,  ,Denca\ 

hatte  bei  den  Kampf en  in  der 
Mandschurei,  am  Nonni-FluB  und 
bei  Tschutsikar,  einen  eignen  Flug- 
zeugdienst  eingerichtet.  Die  Appa- 
rate  der  Firma  flogen  bis  unmit- 
telbar  an  die  Kampflinien  heran 
und  uberftihrten  die  journalistische 
Ausbeute  nach  Mukden,  wo  sie 
von  andern  Flugzeugen  ubernom- 
men  wurde,  die  sie  ihrerseits  nach 
Qeizan  brachten,  wo  sie  dann  von 
einer  dritten  Flugzeuggarnitur  nach 
Tokio  befordert  wurde.  So  kam 
es,  daB  authentische  Berichte  und 
Aufnahmen  vom  Kriegsschauplatz 
noch  am  selben  Tage  in  den  Zei- 
tungen  von  Tokio  erscheinen 
konnten. 


Die  japaniscbe  Offentlichkeit  ist 
auch  voll  Lobes  uber  die  wackern 
j  ournalistischen  Handlanger,  die 
ihr  sozusagen  die  noch  warmen 
Leichen  ins  Haus  trugen.  Oft  war 
dies  keineswegs  leicht.  So  wird 
beispielsweise  anerkennend  be- 
richtet,  die  Kriegsberichterstatter 
waren  so  eifrig  bei  der  Sache,  daB 
manche  Journalisten  beim  Vor- 
marsch  auf  Oschitsikar  pldtzlich 
ohne  mehr  Nahrungsmittel  als 
eine  Hand  voll  gefrorenen  Reis 
dastanden.  Um  ihren  Hunger  zu 
stillen,  schlichen  sich  die  ehren- 
werten  Kollegen  zu  den  Leichen 
getoteter  Soldaten  und  leerten 
ihre  Rucksacke,  um  etwas  EB- 
bares  zu  finden, 

Inzwischen  luhren  die  groBen 
Blatter  '  fort,  die  Offentlichkeit 
streng  objektiv  zu  informieren. 
Ein  Beispiel  fiir  viele;  ,Man- 
schuria  Daily  News',  das  groflte 
Blatt  der  Sudmandschurei,  in 
Daren,  dem  japanischen  Konkur- 
renzhafen  Port  Arthurs  erschei- 
nend,  schreibt  folgenden  klassi- 
schen  Kommentar  zur  chinesischen 
Antwort  an  USA,,  in  der  Japan 
als  Angreifer  und  China  als  der 
Oberfallene  hingestellt  wird;  „We 
cannot  waste  a  word  upon  the 
above", 

Dafur  findet  sich  in  jeder  Num- 
raer  dieses  Blattes  neben  den 
Kampfberichten  auf  der  ersten 
Seite  ein  passender  Bibelvers.  So 
etwa  beim  Vormarsch  auf  Tschut- 
sikar: ..Deine  Gerechtigkeit  steht 
wie  die  Berge  Gottes  und  dein 
Recht  wie  eine  groBe  Tiefe.  Herr, 
du  hilfst  Menschen  und  Vieh." 
(Psalm  36,  Vers  7.)  Oder  einen 
Tag  vorher:  „Geht  aber  umber 
und  sprecht:  Das  Himmelreich  ist 


Der  1.  Sammelband   von 

KT7RT  TlirHOT  <^KY  (PETfR  PANTTER.  THEOBALD  TIGER 
jvun  i    i  u^ru^Lars.  i  1Gnaz  WROBEL  .  K ASPAR  HAUSER): 

mit  5  PS 

25.  Tausend  •  VerbiHlote  Preisc-  Kartoniert  4.8O  *  Lelnenband  6.50 

„  . . .  enthalt  eine  Auswahl  der  ungezfihlten  Aufsfitze,  Krltiken,  Angriffe,  Satiren,  Paro- 
dien,  Betrachtunpen  und  kleinen  lyrisdi-polemischen  Gedidite,  die  Wothe  um  Wo<h« 
unerschSpflidi  aus  diesem  hellsten  Hirn  und  irisdiesten  Herzen  des  Jungen,  des  wirklich 
Jungen  Deutsdiland  hervorsprlngen."  (Berliner  BOrsen-Coarier) 

ROWOHLT     VERLAG     BERLIN    W  50 

265 


nahe  herbeigekommen*  Macht  die 
Kranken  gesund,  reingt  die  Aus- 
satzigen,  weckt  die  Toten  auf, 
treibt  die  Teuf el  aus.  Umsonst 
habt  ihrs  empfangen,  umsonst  gebt 
es  auch."  (Mattaus  10,  Vers  7,  8.) 
Wie  man  sieht,  sinnige  und  pas- 
send  ausgewahlte  Verse,  BloB  die 
Totenerweckung  durfte  einige 
Schwierigkeiten  bereiten.  Jeden- 
falls  aber  arbeitete  man  journa- 
listisch  up  to  date.  Mit  Flug- 
zeug  und  Bibel,  mit  Rundfunk 
und  dem  Psalmisten  wurde  die 
richtige  Stimmung  entfacht, 

Wie  sagt  doch  Alfred  Rosen- 
berg, der  grofie  Mann  Hitlers: 
„Die  letzte  Zuflucht  der  groBen 
Gauner  ist  der  Patriotismus", 
(,V6lkischer  Beobachter*,  26.  Jaen- 
ner  1932.) 

Und  da  fragt  man  noch,  wer 
den  Nobel-Friedenspreis  1932  be- 
kommen  soil? 

Wahrend  die  japanische  Presse 

wiederum  den  Nobelpreis  fur  Li- 

teratur       erhalten       sollte:       als 

Schopfertn  der  neusten  Literatur- 

gattung  —  der  restlos  gegluckten 

techniscben       tibertragung       vom 

technischen   Kriegsschauplatz    der 

Zukunft.  . 

K.  L,  Reiner 


Der  Laie  wundert  sich 

Am  zweiten  Verhandlungstag 
des  SchultheiBprozesses  kam 
die  Rede  auf  die  von  den  Ost- 
werken  aufgekaufe  hollandische 
Nutriagesellschaft  und  ihre  Ge- 
schafte.  Es  ward  vernommen  der 
Aufsichtsratsvorsitzende  der  Ost- 
werke,  und  er  bekundete,  daB  er 
von  der  Finanzierung  der  Nutria 
nichts  gewuBt  und  nichts  damit 
zu  tun  gehabt  habe,  Wenn  der 
Staatsanwalt  glaube,  der  Auf- 
sichtsratvorsitz  in  den  Ostwerken 
verpflichte  zu  solcher  Kenntnis, 
so  irre  der  Staatsanwalt  gewaltig, 
Wie  ein  Lehrer  den  Schiller  ab- 
kanzelt,  der  seins  nicht  gelernt 
hat,  so  erklarte  der  Herr  Auf- 
sichtsratsvorsitzende dem  Staats- 
anwalt, er  wisse  wohl  nicht,  was 
die  Leitung  eines  solchen  Riesen- 
betriebs  bedeute.  Er,  Doktor  So- 
bernheim,  habe  in  funf  Gesell- 
schaften     den    Aufsichtsratvorsitz 

266 


und  in  vielen  andern  einen  Sitz 
im  Aufsichtsrat  gehabt ... 

Vielleicht  versteht  es  der 
Staatsanwalt  wirklich  nicbt.  Er 
ist  auch  nicht  dazu  verpflichtet. 
Er  ist  zur  Kenntnis  des  Gesetzes 
verpflichtet,  in  welchem  hin- 
wiederum  viele  schone  Dinge  iiber 
die  Verpflichtungen  von  Auf- 
sichtsraten  und  deren  Vorsitzen- 
den  stehen.  Nicht  nur  iiber  die 
Rechte,  Auf  sichtsratsmitglieder  ha- 
ben  das  Aktienrecht  zu  kennen. 
Staatsanwalte  brauchen  nichts  von 
den  Usancen  zu  wissen,  die  in 
Wahrheit  aus  diesem  Recht  ge- 
worden  sind.  Es  ware  weit  besser, 
sie  wiiBten  nicht  das  geringste  da- 
von  und  hielten  sich  moglichst  eng 
an  den  Buchstaben  des  Gesetzes, 

Denn  die  Armut  kommt  von 
der  Powerteh  oder,  in  diesem 
Fall  besser,  der  Reichtum  kommt 
von  der  Rischess,  und  mit  Ver- 
laub,  Herr  Aufsichtsratsvorsitzen- 
der,  auch  wir  Laien  wissen  nicht, 
„was  es  heiflt,  einen  solchen  Rie- 
senbetrieb  zu  lei  ten".  Wir  haben 
eine  iiberlieferte  und  vielleicht 
nur  sprachlich  bedingte  Vorstel- 
lung  davon,  daB  der  Aufsichts- 
rat dazu  da  sei,  die  Geschafte 
seiner  Gesellschaft  zu  beaufsich- 
tigen.  Wenn  sie  so  umfangreich 
werden,  daB  er  es  nicht  mehr 
kann,  so  soil  er  es  eben  lassen 
und  statt  in  funf  nur  noch  in  zwei 
oder  drei  den  Vorsitz  fiihren, 
statt  weiter  Dividenden  einzu- 
stecken,  die  im  umgekehrten  Ver- 
haltnis  zur  Moglichkeit  des  Ober- 
blicks  stehen,  DaB  die  Usancen 
anders  sind,  daB  sie  sich  in  kras- 
sem  Widerspruch  mit  den  Para- 
graphen  befinden,  und  daB  der 
Staatsanwalt  wegen  seiner  Kennt- 
nis der  Gesetze  und  seiner  Nicht- 
kenntnis  der  gesetzwidrigen  Wirk- 
lichkeit  vom  Angeklagten  unter 
Vertauschung  der  Rollen  eines 
Schlechtern  belehrt  wird  —  das 
finden  wir,  gelinde  ausgedruckt, 
eine  hanebiichene   Naivitat. 

Da  wir  Laien  sind,  durfen  wir 
uns  noch  wundern, 

Als  vor  zweieinhalb  Jahren  der 
Favag-Skandal  iiber  Deutschland 
hereinbrach,  da  sagten  selbst  die 
Zweifler:  ein  Gutes  hat  er  — 
jetzt     kommt     endlich     mit    Be- 


schleunigung  .    die     Reform      des 
Aktienrechts. 

Mit  Beschleunigung  kam  sie 
nicht,  sondern  mit  Verzogerung; 
rechtsgiiltig  ist  sie  seit  September 
vorigen  Jahres,  also  zu  kurze 
Zeit,  als  daB  sich  bereits  segens- 
reiche  Folgen  spiiren  HeBen.  Im 
iibrigen  sieht  es  leider  so  aus,  als 
sei  da  etwas  sehr  milde  refor- 
miert  worden,  und  das  Verhalten 
der  SchultheiB-Angeklagten  ist 
ein  schlussiger  Beweis  dafiir,  daG 
die      unbequeme     Neuerung     ein 

im   verseuchten   Leib    der   kapita- 
listischen  Wirtschalt, 

Hans  Glenk 

Die  Esel  und  die  AtitarMe 
Cs  ist  bekannt,  daB  sich  die 
"  Staaten  auf  dem  Riickmarsch 
ins  Mittelalter  befinden.  Sie  urn- 
geben  sich  mit  hohen  Zollmauern; 
sie  erwagen  die  Binnenwahrung; 
sie  reden  von  nationaler  Plan- 
wirtschaft;  sie  erschweren  ihren 
Burgern  die  Reisen  ins  Aus  land; 
sie  beginnen,  die  Vorteile  des  ka- 
pitalistischen  Zeitalters  abzuschaf- 
fen,  ehe  es  ihnen  gelang,  seine 
Nachteile  zu  beseitigen.  Nachstens 
werden  sie  noch  das  elektrische 
Licht  verbieten,  damit  es  in  den 
Kopfen  noch  dunkler  werde.  Weil 
die  Ziele  einer  vernunftigen 
Epoche  holier  als  die  heute  vor- 
handene  Vernunft  liegen,  senken 
sie  diese  Ziele,  anstatt  die  Ver- 
nunft zu  heben.  Und  diesen  kum- 
merlichen,  traurigen  Vorgang 
preist  j  ede  Nation  in  ihren 
Mauern  als  „volkhafte  Be- 
wegung1'. 

In  Le  Havre,  auf  der  Zoll- 
station,  ereignete  sich  neulich  ein 


Vorfall,  der  die  iiberall  herein- 
brechende  Finsternis  ins  rechte 
Licht  setzt.  Der  bekannte  Variety- 
clown  Angelo  kam  von  einer 
Tournee  aus  Sudamerika  und 
wollte  ein  Engagement  in  Frank - 
reich  antreten.  Er  yerliefi  also  in 
Le  Havre  das  Schiff  und  begab 
sich  mit  den  dressierten  Tieren, 
derer  er  zu  seiner  Varietenummer 
bedarf,  an  die  Zollsperre.  Diese 
dressierten  Tiere  Waren:  eine 
Ziege,  zwei  Maulesel,  zwei  Affen 
und  fiinf  Hunde. 

tt      i  -1    - 1_  1      TV-     F7~11L._ 

una  was  gescuan  i  i^ie  ^uuDe- 
amten  HeBen  ihm  nur  die  Affen 
und  die  Hunde.  Die  Esel  und  die 
Ziege  wurden  zuruckbehalten.  Mit 
welcher  Begriindung?  „Weil  die 
Kontingente  fur  die  Einfuhr  von 
Ziegen  und  Eseln  bereits  uber- 
schritten  seien."  Es  gab,  mit 
andern  Worten,  schon  zuviele 
Esel  in  Frankreich. 

Der  Clown  Angelo  fand,  der 
Spafi  gehe  zu  weit.  Aber  er  mufite 
sich  erst  mit  Eingaben  an  das 
franzosische  Handels-  und  Land- 
wirtschaftsministerium  wenden, 
ehe  ihm  das  Zollamt,  auf  ministe- 
rielle  Verfugung  bin,  seine  nicht- 
franzosische  Ziege  und  seine 
nichtfranzosischen  Esel   freigab, 

Welch  ein  Umstand!  Als  ob  es 
in  dieser  Zeit  auf  zwei  Esel  mehr 
in  je  einem  Land  ankamel 

Erich  Kastner 
SchleBen  mit  Seele 

l^ein  Sport  greift  so  rein  und 
"  so  stark  in  die  Seele,  wie 
der  SchieBsport,  hierin  liegt 
seine  wesentliche  Bedeutung  fur 
die  Charakterbildung, 

,Hessischer  Kamerad' 
15.  Hornung 


II.  Jahrgang 


DIE  ENTE 


Die  Ilnksgerlchtete  satirlsche  Wochenschriftgegen 
Kulturreaktlon,  SpleBertum  und  Presse.  Aus  dem 
Inhalt  der  Nummerfi:  Was  BrGning  mit  dem  Ex- 
kronprlnzen  besprach  >  Krlegspotenz  In  Genf  i  Der 
schwerhfirlgePfarrer/SittengerlchtbeiKemplnskl/ 
Die  Nationalstrolchlsten  /  H inter  RedaktlonstQren 


10  Pfennig 


Bel  alien  Zeltungshandlern.  Probenummern  gratis 
vom  Verlag  der  ENTE,  Berlin  W  30,  Haberlandstr.7. 


267 


Hfthere  ethlsche  RQcksichten 

Fiihrernachwuchs 
Adoption;  Vertraulich  beauf- 
tragt  aus  meiner  {Clientele  suche 
ich  ftir  gesunden  gutaussehenden 
9  Monate  alten  Knaben  mit  bei- 
derseits  physisch  und  psychisch 
erstklassig-eiigenischer  Hereditat 
durch  hausarztl.-kollegiale  Ver- 
mittlung  geeignete  Adoptiveltern 
(uhrender  abendlandischer  Kreise. 
evtl,  auch  altansassigen  freien 
Bauernstandes  in  Skandinavien 
oder  in  Deutschland,  Der  Junge 
entstammt  vaterlicher-  und  miit- 
terlicherseits  unverdorbenen  vol- 
kisch  rein,  Patrizierkreisen.  Arzte, 
Geistliche,  Industriefiihrer,  Katho- 
lisch-frankische,  rein  deutsche 
und  protestantisch-skandinavische, 
rein  nordische  Mi&chung.  Soweit 
nach  Aszendenz  und  den  mir  be- 
kannten  beiderseitigen  Halbge- 
schwistern  eine  Voraussage  mog- 
lich,  bietet  dieser  Junge  alle  Vor- 
aussetzungen  fur  eine  erfreuliche 
Entwicklung  in  geeignetem  Adop- 
tivhause.  Da  auf  seiten  der  natur- 
lichen  und  der  Adoptiveltern  nur 
diese  hoheren  ethischen  Riicksich- 
ten  der  Verpflanzung  eines  guten 
Sprosses  auf  einen  guten  Stamm 
gelten  durfen,  kommt  Abfindungs- 
summe  u.  a.  nicht  in  Betracht 
Das  Kind  ist  z.  Z.  in  einem  prima 


Sauglingsheim  in  Schweden.  An- 
fragen  erbitte  an  mich.  A  dr.:  Hel- 
singf  ors  (Finnland) ,  -  Unions - 
gatan  24. 

Prof.  Dr.  med.  Krusius 
,Miinchner  Medizinische 
Wochenschrift' 

Llebe  Weltbfihne! 

Wenn  Wilhelm  II.  zur  Er- 
holung  auf  SchloB  Wil- 
helmshdhe  weilte,  geruhte  er 
auch  das  Konigliche  Theater  zu 
Kassel  zu  besuchen,  Vor  einer 
solchen  Galavorstellung  lieB  der 
damalige  Intendant  eine  Anzeige 
in  samtlichen  Zeitungen  erschei- 
nen,  daB  "  Leute  mit  grofien 
Glatzen  Freikarten  bekamen.  Die 
Kahlkopfigen  erschienen  darauf 
in  solchen  Massen  an  der 
Theaterkasse,  daB  viele  wieder 
unverrichteter  Sache  nach  Hause 
gehen  muBten  und  sich  genas- 
fiihrt  glaubten.  Eine  ganze  Reihe 
von  Leuten  aber  erhielt  Karten, 
und  sie  wurden  am  Abend 
so  ins  Parkett  gesetzt,  daB 
sich  dem  hohen  Herrn,  wenn  er 
sich  aus  seiner  Loge  beugte,  ein 
mindestens  ebenso  angenehmes 
Schauspiel  bot  wie  auf  der 
Buhne:  die  Glatzen  leuchteten 
ein  devotes  S    M    zu  ihm  herauf. 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Gesellschaft  der  Freunde   der   Sozialistiscben  Monatshefte.      Montag  20.00.     Deutiche 

Gesellschaft.  Schadowstr.  7.    Kontradiktorische  Diskussion:  Autarkic,  Max  Cohen- 

ReuB,  M.d.RWR. 
Internationale  Arbeiterhilfe,  Arzlesektion.    Dieostag  20.00.    Pharuatale,  Mulleratr.  142: 

Der  Lfibecker  ProzeB  und  die  Arbeiterschaft,  Stadtarzt  Schmincke. 
Die  Abstrakten.    Montag  (22.)  20.15.    Nollendorf-Casino,  Kteiststr.  41 :  Kitsch  und  seine 

Bedeutung  in  Kunst  und  Leben,  Arthur  Segal. 
Individualpsycbologische  Gruppe.     Mod  tag  (22.)   20.00.     Klubhaus   am   Knie,   Berliner 

Strata  27:  Erziehungs-  und  Bildungsprobleme  der  Gegenwart,  Stadtschulrat  Paulsen. 

MQnster  U  W, 

Weltbuhnenleser  treffen  sich  Mittwochs  20.30,  bei  Schmyes,  Jfidefelder  Str.  6/7. 

Rundfunk 

Dienstajr.  Berlin  17.30:  Max  Hermann-NeiBe  liest.  —  21.10:  Was  die  Deutschen  lasen, 
all  ihre  Klassiker  schrieben,  Walter  Benjamin  und  Edlef  Koppen.  —  Mittwoch. 
Berlin  17  50:  KBTperliche  Freiheit  und  ftffentliche  Gewall,  Herbert  Fuchs.  —  Frank- 
furt 18  40:  Die  Psychologie  des  Journalismus,  Stefan  GroBmann.  —  Mfihl  acker 
21.00:  Literatur  von  Karl  Kraus.  —  Leipzig  21.10:  Die  Frosche  des  Aristophanes.  — 
Donnerstag-.  Berlin  18  00:  Lovis  Corinth,  Charlotte  Behrendt-Corinth  und  Paul 
Westheim.  —  Langenberg  20.00:  Schillers  Don  Carlos.  -  Muhlacker  21.00  Marie- 
luise  FleiBcr  liest.  —  Freita?.  Berlin  17.40:  Diskussion  Gber  Rene  Cl airs  „E»  lebe 
die  Freiheit"  —  Hamburg  19  30:  Ernst  Johannsen  liest.  —  KSnigsberg  21.10  Eine 
Stunde  mit  Flaubert,  Ernst  W.  Freiuler.  —  Sonnabend.  Munchen  16.10:  W.  Hessen- 
land  liest  GedichU  von  Alfred  Moaabert 

268 


Antworten 


Journalist.  Sie  tcilen  uns  mit,  dafi  der  Reichsverband  der  Deut- 
schen  Presse  an  seine  Mitglieder  Klebemarken  abgibt,  mit  denen  diese 
ihre  Manuskripte  kennzeichnen  sollen.  Der  Verband  fiihrt  dazu 
aus:  „Durch  Benutzung  der  Marke  soil  vermieden  werden,  dafi  die 
Kollegen  in  den  Redaktionen  die  eingehenden  Manuskripte  der  dem 
Reichsverband  angeschlossenen  freien  Journalisten  in  der  Fiille  der 
Eingange  iibersehen,  und  es  soil  ferner  dadurch  erreicht  werden,  dafi 
bei  gleichwertigen  Manuskripten,  die  denselben  Stoff  behandeln,  der 
Berufs journalist  vor  dem  Aufienseiter  beyorzugt  wird."  Sie  schreiben 
dann  weiter:  „Der  Reichsverband,  der  die  Nachahmung  seiner  Kenn^ 
marke,  also  des  von  ihm  neu  geschaffenen  Gebrauchsmusterschutzes 
zur  Linderung  der  Journalistennot,  strafrechtlich  verfolgen  lafit,  han- 
digt  die  Marken  nur  Mitgliedern  seines  Verbandes "  aus.  In  welcher 
Lage  aber  befinden  sich  nun  die  freien  Journalisten,  die  im  Schutz- 
yerband  deutscher  Schriftsteller,  im  Verband  der  Pressemitarbeiter 
oder  liberhaupt  in  keiner  Organisation,  aber  professionell  sind?  Es 
ist  unmoglich,  dafi  der  Redakteur  diese  Journalisten  namentlich  kennt. 
Ihm  wird  also  zugemutet,  Arbeiten,  die  nicht  mit  der  Hundemarke 
versehen  sind,  als  Arbeiten  von  Aufienseitern  anzusehen.  Das  ist  ein 
tolles  Stiick,  doppelt  toll,  weil  der  Reichsverband  auch  Journalisten 
aufnimmt,  die  nicht  Voll journalisten  sind.  Die  Grtinde  fur  dieses 
Hundemarken-Reglement  sind  durchsichtig.  ,  Der  Reichsverband  will 
anscheinend  durch  Boykottmittel  seine  Reihen  starken.  Lauft  doch 
jeder  dem  Reichsverband  Nichtangeschlossene  Gefahr,  ohne  diese 
Hundemarke  nunmehr  als  berufsfremder  Journalist  und  Aufienseiter 
angesehen  zu  werden.  Das  tragische  Schicksal  der  Hunde  ohne  Marke 
ist  ja  bekannt:  die  Drahtschlinge.  Die  Maflnahme  stellt  im  Zeitalter 
der  Gewerbefreiheit  ein  Stiick  Mittelalter  dar.  Sie  bedeutet  nichts 
andres  als  die  Wiederauferstehung  der  beriichtigten  schwarzen  In- 
nungsladen  in  etwas  raffinierterer  Form.  Die  Frage  entsteht:  Wer 
ersetzt  freien,  dem  Reichsverband  nicht  angeschlossenen  Journalisten 
den  Schaden,  der  aus  der  Tatsache  entsteht,  dafi  nunmehr  jedes  Manu- 
skript  ohne  Kennmarke  Gefahr  lauft,  als  Aufienseiterarbeit  abgestem- 
pelt  zu  werden?  Dieser  Wirrwarr,  der  durch  die  leider  noch  immer, 
wenigstens  dem  Ansehen  nach,  mafigebende  Organisation  der  deut- 
schen  Presse  geschaffen  worden  ist,  sollfe  unbedingt  revidiert  werden." 

Pariser.  Peter  Panter  hat  sich  geirrt:  der  Schauspieler  Michel 
Simon  hat  nicht  bei  Dullin  im  „Atelier",  sondern  bei  den  Pitoeffs 
angefangen.     Der  Ordnung  halber. 

Kurt  Hiller.  Sie  senden  uns  folgendes  Schreiben:  „In  einer  Ar- 
tikelfolge  ,Die  Furcht  der  InteUektuellen  vor  dem  Sozialismus'  hat 
ihr  Verfasser  sich  mehrfach  mit  AuBerungen  von  mir  beschaftigt.  Hatte 
er  polemisiert,  so  wurde  ich  vielleicht  das  Verlangen  verspiiren,  ihm 
zu  antworten.  Aber  was  hat  er  getan?  Mir  verachtliche  Beweggrunde 
imputiert  (,Angst'l);  mich  mit  notorischen  Antipoden  kopuliert;  mich 
nachweislich  mehrfach  falsch  zitiert.  Das  heifit  nicht  Polemiseren; 
meinem  Begriff  von  Polemik  wenigstens  widerspricht  es.  Ich  ver- 
zichte  deshalb  auf  Antwort.  Was  ich  zum  Sachlichen  der  aufgeworf- 
nen  Fragen  zu  sagen  habe,  stent,  aufier  an  etlichen  Stellen  der  letz- 
ten  Jahrgange  der  ,Weltbiihne',  in  meinem  Buch  ,Der  Sprung  ins 
Helle',  das  nachster  Tage  bei  W.  R.  Lindner  in  Leipzig  erscheint. 
Es:  enthalt  Reden,  Offne  Briefe,  Zwiegesprache,  Essays,  Thesen, 
Pamphlete  gegen  Krieg,  Klerus  und  Kapitalismus.  Unter  .Klerus'  ist 
der  marxistische  mitgemeintl" 

Surrealisten.  Ihr  wendet  euch  in  einem  Aufruf,  den  ihr  zu  unter- 
zeichnen  bittet,  an  die  Offentlichkeit:  Der  franzosische  Untersuchungs- 
richter  hat"  euern  Freund  Aragon  wegen  Aufreizung  der  Soldaten  zum 

269 


Ungehorsam  belangt;  der  Anlati  ist  ein  in  der  .Literature  de  la  Re- 
volution Mondiale'  veroffentlichtes  Gedicht  „Rotfront",  Ihr  wehrt 
euch  gegen  die  gerichtliche  Verfolgung.  Gut.  In  euerm  Protest,  zu 
dem  ihr  Unterschriften  sucht,  wird  nun  gesagt:  ,,Wir  protestieren  ge- 
gen  j  eden  Interpretationsversuch  eines  dichterischen  Textes  zu  ge- 
richtlichen  Zwecken  und  verlangen . .  /'  Also  das  geht  nicht.  Macht 
ihr  Politik  oder  macht  ihr  keine?  Wenn  ihr,  was  zu  hoffen  steht, 
gute  Antimilitaristen  seid,  so  sagt  das,  Aber  beruft  euch  dann  nicht 
auf  die  Literatur.  Entweder  oder . . ,  Entweder  ihr  kampft  einen 
Kampf  gegen  die  Kasernen  und  gegen  die  Soldaten,  und  es  ist  durch- 
aus  gut,  dafi  der  franzosische  Militarismus  durch  euch  bekampft  wird, 
denn  wir  zum  Beispiel  wiirden  als  Partei  angesehn.  Kampft  ihr  diesen 
Kampf,  dann  mtifit  ihr  ihn  auch  durchstehen  und  diirft  euch  nicht 
wundern,  wenn  der  Gegner  zuschlagt.  Oder  aber  ihr  seid  Poeten, 
nur  Poeten,  nichts  als  Poeten.  Und  dann  soil  man  euch  laufen  las- 
sen:  mit  Gedichten  allein  kann  man  keine  Kanonen  und  keine  Gene- 
rale  bekampfen,  Damit  es  keine  Mifiverstandnisse  gibt:  wir  wiinschen 
unsre  Auffassung  nicht  im  .Temps'  gelobt  zu  sehen.  Es  ist  eine  Aus- 
einandersetzung  zwischen  Geistigen  und  nicht  zwischen  nationalisti- 
schen  Borseanern. 

Berliner  Lokal-Anzeiger.  In  deinem  Inseratenteil  vom  31.  Januar 
steht  zu  lesen:  „Mezzie.  Beste  und  sicherste  Kapitalsanlage.  20  Pro- 
zent  Verzinsung.  Haus  9  700  Miete.  25  000  Hyp.  15  000  Zuzahl.  Dx.  978 
Scherlfiliale  Martin-Luther-Strafle  10."  Hast  du  diese  Anzeige  den 
guten  Geschaftsverbindungen  deines  Herrn  Aros  oder  irgend  eines 
andern  deiner  Hausjuden  zu  verdanken?  Die  Herren  beginnen  sich 
wohl  schon  umzustellen?  Im  Dritten  Reich  werden  wir  sie  vielleicht 
als  Inseratenakquisiteure  wiederfinden, 

Walter  Mehring.  Sie  schreiben:  „M.  Seize,  dessen  Aufsatze  uber 
Deutschland  in  der  Zeitschrift  ,Voila*  ich  erwahnt  hatte,  hat  einige 
Intellektuelle  interviewt,  Unter  anderm  auch  mich.  Aber  wie  das 
oft  zu  sein  pflegt:  vom  Interview  bis  zur  Drucklegung  machen  die 
Meinungen  der  Befragten  einige  Metamorphosen  durch.  Nach  M. 
Seize  hatte  ich  gesagt:  ,Je  crois  au  massacre  des  juifs,  qui  n'auront 
pas  fui.  Je  crois  a  l'alliance  d'Hitler  avec  la  Russie/  Nein!  Ganz 
,und  gar  nicht!  Sondern;  Kame  Hitler  zur  Macht,  durch  einen  Staats- 
streich,  das  wiirde  den  Biirgerkrieg  bedeuten  gegen  Proletarier,  Juden, 
Intellektuelle.  Und  aufienpolitisch  wiirde  er  mit  alien  zu  paktiieren 
suchen,  selbst  mit  Frankreich,  selbst  mit  Rufiland.  Aber  an  ein 
Blindnis  mit  Rutland:  daran  glaube  ich  nun  wirklich  nicht  I  Und  ich 
hatte  gesagt:  ,Tous  les  liens  sont  rompus  entre  les  intellectuels  alle- 
mands  et  la  masse  du  peuple/  Keineswegsl  Sondern:  Die  deutschen 
Intellektuellen,  auch  die  popularsten,  sind  heute  ohne  politischen  Ein- 
flufl  auf  das  grofie  Publikum." 

Leser  in  Frankfurt  a.  M.  Im  Bund  „Das  Neue  Frankfurt"  spricht 
am  Donnerstag,  dem  18.  Februar,  20  Uhr,  im  Horsaal  der  Kunst- 
schule,  Neue  Mainzer  StraBe  47,  Rudolf  Arnheim  uber  das  Thema:  Der 
t1Geist"  der  heutigen  Filmproduktion. 

Landgerichtsdirektor  Ohnesorge.  Sie  haben  dem  Grafen  Helldorf 
hundert  Mark  Geldstraf e  auf erlegt.  Hof f entlich  wird  dies  Ihrer  Kar- 
riere  im  Dritten  Reich  keinen  Abbruch  tun. 


Manuakripte  tind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne.  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten;  es  wird  ;ebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rudcsendung  erfo'gen  kann. 
Dae  Auf  f  uhrung-srecht,  die  Verwertung  von  Tltetn  u.  Text  im  Rahmen  dea  Films,  die  mutUc 
mechantsche  Wiedergabe  allei  Art  und  die  Verwertung  Im  Rahmen  von  Radio vortrlgan 
bleiben   fur   alle  in  der  Weltbuhne  eracheinenden  Beitrage  ausdrUcklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrGndet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkuog  von   Kurt  Tucholsky  geleitet.  —   Verantwortlich:   Carl  v.  Ossietzky,   Berlin; 

Verlag-  aer  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobs, oh n  &  Co.,  Charlottenburg. 

Tclepnon:  C  1,  Steinplatz  7757.   —   Postscheckkonto:  Berlin  11958. 
Bankkontot    Darmstadter    u.    Nationalbank.      Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantatr.   112. 


XXVIIL  Jabrgang  23.  Febrnar  1982  "  Ntnmacr8 

Was  Ware,  Wenn  ...   von  Carl  v.Ossietzky 

Aus  einer  demokratisdien  Zeitung  vom  Februar  1939 

W7enn  wir  hcutc  unsre  republikanischen  Freunde  aufrufen, 
sich  mit  allcr  Energie  fiir  die  Wicdcrwahl  des  Reichs- 
prasidenten Adolf  Hitler  einzusetzen  tmd  sich  unverziiglich 
in  die  in  unsern  Filialen  ausliegenden  Listen  einzuzeichnen,  so 
folgen  wir  damit  nicht  nur  den  zwingendsten  realpolitischen 
Notwendigkeiten,  sondern  auch  einem  tiefsten  Herzens- 
wunsch  der  noch  immer  demokratisch  fiihlenden  Teile  urisres 
Volkes,  Denn  daB  die  mit  demogogischen  Kunststucken  nicht 
zu  fangende  staatsbewuBte  Mehrzahl  aller  Deutschen  in  der 
Wiederwahl  des  gegenwartigen  Herrn  Reichsprasidenten  die 
einzige  Moglichkeit  sieht,  uns  vor  dem  Absturz  ins  Chaos  zu 
retten,  daran  besteht  kein  Zweifel, 

Zwar  mochten  wir  nicht  verhehlen,  daB  auch  wir  manche 
Bedenken  zu  iiberwinden  hatten  und  gern  wieder  einmal  einen 
Mann  der  Linken  an  der  hochsten  Stelle  des  Reiches  gesehen 
hatten.  VerantwortungsbewuBt  wie  wir  sind,  stellen  wir  das 
Yateriand  iiber  die  Partei.  Das  fallt  uns  um  so  leichter,  als 
der  scharfste  Gegner  des  Herrn  Reichsprasidenten  bei  der 
letzten  Wahl,  Herr  Karl  Holtermann,  der  damals  die  soge- 
nannte  Eiserne  Front  fiihrte,  sich  kurz  entschlossen  an  die 
Spitze  des  Komitees  gestellt  hat,  das  Hitlers  Wiederwahl  be- 
treibt,  wofiir  ihm  der  Dank  der  Nation  gewiB  ist.  Jenen  ewig 
Unzufriedenen,  denen  bei  bester  Gesinnung  nur  das  Regulativ 
der  hohern  staatspolitischen  Einsicht  fehlt,  muB  entgegengehal- 
ten  werden,  daB  auch  der  an  der  Wirklichkeit  orientierte 
Flugel  der  Kommunisten,  der  erkannt  hatf  wie  unmoglich  es 
ist,  den  Weg  zum  Sozialismus  in  Siebenmeilen-  oder  Fiinf- 
jahres-Stiefeln  zuriickzulegen,  nunmehr  auf  die  Initiative  Heinz 
Neumanns  hin  sich  entschlossen  hat,  den  Erfordernissen  der 
Stunde  Rechnung  zu  tragen  und  fiir  Hitler  zu  votieren.  Auch 
der  ,Vorwarts\  der  jetzt  wieder  zweimal  monatlich  erscheint, 
arbeitet  im  gleichen  Sinne  und  setzt  sich,  wie  schon  friiher,  fiir 
die  Politik  des  kleinern  Ubels  ein.  Im  Grunde  besteht  also 
schon  die  Einheitsfront;  denn  daB  die  von  Herrn  Doktor 
Goebbels,  der  jetzt  den  Reichsbund  Jiidischer  Frontsoldaten 
fiir  seine  selbstsuchtigen  Zwecke  miBbraucht,  gegen  Hitler  ent- 
faltete  Agitation  hochst  unsachlichen  Griinden  entspringt,  dar- 
iiber  braucht  wohl  keine  Silbe  verloren  zu  werden. 

Auch  wir  sind  ganz  gewiB  nicht  mit  alien  Staatsakten  ein- 
verstanden  gewesen,  denen  der  Herr  Reichsprasident  seine  Zu- 
stimmung  erteilt  hat.  Wir  hatten  manchmal  mehr  Zuriickhal- 
tung,  weniger  imperatorische  Gesten  geliebt.  Aber  wir  wissen 
auch,  daB  ein  Mann  der  Tat  wie  Hitler  als  Ganzes  genommen 
werden  muB  und  seine  Fehler  nur  die  Kehrseite  seiner  Vorziige 
biiden.  Es  darf  auch  nicht  vergessen  werden,  dafi  Herr  Hitler 
alles  getan  hat,  um  die  Wunden  der  erbitterten  Parteikampfe 
moglichst  schnell  zur  Heiiung  zu  bringen.  Unvergessen  ist 
auch  noch  die  groBmutige  Art,  wie  er  den  friihern  Abgeord- 

1  271 


neten  Breitscheid  und  Hilferding  einc  Freiwohnung  im  Mar- 
kischen  Museum  gewahrt  hat,  wo  man  die  beiden  alten  Herren 
jetzt  taglich  sehen  kann,  wie  sie  mit  den  Kopfen  wackeln  und 
ihren  Wohltater  preisen.  Erledigt  ist  auch  schon  lange  die 
widerwartige  Tendenzliige,  die  den  Herrn  Reichsprasidenten  mit 
den  Erschiefiungen  vom  Marz  1933  in  Zusammenhang  bringen 
mochte.  Wir  wissen  heute  aus  objektiven  Zeugnissen,  daB  fur 
diese  unseligen  Vorgange  einige  Unterfiihrer  zu  belasten  sind, 
die  der  Situation  bedauerlicherweise  nicht  gewachsen  waren 
und  vor  einer  waffenlosen  Bevolkerung  die  Nerven  verloren 
haben.  Immer  hat  der  Reichsprasident  versuchl,  sein  Amt  so 
uberparteilich  wie  moglich  zu  fiihren  und  ausgleichend  auf  die 
oft  sehr  zugespitzten  konfessionellen  und  politischen  Gegen- 
satze  zu  wirken.  So  hat  noch .  kiirzlich  die  Ernennung  des 
Herrn  Professors  Seligsohn  zum  Direktor  des  Instituts  zur  Be- 
kampfung  deutschabtraglicher  Bakterien  in  alien  kulturell  inter- 
essierten  Schichten  lebhafte  Genugtuung  hervorgerufen.  Die 
Katholiken  -  aber  empfinden  es  als  hochst  schmeichelhafte 
Geste,  daB  der  Kriegsminister  von  Epp  jetzt  endlich  dem 
fruhern  Reichskanzler  Herrn  Briining  den  Eintritt  in  die 
Reichswehr  gestattet  hat.  Es  diirfte  noch  in  Erinnerung  sein, 
wie  Herrn  Briining  nach  seiner  Demission  von  dem  damaligen 
Reichswehrminister  Groener  das  Gesuch  um  Aufnahme  in  die 
Reichswehr  abgelehnt  wurde,  obgleich  er  alter  Frontsoldat  ist, 
denn  Groener  konnte  dem  fruhern  Reichskanzler  die  Einbrin- 
gung  des  Abriistungsvorschlages  in  Genf  nicht  verzeihen.  Herr 
Briining  tut  jetzt  schon  seit  einigen  Wochen  Dienst  auf  der 
Schreibstube  in  Doberitz.  Wie  ein  witziger  Zufall  es  gefugt 
hat,  ist  sein  Vorgesetzter  der  Feldwebel  von  Schleicher,  der 
bekanntlich  von  der  ersten  nationalsozialistischen  Regierung 
seines  Ranges  als  General  fiir  verlustig  erklart  wurde  und  sich 
seitdem  langsam  wieder  hochgedient  hat.  Herr  von  Schleicher 
erklart  sich  iibrigens  gliicklich,.  daB  er  sich  wieder  fiir  sein 
Vaterland,  wenn  auch  an  bescheidener  Stelle,  niitzlich  machen 
konne  und  daB  er  endlich  wieder  eine  seinen  Fahigkeiten  an- 
gemessene  Beschaftigung  gefunden  habe.  Herr  Briining  holt 
jeden  Tag  fiir  seinen  Vorgesetzten  Essen,  und  sie  friihstucken 
dann  zusammen.  An  dem  alten  Verhaltnis  hat  sich  also  nichts 
geandert. 

Manche  unsrer  republikanischen  Freunde  konnen  dem 
Herrn  Reichsprasidenten  die  Heftigkeit  nicht  verzeihen,  mit 
der  er  in  einer  lange  zuriickliegenden  Zeit  seine  Anschauungen 
vertreten  hat,  Wir  bitten  nicht  zu  vergessen:  der  Reichsprasi- 
dent Hitler  ist  nicht  mehr  der  Agitator  Hitler.  Seitdem  Hitler 
alter  und  reifer  geworden  ist,  seitdem.  sein  lichtbraunes  Gelock 
immer  starker  von  Silberfaden  durchzogen  wird,  seitdem  der 
einst  so  charakteristische  Blick  barter  Entschiedenheit  immer 
mehr  einem  Ausdruck  frohlichen  Ernstes  Platz  gemacht  hat, 
seitdem  aus  dem  Trompeter  der  Staatsmann  geworden  ist,  ge- 
hort  er  der  ganzen  Nation.  Hitler  —  das  bedeutet  Stetigkeit, 
Kampf  gegen  die  finstern  Machte  der  Anarchie;  das  bedeutet 
Brot  und  Arbeit.  Hitler —  das  ist  unser  Kreditposten  fiir  unsre 
Geltung  im  Ausland,  soweit  es  die  diplomatischen  Beziehungen 

272 


zu  uns  noch  aufrccht  erhalt.  Aus  dem  unglticklichen  Wahl- 
kampf  fur  den  alten  Herrn  von  Hindenburg,  der  ein  braver 
Mann  ist  und  nicht  mehr,  haben  wir  gelernt,  daB  es  cin  Un- 
sinn  ist,  sich  dem  Gebot  der  Stunde  entgegenzustellen.  Es 
ware  besser  gewesen,  wenn  wir  1932  unsern  allzu  berechtigten 
Zweifeln  an  der  Zulanglichkeit  der  Kandidatur  Hindenburg  offe- 
nen  Ausdruck  verliehen  hatten,  Politische  Riicksichten,  die  wir 
fiir  gravierend  hielten,  verhinderten  das.  Wir  haben  keine 
Wahler  mehr  und  keine  Leser,  man  hat  uns  windelweich 
gepriigelt,  man  hat  uns  das  Riickgrat  gebrochen  aber 
nicht  unsre  unbeugsame  Entschlossenheit,  uns  so  lacherlich  wie 
moglich  zu  machen.  Das  Volk  will  Hitler!  Wir  Republikaner 
wollen  Hitler!  Moge  der  Herr  Reichsprasident  nicht  lange*' 
zaudern  und  der  Stimme  des  Volkes  Gehor  geben, 

Recht  mufi  Recht  bleiben— !  von  Theobald  Tiger 

VV7ir  konnen  nicht  zr.  iilen!     Wir  werden  nichts  zahlcnl 
»  "     Die  Glaubiger  sollen  uns  was  malen!" 
Das  geht  gegen  Welschland  und  gegen  New  York. 
Vertrage  nehmen  wir  leicht  wie  Kork. 
Nur  nicht   gegen  die,   die  uns  beherrschten: 

Wie  steht  denn  die  Sache  mit  unsern  Ferschten  — ? 

Sagt  da  einer;  Grofl  ist  die  deutsche  Not? 
Sagt  da  einer:  Sparen  heiBt  das  Gebot? 
Ruft  da  der  Nazi:  Tyrannei? 
Rundfunkt  da  der  (jroener:  Ein  Volk  sei  frei? 
Stehn  da  die  Burger  auf  wie  ein  Mann, 
weil  keiner  zahlen  will  und  kann? 
Kriegen  die  Fiirsten,  was  andre  suchen? 
Brot  — ?     Ja,  Kuchen. 

Die  bekommen  Millionen   und  Millionen. 

Die  durfen  in  weiten  Schlossern  wohnen. 

Die  kassieren  fiir  Kind  und  Kindeskind, 

weil   wir  brave  Untertanen   sind. 

Der  in  Doom,  der  den  Hafi  einer  Welt  gesammell, 

der  hat  noch  nie  so  yiel  Geld  gesammelt. 

Die  Burschen  konnen  in  Dollars  baden, 

ihre  Konten  sind  von  Gottes  Gnaden. 

Wirft  die  einer  zum  Tempel  hinaus? 
So  sehn  wir  aus. 

Kein  Geld  fiir  Kriippel.     Kein  Geld  fiir  Proleten. 
Kein  Geld  fiir  die,  die  der  Krieg  zertreten. 
Der  Wind  pfeift  durch  den  Hosenrifi. 
Der  Dank  des  Vaterlands  ist  euch  gewifi. 

Die  Ieiden.     Die  hungern.     Und  die  diirsten. 

Aber  immer  feste  fur   die   Fiirsten! 

Sie  zapfen  an  deutschem  Gut  und  Blute. 

Da  heiBt  es  nicht:  Tribute!    Tribute! 

Da  zahlt  der  Deutsche,  getreu  seinem  Eid, 

an  die  gottgewollte  Obrigkeit. 

Aber  der  kleine  Mann,  der  in  Land  und  Stadt 
seine  Kriegsanleihe  gezeichnet  hat, 
der  kann  sich  sein  Geld  in  den  Schornstein  schreiben. 
Recht  mufi  Recht  bleiben. 

273 


Die  nachste  Notverordnung  von  k.  l.  oerstorf , 

Ceit  der  Ietzten  Notverordnung   ist  das  okonomische  Moment 

etwas  in  den  Hintergrund  gedrangt  worden.  Reparationen, 
Abriistungskonferenz  und  Prasidentenwahl  beherrschen  die 
Gemiiter. 

Aber  die  Okonomie  wirkt  sich  deshalb  nicht  weniger  aus. 
Die  Produktion  schrumpft;  die  Pleite  wird  groBer,  auch  wenn 
man  noch  so  viel  zu  sanieren  sucht.  Daher  gehen  die  Steuern 
nicht  ein;  die  Arbeitslosenzahlen  werden  groBer,  und  wenn  die 
Unterstiitzungssatze  gleich  bleiben,  nehmen  die  Unterstiitzungs- 
ausgaben  zu.  So  bekommt  der  Etat  von  zwei  Seiten  ein  Loch; 
die  Steuern  gehen  zuriick,  die  Ausgaben  wachsen.  Was  ist 
zu  tun? 

Bisher  hat  man  die  Arbeitslosenversicherung  dadurch  zu  sa- 
nieren versucht,  daB  man  einen  immer  groBern  Bruchteil  den 
Stadten  aufgebiirdet  hat.  Fast  die  Halfte  aller  Arbeitslosen 
sind  schon  nicht  mehr  in  der  Arbeitslosenversicherung  und  in  der 
Krisenunterstiitzung.  Der  Etat  der  Stadte  ist  durch  die  Wohl- 
fahrtserwerbslosen  so  angeschwollen,  daB  viele  Gemeinden  vor 
dem  Bankrott  stehen.  So  nebenbei  ist  dadurch  auch  die  muni- 
zipale  Selbstverwaltung  zerstort  worden.  Aber  nun  geht  auch 
das  nicht  mehr;  man  kann  die  Stadte  nicht  vollig  ruinieren.  Also 
muBman  nach  neuen  Methoden  suchen.  Und  was  sich  schon  heute 
an  Planen  herauskristallisiert,  das  laBt  sich  so  zusammeniassen: 
die  gesamten  Unterstiitzungssatze  werden  abgebaut,  das  heifit, 
auch  der  fur  kurze  Zeit  Arbeitslose  soil  nicht  mehr  bekommen 
als  der  Wohlfahrtserwerbslose,  'Mit  diesem  radikalen  Abbau 
aber  ist  das  Loch  im  Etat  noch  nicht  gestopft,  denn  die  Steuern 
gehen  nicht  ein. 

Bei  der  Vierten  Notverordnung  hat  man  gesagt,  es  sei  die 
letzte,  und  hat  gehofft,  die  Wirtschaft  werde  sich  zumindest 
auf  ihrem  tiefen  Stand  stabilisieren,  wenn  nicht  gar  ein 
kleiner  Konjunkturanstieg  erfolge.  Die  Hoffnung  hat  getrogen. 
Die  Produktion  geht  weiter  zuriick,  die  endgiiltige  Regelung 
der  Reparationsfrage  ist  in  den  nachsten  Monaten  nicht  zu  er- 
warten.  Daher  ist  es  ganz  ausgeschlossen,  daB  irgend  welche 
grofiern  Kapitalbetrage  vom  Ausland  einstromen  werden. 
Wenn  aber  die  Produktion  weiter  zuruckgeht  und  die  Steuern 
nicht  einkommen,  dann  muB  man  auf  dem  Verordnungswege 
weiterschreiten,  und  es  ist  selbstverstandlich,  daB  der  kritische 
Zustand  des  gesamten  Systems  dann  noch  augenscheinlicher 
wird. 

Die  Zeitraume  zwischen  den  wirtschaftlichen  Krisen  haben 
sich  in  der  Nachkriegszeit  immer  mehr  verkiirzt  Die  Kon- 
junktur  dauert  nur  noch  so  viele  Monate  wie  friiher  Jahre.  Das 
ungeheure  Tempo  in  der  Krisenvertiefung  bringt  es  mit  sich, 
daB  sich  auch  die  Zeitraume  zwischen  den  Notverordnungen 
immer  mehr  verkiirzen. 

Es  ist  klar,  daB  man  sich  vielfach  bemiiht,  Plane  auszu- 
hecken,  die  neue  Wirtschaftsdiktate  uberHiissig  machen.  Allen 
diesen  Planen  ist  der  eine  Zug  gemeinsam,  daB  sie  Methoden 
ausfindig   machen   mochten,    die   eine    neue  Ankurbelung    der 

274 


Produktion  ermoglichen.  Es  ist  ein  alter  Irrtum  der*  Vulgar- 
okonomen  zu  glauben,  daB  in  der  Krise  das  finanzielle  Moment 
entscheide,  und  daB  man  vom  Geld,  vom  Kredit  her  zu  einem 
Anstieg  kommen  konne.  Fiir  die  gegenwartige  Krise  ist  es 
typisch,  daB  solche  vulgarokonomischen  Anschauungen  nicht 
mehr  auf  biirgerliche  Konventikel  beschrankt  sind,  sondern 
daB  man  sich  bis  in  den  reformistischen  Sozialismus  hinein  mit 
derartigen  Projckten  beschaftigt.  Man  spurt,  wie  durch  die 
heutigeTolerierungspolitik  dieArbeiterklasse  immerpassiver  und 
zermiirbter  wird,  und  sucht  ihr  deshalb  gewisse  Plane  schmack- 
haft  zu  machen,  nur  um  die  eigne  Aktivitat  zu  beweisen. 
Der  wirklich  verantwortliche  Politiker  darf  sich  von  sdlchen 
Stimmungen  und  Aifekten  nicht  leiten  lassen.  Er  mufl  niich- 
tern  priifen.  Er  muB  priifen,  ob  die  Plane,  die  von  Wagemann 
kommen,  dem  Leiter  des  Statistischen  Reichsamts,  oder  von 
Woytinski,  dem  sozialistischen  Statistiker,  der  dem  ADGB. 
nahesteht,  etwas  helien  konnen.  Die  Einzelheiten  der  Plane 
interessieren  nicht-  Es  interessiert  allein  die  Wirkung,  die  ein- 
tritt,  wenn  der  Produktion  in  irgendeiner  Form  rCredite  in 
Milliardenhohe  zugefiihrt  werden. 

Wie  ist  bisher  die  Entwicklung  gewesen?  Es  hat  bereits 
cine  starke  Kreditausweitung  stattgefunden,  die  durch 
die  Entwicklung  der  Produktion  nicht  im  mindesten  begnindet 
ist,  Wir  bringen  ein  kleines  Schaubild  aus  der  Zeitschrift 
,Wirtschaft  und  Statistik*,  in  dem  der  Geldumlauf  der  letzten 
beiden  Jahre  aufgezeigt  ist,  der  Gold-  und  Deyisenbestand  der 
Reichsbank  und  die  Notenbankkredite: 


13 


Geldwesen 


'      \      '      '      '      '      ■ i  -.,1—1 L.  .1—  I 


13 
12 
11 
10 
9 
8 
7 
6 
5 
t# 
3 
2 


Was  zeigt  das  Bild? 

Seit  der  Julikrise  ist  der  Gold-  und  Devisenbestand  der 
Reichsbank  auBerordentlich  eingeschrumpft,  dagegen  sind  die 
Notenbankkredite  und  der  Geldumlauf  erheblich  gestiegen.  In 
den  letzten  Wochen  ist  der  Wechselbestand  der  Reichsbank 
allerdings  zuruckgegangen,  aber  insgesamt  sind  die  Kredite  bis- 

2  275 


her  durchaus  nicht  so  knapp  geworden,  wie  es  dcr  Produktions- 
eritwicklung  entsprache.  Seit  Krisenbeginn  ist  die  deutsch? 
Produktion  auf  ungefahr  drei  Fiinftel  herabgesunken,  Und 
der  GroBhandelsindex  steht  zur  Zeit  ungefahr  auf  dem  Niveau 
der  letzten  Vorkriegsjahre,  Wenn  Geld  und  Kredit  dieser  Ent- 
wicklung  gefolgt  waren,  dann  flatten  wir  grade  1931  zu  einem 
auBerst  starken  Ruckgang  <les  Kreditvolumens  kommen 
miissen.  Das  ist  nicht  der  Fall  gewesen.  Und  grade  dieser 
Faktor,  der  in  entscheidender  funktionaler  Beziehung  zum 
MonopolisierungsprozeB  des  deutschen  Kapitalismus  steht,  hat 
dessen  Elastizitatsreserven  in  ihrer  Anpassung  an  neue  Markt- 
situationen  auBerordentlich  verringert,  Es  muB  nachdriicklich 
betont  werden,  daB  wir  schon  im  ganzen  letzten  Jahr  keine 
reine  Deflation  mehr  gehabt  haben,  sondern  eine  mit  inflatio- 
nistischen  Zugen  durchsetzte.  Man  hat  durch  Kreditausweitung 
eine  Unzahl  von  Betrieben  zu  erhalten,  zu  sanieren  versucht, 
man  hat  ihren  endgiiltigen  Bankrott  standig  hinausgeschoben 
—  immer  in  der  Hoffnung,  daB  ein  neuer  Anstieg  der 
Produktion  sie  endgiiltig  sanieren  wiirde.  Wenn  diese  in- 
flationistischen  Ziige  bisher  nicht  so  sichtbar  waren,  dann  eben 
darum,  weil  infolge  der  Deflation  der  Preisnickgang  noch  aus- 
schlaggebender  war  als  alle  Faktoren,  die  ihn  verlangsamten. 
Diese  Deflation  mit  inflationistischen  Ziigen  laBt  sich  nicht 
mehr  lange  aufrechterhalten.  Und  es  ist  kein  Zufall,  wenn 
John  Maynard  Keynes  in  seinem  hamburger  Vortrag,  allerdings 
in  lebhaftem.Widerspruch  zu  vielen  seiner  deutschen  Zuhorer, 
ausfiihrte,  nach  seiner  Ansicht  werde  Deutschland  1932  den 
englischen  Weg  gehen. 

Die  Reichsregierung  lehnt  bisher  alle  direkten  Inflations- 
plane  aufs  scharfste  ab.  Sei  weiB,  daB  eine  Inflation  schwerste 
Gefahren  mit  sich  bringt.  Die  Mittelschichten  haben  ihre  Ex- 
propriierung  nicht  vergessen. 

Sie  haben  seitdem  wieder  Milliarden  in  die  Sparkassen 
getragen.  Und  obwohl  seit  der  Julikrise  die  monatlichen  Ab- 
hebungen  stets  groBer  waren  als  die  Neueinzahlungen,  lie- 
gen  auf  den  Sparkassen  doch  noch  immer  etwa  neuneinhalb 
Milliarden,  Eine  inflationistische  Bedrohung  der  Mittelschich- 
ten wiirde  deren  RadikalisierungsprozeB  ins  Ungeheure  em- 
porschnellen  lassen. 

Bei  der  Arbeiterschaft  steht  es  nicht  viel  anders.  Auch 
sie  hat  die  Zeiten  nicht  vergessen,  wo  der  Dollar  am  Nach- 
mittag  anders  stand  als  am  Vormittag.  Sie  hat  auch  nicht 
vergessen,  daB  die  Inflation  nicht,  wie  biirgerliche  Okonomisten 
glauben,  durch  irgend  ein  Rentenmarkprodukt  beendigt,  son- 
dern in  dem  Augenblick  liquidiert  wurde,  als  die  Arbeiter  ihren 
Lohn  in  Gold  verlangten,  als  also  nicht  mehr  nur  das  Monopol- 
kapital  in  Gold  rechnete,  sondern  die  Millionenmassen  der  Ar- 
beiterschaft ebenfalls  damit  begannen.  Es  wiirde  nicht  soviel 
Tage  dauern  wie  seiner  Zeit  Monate,  und  die  Ar- 
beiterschaft wiirde  ihren  Lohn  in  Gold  verlangen  und 
damit  den  kapitalistischen  Sinn  der  Inflation  zerschlagen. 
Dazu  kommt,  daB  im  Gegensatz  zum  englischen  Kapitalismus, 
der  noch  heute  auf  etwa  achtzig  Milliarden  im  Ausland  ange- 
legtes  Kapital  blickt,  der  deutsche  Kapitalismus  ein  Schuldner 

276 


ist,  der  im  Ausland  nicht  in  deutscher  Mark  zahlen  darf,  son- 
dern  frcmde  Valuta  hergeben  muB,  so  dafi  sich  seine  Schulden 
bei  einer  Inflation  nicht  verringerten.  Die  Gefahren  einer  in- 
flationistischen  Entwicklung  sind  also  gewaltig,  Daher  grenzt 
sich  die  Regierung  bisher  gegen  eine  derartige  Entwicklung  ab. 

Was  soil  man  aber  machen,  wenn  die  Produktion  weiter 
einschrumpft,  die  Arbeitslosenzahlen  zunehmen,  der  Defla- 
lionsprozeB  imraer  bedrohlichere  Gestalt  annimmt?  Auf  die 
Dauer  ist  es  nicht  moglich,  durch  eine  Krediterweiterung  die 
eine  Pleite  die  andre  finanzieren  zu  lassen,  Auf  die  Dauer  miis- 
sen  daher  Banken  und  Industrie  zu  einer  unumwundenen  Bilanz- 
wahrheit  kommen,  Auf  die  Dauer  muB  wirklich  abgeschrieben 
werden,  muB  der  Bankrott  derer,  die  bankrott  sind,  auch  zu- 
gegeben   werden. 

Im  September  1931  gab  Briining  einem  englischen  Jour- 
nalisten  ein  Interview,  in  dem  er  erklarte,  wir  wiirden  im 
Winter  1932  sieben  Millionen  Arbeitslose  hab'en.  Die  letzten 
amtlichen  Zahlen  weisen  reichlich  sechs  Millionen  auf,  Dar- 
unter  sind  bereits  achthunderttausend,  die  keinen  Pfennig  Un- 
terstutzung  mehr  bekommen,  Es  ist  aber  weiter  bekannt, 
daB  neben  diesen  registrierten  Arbeitslosen  ungefahr  schon 
eine  halbe  Million  vorhanden  sind,  die  sich  nicht  mehr  regi- 
strieren  lassen.  Die  Arbeitslosenzahlen  sind  in  alien  Jahren 
im  Februar  immer  noch  betrachtlich  gestiegen.  Ohne  eine 
besondere  Verschlimmerung  wiirden  daher  bereits^  die  Ar- 
beitslosenzahlen Anfang  Marz  den  Umfang  erreichen,  den  Brii- 
ning im  vergangenen  Herbst  angenommen  hatte.  Wenn  aber 
die  Kreditausweitung  nicht  mehr  aufrechterhalten  wird,  wenn 
dem  Riickgang  der  Produktion  und  der  Preise  der  Riickgang 
der  Kredite  voll  entsprechen  wird,  wenn,  mit  andern  Wor- 
ten,  die  Deflation  in  ihrem  wirklichen  Umfange  eintritt, 
dann  wird  ein  weiteres  Massensterben  der  Betriebe  ein- 
setzen.  Die  Zahl  von  sieben  Millionen  Arbeitslosen  wird 
dann  nicht  ausreichen. 

Es  kann  Wochen  und  Mohate  geben,  wo  die  direkten  poli- 
tischen  Fragen  die  okonomischen  liberschatten;  in  nachster 
Zeit  aber  werden  die  okonomischen  Grundfragen  wieder  im 
Vordergrund  stehen.  Moglichkeiten  zu  lavieren  gibt  es  immer 
weniger.  Deflation  und  Inflation  miissen  die  Widerspriiche  des 
Systems  immer  mehr  verscharfen. 

Die  neue  Notverordnung  steht  bevor,  Wie  sie  auch  im 
einzelnen  gestaltet  werden  mag;  die  politische  Krise  muB 
zunehmen. 

Zu  dieser  Zensur 

t  aBt  immerhin  die  entgegengesetztesten  Lehren  entfcsselt  werden 
"  und  auf  Erden  ihr  Spiel  treiben,  —  wenn  nur  auch  die  Wahrheit 
auf  dem  Plan  ist,  dann  tun  wir  Unrecht,  durch  Zensuren  und  Verbote 
den  Zweifel  an  ihrer  Kraft  zu  bekunden.  LaBt  sie  ruhig  mit  dem  Irr- 
tum  streiten!  Wer  hat  jemals  die  Wahrheit  unterliegen  sehen  im 
offenen  und  freien  Kampfe?  Die  Widerlegung  durch  die  Wahrheit 
ist  die  beste  Unterdriickung  des  Irrtums. 

John  Milton  ,Areopagitica'  (1644) 

277 


Monarch  Hindenbtirg  von  Banns-Erich  Kaminski 

f^en  Reichsprasidenten  in  die  Debattc  zu  Ziehen,  ist  heut- 
zutage  sehr  riskant.  Wir  stehen  zwar  vor  der  Prasiden- 
tenwahl,  aber  man  darf  eigentlich  nur  sagen,  daB  man  fiir  oder 
gegen  Hindenbtirg  ist,  Alles  weitere  ist  von  Obel  und  wird 
bestraft.  Denn  wir  haben  keine  Zensur,  gewiB,  doch  wir  haben 
das  Reichsgericht.  Wo  sind  die  schonen  Zeiten  hin,  in  denen 
man  Karikaturen  Wilhelms  veroffentlichen  und  sogar  des  Kai- 
sers Reden  kritisieren  durfte? 

Zum  Gliick  kann  man  iiber  die  Amtsperiode  Hindenburgs 
sprechen,  ohne  sich  weiter  mit  seiner  Personlichkeit  zu  befas- 
sen.  Ich  halte  den  gegenwartigen  Reichsprasidenten  allerdings 
fiir  keinen  groBen  Mann;  aber  ohne  Zweifel  ist  er  ein  anstan- 
diger  Mensch,  geleitet  von  einer  tiefen  Rechtschaffenheit  und 
beseelt  von  den  lautersten  Motiven.  Seine  Amtsperiode  jedoch 
wird  durch  eine  fortschreitende  Entrepublikanisierung  Deutsch- 
lands  gekennzeichnet. 

In  der  .Weltbuhne'  ist  wiederholt  mit  Besorgnis  auf  diese 
Entwicklung  hingewiesen  worden,  Nachdem  nun  das  Septen- 
nat  des  Prasidenten  abgelaufen  ist,  drangt  sich  die  Notwendig- 
keit  auf,  einmal  das  Fazit  dieser  sieben  Jahre  zu  ziehen.  Die 
atmospharischen  Storungen  der  letzten  Wochen,  die  die  Zei- 
tungen  unter  dem  Rubrum  ,,Intrigen"  erwahnten,  machen  diese 
Notwendigkeit  nur  noch  notwendiger. 

Verfassungsrechtlich  ist  die  Stellung  des  Reichsprasiden- 
ten sehr  klar.  Die  Verfassung  Von  Weimar  ist  vielleicht  juri- 
stisch  nicht  immer  ganz  eindeutig,  in  den  Kapiteln  iiber  den 
Reichsprasidenten  ist  sie  jedoch  vollkommen  deutlich,  mag  man 
den  Artikel  48  noch  so  weitherzig  auslegen.  Selbst  der  Fall 
eines  Konflikts-  zwischen  dem  Reichsprasidenten  und  dem 
Reichstag  ist  vorgesehen,  wobei  der  Reichstag  mindestens  fur 
die  Dauer  des  Konflikts  die  groBern  Rechte  erhalten  hat.  Kein 
Mensch  dachte  ja  auch  in  Weimar  daran,  den  Reichsprasiden- 
ten machtiger  zu  machen  als  etwa  den  Konig  von  England. 

Trotzdem  ist  Hindenburg,  wenn  man  von  den  Konigen  Ru- 
maniens  und  Jugoslawiens,  die  ihre  eignen  Diktatoren  sind,  ab- 
sieht,  machtiger  als  jeder  Monarch.  Da  der  Reichstag  sich 
selbst  ausgeschaltet  hat,  regiert  faktisch  der  President  durch 
Kabinettsordres  wie  selbst  die  preuBischen  Konige  nur  bis 
1848.  Lebte  Cavour  noch  und  sahe  er,  wie  unter  diesen 
Umstanden  in  Deutschland  Politik  gemacht  wird,  so  wiirde 
er  wahrscheinlich  sein  Lieblingswort  wiederholen:  ,,Die  schlech- 
teste  Kammer  ist  immer  noch  besser  als  das  beste  Vbrzimmer." 

Aber  die  staatsrechtliche  Verschiebung  der  Stellung,  die 
die  Verfassung  dem  Reichsprasidenten  zuweist,  ist  noch  nicht 
das  Schlimmste.  In  kritischen  Zeiten  miissen  die  Formen  oft 
gebogen  werden,  damit  der  Inhalt  erhalten  bleibt.  Das 
Schlimmste  ist,  daB  kein  Mensch  die  Entwicklung,  die  weit 
iiber  die  einst  deutschnationale  Parole  f,Mehr  Macht  dem 
Reichsprasidenten"  hinausgefuhrt  hat,  als  einen  Notbehelf  an- 
sieht.     Alle   Welt   ist  vielmehr  auBerordentlich  zufrieden,   daB 

278 


der  Reichsprasident  den  iibrigen  verfassungsmaBigen  Organen 
nahezu  ihrc  gesamtc  Vcrantwortung  abgenommen  hat  und  allcin 
die  Richtlinien  der  deutschen  Politik  bestimmt.  Nicht  nur  die 
Form  hat  sich  also  gewandelt,  sondern  auch  der  Inhalt  und 
der  Geisteszustand  der  deutschen  Republik  entspricht  bereits 
vollig  dem  einer  Monarchic 

Hindenburgs  Schuld  ist  das  nicht.  Da6  der  alte  Herr  we- 
der  politischen  Machthunger  noch  personlichen  Ehrgeiz  hat, 
steht  fest.  Die  Schuld  liegt  bei  den  Politikern,  die  das  wil- 
helminische  Erbe  im  Blut  tragen  und  die  sich  im  Krieg  daran 
gewohnt  haben,  vor  dem  Generalfeldmarschall  strammzustehen. 
Es  war  —  und  ist  —  freilich  sehr  verfiihrerisch,  den  Reichs- 
prasidenten aus  seiner  Reprasentationsrolle  herauszulocken  und 
sich  hinter  seiner  Autoritat  zu  verkriechen. 

Der  erste  Siindenfall  war  die  Veroffentlichung  eines  Auf- 
rufs  fur  die  Annahme  des  Young-Plans;  wenn  ich  mich  recht 
entsinne,  war  die  Unterschrift  Hindenburgs  nicht  einmal  von 
einem  Minister  gegengezeichnet.  Spater  wurde  es  dann  mehr 
und  mehr  ublich,  daB  der  Reichsprasident  die  Regierung  und 
nicht  die  Regierung  den  Reichsprasidenten  zu  decken  hatte. 
,,Der  Reichskanzler  bestimmt  die  Richtlinien  der  Politik  und 
tragt  dafiir  gegenuber  dem  Reichstag  die  Verantwortung",  lau- 
tet  der  Artikel  56  der  Verfassung.  Er  ist  langst  auBer  Kraft 
gesetzt.  Selbst  bei  der  Bildung  neuer  Regierungen  heiBt  es  in 
den  amtlichen  Verlautbarungen  neuerdings:  MDer  Herr  Reichs- 
prasident hat  Herrn  Soundso  zum  Reichskanzler  ernannt  mit 
dem  Auftrag,  die  und  \die  MaBnahmen  durchzufiihren/' 

Heute  sind  wir  gliicklich  so  weitt  daB  die  Minister  sich 
nicht  mehr  um  das  Vertrauen  des  Reichstags  bemtihen  son- 
dern nur  noch  um  das  Wohlwollen  des  Reichsprasidenten  und 
daB  sie  zurucktreten,  sobald  sie  dies  Wohlwollen  nicht  mehr 
besitzen  und  in  Ungnade  gefallen  sind.  Die  ganze  politische 
Haltung  Briinings  liefert  den  Beweis  dafiir.  DaB  unter  der- 
artigen  Verhaltnissen  alle  moglichen  Leute  EinfluB  zu  nehmen 
versuchen  und  auch  ausuben,  ist  eigentlich  selbstverstandlich. 
Intriganten  gibt  es  freilich  uberall  und  immer.  Das  Bedeutsame 
ist,  daB  sie  iiberhaupt  Chancen  haben,  daB  man  von  ihnen  No- 
tiz  nehmen  muBt  dafi  man  sogar  schon  wieder  von  einer  Kama- 
rilla  spricht. 


Das  Deutsche  Reich  ist  eine  Republik?  Mag  sein.  Aber 
sein  Klima  ist  das  der  Monarchic  Vergeblich  sucht  man  auf 
der  Linken  wie  auf  der  Rechten  nach  einem  passenden  Kan- 
didaten  fur  die  bevorstehende  Wahl.  Wir  haben  gar  keinen 
Prasidenten  zu  wahlen,  wir  wahlen  einen  Monarchen!  Zuge- 
geben,  daB  die  plebiszitare  Monarchie  immer  noch  besser  ist 
als  die  erbliche,  Nur  erscheinen  bei  uns  leider  auch  unter  der 
Herrschaft  des  Plebiszits  alle  Rechtsverhaltnisse  als  Abhangig- 
keiten  und  alle  Abhangigkeiten  als  gottgewollt  Ach,  es  war 
so  schon,  von  einem  freien  Deutschland  zu  traumen,  in  dem  das 
mundige  Volk  sich  selbst  regiert! 

279 


Wir  Juden  mitten  drin  von  mide  waiter 

Tn  der  vornchmcn  Sprache  offizieller  Beschwerden  heiBen 
wir  jctzt  wieder  ,,religi6se  Minderheit".  Vielleicht  ist  es 
taktisch  klug,  daB  verdienstvolle  Bekampfer  des  Antisemitis- 
mus  aus  unsern  Reihen  die  Religionsgemeinschaft  als  Ober- 
begriff  voranstellen,  wenn  sic  dem  zustandigen  Minister  klar 
machen  wollen,  daB  unbedingt  etwas  zu  geschehen  habe,  Wo- 
mit  sollten  sie  auch  sonst  antreten?  Die  zionistischen  und  na- 
tionalsozialistischen  Vokabeln  wie  ,,nationale  und  rassische 
Minderheit"  sind  allseitig  verpont,  ihr  Gebrauch  wiirde  das 
Gegenteil  des  gewiinschten  Erfolges  bewirken.  Die  Vertre- 
ter  der  Beschwerde  wollen  auch  gar  keine  Rasse-  oder  Na- 
tionaljuden  reprasentieren,  sie  wollen  etwas  allgemein  Giilti- 
ges,  Harmloses  und  Schutzbediirftiges.  Darum  sagen  sie:  „Re- 
Hgion",  obwohl  die  Mehrzahl  von  uns  nur  noch  herzlich  wenig 
mit  religiosem  Leben   zu  tun   hat, 

Man  soil  Leuten,  die  an  exponierter  Stelle  fiir  eine  wich- 
tige  und  niitzliche  Sache  kanipfen,  nicht  mit  kritischen  Spitz- 
findigkeiten  in  den  Riicken  fallen.  Man  soil  ihren  Kampf,  der 
mit  manchen  ideellen  und  materiellen  Opfern  verbunden  ist, 
unterstiitzen,  zumal  man  immerhin  an  dem  Erreichten  teilzu- 
haben  gedenkt.  Wir  alle  sind  sehr  gefahrdet,  in  unsrer  ma- 
teriellen, geistigen  und  sogar  in  der  physischen  Existenz  be- 
droht.  Trotzdem  konnen  wir  nicht  aus  Loyalitat  und  Vor- 
sicht  ohne  Widerspruch  ein  Trugbild  aufrichten  lassen,  das  bei 
jeglichem  Kriegsausbruch  immer  fix  und  fertig  bei  der  Hand 
zu  sein  pflegt:  das  Trugbild  von  der  Einigkeit  aller  Bedroh- 
ten.  Es  fallt  nach  gewonnenem  oder  verlorenem  Kampf  so- 
wieso  mit  unangenehmen  Nebenerscheinungen  in  sich  zusam- 
men;  mane  hem  Volk  ware  heute  wohler,  wenn  man  ihm  in 
der  Stunde  der  Gefahr  nicht  eingeredet  hatte,  daB  es  einig  in 
Standen,  Stammen  und  Parteien  zusammenstunde.  Auch  wir 
Juden  gehoren  nach  der  Entwicklung  nicht  mehr  bedingungs- 
los  zueinander.  Wir  haben  uns  spontan  und  ohne  jegliches 
Programm  nach  unsrer  sozialen  Zugehorigkeit  neu  gruppiert. 
Das  fing  vor  etwa  vierzig  Jahren  an,  als  sich  eine  Reihe  ge- 
bildeter,  gut  biirgerlicher  Juden  „mit  Erfolg"  taufen  liefien. 
Denen  ging  es  nicht  um  sichtbare  wirtschaftliche  Vorteile,  die 
sie  zum  Teil  nicht  mehr  notig  hatten,  Sie  suchten  die  gesell- 
schaftliche  Gleichstellung;  das  gelang  gewohnlich,  wenn  sie 
in  geistigen  Beruf skreisen  lebten  und  sich  nicht  grade  aristo- 
kratische  Schwiegersohne  kaufen  wollten.  Diese  altera  Justiz- 
rate,  Sanitatsrate,  getauften  Universitatsprofessoren  und  ihre 
Frauen  hatten  sich  auch  auBerlich  assimiliert.  Eine  gewisse 
solide  SpieBigkeit,  Ablehnung  mondaner  oder  gar  prdtziger 
Lebensformen  kam  bei  ihnen  aus  ehrlicher  Oberzeugung  und 
aus  der  falschen  Vorstellung  dessen,  was  als  spezifisch  jiidisch 
anzusehen  sei.  Ihre  Lebensform  wurde  wiederum  von  Fami- 
lien  der  gleichen  Schicht  nachgeahmt,  die  aus  einer  anstandi- 
gen  Treue  zum  eignen  Stall  beim  Judentum  geblieben  waren. 
Sie  waren  gesellschaftlich  fast  ebenso  stark  assimiliert.  Von 
der   humanistischen   Bildung  der  Manner  und   Sohne   bis   zum 

280 


Schwarzseidenen  der  Mutter  und  den  moglichst  unvorteilhaf- 
ten  Ballkleidern  der  Tochter  war  alles  gutes,  deutsches  Biir- 
gertum.  Als  aufgeklarte  Burger  des  neunzehriten  Jahrhun- 
derts  hatten  sie  sowieso  keine  religiosen  Bindungen,  nur  in 
ganz  wenigen  Hausern  dieser  gehobenen  biirgeflichen  Sphare 
wurden  noch  religiose  Gebrauche  gehalten.  Die  soziale  An- 
passung  war  vollzogen,  wenn  auch  nur  unter  dem  Rubrum 
„Deutsches  Geistesleben"  und  unter  Verleugnung  der  materia- 
listischen  Motive,  Bei  der  nachsten  Garnitur  der  sozialen 
Rangordnung  kam  die  Verbriiderung  mit  der  entsprechenden 
christlichen  Schicht  erst  spater;  im  GroBhandel,  bei  den 
Warenhausbesitzern,  in  der  bessern  Konfektion  hielt  man  lan- 
ger  in  bescheidenen  Grenzen  an  den  Gebrauchen  der  Vater 
fest.  Aus  Pietat  gegen  alte  Eltern  wurde  immerhin  an  drei 
hohen  Feiertagen  im  Jahr  die  Synagoge  besucht,  vielleicht  auch 
aus  Aberglauben,  weil  es  doch  einmal  schief  gehen  konnte; 
manchmal  geschah  es  auch  mehr  fur  die  Gemeinde  in  ehrlichem 
Solidaritatsgefuhl  mit  den  unterdriickten  und  armen  Juden 
der  ganzen  Welt.  Aus  dieser  Ecke  und  aus  benachbartem 
Milieu  erwuchs  im  letzten  Jahrzehnt  den  volksparteilichen 
christlichen  Klassengenossen  ein  starkes  Echo,  als  mit  der  be- 
ginnenden  Wirtschaftskrise  die  Mode  aufkam,  samtliche  Spar- 
ten  der  deutschen  Sozialpolitik  fiir  das  Ung'liick  verantwortlich 
zu  machen,  bliesen  die  Juden  begeistert  in  dasselbe  Horn. 
Wenn  schon  bei  den  Alten  dieser  Schichten  kaum  mehr  etwas 
von  MReligionsgemeinschaft"  zu  merken  war,  bevor  die  Hoch- 
konjunktur  des  Hakenkreuzes  anbrach,  so  konnte  man  bei  den 
Jiingern,  bei  der  heute  erwachsnen  maBgebenden  Generation, 
rioch  viel  weniger  davon  rederi.  Ein  Teil  ist  zu  den  Zionisten 
abgewandert  und  hat  damit  die  Beziehung  zur  Umwelt  auf 
eine  ganz  andre  Basis  gestellt.  Andre  waren  zwar  auch  wie- 
der  bewuBtere  Juden  als  ihre  assimilantischen  Vater,  aber 
keineswegs  aus  religiosen  Griinden.  Sie  hatten  weniger  kran- 
kende  Kindheitserlebnisse  zu  uberwinden  und  konstatierten 
die  Andersartigkeit  der  Juden  ziemlich  affektlos.  Der  .Antise- 
mitismus  als  geistige  Haltung  konnte  sie  nicht  mehr  treffen, 
weil  sie  mit  seinen  Anhangern  gar  nicht  verkehren  wollten. 
Sie  konnten  sich  ebenso  wie  manche  Sonne  der  halbreligio- 
sen  sogenannten  liberalen  Juden  zu  dem  unsympathischen  Typ 
des  jiidischen  Verbindungsstudenten  entwickeln,  der  die  al- 
bernsten  Manieren  der  Korpsstudenten  nachahmte;  sie  konn- 
ten sich  politisch  umorientieren  und  sich  im  Protest  gegen  die 
Tradition  der  Arbeit erbewegung  anschlieBen.  Immer  war  dann 
<ler  Kontakt  mit  ihrer  Schicht  doch  noch  starker  als  alle  Bin- 
dung  aus  politischer  und  sozialer  Uberzeugung. 

Aber  wir  hatten  schon  lange  keine  gemeinsame  Parole 
mehr,  weil  es  eigentlich  nichts  mehr  gab,  was  alle  verkniipfte. 
Die  neue  jiidische  Briiderlichkeit  ist  nun  Adolf  Hitlers  Ver- 
dienst.  Ohne  seine  Propaganda  hatten  sich  wahrscheinlich 
die  Klassengegensatze  unter  den  deutschen  Juden  noch  viel 
mehr  verscharft.  Es  ist  gar  nicht  ausgeschlossen,  dafi  wah- 
rend  einer  so  ungeheuren  Wirtschaftskrise  wie  der  gegenwar- 
tigen  ohne  den  Kitt  des  neudeutschen  Antisemitismus  zwischen 

281 


den  Juden  ein  KlassenhaB  ausgebrochen  ware,  der,  kombi- 
niert  mit  einer  Art  von  BruderhaB  und  Farailienwut,  weit 
scharfere  Formen  angenommen  hatte  als  die  iiblichen  Klassen- 
konilikte.  Nun  sind  wir  wicder  wie  vor  fiinftausend  Jahren, 
wenn  wir  voriibergehend  zu  fremden  Gottern  gebetet  und 
uns  auch  sonst  schr  unvorschriftsmaBig  benommen  hatten,  zum 
Gott  unsrer  Vater  zuriickgekehrt.  Nicht  grade  als  reuige 
Sunder;  wir  haben  uns  auf  ihn  besonnen,  weil  wir  unter  seiner 
Protektion  als  religiose  Minderheit  auitreten  konnen,  Wir 
sind  nun  nicht  mehr  Bankiers  mit  Millionenvermogen  und 
Stenotypistinnen  mit  achtzig  Mark  Gehalt,  Wir  sind  nicht 
mehr  Warenhausbesitzer  und  kleine  Handelsagenten  rait  drei- 
hundert  Mark  Provision  bei  hundertfiinfzig  Mark  Spesen  im 
Monat;  nicht  mehr  Arbeitgebersyndici,  die  Tarifvertrage  kiin- 
digen,  und  Handlungsgehilf  en  in  Provinzladen,  die  morgen  ab- 
gebaut  werden;  nicht  mehr  Borsenvorstande  und  stellungs- 
lose  Angestellte  mit  8,50  Mark  Stempelgeld  pro  Woche.  Unsre 
glaubigen  Glaubensgenossen,  die  eingewanderten  Ostjuden  und 
ein  Teil  deutscher  Juden,  die  wegen  ihrer  Frommigkeit  auch 
hier  wie  im  Ghetto  leben,  pflegen  untereinander  wirklich  so 
etwas  wie  Solidaritat  einer  Religionsgemeinde.  Aber  ihre 
Religiositat  hat  keineswegs  bewirkt,  dafi  die  jiidischen  Arbeit- 
geber  groBern  Stils  etwa  judische  Proletarier  bevorzugt  be- 
schaftigen.  Das  zarte  Band  der  „religiosen  Minderheit"  zer- 
,  reiBt  vor  den  Tiiren  der  Personalbureaus.  Der  judische  Pro- 
letarier vor  dreifiig  Jahren  hatte  noch  die  Chance, 
dank  seiner  Zahigkeit  und  einiger  Hilfe  der  damals 
noch  bereitwilligen  Glaubensgenossent  sehr  bald  ein  jiidischer 
Kleinbiirger  zu  werden.  Nicht  selten  gelang  ihm  ja  bekannt- 
lich  die  Entwicklung  zum  GroBkapitalisten,  oft  die  Hoher- 
entwicklung  der  ganzen  Familie  mit  besondern  geistigen  Spit- 
zenleistungen  der  zweiten  Generation.  Das  ist  alles  vorbei. 
Der  soziale  Aufstieg  klappt  nicht  mehr,  Prolet  bleibt  Prolet, 
trotz  Begabung  und  starkster  Arbeitswilligkeit.  Dagegen  hel- 
fer*  keine  Untersuchungen  iiber  die  Beriicksichtigung  der  Ju- 
den bei  der  Verteilung  offentlicher  Amter  und  Stellen.  Kein 
Geschrei,  daB  die  Juden  entsprechend  ihrem  prozentualen  An- 
teil  an  der  BevolkerungsziHer  bedacht  werden  miiBten.  Nicht 
einmal  die  offentlichen  Versicherungen,  daB  wir  ebenso  gut 
seien  wie  die  andern,  die  Aufzahlung  unsrer  Verdienste  um 
Kunst,  Wissenschaft  und  Technik,  um  die  gesamte  deutsche 
Kultur  und  nicht  zuletzt  um  die  Vaterlandsverteidigung  andern 
etwas  an  der  Gesamtsituation.  Ein  witziger  Kopf  hat  ein* 
mal  festgestellt,  daB  es  zwei  judische  Fememorder  gegeben 
haben  soil;  das  sei  ein  Prozentsatz  an  der  Gesamtzahl  der 
Fememordert  der  den  statthaften  jiidischen  Anteil  bei  weitem 
iibersteige. 

Vor  wenigen  Wochen  hat  Bruno  Frei  an  dieser  Ste'lle  im 
Rahmen  einer  Wiirdigung  von  Otto  Hellers  Buch  f1Der  Unter- 
gang  des  Judentums"  iiber  die  russische  Losung  der  Juden- 
frage  gesprochen.  Die  Russen  seien  unbeschreiblich  stolz  au£ 
ihre  Mstandig  wachsende  Production  von  Arbeit er-  und 
Bauern- Juden".    Bei   allem   schuldigen  Respekt  vor  der   unge- 

282 


heuren  kommunistischen  Lcistung  des  jfidischen  Siedlungs- 
wcrks  und  der  Umschulung  der  Juden  auf  produktive  Be- 
rufe;  bci  aller  Anerkennung  der  konsequenten  Logik  dieses  Sy- 
stems; man  hat  merkwiirdige  Assoziationen  wenn  man  liest,  die 
Russen  erwahnen  als  einen  ihrer  groBen  Erfolge,  dafi 
der  relative  Anteil  der  Juden  an  der  Staatsyerwal- 
tung  in  dem  MaBe  gesunken  sei,  als  die  soziale  Entwicklung 
der  Union  fortschreite.  Das  Klassenproblem  der  Juden  in 
RuBland  liegt  anders  als  bei  uns.  Wir  sind  ja  noch  nicht  mal 
auf  der  untersten  Stufe  des  Bekenntnisses  zur  Klasse  an- 
gelangt.  In  Deutschland  diirfte  auch  die  Assimilierung  der 
Juden  durch  AnschluB  an  das  Proletariat  viel  schwieriger 
vor  sich  gehen  als  in  RuBland.  Wir  mtissen  uns  trotz  allem 
Protest  gegen  die  verwaschene  Fiktion  von  der  ,,religiosen 
Minderheit"  doch  daruber  klar  sein,  daB  der  deutsche  Prole- 
tarier  den  jtidischen  Klassengenossen  gar  nicht  mit  so  weit  ge- 
offneten  Airmen  aufnimmt.  Es  gibt  da  uralte  Ressentiments, 
die  mit  keinem  Marxismus  und  keiner  Aufklarung  auszurotten 
sind,  Der  Antisemitismus  ist  eben  alter  als  samtliche  Inter- 
nationalen.  Aber  selbst  diese  peinliche  Feststellung  soil  nicht 
dazu  dienen,  die  Klassenunterschiede  innerhalb  der  Juden  zu 
verhiillen  und  sich,  von  Hitler  aufgestort,  auf  neuen  Umwegen 
in  den  Schutz  der  Synagoge  zu  flitchten. 


Polizei   von  Bernard  v.  Brentano 

Dieser  Abschnitt  stammt  aus  dem  neuen  Buch  Bernard 
v.  Brentanos  ,fDer  Beginn  der  Barbarei  in  Deutschland",  das 
dieser  Tage  im  Ernst  Rowohlt-Verlag,  Berlin,  erscheint. 

A  Is  ich  Essen  verlieB,  waren  die  Schlichtungsverhandlungen 
**  im  Gange,  welche  den  Arbeitern  eine  neue  Lohnsenkung 
brachten.  Noch  war  die  Entscheidung  nicht  veroffentlicht. 
Aber  schon  begann  auswartige  Polizei  die  Stadt  zu  besetzen. 
Kompagnien  von  Schutzpolizei  wurden  am  Bahnhof  ausgeladen 
und  riickten,  militarisch  formiert,  in  die  Stadt  ein,  Sie  gingen 
uber  die  HauptstraBe,  auf  deren  rechtem  Trottoir  die  teuren, 
und  auf  dem  linken  die  wohlfeilen  Huren  promenieren.  Das 
Angebot  der  Madchen  ist  hier  groB-  Die  Preise  sind  erschwing- 
lich.  Die  Lichter  der  Cafehauser  und  der  Kinos  beleuchten 
das  Milieu.  Man  spielt  grade  einen  Film  „Meine  Frau  —  die 
Hochstaplerin",  Es  ist  ein  Tonfilm,  der  eine  Million  gekostet 
haben  wird.  Die  Bourgeoisie  zeigt  dort,  wie  es  gemacht  wird. 
Die  Frau  eines  schlechtbezahlten  Bankangestellten  zieht  mit 
ihrem  Mann  in  e"in  Luxushotel,  man  kniipft  dort  Beziehungen 
an,  eine  macht  die  andre,  und  zum  SchluB  gelingt  der  grofle 
Coup.  In  den  Zeitungen  schreibt  man  uber  den  Sklarek-ProzeB, 
im  Kino  verkauft  man  seine  Methoden  dem  Volk.  Die  be- 
leuchtete  StraBe  ist  kaum  einen  Kilometer  lang.  Dann  wird  die 
Stadt  dunkel,  finster,  elend,  dreckig  und  verkommen.  Die 
Fassade  des  Kapitalismus  ist  so  diinn  und  durchscheinend  wie 
seine  Moral.  Hinter  dieser  Fassade  schlafen  die  Kumpels.  Die 
Sozialdemokraten    traumen     von     Wirtschaftsdemokratie,     die 

3  283 


Nazis  vom  Biirgerkrieg,  die  Stahlhclmleutc  von  Frankreich  und 
Polen,  und  wenn  man  das  alles  addiert,  kommen  elende  Lohne, 
eine  gewaltige  Arbeitslosigkeit  und  Kapitalismus  heraus, 

Man  sieht,  daB  sich  Dcutschland  amerikanisiert  und  mit 
dcr  fortschrcitenden  kapitalistischen  Entwicklung  nicht  nur  die 
Methoden  der  Rationalisierung,  Betriebskonzentration  etcetera, 
sich  iiber  die  Welt  ausbreitend,  bei  uns  eindringen,  sondern 
auch  das  dazugehorige,  sich  dariiber  erhebende  politische 
System,  in  dem  die  Polizei  eine  besondere  Rolle  spielt.  Man 
hat  den  barbeiBigen,  schnurrbartigen  Schutzmann  der  wilhel- 
minischen  Zeit  liquidiert,  der  ein  militarfeudalistisches  Ober- 
bleibsel  war,  und  durch  den  sauber  rasierten,  elastischen 
Schupo  ersetzt,  der  weit  besser  in  den  modernen  Klassenkampf 
paBt.  Das  Seitengewehr  wirkt  weniger  militarisch  als  der  Sa- 
bel,  der  friiher  getragen  wurde.  Aber  das  kurze  Ding  ist  durch 
den  Gummikmippel  verlangert  worden,  und  bei  der  beritte- 
nen  Polizei  durch  die  lange,  pfeifende  Gummipeitsche,  welche 
der  Peitsche  der  Kosaken  verdammt  ahnlich  sieht,  ,,Die  Polizei 
im  modernen  Volksstaat",  sagt  zwar  Severing,  ,,soll  und  will 
nichts  anderes  sein  als  der  Diener  und  Freund  der  Bevolkerung. 
Das  Wort  .Schutzmann*  muB  wieder  seinen  eigentlichen  und 
wahren  Sinn  bekommen.  Dieses  Ziel  kann  allerdings  nur  er- 
reicht  werden,  wenn  das  Publikum  der  Polizei  verstandnisvoll, 
willig  und  freundschaftlich  gegeniibersteht.  Zu  diesem  Zwecke 
muB  alles,  was  die  Polizei  betrifft,  miissen  alle  ihre  Einrichtun- 
gen  und  auch  ihre  Arbeitsmethoden  noch  viel  volkstiimlicher 
werden  als  bisher.  Die  Polizei  hat  nichts  zu  verbergen.  Und 
darum  noch  einmal:  ,Bitte,  treten  Sie  naherl'  "  (Almanach  zum 
PolizeibaiL  Berlin  1926.)  Aber  das  gilt  fur  die  westlichen 
Vororte, 

Der  Ruf,  den  man  auf  den  weniger  beleuchteteri  StraBen 
hort,  heiBt  „bitte  weitergehen".  Die  Polizei  ist  nicht  volkstum- 
lich  geworden;  es  ist  auch  nicht  ihre  Aufgabe,  dieses  Verhalten 
zu  pflegen. 

Die  Verelendung  der  Massen,  welche  sich  wie  eine  Seuche 
ausbreitet,  verlangt  eine  immer  scharfere  Bewachung  der  kapi- 
talistischen Positionen,  und  die  Quartiere  der  Arbeiter  miissen 
fortgesetzt  unter  militarpolizeilicher  Bedeckung  gehalten  wer- 
den. Die  Unterdriickten  miissen  unter  Druck  gehalten  sein.  In 
seiner  „Geschichte  der  Polizei"  fiihrt  der  essener  Polizeiprasi- 
dent  Doktor  Melcher  das  Beispiel  Spartas  an.  Die  Heloten, 
die  Ureinwohner  des  Landes,  waren  von  den  Spartanern  unter- 
jocht  und  zu  Sklaven  gemacht  worden  und  bildeten  infolge- 
dessen  ,,einen  volkswirtschaftlich  und  staatsorganisch  unent- 
behrlichen  Wertfaktor  von  grundlegender  Bedeutung",  der 
aber,  weil  er  eben  unterdriickt  und  versklavt  war,  ein  ,,inner- 
politisches  Gefahrenmoment  ersten  Ranges,  eine  standige  Be- 
drohung  des  Staatsbestandes  darstellte".  Von  diesem  Zustand 
aus  kann  man  auf  die  Gegenwart  schlieBen  und  Herr  Melcher 
schreibt  ganz  richtig:  „Auch  heute  noch  ist  die  Polizei  das 
Kerristiick  der  komplizierten  Staatsmaschinerie.  Reyolutipnare 
Zeiten,  wie  sie  hinter  uns  liegen,  lehren  das.  Mit  Beseitigung 
d«r  Polizei  liegt  augenblicklich  der  ganze  Apparat  offentlichen 

284 


und  offentlich  bedingten  privaten  Lcbens  still  und  der  neue 
Aufcbau  kann  nur  beginnen  mit  -der  Wiederherstellung  eines, 
wenn  auch  noch  so  primitiven  Zustandes  polizeilicher  Ordnung 
als  der  unentbehrlichsten  Voraussetzung  allcs  weiteren  staat- 
lichen  Lebens," 

Die  berittenen  Patrouillen  in  den  Quartieren  der  Arbeiter 
erwecken  den  Eindruck,  als  befande  man  sich  in  erobertem  Ge- 
biet.  Der  Eindruck  ist  richtig.  Es  handelt  sich  darum,  jeden 
Versuch  der  Arbeiterschaft,  ihre  Lage  zu  verandern  und  zu 
yerbessern,  sofort  zu  ersticken.  Allerdings  spricht  man  sich 
nicht  direkt  gegen  den  Streik  aus,  sondern  fiir  das  Privateigen- 
tum.  In  der  Sammlung  von  Polizeiaufgaben,  die  der  praktischen 
Ausbildung  speziell  der  hohern  Beamten  dient,  kann  man  im 
Kapitel  ,, Streik"  einiges  dariiber  lesen.  Dort  soil  der  Polizei- 
hauptmann  A.  auf  Anordnung  des  Fiihrers  der  ersten  Polizei- 
inspektion,  der  ein  unsachgemaBes  Verhalten  der  Polizei  zu 
verhindern  wiinscht,  seiner  Polizeibereitschaft,  die  im  Streik- 
gebiet  eingesetzt  istf  einen  belehrenden  Vortrag  halten,  urn  die 
Beamten  iiber  die  volkswirtschaftliche  Bedeutung  eines  solchen 
Arbeitskampfes  atifzuklaren.  ,,In  einem  hochindustriellen 
Staat",  erklart  er,  ,,ist  es  unausbleiblich,  daB  die  Interessen  der 
Allgemeinheit  gefahrdet  werden,  wenn  der  normale  Ablauf  der 
Wirtschaft  an  einer  Stelle  gefahrdet  wird.  Jede  Arbeitsnieder- 
legung  bringt  die  bestreikten  Betriebe  in  finanzielle  Schwierig- 
keit.  Das  in  den  Produktionsmitteln,  den  Gebauden,  Maschinen, 
Rohstoffen,  Hilfsstoffen  enthaltene  Kapital  muB  dauernd  ver- 
zinst  werden,  Das  ist  aber  nur  durch  Absatz  von  Produkten 
moglich,  deren  Herstellung  durch  das  Aufhoren  der  Arbeit 
unterbunden  wird.  Jefdes  industrielle  Werk  arbeitet  mit  Kre- 
diten,  deren  Dauer  und  Hohe  schlieBlich  begrenzt  ist,  kann  also 
eine  langere  Beschaftigungslosigkeit  ohne  finanzielle  Gefahr- 
dung  nicht  ertragen," 

Die  volkstiimliche  Polizei,  wie  Severing  sagt,  versteht  also 
unter  MVolk"  das  Privateigentum  und  seine  Besitzer,  das  kapi- 
talistische  System  und  seine  Funktionare.  Denn  wenn  man  die 
Ansicht  vertritt,  daB  bestreikte  Betriebe  in  finanzielle  Schwie- 
rigkeiten  kommen,  miiBte  man  mindestens  auch  die  Ansicht 
vertreten,  daB  unterbezahlte  Arbeiter  in  finanzielle  Schwierig- 
keiten  kommen.   Aber  davon  ist  nicht  die  Rede, 

Pg.  Goethe  von  Walter  Mchring 

„Da  kann  es  auch  nicht  wundernehmen,  daB  im  Mittelpunkt  der 
Gedachtniswochc  die  Vortragsreihe  .Goethe  und  die  Welf  steht.  Im 
Gegenteil,  diese  Tatsache  ist  gradezu  symbolisch  fiir  den  Gesamt- 
charakter  der  Veranstaltungen." 

Mit  Symbolen  wird  in  deutschen  Aufsatzen  und  An- 
sprachen  immer  Unfug  getrieben,  Wofiir  die  Ankiindigung 
einer  Vortragsreihe:  Goethe  und  die  Welt  symbolisch  sein 
soil,  ahnt  kein  Mensch.  Typisch  ist  sie  vielleicht:  man  kann 
nichts  mit  ihr  anfarigen  und  sich  alles  dabei  denken.  Aber 
ein  ,Volkischer  Beobachter1  ahnt  selbst  hier  etwas,  wenn  er 
sich  auch  nichts  denkt, 

285 


„Nichts  als  das  alte  Lied  von  Goethe,  dem  guten  Europaer, 
Logenbruder  und  Huraanitatsapostel,  durlen  wir  also  zu  erwarten 
haben,  Gewifi  kann  man  Goethe  in  diesem  Lichte  zeigen,  Es  ist  nicht 
sonderlich  schwer,  sich  aus  den  rund  150  Banden  der  Sophienausgabe 
das  hierfiir  erforderliche  .Beweismaterial'  zu  beschaffen.  Stellt  man 
auf  die  angedeutete  Weise  Quellenmaterial  zusammen,  so  ist  aller- 
dings  nichts  als  ein  Repetitorium  aller  zeitlich  bedingten,  fur  unsere 
Gegenwart  toten  Goethe-Worte  gewonnen.  Man  hat  dann  so  ziem- 
lich  all  das,  was  verganglich  an  Goethe  ist,  beisammen/' 

Stellte  man  hingegen  Quellenmaterial  auf  Nazi-Weise  zu- 
sammen, so  wiirden  die  rund  150  Bande  auf  einen  Bogen  Pa- 
pier zusammenschmelzen,  mit  dem  Gotzzitat  in  gothischen 
Buchstaben.  Allerdings  wiirden  die  auf  Goethe-Dienst  Ab- 
kommandierten  andrer  Parteilager  keine  groBere  Beute  heim- 
bringen. 

Von  meinem  Vater  habe  ich  eine  Sammlung  Zeitungs- 
kuriosa  geerbt.  Unter  ,,GoetheM  finden  sich:  „Goethe  und  das 
Automobil "  —  „Goethes  Orden  "  —  „Goethe  als  Kaffee-ken- 
ner "  —  „Goethes  Gedichte  ins  Lateinische  iibertragen "  — 
MGoethe  und  der  Weltkrieg/'  Geschrieben  von  lauter  ernst- 
haften  Leuten;   ich  meine:   Professoren. 

Unsauber  ist  diese  Art,  seiner  Bildung  solchen  Ausdruck 
zu  geben,  Wenn  einer  sagt:  Ich  mag  Goethe  nicht!  wenn  er 
sagt;  Ich  habe  nie  eine  Zeile  von  ihm  gelesenf  so  konnen 
nur  eingebildete  Dummkopfe  sich  daniber  lustig  machen.  Die- 
selben  Dummkopfe,  die  mit  einem  Universalgeist  nichts  andres 
anzuiangen  wissen,  als  ihm  die  Orden  nachzupriifen,  die  „Hau- 
figkeit  des  Wortchens:  und  in  seinen  Schriften  einschlieB- 
lich  des  Brief wechsels"  nachzurechnen,,  moralische  Begriin- 
dungen  fiir  den  Heldentod  der  Mitmenschen  daraus  abzuleiten. 
Besonders  in  Deutschland  hat  das  Biirgertum  stets  nicht  nur 
iiber  seine  pekuniaren,  sondern  auch  tiber  seine  geistigen  Ver- 
haltnisse  gelebt,  Dafl  jeder  etwas  Besseres  vorstellen  muB, 
daB  der  Sohn  mal  etwas  Besseres  werden  soil,  daB  man  mal 
bessere  Tage  gesehen  hat,  dieser  Wust  hastig  gewiirgter  Bil- 
dungsbrocken  kommt  nun  als  national-sozialistisches  Gewolle 
wieder  zum  Vorschein.  Der  preuBische  Schulmeister,  der  bei 
Sadowa  gesiegt  hat,  ist  die  Idealgestalt  einer  Nation,  bei  dem 
der  Zivilist  als  Wesen  zweiter  Giite  gilt.  Kommandiert  Herr 
Groener:  Ganzes  Volk  herhoren!  Wehrfreudige  mal  vortre- 
ten»  so  wissen  Alle;  Hohere  Charge  braucht  keine  Bildung, 
um  was  vorzustellen.  Aber  wer  nicht  zu  den  Auserwahlten 
gehort,  geht  tinter  die  sadowaer  Schulmeister.  Beschnitt  der 
Versailler  Schandfrieden  die  Karriere,  dann  stiirmt  man  die 
Horsale,  nicht  aus  Wissensdurst,  sondern  aus  Verzweiflung  und 
Geltungsbediirrnis,  aus  Lebensangst  vor  dem  Abgleiten  '  ins 
Proletariat.  Den  Glauben  hat  man  ihnen  ausgetrieben;  Blut- 
mystik  ist  der  Ersatz,  da  die  Republik  weder  dem  korper- 
lichen  noch  dem  geistigen  Hunger  Nahrung  gab.  Das  leere 
Hirn  knurrt. 

Im  Feld,  bei  den  PreuBen,  hat  es  angefangen.  Der  nicht 
beforderte  Einjahrige  wollte  wenigstens  die  Bildungsschnure 
weitertragen.     Und  deswegen: 

286 


„Nicht  dieserhalb  hat  Goethe  sich  semen  Ruhm  hundert  Jahre 
bewahren  konnen,  nicht  dieserhalb  sind  die  Freiwilligen  von  1914  mit 
dem  Faust  im  Tornister  nach  Langemarck  ausmarschiert,  nicht  die- 
serhalb bewahren  wir  das  Vermachtnis  von  Weimar  fest  im  Herzen," 

Diese  Anekdote  bedarf  einer  Erganzung.  Franzosische 
Pioupious  haben  —  wie  Jllustration'  berichtetc  —  an  der 
Sommc  Pascal  mit  sich  geftihrt.  Die  Hauptlekture  der  engli- 
schen  Tommys  im  Felde  sollen  Byron  und  Shelley  gewesen 
sein,  Ob  die  Japaner  jetzt  mit  Haikai-Dichtungen  in  China 
eingeriickt  sind,  wurde  noch  nicht  gemeldet. 

Das  Bekenntnis  einer  schonen  Seele  aber  ist  das  Wort- 
chen:  Dieserhalb.  Mit  ihm  prasentiert  der  Verfasser  des  zi- 
tierten  Aufsatzes,  obschon  Nazi,  seine  Rechnung,  Was! 
Durfte  Goethe  hundert  Jahre  im  deutschen  Unterricht  sich  als 
Klassiker  behaupten  und  laBt  sich  als  Dank  dafur  jetzt  von 
Pazifisten,  Proleten,  selbst  Juden  feiern? 

Doch  die  noch  im  Faust  lasen  vor  Langemarck  —  waren 
denn  das  Nazis?  Suchten  sie  Wehrfreudigkeit  bei  Goethe? 
Hatten  sie  nicht  besser  im  „Leitfaden  fiir  Infanteristen"  ge- 
blattert   als  in  der  klassischen  Walpurgisnacht? 

Eine  Ahnung  davon  scheint  dem  goetfieaner  Pg,  die  Sprache 
verschlagen  zu  haben.  Denn  iiberraschend  ist  seine  SchluB- 
folgerung,  warum  der  GroBe  seinen  Ruhm  hundert  Jahre  be- 
wahren konnte: 

„Der  Grand  liegt  vielmehr  in  dem  Ewigen,  dem  zeitlos  Le- 
bendigen." 

Lieber  Herr,  der  Sie  mit  S.  signieren!  Mir  ist  nicht  nach 
judischem  Spottf  Glauben  Sies  mirf  Das  ,,Ewige,  das  zeitlos 
Lebendige",  das  sind  wohl  nur  angelesene  Worte,  die  ein  and- 
res  Gefuhl  verdrangen.  Denn  in  Wahrheit  sind  Sie  selbst 
wieder  beim  „alten  Lied  von  Goethe"  angelangt!  Humanitat, 
Weltbiirgertum:  das  ist  ja  grade  sein  zeitlos  Lebendiges.  Und 
Sie,  Herr  S,  —  ich  kenne  Sie  nicht,  doc!}  sage  ich  es  Ihnen 
auf  den  Kopf  zu  — Sie  mochten  so  gern  dabei  verweilen.  Moch- 
ten  sich  ein  Gartenfleckchen  Beschaulichkeit  retten.  Dieser- 
halb hat  Goethe  sich  hundert  Jahre  seinen  Ruhm  bewahrt. 
Dieserhalb  lasen  arme  Muschkoten  noch  ihren  Faust  in  der 
H6lle  von  Langemarck,  Dieserhalb  rcden  Sie  von  Vermachtnis, 
von  Weimar  und  vom  Herzen.  Und  nur  weil  Sie  selbst  spu- 
ren,  daB  es  mit  den  aufgenahten  Bildungstressen  nicht  mehr 
stimmt:  deswegen  emporen  Sie  sich; 

„Auch  an  seinem  100,  Todestage  verlangt  es  uns  naturlicher- 
weise,  ihn  als  nichts  anderes  denn  als  Hxiter  und  Bewahrer  unserer 
Art  anzusehen,  Damit  ist,  um  allem  dummen  Geschwatz  von  vorn- 
herein  die  Spitze  abzubrechen,  nicht  gesagt,  wir  wollten  Goethe  ge- 
wissermaBen  zum  Nationalsozialisten  zurechtbiegen  (was,  nebenbei 
bemerkt,  nicht  allzu  groBe  Muhe  bereiten  wurde). 

Also,  was  da  eingeklammert  steht,  glauben  Sie  ja  selbst 
nicht!  Aber:  Nichts  andres  als  Hiiter  und  Bewahrer  unsrer 
Art!  Ja,  lieber  Mann,  was  verlangen  Sie  denn  noch?  Goethe 
laBt  sich  nun  einmal  nicht  zurechtbiegen.  Und  —  ich  will 
Ihnen  etwas  verraten:  selbst  Marx  nicht.  Man  kann  mit  den 
Worten  beider  trefHich  streiten,  aus  ihren  Worten  ein  System 

287 


bereiten,  Aber  zurechtbiegen  laBt  sich  Gcschricbencs  nicht. 
Die  Dogmatiker  leben  von  den  Widerspriichen  der  Genies. 
Wo  ein  groBer  Vorganger  irrte,  stiirzt  sich  der  Epigone  dar- 
aul;  kann  er  nicht  das  Werk,  so  will  er  sich  wenigstehs  die 
SchluBfolgerung  zurechtbiegen. 

Dana,  geht  es  ihm  so  wie  Ihnen.  Sie  ziehen  liber  Haupt- 
mann  her,  zitieren  ein  Kriegsgedicht  von  ihm,   hohnen: 

„Wie   schon  haben  sie  gestern  in  hurrapatriotischer   Schreibtisch- 
begeisterung  gemacht,   die  Pazifisten  von  heute." 
uhd  berufen  nun   dagegen  den  Nationalgeist   Goethe,   den  be- 
kannten  Ausspruch  in  den  ..Gesprachen": 

„Kriegslieder  schreiben  und  im  Zimmer  sitzen  —  das  ware  meine 
Art  gewesen! ..." 

Ein  paar  Satze  zitieren  Sie.  Aber  den  SchluB  miissen  Sie 
weglassen; 

„Wie  hatte  auch  ich,  dem  nur  Kultur  und  Barbarei  Dinge  von 
Bedeutung  sind,  eine  Nation  hassen  konnen,  die  zti  den  kultivierte- 
sten  der  Erde  gehort  und  der  ich  einen  so  groBen  Teil  meiner  eignen 
Bildung  verdankte!" 

„l)berhaupt"t  fuhr  Goethe  fort,  (1ist  es  mit  dem  NationalhaB  ein 
eigenes  Ding.  Auf  den  untersten  Stufen  der  Kultur  werden  Sie  ihn 
immer  am  starksten  und  heftigsten  finden,  Es  gibt  aber  eine  Stufe, 
wo  er  ganz  verschwindet  und  wo  man  gewissermaBen  tiber  den  Na- 
tionen  steht,  und  man  ein  Gliick  und  ein  Wehe  seines  Nachbarvolkes 
empfindet,  als  ware  es  dem  eigenen  begegnet,  Diese  Kulturstufe  war 
meiner  Natur  gemaB,  und  ich  hatte  mich  darin  lange  befestigt,  ehe 
ich  mein  sechzigstes  Jahr  erreicht  hatte," 

Fur  einen  Nazi  sind  das  tote  Worte.  Es  laBt  sich  denken, 
daB  ein  Kommunist  —  dessen  Terminologie  der  Nationalsozia- 
list  ja  nur  nachafft,  ohne  die  Konsequenzen  zu  ziehen  —  ahn- 
iiche   Urteile   falli 

Goethe  ist  im  Kriege  gewesen  bei  Valmy.  Er  hat  sich 
weit  in  die  Gefahrenzone  vorgetraut  und  mitten  im  Kugel- 
regen  uber  das  Angstphanomen  ebenso  kiihle  Beobachtungen 
angestellt  wie  am  Schreibtisch  uber  die  Revolution, 

Die  Nazis  larmen  gegen  den  Schwindel  des  Goethejahres. 
Ausnahmsweise  bin  ich  mit  ihnen  einig.  Aber  sie  larmen, 
w'cil  sie  den  groBen  Heiden  nicht  allein  feiern,  sejne  Werke 
nicht  requirieren  diirfen.  Goethe  iiberhaupt  zu  feiern,  ist  ein 
Schwindel,  solange  Beschaftigung  mit  geistigen  Werten  ein 
Klassenvorrecht  bleibt,  Es  wird  immer  eine  falsche  Eintei- 
lung  gemacht:  die  Intellektuellen  und  die  Proleten.  Unsinn! 
Geist  und  Ungeist  sitzt  in  alien  Klassen.  Nur:  daB  denkfahige 
Menschen  nicht  vorwartskommen,  weil  sie  Proletarier  sind,  und 
daB  Idioten,  die  sich  ein  paar  Fachausdrucke  eingetrichtert 
haben,  den  Unbelesenen  mit  Hetzzitaten  besoffen  machen 
diirfen,  ihn  mit  medizinischen  und  juristischen  Bildungsbrocken 
wehrlos  machen:  darin  liegt  der  Unfug,  der  MiBbrauch  der 
Schulmeisterei. 


Osaf   und  Professor   honoris   causa:   so   muB  der  deutsche 
Reichsprasident  beschaffen   sein. 

288 


Die  deutschen  Kleinstadter  von  ignaz  wrobei 

Teh  pflege  in  Polemiken  den  Ausdruck  nProvinz"  zu  vermei- 
den;  es  hat  so  einen  Nebenklang,  als  ob  Berlin  der  Nabel 
der  Welt  sei,  und  es  schlieBt  eine  torichte  Verachtung  des 
Eigenlebens  deutscher  Landschaften  ein,  kurz:  es  ist  genau 
so  dumm  wie  das  Geklaff  gegen  Berlin.  Doch  drangt  sich, 
der  Begriff  einem  manchmal  auf,  fassen  wir  ihn  anders,  sa- 
gen  wir:  geistige  Kleins tadt,  enges  Blickfeld,  kleiner  Mann, 
dann  kommen  wir  der  Sache  schon  naher. 

Die  Zeitschrift  ,Pologne  Litteraire'  hat  eine  Rundfrage  ge- 
macht,  ausgehend  von  der  polnischen  Sektion  des  PEN-Khibsf 
Was  unsereiner  von  einem  Literaturpreis  des  Volkerbundes 
dachte.  Ich  habe  geantwortet,  ich  sei  Gegner  jedes  literari- 
schen  Preises.  Andre  haben  anders  geantwortet.  Zwei  will 
ich  herausgreifen, 

„Ich  bin  sicher,  daB  ein  Preis  in  dieser  Hohe  eine  auBer- 
ordentliche  Wirkung  haben  wird,  nicht  der  Summe  allein  hal- 
ber,  sondern  der  Ehre  und  der  Wiirde  wegen,  die  ein  so 
hoher  Preis  in x  Verbindung  mit  einer  menschlich  so  hoch 
stehenden  Institution,  wie  der  Volkerbund  sie  darstellt,  haben 
muB," 

Oberregierungsrat  Potzkuchen?  Registrator  Sengebiel? 
Nein,  das  ist  Schriftsteller  Edschmid.  Der  Fall,  daB  einer  in 
zwanzig  Jahren  literarischer  Arbeit  seine  Muttersprache  nicht 
erlernt,  ist  nicht  haufig. 

Nun  aber  eine  nicht  durchgebackne  Schrippe:  Josef 
Ponten. 

„An  sich  kann  man  naturlich  einen  vom  Volkerbund  zu 
stiftenden  und  bei  ihm  zu  begebenden  Jahresliteraturpreis  be- 
^riiBen/'  Das  deutsche  Worterbuch  von  Sanders  kennt  diese 
merkwiirdige  Anwendung  von  ..begeben11  nicht;  ich  audi  nicht. 
Weiter. 

„Aber  der  Volkerbund  hat  die  Halfte  der  Staaten  und 
Volker  der  Welt  tie!  enttauscht,  ein  starkes  MiBtrauen  hat 
Platz  gegriffen",  —  richtig,  warum?  —  ,,und  daran  ist  die 
franzosische  Fiihrung  schuld.  Die  Volker  sind  in  ihm  in  fran- 
zosischer  Horigkeit.  Wie  fiir  seine  politischen  Taten  so  mochte 
auch  fiir  diese  seine  literarische  die  Gefahr  des  vorbetont  fran- 
zosischen  drohen  —  ich  und  viele  Kollegen  in  aller  Welt  wiir- 
den  das  ablehnen/1 

Frage:  Reisen  diese  Leute  nicht?  Das  ist  doch  tSatz  fur 
Satz   Unsinn. 

Es  ist  nicht  wahr,  dafi  ein  betraclitlicher  Teil  der  auBer- 
deutschen  Welt  gegen  Frankreich  ist.  Die  Welt  ist  auch 
nicht  unbedingt  fiir  Frankreich,  das  braucht  man  gewiB  nicht 
zu  sein —  aber  so  simpel  und  primitiv  sieht  es  doch  nicht  aus- 
Wieder  und  wieder  tauschen  sich  die  deutschen  Kleinstadter 
tiber  die  Unbeiiebtheit  ihres  Erbfeindes  —  wenn  es  nachher 
zum  Klappen  kommt,  sitzen  sie  vor  Staunen  auf  dem  Hintern 
und  sehn  in  den  Mond.  Es  ist  auch  nicht  wahr,  daB  der  Vol- 
kerbund unter  franzosischer  Fuhrung  steht  —  England  durfte 

289 


ja  wohl  auch  noch  da  sein.  Reisen  dicsc  Leute  nicht  — ?  Viei- 
Ieicht.    Abcr  sic  konnen  nicht  kieken. 

Doch  nun  kommt  die  Schncckc  aus  dem  Haus  und  legt 
Zeugnis  davon  ab,  wiewcit  sic  schen  kann. 

„Denken  Sic  sich  zum  Beispicl,  mir,  dem  aus  dem  heuti- 
gen  Zwangsbelgien  stammenden  Romandichter,  gelange  ein 
hpchwertiges  Werk",  —  das  ist  nicht  auszudenken  —  „in  dem 
ich  die  uniiberwindliche  Sehnsucht  der  Mcnschcn  einer  Land- 
schaft,  zu  ihrcm  Volke  zu  gehoren,  ihr  in  den  Sternen  ge- 
schriebenes  Recht  darauf,  hinreiBend  und  preiswiirdig  schil- 
dcrte,  was  ganz  gewiB  eincn  .seelischen  und  geistigen  Fort- 
schritt'  enthicltc,  und  der  Roman  spieltc  in  meiner  Heimat 
Eupen,  glauben  Sic  denn  wirklich,  daB  der  Volkerbund" 
—  Momang,  der  Satz  ist  noch  lange  nicht  zu  Ende  — >-  „daB  der 
Volkerbund,  in  dem  von  der  Fiihrung  heute  noch  an  der  ,Un- 
abanderlichkeit  der  Verb-age*  festgehalten  wird,  ein  solches 
Werk  kronen  wiirde,  auch  wenn  ich  Hamsun  hieBe"  —  heiBt 
du  aber  nicht  —  ltund  sich  das  eingereichte  Werk  zum  nach- 
stcn  inWettbewerb  tretenden  verhielte  wie , . ."  Ach,  Kinder, 
gelin  wir  derwcil  friihstiicken,  bis  der  mit  seinem  Satz  fertig  ist? 

Dcutscher   Kleinstadtcr.     Da  haben   wir   ihn   ganz. 

Man  denke  sich,  Eupen  und  Malmedy  scien  Deutsch- 
land  zugesprochen  worden.  Und  nach  zehn  Jahren  kamc  Bel- 
gien  und  wollte  das  Land  wieder  haben.  Man  stelle  sich 
das  Geschrei  Pontens  vor,  der  dann  sicher  auf  die  Unabander- 
lichikeit  der  Vcrtrage  pochte  —  welch  cin  Logiker! 

A'ber  abgesehn  davon:  ist  das  nicht  jammervoll?  Nicht, 
daB  der  Mann  seine  Heimat  liebt,  das  ist  ja  schon  und  natur- 
lich  —  aber  daB  er  wirklich  glaubt,  es  gebc  auf  der  ganzen 
Welt  nichts  Wichtigeres  als  das  Schicksal  dieser  paar  Dorfer,. 
und  daB  es  bei  so  einem  Werk,  wie  er  es  da  skizziert,  auf 
Eupen  ankame  und  auf  die  bewegende  Frage,  an  wen  diese 
Leute  ihre  Steuern  zu  entrichten  haben,  das  eben  ist:  kleiner 
Mann,  Ja,  ich  weiB.  Knie  nicht  vor  dem  Grenzpfahl,  Pepi 
Ponten  —  der  Grenzpfahl  ist  kein  Gotze.     Du  bctest  Holz  an. 

Man  hat  Hamsun  vorgeworfen,  er  sei  ttprovinziell",  und 
manchmal  ist  er  das  auch.  Er  schildert  Norwegen,  kleine 
Fischerdorfer  —  und  es  geht  uns  alle  an.  Ponten  schildert  in 
zahflussiger,  schlechter  Prosa  Gott  weifl  was,  und  es  geht  uns 
gar   nichts   an. 

Deutsche  Kleinstadter.  Wissen  nicht,  dafl  ihre  Begriffe, 
gute  und  schlechte,  nur  cin  sehr  kleines  kulturelles  Hinterland 
haben,  in  dem  das  Echo  ihrer  Rufe  nur  schwach  widertont; 
ahnen  nicht,  worauf  die  ungchcure  Macht  des  franzosischen 
Gedankens,  ganz  unabhangig  von  jedem  Herrn  Laval,  bcruht; 
horen  nichts;  schmccken  nichts;  sehen  nichts. 

f,Die  Frau  von  dem  Sohn,  wo  Paula  die  Semmeln  holt,  neben  WeyL 
Deren  Schwester  hat  auch  solch  ein  Magengeschwiir  — " 
heiBt  es  einmal  bei  Ringelnatz.     Und  ist  iiberschrieben:  , .Mut- 
ter FriihbeiBens   Tratsch". 

Diese  Frau  sieht  um  eine  Nasenlainge  weiter  als  Josef 
Ponten   und   die   deutschen  Kleinstadter. 

290 


TrfibSinnbilder  von  Ernst  lUllai 

Cs  ist  recht  mulmig  geworden  um  die  biirgerliche  Person- 
"  lichkeit  Ihre  wirtschaftlichen  und  sozialen  Sicherungen 
schrumpfen  mchr  und  mehr  zusammen.  Ihr  Anspruch,  als 
Sinn  und  Ziel  der  Kultur  und  hochstes  Gliick  der  Erdcnkinder 
zu  gelten,  wird  von  dem  Gleichschritt  drganisicrter  Massen  in 
die  Enge  getrieben.  Was  nun?  Gutcr  Rat  ist  teuer,  Gott 
bleibt  unerreichbar,  der  Ruf  nach  ihm  verhallt  in  einerWiiste 
der  UngewiBheit  und  des  starren  Schweigens.  Man  ist  auf  sich 
selbst  gestellt,  und  die  Vereinsamung  des  Einzelnen  wird  immer 
unertraglicher.  Es  gibt  freilich  Notausgange,  die  aus  dieser 
todlichen  Umklammerung  ins  Grenzenlose  miinden.  Irratio- 
nale  Maulwurfsgange  der  Phantasie  gleichsam,  die  zu  den  bio- 
logischen  Urgriinden,  zur  kreattirlichen  Gemeinschaft  mit 
Pflanze  und  Tier  fuhren  oder  zu  den  bildnerisoh  eben  noch 
anzudeutenden  Quellen  des  triebhaft  UnbewuBten.  Diesen  viel- 
leicht  letzten  Notausgang  der  Romantik  haben  die  Expressio- 
nisten  und  Kubisten  aufgespiirt,  ohne  indessen  ans  Ende  des 
dunklen  Schachtes  zu  gelangen.  Die  Eroberung  der  tiefsten 
Mitte  blieb  den  Surrealisten  vorbehalten,  Ihre  Vision  hat  uni- 
versale Weite.  Sie  grabt  sich  in  jene  unterirdischen  Funda- 
mente  einf  auf  denen  das  Leben,  das  satte  wie  das  hungrige, 
ohne  Unterschiede  von  Klassen  aber  auch  von  Personlichkei- 
ten  seine  Wesen  baut.  Eine  Welt  von  neuen  schopferischen 
Spannungen  fur  die  Kunst,  doch  nichts  fur  Burger,  die  das 
Gehause  ihrer  Personlichkeit  auch  heute  noch  luft-  und  was- 
serdicht  abgeschlossen  haben  mochten,  Fiir  sie  ist  auch  der 
Weg  zur  technoiden  Utopie  verbaut.  Auf  den  glatten  Fluren 
und  durch  die  offenen  Raume  der  konstruktivistischen  Phan- 
tasie weht  ein  scharfer  Wind:  nichts  fiir  das  Gemiit,  Bliebe 
der  AnschluB  an  die  Massenfront  rechts  oder  links.  Fiir  bei- 
des  waren  vielleicht  gewisse  Syrapathien  aufzubringen.  Aben 
die  kunstpolitischen  Hindernisse  sind  zu  brutal  Brutal  wie 
diese  ganze  verdammte  Wirklichkeit,  mit  der  im  bosen  Wider- 
streit  a  la  Dix,  George  Grosz  oder  Paul  Kleinschmidt  zu  liegen, 
gegen  den  Wunschtraum  von  Harmonie  und  Geschlossenheit 
verstoBt,  Also  versucht  man  zu  Hause  zu  bleiben,  sich  redlich* 
mehr  schlecht  als  recht,  zu  ernahren  und  eine  Art  geistiger 
Autarkie  der  Personlichkeit  zu  treiben  und  sei  es  auch  nur  im 
Rahmen  eines  idyllischen  Kleinkramreaiismus.  Aber  selbst 
diese  Illusion  bleibt  fadenscheinig,  grade  weil  sie  so  billig 
und  kurzsichtig  ist.  Denn  wohin  man  sich  auch  wenden  mag, 
iiberall  haBliche  Zerrungen  oder  Einschrankungen  oder  Auf- 
Iosungen  der  Personlichkeit  und  ein  unaufhaltsames  Vordrin- 
gen  der  Massenkrafte.  Der  ProzeB  reicht  von  dem  Todes- 
kampf  des  Kleingewerbes  und  Einzelhandels  mit  den  Indu- 
strien  und  Warenhausern  bis  zum  Schicksal  des  Dichters  und 
Kiinstlers,  das  im  Schatten  von  Journalismus  und  Film  steht. 
Der  Blick  triibt  sich,  die  Seele  wird  bewolkt:  der  biirgerliche 
Kiinstler  hiillt  sich  in  Schwermut  und  bittere  Resignation- 
Gute  Zeit  fiir  Melancholiker, 

Lehmbruck,  Hofer   und   Gerhart   Marcks   sind   von  dieser 
Schwermut   gezeichnet     Von  den  Jiingeren  E.   W.  Nay,   Otto 

291 


Coester,  Arnold  Bode,  Joachim  Karsch,  urn  nur  cinigc  Wc- 
sentliche  auf  den  ersten  Hicb  zu  nennen.  Die  Begabungen 
wachsen  an  dem  Ernst  der  Stunde:  einc  gemeinsame  Ausstel- 
lung  dieser  Kiinstler  ware  ein  gewiB  eindrucksvolles  Sinnbild 
der  dunklen  Schicksalskrise.  Fast  schon  ein  Memento  mor'L 
Vor  einiger  Zeit  waren  in  der  Galerie  Neumann-Nierendorf 
Xaver  Fuhr  und  bei  Hartberg  der  Ungar  Aurel  Bernath  zu 
sehen.  Auch  sie  gehoren  zu  diesem  Kapitel  Es  lohnt,  die  bei- 
den  Maler  etwas  naher  zu  betrachten. 

Xaver  Fuhr  mag  malen  was  er  will;  Kaffeehausterrassen 
mit  beschaulichem  Publikum,  Architekturen,  Landschaften, 
Prozessionen  oder  Konfirmanden,  Er  malt  immer  Friedhofe 
und  Tote.  Eine  zerfallende  Welt  kleinbiirgerlichen  Geriimpels, 
in  trostlosen  SchwarzweiBgrau-Stufen,  mit  einem  ausgelaug- 
ten  fahlen  Gelb  dazwischen  und  mit  blau-  und  rosavioletten 
Leichenflecken,  Scharfe  Risse  und  Spriinge  laufen  kreuz  und 
quer:  morderische  Spaltungen  im  Gefiige,  Linien  mitunter  wie 
mit  dem  Rasiermesser  gezogen,  grausame  Schnittwunden,  ein 
wenig  wie  auf  den  fruhern  Zeichnungen  von  George  Grosz, 
Alles  erstarrt,  verschoben  und  aus  den  Fugen  geraten  wie 
ein  Haufen  halbversunkener  Graber  und  Totenkreuze  mit 
Blechkranzen  und  verrosteten  Eisengittern.  Und  so  weit  das 
Auge  reicht,  kein  Entrinnen.  Selbst  die  auBerste  Feme  ist 
mit  der  gleichen  Dichte  und  mit  der  gleichen  kraB-sichtbaren 
Zerfressenheit  ihrer  Wunden  in  das  Bild  versetzt  wie  der  mas- 
sivste  Vordergrund.  Xaver  Fuhr  verschleiert  nichts.  Seine 
Formen  sind  nackt  bis  auf  die  Knochen:  nur  noch  Skelette 
fruhern  Lebens.  Die  Dinge  haben  mit  ihrer  Seele  auch  die 
Atmosphare  verloren,  die  das  Morbide  dunstig  umhiillen,  die 
Leichenschau  ein  wenig  mildern  konnte.  Die  Vision  ist  sprode, 
sogar  hart,  aber  sie  halt  stand,  die  Bildflache  ist  optisch  wider- 
standsfahig,  fest  wie  eine  Mauer  mit  kompliziert  geschichtetem 
Verputz.  Malerisch  sehr  eigeriartig  und  sehr  reizvoll,  ohne 
an  Substanz  zu  verlieren.  Diese  Bilder  enthalten  so  ziemlich 
die  triibsinnigsten  Feststellungen,  die  iiber  den  Zustand  des 
Kleinbiirgertums  moglich  sind,  aber  sie  werden  nicht  empfind- 
sam  und  riihrselig  dabei.  Melancholie  mit  Scharfsicht.  "Eine 
merkwiirdige  und  erregende  Mischung. 

So  schonungslos  Xaver  Fuhr  den  Dingen  auf  den  entseel- 
ten  Leib  riickt,  so  schwarmerisch  und  zerflieBend  bricht  die 
Seele  aus  alien  Poren  der  Bilder  Aurel  Bernaths  hervor,  Sie 
hangt  wie  ein  schwerer  Dunst  im  Raum,  wie  ein  narkotisches 
Farbendampfbad  aus  Traumen,  Meditation  und  Weltschmerz 
gemischt.  Alles  Gegenstandliche  ist  nur  noch  Gewolk,  wehen- 
des  Schleierspiel  oder  Juwelenglanz  kostbarer  Nuancen  von 
ergluhendem  Braunrot,  Goldgelb,  Rosa  und  Smaragdgrun,  von 
leuchtendem  Blau  und  einem  flockigen,  zerstaubten,  auf- 
spriihenden  WeiB.  Auf  dem  Grunde  dieser  ebenso  durch- 
geistigten  wie  luxuriosen  Farbenpracht  ist  ein  gedattnpftes 
Leuchten,  ein  weicher,  geheimnisvoller  Zusammenklang  von 
Treibhausluft  und  schwermutiger  Dammerung.  Die  roman- 
tische  Sehnsucht  nach  Selbstentgrenzung  blickt  mit  muden 
Augen   lassig    distanziert    in   die  Welt.     Aber  diese  Nostalgie 

292 


wahrt  die  btirgerlichen  Vorbehaltc  der  Personlichkeit  und  ihrer 
selbstbewuBten  Representation.  Man  beschwort  das  Feme 
und  Tiefe:  aber  nur  so  weit,  als  es  nicht  gefahrlich  wird.  Man 
fiihlt  Schatten  und  Abgriinde  urn  sich,  wagt  sie  aber  nur  dicht 
verschleiert  anzusehen.  Irratio  —  ja,  aber  nur  mit  Vorsicht, 
nur  als  vage  Stimmung.  Der  Burger,  der  Seelisches  ausschlieB- 
lich  mit  seinen  Idealen  gleichsetzen  mochte,  laBt  die  Seele 
nur  innerhalb  zahmender  Umfriedungen  gelten.  Fiir  das  Wei- 
tere,  Grofiere,  Damonische  vertrostet  er  sich  mit  dem  zwar 
schmerzlichen  aber  komfortablen  Verzicht  und  laBt  es  bei  der 
sanften  Schwermut  bewenden.  Der  Maler  Aurel  Bernath  ist 
eine  representative  Erscheinung  dieser  gepflegten  und  ge- 
hegten  Melancholic  Er  leidet  an  der  Welt,  aber  in 
Schonheit.  Triibsinn  mit  versohnlichem  Strahlenglanz.  Kein 
Wunder,  daB  er  von  den  im  Herzen  noch  immer  im- 
pressionistischen  Prominenten  der  berliner  Kunstkritik, 
Glaser  und  Meier-Graie  voran,  mit  Freude  begriiBt 
wurde.  Vor  sieben,  acht  Jahren,  als  seine  Malerei  noch 
dem  Sturm  angehorte  und  im  Zeichen  des  Kubismus 
und  Expressionisrhus  stand,  war  es  anders.  Heute  treibt 
er  mit  Matisse  und  Kokoschka  auf  mildern  Fluten,  Auch  diese 
Wandlung  ist  bezeichnend  fiir  die  biirgerliche  Juste-milieu- 
Stimmung  der  Kunst,  die  sich  in  wolkiges  Ungefahr  verfluch- 
tet,  um  entschiedenen  Konsequenzen  auszuweichen. 


Zwei  Hauptmann-Abende  von  Alfred  poigar 

Fuhrmann  Henschel 

l^arlheinz   Martins  Inszenierung    dieses   Meister-   und  Muster- 

stiicks  liebevoll  genauer  Lebensschau  und  -Formung  ver- 
flicht  die  Menschenzuge,  die  das  Drama  gibt,  zu  einem  so 
festen  wie  durchsichtigen  Gewebe,  Stimmen,  Stimmungen  des 
Spiels  klingen  in  sauberer  Polyphonie  miteinander,  gegenein- 
ander. 

Jannings  hat  das  auBere  und  inn  ere  MaB  fiir  den  Henschel. 
Die  Figur,  wie  er  sie  meisterlich  gestaltet,  steht  aufgeschlossen 
da,  in  voller  Bltite  ihrer  Einfachheit.  Dieser  Fuhrmann  Emil 
Nat  an  sich  und  der  Welt  groBes  Behagen;  es  sitzt  ihm  als  ver- 
wischtes  Dauerlacheln  um  Mund  und  Augen.  Wenn  auch  ein 
Pferd  umsteht,  die  Frau  stirbt,  das  Geschaft  nicht  vorwarts 
will:  alle  Widrigkeiten  des  Daseins  konnen  ihm  den  Appetit 
an  diesem  nicht  rauben.  Sein  Seelisches  scheint  so  rotbackig 
gesund,  daB  hachher,  wenn  es  erkrankt,  das  sofortige  Schwin- 
den  aller  Kraft-  und  Widerstandsreserven  kaum  glaubhaft  ist. 

Margarethe  Melzer  (Hanne  Schal)  uberschreit  sich.  Aber 
sie  gibt  dem  ,tMadel"  Naturkraft,  ein  Triebhaftes,  Anima- 
lisches,  das  nichts  dafiir  kann.  Leider  auch  eine  Scharfe,  an 
der,  selbst  wenn  alles  in  Ordnung  ginge,  die  Bonhommie  des 
Fuhrmanns  sauer  werden  miiBte. 

Der  redliche  Zuschauer,  die  Eindriicke  kontrollierend,  die 
ihm  „Fuhrmann  Henschel"  neuerdings  vermittelte,  wurde,  wenn 
niemand  es  horte,  sagen: 

293 


,tWic  das  Drama  zeigt,  ist  der  Mensch  in  seinem  dunklen 
Drange  sich  des  rechten  Weges  nicht  bewuBt,  und  selbst  wenn 
er  ihn  geht,  geht  er  doch  dem  Schicksal  in  die  Falle.  Henschel 
hatte  die  Hanne  Schal  nicht  heiraten  sollcn,  es  war  ein  Fehler, 
abcr  wer,'  den  Eros  hetzt,  machte  keinen?  Traurig  also,  mit 
anzusehen,  wie  der  Brave  in  Not  des  Gemuts  und  Verstandes 

Serat,  und  seine  Rechtschaffenheit  an  sich  setber  zweifeln  muB. 
>ennoch  blieb  ich,  Zuschauer,  zuinnerst  unbeteiligt  an  den 
Verstrickungen  und  Fiigungen  des  Stiicks,  und  es  brauchte 
bewuBter  Willensanstrengung,  urn  die  Fiktionen  der  Btihne  so 
schwer  und  wichtig  zu  nehmen,  wie  sie  den  ins  Spiel  Ver- 
wickelten  erscheinen,  Meine  Bewunderung  aber  fur  die  Kunst, 
mit  der  hier  ein  figurenreiches  Lebensbild  panoramisch  auf- 
gerollt  wird,  wurde  durch  das  Bemiihen  der  Darsteller,  iiber- 
zeugend  echt  das  zu  sein,  was  sie  vorzustellen  hatten, 
empfindlich  beeintrachtigt.  Die  exakte  Kieinmalerei  ihres 
Spiels  ging  mir  auf  die  Nerven,  Ich  war  genotigt,  langere 
Zeit  zu  bemerken,  wie  natiirlich  Hanne  Schal  am  Waschtrog 
Wasche  wascht,  es  fesselte  in  qualender  Weise  meine  Auf- 
merksamkeit  und  lenkte  sie  ab  von  Wesentlicherem,  dem  sie 
gebuhrt  hatte.  Ebenso  ging  es  mir  mit  den  Billard  spielenden 
Feuerwehrmannern  in  der  Stube  des  alten  Wermelskirch,  und 
besonders  bitter  war  die  erste  Viertelstunde  des  Abends,  in 
welcher  dauernd  Sturm  heulte  und  Frau  Henschel  auf  ihrem 
Krahkenlager  wimmerte.  Mein  ganzes  Interesse  am  Biihnen- 
Geschehen  war  da  wie  erdnickt  von  dem  Wunsch,  daB  der 
Wind  sich  legen  und  die  Frau  endlich  tot  sein  moge." 

Vor  Sonnenuntergang 

Erstaunlich,  wie  Gerhart  Hauptmann  auch  hier  das  Theater- 
Schach  meistert,  wie  er  seine  vieien  differenzierten  Figuren 
fiihrt,  spannende  Wendungen  in  die  Partie  bringt  und  iiir 
diese,  trotz  vieien  schwacnen  Ziigen,  das  Interesse  des  Zu- 
schauers  rege  halt 

Konig  im  Spiel,  zum  SchluB  totmatt  gesetzt,  ist  der  sieb- 
zigjahrige  Geheimrat  Clausen,  Geschaftsmann,  Zeitungsheraus- 
geber,  Seelen-Aristokrat,  Er  hat  Geld  und  Philosophic,  gute 
rreunde,  treue  Diener  und  zahlreiche  Familie,  die  an  ihm,  in 
jedem  Sinn  des  Wortes,  hangt.  Ein  innen  wie  aufien  hochst 
gepflegter,  frischer  Greis  im  silbernsten  Silberhaar,  der  schon 
denkt  und  schon,  zuweilen  etwas  olig,  redet,  und  dessen  Herz 
noch  sturmischen  Gefiihls  fahig  ist,  Heute  jedenfalls  eine 
seltene  Erscheinung,  solcher  Siebziger;  in  den  achtziger  Jahren 
soil  es  ihrer  viele  gegeben  haben.  Der  Geheimrat  liebt  die 
Kindergartnerin  Inken,  welche,  obschon  ein  Menschenalter 
junger,  ihn  wieder  liebt.  Und  keineswegs  —  das  ist  das  Er- 
freuliche  und  Trostreiche  an  dem  Fall  —  nur  seelisch-geistig. 
Wie  sie  dem  alten  Herrn,  in  der  Stunde  der  Erklarung,  an  den 
Hals  fliegt,  das  ist,  von  Frau  Thimig  mit  aller  Inbrunst  eines 
begliickten  und  begliickenden:  „Ich  bin  Dein!"  durchgeftihrt, 
richtige  Leidenschaft.  Viel  Naheres,  als  daB  sie  lebt  und  liebt, 
erfahren  wir  iiber  Inken  nicht,  Ihr  Alter  schwarikt  in  den 
verschiedenen   Hauptmann-Reinhardtschen   Fassungen;    in    der 

294 


ersten  noch  siebzehn,  zahlt  sie  in  der  scchstcn  schon  dreiBig 
Jahre.  Wie  die  Zeit  vergeht!  Mehr  Objekt  als  hande'lnde  Person 
des  Spiels,  konnte  sie  ihre  Funktion  in  dicsem  ganz 
gut  audi  erfiillen,  ohne  leibhaftig  in  Erscheinung  zu .  tre- 
ten.  Immerhin  lernen  wir  sie  als  tapfere  Frau  kennen,  die, 
fiir  ihres  Herzens  Recht  auch  in  schiefer  Situation  grade 
stehend,  vom  Greis  ihrer  Wahl  nicht  laBt,  Mit  MiBfallen  sieht 
das  die  geheimratliche  Familie,  teils  sittlich,  teils  materiell  be- 
unruhigt,  aber  entschieden  mehr  materiell  als  sittlich,  und  zu- 
raal  die  angeheirateten  Verwandten  sondern  Gift  ab,  Sie  setzen 
Kabale  gegen  Liebe.  Es  kommt  zu  einer  peinlichen,  im  Theater- 
sinn  sehr  starken  Szene,  als  der  Geheimrat  die  Freundin  ins 
Haus  bringt,  an  den  Familientisch,  und  der  Gast  von  den 
Clausenschen  geschnitten  wird.  Der  Alte  denkt  nicht  Kinder 
und  Enkel,  schuttelt  das  Haupt,  und  wirft  kurzerhand  die 
Deszendenz  hinaus.  Im  SchluBakt  trifft  ihn  deren  Rache:  Ent- 
miindigung.  Ein  Schlag,  der,  da  er  einen  zweiten  im  medizi- 
nischen  Sinn  zur  Folge  hat,  den  Geheimrat  totet.  So  wird  die 
Kernfrage  des  Schauspiels  nicht  beantwortet,  sondern  von  der 
Tafel  geloscht.  DaB  sie  iiberhaupt  gestellt  werden  konnte, 
danken  wir  einem  glticklichen  Zufall  der  Person,  denn  anders 
als  an  einem  geistig  so  hoch  geziichteten  und  vor  Allem  so 
reichen  Edelmenschen  wie  dem  Geheimrat  lieBe  sie  sich  kaum 
exemplifizieren.  An  einem  siebzigjahrigen  Schuster  etwa  oder 
an  einem  zwar  gebildeten  aber  geldlosen  Greis  ware  das  Pro- 
blem der  Spat-Liebe  nicht  aufzuzeigen.  Es  wiirde  da  im  Keim 
ersticken,  fande  gar  nie  die  Moglichkeit,  so  iippig  ins  drama- 
tische  Kraut  zu  schieBen,  Zeit  der  Handlung:  Heute.  Es  wird 
von  heutigen  Dingen  geredet,  der  Geheimrat  fragt:  ,,Was  gibt 
es  Neues  in  Genf  T\  kurz,  die  Gegenwart  weint  in  den  Saal. 
Und  also  kommt  der  Zuschauer  nicht  heraus  aus  dem  Neid 
und  Verwundern  uber  den  gesicherten  Lebensraum,  den  der 
Dichter  imaginiert,  iiber  das  feste,  gleichsam  vom  groBenBeben 
ausgesparte  Bodensegmentchen,  auf  dem  das  Spiel  sich  ab- 
spielt.  Es  ist  wie  in  „Dornr6schen",  als  ob  eine,  vor  langem 
mit  all  ihren  Moglichkeiten  und  Gegebe'nheiten  erstarrte  Welt 
nun,  durch  ein  Zauberwort  wieder  geweckt,  so  und  dort  wei- 
terliefe,  wie  und  wo  sie  damals  stehen  geblieben  war. 

Auch  in  diesem  Spatwerk  offenbart  sich  die  Hauptmann- 
sche  Kunst,  Gestalten  zu  formen  und  sie  so  sicher  in  ihr  be- 
sondres  Leben  zu  stellen,  dafi  sie  dieses  unabhangig  von  ihrem 
Schopfer  zu  fiihren  scheinen,  Schone  Rollen.  GroBe  Szenen. 
Es  gibt  in  t,Vor  Sonnenuntergang"  welche  im  kraftigsten  Sar- 
dou-Stil,  die  das  Herz  jedes  Theatermenschen  wenn  auch  nicht 
hoher,  so  doch  rascher  schlagen  lassen.  Und  Dialoge,  deren 
Spannung,  obschon  oder  weil  der  Zuschauer  weiB,  was  kommt, 
die  Lult  knistern  macht.  Wie  raffiniert  etwa  ist  im  Zwie- 
gesprach  Justizrat-Clausen  die  entscheidende  Mitteilung  hin- 
ausgezogert,  mit  wie  sicherem  Griff  wird  da  die  Nervenharfe 
gezupft! 

Reinhardt  gibt  der  Auffuhrung  hochste  Theaterpolitur. 
Alles  ist  abgetont,  geschliffen,  ausschattiert,  nuanziert,  jede 
Figur  hat  ihre  eigne  Welle,  auf  der  sie  von  sich  funkt,  jede 
Szene  ihre  Spitze,  auf  die  sie  kunstvoll-unmerklich  getrieben 

295 


wird.  Ein  Prunksttick  biirgerlichen  Gesellschafts-Theaters  vor 
Sonnenuntergang. 

Es  wird  allseits  auBerordentlich  gespielt.  Kostbar  Maria 
Koppenhofer  als  giftig-hochmiitige  Frau  vom  Stande,  jcdes 
Wort  ein  Tort,  jede  Luftpause  noch  eine  Bosheit.  Dann  Oscar 
Sima,  iiberchargierend,  aber  sehr  witzig,  die.  Vulgaritat  in 
Person,  Eleonore  Mendelssohn,  eine  seelenvoll  verknautschte 
AuBenseiterin  ihres  Geschlechts,  Wiemann,  hilflos  in  die  Rolle 
des  schlechten  Sohnes  hineinstolpernd,  Kathe  Haack,  von  einer 
Farblosigkeit,  die  schon  wieder  besondre  Farbe  ist,  Paul  Otto, 
in  der  Konversation  nobles  altes  Burgtheater,  Winterstein,  die 
verkorperte  Anstandigkeit,  Brausewetter,  absolut  munter  ohne 
Nebengedanken,  Giilstorffs  jttngenhafter  Onkel-Humor,  Der 
Kindergartnerin  gibt  Helene  Thimig  die  notige  Quintessenz  von 
Gefilhl,  ohne  welche  das  Madchen  nach  gar  nichts  schmeckte. 

Werner  KrauB  ist  herrlich.  Den  Siebziger  glaubt  man  ihm 
schwer.  Aber  wenn  auch  die  Last  der  Jahre  eine  Scheinlast 
ist,  mit  welcher  Grazie  tragt  er  sie,  wie  fein  versohnt  sich 
in  seinem  Wesen  der  Alters-Zwiespalt:  Fugung  oder  Wider- 
stand.  Er  gibt  der  Figur  Geist,  Warme,  sein  Schmerzausbruch, 
seine  Emporung  haben  zwingende  Kraft,  und  in  der  Liebes- 
szene  ist  er  von  einer  Zartheit  der  Ekstase,  von  einer  Schuch- 
ternheit,  Empfindung  Wort  werden  zu  lassen,  die  iiber  den 
Text  hinweg  hilft.  behr  schon,  wie  er  durch  uberraschenden 
Wechsel  des  Tonfalls,  kleines  Schweigen,  Wiederaufnahme  des 
Wortes  in  andrer  Klangfarbe  und  derlei,  sicher  zum  Teil  un- 
bewuBte,  Kunstmittel  mehr  eine  zweite,  Heimliches  ver- 
ratende,  Stinime  durchhoren  laBt,  (Manchmal,  wenn  er  Lebens- 
weises  spricht,  wahlt  er  fiir  dieses  einen  pastosen  Kehlton, 
der  nicht  ganz  echt  wirkt:  die  Stimme  legt  dat  wegen  bedeut- 
sam,  Gala  an.)  Die  Szene,  in  der  er  mit  den  Kindern  abrech- 
net,  riihrt,  nicht  wegen  der  Lear-Parallelef  sondern  ganz  vom 
Schauspieler  her,  an  Sheakespeares  Bezirk,  und  wie  er,  ge- 
troften,  fallt  und  stirbt,  das  hat  so  gut  seine  voile  realistische 
wie  seine  voile  kunstlerische  Giiltigkeit.  Hauptmann  laBt  den 
Geheimrat  mit  einem  Glaubensbekenntnis  auf  den  Lippen  hin- 
iibergehen:  einem  Bekenntnis  des  Glaubens  an  ewige  Giite. 
Dies  trotz  aller  erlittenen  Niedertracht  und  Krankungl  (Sozu- 
sagen:  Seht  Kinder,  wie  ein  Giiterich  verscheidet.) 

WiSSenSChaft  von  Lichtenberg 

Ich  habc  den  Weg  zur  Wissenschaft  gemacht  wie  die  Hundc,  die  mit 
■  ihrem,Herrn  spazieren  gehen:  hundertmal  denselben  vorwarts  und 
zurtick,  und  als  ich  ankam,  war  ich  miide. 

Er  wunderte  sich,  dafi  den  Katzen  grade  an  der  Stelle  zwei 
Locher  in  den  Pelz  geschnitten  waren,  wo  sie  Augen  hatten. 

.    Ich  furchte,  unsre  allzu  sorgfaltige  Erziehung  liefert  uns  Zwerg- 
obst. 

Seitdem  man  Wissenschaft  zu  nennen  liebt,  Andrer  torichte  Mei- 
nungen  zu  kennen,  die  man  vielleicht  aus  einer  einzigen  Formel  nach 
den  Regeln  einer  ganz  mechanischen  Erfindungskunst  herleiten  kohnte, 
und  sich  iiberall  durch  Mode,  Gewohnheit,  Aussehen  und  Interesse 
leiten  laBt,  seitdem  ist  dem  Menschen  die  Lebenszeit  zu  kurz  ge- 
raten. 

296 


Autarkol  von  Jobann  Kunkel 

fVe  Geschichte  fangt  bcinahe  so  kitschromantisch  an  wie 
eine  story  unsres  jungst  verblichenen  wciland  Kollegen 
Wallace.  Sic  beginnt  namlich  damit,  daB  dcr  Herr  Reichs- 
finanzminister  Dietrich,  als  er  eines  Abends  spat  nach  Hause 
kam,  in  seine  Manteltasche  griff,  um  sich  das  Expose  des 
Kammerherrn  von  Brandenstein  noch  einmal  in  Ruhe  anzu- 
sehen,    Da  war  es  weg. 

Auch  am  folgenden  Tage  fand  es  sich  nicht  mehr  an. 
Weder  auf  dem  Ministerschreibtisch,  noch  im  Garderoben- 
schrank,  noch  in  dem  reichsfiskalischen  Kraftfahrzeug,  das  dem 
Minister  zu  Dienstzwecken  tiberlassen  ist.  Das  Expose  war 
und  blieb  verschwunden. 

Und  ein  paar  Tage  spater  setzten  dann  auch  die  Indis- 
kretionen  in  der  Presse  ein.  Das  war  doppelt  peinlich,  weil 
diesmal  eine  wirklich  gute  Vorbearbeitung  der  maBgebenden 
Zeitungen  stattgefunden  hatte.  Mit  Bestechungsgeldern  etwa? 
Ei  bewahre!  Das  wird  ganz  anders  gemacht!  Der  Mann,  den 
die  Presse  selbst  ,,Pressechef"  genannt  hat,  diesmal  also  Herr 
Doktor  Jutzi  von  der  Press estelle  der  I.  G,  Farbenindustrie 
Aktiengesellschaft  verfahrt,  wenn  er  ganz  sicher  gehen  will, 
foIgendermaBen:  er  informiert  die  zustandigen  Fachredakteure 
ganz  streng  vertraulich,  am  besten  so  vertraulich,  daB  selbst 
der  Chefredakteur  nicht  eingeweiht  zu  werd'en  braucht,  von 
einer  bevorstehenden  groBen  Aktion.  Und  nun  ist  es  fiir  die 
Herren  Fachredakteure  eine  ganz  grofie  Ehrensache,  das  in 
sie  gesetzte  Vertrauen  nicht  zu  tauschen;  die  prachtigen  jungen 
Manner  schweigen,  egal  loyal,  wie  die  Graber.  (Obrigens  in 
der  Hoffnung,  daB  sie  nachstens  mal  wieder  als  Entgelt  eine 
echte  Original-Information  fiir  ihr  Blatt  als  Primeur  bekom- 
men.)  Diese  Art,  die  Presse  durch  vertrauliche  Informationen 
zu  fesseln,  sie  in  ihrer  Kritik  lahmzulegen  und  sie  mit  der 
Hoffnung  auf  spatere  Originaiberichte  zu  fiittern,  ist  ein  iiber- 
aus  verlaBliches  Mittel  zur  legalen  Pressekorruption. 

Diesmal  hat  es  also  versagt.  Das  Expose  war  verschwun- 
den, und  die  Presse,  natiirlich  wieder  einmal  die  falschen  Re- 
dakteure,  kamen  mit  Indiskretionen  heraus.  ,,Vor  einem  Ben- 
zin-Monopol?"  las  man  in  den  Zeitungen,  und  „Einheitstreib- 
stoff  —  deutsches  Gemisch!"  Was  man  nicht  las,  das  war 
folgendes;  DaB  der  L  G.  Farben,  dem  deutschen  Chemietrust, 
bereits  dank  der  liebenswiirdigen  Vermittlertatigkeit  des 
mecklenburg-schwerinschen  Kammerherrn  von  Brandenstein 
eine  Notverordnung  iiber  den  neuen  Einheitstreibstoff  so  gut 
wie  zugesagt  war.  Die  interessierten  Reichsministerien,  bei 
denen  der  p,  Brandenstein  seine  Visit  en  gemacht  hatte,  waren 
fiir  das  Projekt  auBerordentlich  erwarmt, 

Welche  Ministerien  sind  beteiligt?  Da  ist  also  zunachst 
das  Finanzressort,  mit  Dietrich,  der  das  Brandenstein-Expose 
Ieider  so  griindlich  verlegt  hatte.  Ihn  interessiert  der  Treib- 
stoff  —  Benzin,  Benzol,  und  was  sonst  noch  dazugehort,  der 
Kartoffelsprit,  der  als  Beimischung  verwandt  wird,  nicht  zu 
vergessen —  in  erster  Linie  als  Objekt  der  Besteuerung  und, 
soweit   er  vom  Auslande  hereinkommt,  als  Trager  hoher  und 

297 


regelmaBiger  Zolleinnahmen.  Wciter  ist  der  Trcibstoff  deshalb 
interessant,  wcil  der  im  ObermaB  produzierte  und  sonst  gar 
nicht  absetzbare  Kartoffelsprit  mit  in  die  Autos  hineingegossen 
werden  kann,  und  weil  man  auf  diese  Weise  die  Millionen- 
verluste  des  Reichsspritmonopols,  das  nichts  andres  als  eine 
Subventionssteile  f iir  die  ostelbischen  GroBagrarier  istf  etwas 
verringern  kann,  SchlieBHch  ist  seit  langem  die  Frage  akut', 
ob  nicht  die  hochst  ungerechte  Fahrzeugsteuer  vom  Steuer-PS 
weg  und  ganz  auf  den  Betriebsstoff  hin  gelegt  werden  soil, 
der  freilich  schon  durch  Steuern,  Zolle,  Ausgleichssteuern  fur 
Zolle  und  Kartoffelsubventionen  sehr  hoch  belastet  ist.  DaB 
beim  Ubergang  zu  einem  uberwiegend  aus  teuern  inlandischen 
Treibstoffen  gewonnenen  Einheitsbrennstoff  die  Zolleinnahmen 
groBtenteils  wegf alien  wiirden,  und  daB  auch  das  Spatium  fur 
die  steuerliche  Belastung  eher  geringer  als  jetzt  werden  wiirde 
—  denn  schlieBlich  kann  der  Automobilist  nicht  jeden  belie- 
bigen  Preis  fiir  seinen  Betriebsstoff  zahlen  —  das  hat  wohl 
auch  der  Herr  Finanzminister  eingesehen.  Trotzdem,  und  trotz 
seiner  in  zornigen  Reden  oft  genug  betonten  grundsatzlichen 
Aversion  gegenuber  dem  Abstraktum  der  Trust-  und  Konzern- 
gewalt  ist  er  dem  Einheitstreibstoff-Plan  der  konkreten  I.  G. 
Farben  nicht  eben  unfreundlich  gesonnen.  Nicht  nur  deshalb, 
weil  das  Sorgenkind  des  Branntwein-Monopols  dann  endgtiltig 
geschaukelt  werden  konnte!  Herrn  Dietrich  leiten  hohere 
Ideen.    Er  denkt  in  Kontingenten.    Namlich  wie  folgt: 

Wenn  man  den  iiberwiegenden  Teil  des  deutschen  Treib- 
stoffbedarfs  autark  aus  der  deutschen  Produktion  gewinnt,  aus 
der  Mischung  von  Benzol,  Leuna-Benzin,  Kartoffelsprit  und 
einigen  andern  Ingredienzien,  dann  kann  man  sich  die  Liefe- 
ranten  der  noch  erforderlichen  restlichen  Bedarfsmengen  an 
Erdol,  Benzin  und  Schwerolen  jeweils  ganz  nach  Wunsch  aus- 
suchen.  Man  kann  heute  von  den  Russen  Naphtha  kauf en  und 
damit  die  deutschen  RuBlandkredite  etwas  fliissiger  als  bis- 
her  machen.  Man  kann  morgen  von  den  Amerikanern  kaufen 
und  als  Gegenleistung  von  ihnen  Kredite  verlangen.  Ober- 
morgen  wendet  man  sich  an  die  englisch-niederlandische  Erd- 
ol-Weltmacht  Royal  Dutch-Shell  gegen  Kompensationen  in  Re- 
parationsfragen  oder  in  der  Auf-  und  Abriistungspolitik.  Man 
kann,  kurz  gesagt,  die  Macht  des  Konsumenten  iiber  den  von 
der  Oberproduktion  bedrohten  Produzenten  nach  BeliebeB 
spielen  lassen.  Wahrend  man  bei  der  Schaffung  eines  ge- 
schlossenen  (und  als  Trager  einer  groBen  Auslandsanleihe  zu 
benutzenden)  Einfuhrmonopols  fiir  Benzin  nur  mit  einem  Part- 
ner verbunden  ware,  kann  man  bei  diesem  beweglichen  Sy- 
stem der  Einfuhrlizenzen  den  Partner  beliebig  oft  wechseln. 
Immer  vorausgesetzt,  daB  die  Partner  es  sich  gefallen  lassen. 

Ahnlich  weltumspannende  Oberlegungen  mogen  auch  die 
Brust  des  Herrn  Reichsverkehrsministers  erfullt  haben,  als  er 
von  dem  autarken  Automobilbetriebsstoff  der  L  G,  h6rte. 
Minister  Treviranus  hat  ja  ohnedies  schon  letzthin  fiir  das 
Russen-Naphtha  eifrigst  Keklame  gemacht;  der  Gedanken- 
gang,  daB  die  deutsche  Wirtschaft  dem  hoch  verschuldeten 
russischen  Kunden  etwas  aus  der  Kreide  heraushelfen  miisse, 
liegt  ihm  also  recht  nahe.    Bei  Schiele,  dem  Landwirtschafts- 

298 


minister,  find  en  wir  Interesse  fur  die  verstarkte  Kartoffelsprit- 
Beimischung  zum  Benzin  und  Benzol.  Das  Reichswehrministe- 
rium  ist  selbstverstandlich  fur  jede  Autarkisierung  begeistert, 
also  auch  fiir  das  L  G.  Farben-Autarkol,  wie  wir  das  neue 
Brennol  nun  endgiiltig  taufen  diirfen.  Und  im  Reichswirt- 
schaftsministerium  sitzt  ja  als  Minister  der  friihere  Landwirt- 
schaft-Professor  Warmbold,  der  selbstverstandlich  die  Einfiih- 
rung  des  Autarkols  warmstens  empfiehlt.  Nicht  etwa  deshalb, 
weil  er  friiher  einmal  die  I.  G.  Farbenindustrie  bei  ihrem 
Stickstoffverkauf  tatkraftig  und  wohldotiert  unterstiitzt  hat. 
0  nein!  So  einfach  sind  die  Dinge  nicht.  Sachliche  Griinde 
sprechen  in  seiner  Brust;  Devisenersparnis  bei  der  Einfuhr- 
beschrankung  von  Benzin  —  Moglichkeit  der  Verbilligung  von 
Leunasalpeter  bei  besserer  Ausnutzung  der  Produktionsanlagen 
von  Leuna-Benzin  undsoweiter,  viele,  viele  sachliche  Griinde, 
Der  Ruhrbergbau  ist  freilich  noch  nicht  ganz  zufrieden, 
Er  glaubt,  daB  die  Chancen,  die  ihm  das  I.  G.-Autarkol  fiir  sein 
Benzolgeschaft  geben  will,  viel  zu  klein  sind.  Er  verlangt,  kurz 
gesagt,  eine  hohere  Quote.  Und  solange  diese  noch  nicht  in 
Aussicht  stent,  wird  von  der  Schwerindustrie  mit  aller  Kraft 
quergetrieben.  Aber  auch  nur  solange!  Grundsatzliche  Be- 
denken  gegen  das  deutsche  Gemisch  bestehen  an  der  Ruhr 
nicht.  Man  will  nur  verhindern,  daB  die  I.  G.  mit  ihren  Tra- 
banten  das  Rennen  allein  macht,  Diese  Trabanten  sind,  neben 
den  Spritbaronen,  den  kartoffelbrennenden  GroBagrariern* 
einmal  die  Zellstoff-  und  Papierindustrien,  die  als  Abfallpro- 
dukt  den'  sehr  billigen  Sulhtsprit  erzeugen,  und  weiterhin  die 
deutschen  Waldbesitzer:  Lander,  Kommunen,  GroBgrund- 
besitzer.  Sie  hoffen  auf  die  neuen  technischen  GroBver- 
fahren  der  Methylalkohol-Erzeugung,  das  Bergius-  und  das 
Tornesch-Verfahren,  bei  denen  die  Schwierigkeit  der  ren- 
tablen  Verwertung  von  Holzabfallen  zur  Spriterzeugung  end- 
lich  gelost  sein  soil.  Und  schlieBlich  ist  zu  beriicksichtigen, 
daB  die  I.  G.  Farben)  selbst  nicht  nur  das  aus  Erdol,  Braun- 
kohle  und  Kohlenteer  zu  gewinnende  Leuna-Benzin  ins  Autar- 
kol  hineinmischen  will,  sondern  noch  eine  andre  in  Leuna  er- 
zeugte  Droge:'  das  Methanol  namlich,  das  bei  der  Ammoniak- 
und  der  Benzin-Synthese  nahezu  zwangslaufig  und  in  groBen 
Mengen  abfallt,  das  auch  sehr  billig  ist  aber  fast  gar  nicht 
absetzbar.  Wohin  mit  dem  Dreckzeug?  Ins  Autarkoli  Mogen. 
auch  Droschkenchauffeure  und  Lastkraftwagen-Treiber  uber 
das  morderisch  stinkende  und  giftige  Dreckzeug  schimpfen; 
das  Autarkol  wird  ja  ein  Monopolprodukt  sein,  und  einen  an- 
dern  Treibstoff  gibts  dann  an  keiner  gelben  oder  roten  Pumpe, 
an  keiner  Tankstelle  mehr. 

Das  ist  das  ZieL  Es  wird  sicherlich  erreicht  werden,  so- 
bald  die  Schwerindustrie  mitmacht.  Wenn  sie  das  heute  noch 
nicht  tut,  so  deshalb,  weil  die  ihr  angebotene  Quote  zu  gering 
ist.  Und  weil  sie  der  I.  G.  Farben  nicht  die  Fiihrung  iiber- 
lassen  will.  Bei  einem  Treibstoff,  der,  wenn  es  notig  sein 
sollte,  so  stark  und  so  autark  ist,  daB  er  zugleich  mit  dem  eig- 
nen  Sieg  auch  den  Motor  der  Hindenburg-Wahlen  siegreich 
durchs  Ziel  treiben  konnte. 

299 


ErOS  im  Ddtten  Reich  von  Alice  Ekert-Rothholz 


Wa 


Tas  ist  die  Liebe  der  Zivilisten? 

Ein  Dreck.     Eine  Sache  fur  Mottenkisten, 
Der  neue   Eros  ist   deutscher  Unteroffizier! 
Liebe  wird  Dienstpflicht!  Und  in  den  Freistunden  flieBt  Blut  und  Bier, 


DasReglement 

Die  Liebe  wird  als  starke  Himmels-  und  Polizeimacht  angesehn. 

Die    deutsche   Frau    hat   endlich   wieder   vor   dem  Manne    stramm   zu 

f     stehn, 

Freie   Liebe   (auf   deutsch:    Kulturbolschewismus)    gibt  es   nicht   mehr. 

Die  Polizei  . . ;  die  regelt  den  Verkehr. 

Augen  rechts!    Brust  raus!    Die  Frau  mufi  parieren, 
Wenn   die  Fascisten   durch  Berlin  marschieren. 

Das   Schlafzimmer  ist  kein  Schlafzimmer  sondern  eine  Kaserne. 

Der  Mann  hat  das  Kommando  und  die  Frau  hat  das  gerne , . . 

Reden  verboten!    Weil  sowas  der  Liebe  den  Zauber  raubi 

AuBerdem    sind   Privatgesprache   in   den   Dienststunden   nicht    erlaubt. 
Augen  rechts!    Brust  raus!    Die  Frau  mufl  parieren, 
Wenn   die  Fascisten  durch  Berlin  marschieren. 

Abends     erscheint     der     blankgeputzte     Mond     fiber     der    deutschen 

Kaserne. 

Sterne  marschieren  geschlossen  auL     Abgesehn  vom  Sow  jet-Sterne . , . 

Frei  umherstreifende  Damen  werden  erstmal  erschossen!    Von  wegen! 

Spater   nehraen  sie  in  Diensthaltung  die  Befehle  entgegen . . . 
Augen  rechts!   Brust  raus!    Die  Person  mufl  parieren, 
Wenn   die  Fascisten  durch  Berlin  marschieren, 

Offiziere  haben  Freibilletts   und   erhalten  ein  Sondergliick. 

Man  liebt  streng  wilhelminisch,     Man  lebt  zuriick  . , , 

In  der   Liebe  weht  preuflisch-romantischer  Wind: 

„. . ,  Der  Herr  Major  hat  ein  Glasauge  auf  dich  geworfen,  mein  Kind!" 
Augen  rechts!    Brust  raus!    Ein  Madchen  muB  parieren, 
Wenn   die  Fascisten   durch  Berlin   marschieren, 

Wen  es  trotz  soviel  Liebe  nach  Liebe  geliistet  — 

Der  versteht  immer  noch  nicht:  hier  wird  exerziert  und  aufgeriistet , . . 

Liebe  ist:  taglich  sechs  Drillinge  fabrizieren, 

Und   die  werden  so  rasch  wie  das  Ungliick  marschieren: 

Augen  rechts!    Marsch,  marschl    Die  Frau  muB  produzieren,  ■ 
Damit  mal  die  Fascisten  in  den  Krieg  spazieren, 

Denn  die  Liebe  dient  in  bessern  Diktatur-Staaten 
nicht     etwa    der    Erzeugung    von    Lyrik    oder    unkontrollierter   Lust- 

gefiihle  — 
Sie  dient   der  Herstellung  von   Soldaten. 

300 


Bemerkungen 

Aus  einer  Nummer  des  ,Angriffs< 

r\ie  Biirgerkriegshetzer  Soll- 
*^  mann,  Holtermann  —  das 
gleiche  „Reichsbanner",  dessen 
Blutinstinkte  sich  hier  wieder 
einmal  austobtcn  — . . .  soil  Hin- 
denburg  tatsachlich  in  diesen 
Wahlkampf  ziehen,  auf  den 
Schild  gehoben  von  den j  enigen 
Leuten,  deren  Mordinstrumente 
noch  vom  Blut  nationaler  Man- 
ner gerotet  sind  —  ...  die  Kom- 
munisten,  auf  deren  Hauptkonto 
der  Tod  von  iiber  zweihundert 
elend  gemeuchelten  Nationalsozia- 
listen  und  Stahlhelmer  kommt  — 
polnische  Lummels —  Polacken  — 
verlogene  Gerede  —  Rote  Liigen- 
fahne  —  jiidischen  Bluff  —  jti- 
disches  Verstandigungsgeschaft  — 
als  Jude  weifi  Toller  sich  nattir- 
lich  der  besonderen  Aufmerksam- 
keit  der  Verstandigungsgeschaf- 
tigen  zu  erfreuen  —  Rotmordjun- 
gen  —  von  vertiertem  Untermen- 
schentum  zusammengeschossen 
oder  zusammengestochen  —  roten 
Morder  —    Kommunisten  morden 

—  vom  roten  Gesindel  zusammen- 
geschlagen  —  die  Strolche  —  die 
typischen  Verbrecherfiguren  vom 
Biilowplatz  —  Liigengebilde  von 
Sowjetrufiland  —  Jammer-  und 
Hungerstaat  Sowjetrufiland  — 
einer  der  gemeiristen  Lugenbe- 
richte  —  viehisches  Kommunisten- 
gesindel  —  Bestien  —  ...  dafi 
auch  in  diesem  Fall  wieder  ein 
fiihrender  Sozialdemokrat  sich  als 
Schieber  und  korrupter  Liebling 
seiner  Partei  erwiesen  hat  —  von 
Kommunisten  niedergeknallt  — 
der  Meuchelmord  —  Mordtat  des 
kommunistischen  Verbrechergesin- 
dels  —  kommunistische  Bluttat  — 
die  Schlupfwinkel  der  iibelsten 
Verbrecher,  die  fast  alle  in  der 
KPD  organisiert  sind  und  von 
ihr  bei  Mordiiberfallen  angesetzt 
werden  —  das  kommunistische 
Verbrechergesindel  —  eine  Ver- 
brecherkneipe, in  der  sich  die 
Kommunisten    versammelt    hatten 

—  feiges  Verbrechergesindel  — 
.  , .  sie  wurden  jedoch  von  dem 
ubrigen  Verbrechergesindel  ge- 
deckt,  das  versuchte,  die  Morder 


in  die  Verbrecherkneipe  abzu- 
schieben  —  viehische  Mordtat  — 
kommunistische   Verbrecherkneipe 

—  Reichs  j  ammerlinge  als  Mord- 
banditen  —  Rotmord  —  Horde 
von  Kommunisten  —  Verbrecher- 
gesindel —  die  Mordhetzer  in  den 
Redaktionen  der  kommunistischen 
Presse  —  verbrecherische  Liigen- 
flut  —  Verbrecher  in  den  Re- 
daktionsstuben  —  Liigenbericht  — 
verkommenes     Verbrechergesindel 

—  die  schreibenden  kommunisti- 
schen Verbrecher. 

15.  2.  31 

In  die  Luft  schiefien? 

^andhi  hat  unlangst  in  Paris 
^*  iiber  die  Gewaltlosigkeit  ge- 
sprochen  und  dabei  auch  den 
europaischen  Kriegsgegnern  emp- 
fohlenf  nicht  etwa  das  Tragen 
von  Waffen  zu  verweigern  und 
sich  so  der  Gefahr,  erschossen  zu 
werden,  auszusetzen  sondern 
einfach  in  die  Luft  zu  schiefien. 

Gleichviel,  ob  genau  das  seine 
Worte    gewesen    sind    oder  nicht, 

—  der  Standpunkt  an  sich, 
oft  vertreten,  stent  zur  Dis- 
kussion.  Der  Standpunkt:  Ihr 
yerabscheut  die  Gewalt  und  lehnt 
es  ab,  mitzumorden.  Zwingt  man 
euch  dazu,  so  tut  es  nur  schein- 
bar. 

Dafi  der  Rat,  in  die  Luft  zu 
schiefien,  ohne  jeden  praktischen 
Wert  ist,  liegt  auf  der  Hand.  In- 
mitten  des  To  bens  heifit  es  fast 
immer:  er  oder  ich.  Den  Kame- 
raden  auf  der  andern  Seite  ge- 
flissentlich  verfehlen,  das  be- 
deutet  dann  Selbstmord.  Vor 
allem  scheint  Gandhi  mit  der 
modernen  Kriegstechnik  nicht 
recht  Schritt  gehalten  zu  haben, 
Brandbomben  und  Giftgase  lassen 
sich  nicht  unauffallig  vorbei- 
zielen.  Und  mit  der  ehrehvollen 
Aufgabe,  die  Chemikalien  der 
Massenausrottung  loszulassen, 

wird  man  so  wie  so  nur  die  ganz 
Unverdachtigen  und  solcher  Hel- 
denarbeit  unbedingt  Wurdigen  be- 
trauen, 

Sicherlich  aber  gedachte  Gandhi 
eine  viel  allgemeinere  Anweisung 

301 


fur  das  Verhalten  des  Gewalt- 
verachters  zu  geben,  der  unter 
Bedrohungen  gezwungen  wirdt 
sich  an  Gewalttaten  zu  beteili- 
gen,  Wir  konnen  freilich  in  La- 
gen  kommen,  die  es  moglich 
machen,  uns  dem  Zwange  zu  ent- 
ziehen,  ohne  uns  offen  zu  wider- 
setzen,  Wir  wagen  es  nicht,  mit 
klarem  Bekenntnis  dem  entgegen- 
zutreten,  was  wir  ftir  Wahnwitz 
oder  Verbrechen  halten,  und  be- 
gnugen  uns  notgedrungen,  nicht 
offensichtlich   mitzuwirken. 

Gandhis  Rat  klingt  verftihre- 
risch  genug,  zumal  solchen  Ver- 
achtern  der  Gewalt,  die  in  irriger 
Konseauenz  schon  den  handelnd 
hervortretenden  Widerstand  ab- 
lehnen.  Es  muB  durchaus  nicht 
die  nackte  Angst  sein,  der  dieser 
Ausweg  willkommen  erscheint, 
die  immer  verzeihliche  blinde 
Sucht,  das  Leben  zu  retten,  Son- 
dern  auch  j  ener  iiberzeugungs- 
vollen  Bescheidenheit  wird  er 
recht  seinf  die  sich  nicht  ftir  aus- 
ersehen  und  berufen  halt,  zu  de- 
monstrieren,  Der  Scheu,  beispiel- 
gebend  und  fordernd  sich  einzu- 
setzen,  die  es  dabei  bewenden 
laflt,  das  Verwerfliche  nur  eben 
nicht  mitzumachen,  mufi  gezeigt 
werden,  wie  ihre  Zuriickhaltung 
dem  Wahnsinnstreiben  unmittel- 
bar  Vorschub  leistet.  Denn  es 
ist  eine  verhangnisvolle  Illusion, 
zu  ubersehen,  dafi  auch  das  nur 
scheinbare  Mittun  dazu  beitragt, 
das  ganze  kriegerische  Unterneh- 
men  erst  recht  auf  die  Beine  zu 
bringen  und  ihm  seine  unge- 
hemrate  Wucht  zu  verleihen. 

Vor  allem  aber  wird  Gandhis 
Rat  einer  ganz  bestimmten  Ge- 
wissenshaltung  einleuchten,  die 
geneigt  istr  sich  auf  das  BewuBt- 
sein  zurtickzuziehen:  animam 
meam  salvavi.  Diese  selbstzu- 
friedene  Genugtuung  der  person- 
lichen  Schuldlosigkeit,  diese 
Flucht  aus  der  Mitverantwortung, 
die  sich  seitwarts  in  die  Biische 
siindlosen  Privathandelns  schlagt, 
laBt  der  Gewalt  erst  freies  Spiel, 
Nicht  von  Jedem  kann  die  Kraft 
erwartet  werden,  sich  dem  Unheil 
entgegenzustemmen,  und  sei  es 
mit  einem  kiihnen  Wort  der  Ach- 
tuntf.    Gefahrlicher  als  alles  Ver- 

302 


zagen  aber  ist  ein  moralischer 
Etfoismus,  der  sich  gleichsam  ein 
seelisches  Alibi  besorgt  und  sei* 
nen  Abscheu  durch  die  Berufung 
auf  die  eignen  unbefleckten 
Hande  zu  beschwichtigen  ver- 
steht.  Denn  er  gibt  den  Herois- 
mus  der  Weigerung  nicht  nur 
seinen  Verfolgern  preis,  er  des- 
avouiert  ihn  zugleich, 

Vielleicht  muB  man  in  Si- 
tuatipnen,  wie  sie  Gandhi  voraus- 
setzt,  wirklich  in  die  Luft 
schieBen.  Anweisungen  jedoch, 
die  es  gradezu  als  Methode  und 
grundsatzlichen  Ausweg  aus  Be- 
drangnissen  anempfehlen,  sind 
verhangnisvolle  Freibriefe  asozi- 
aler  Selbstgerechtigkeit,  einer 
Eiteikeit  des  Gewissens,  von  der 
es  nicht  mehr  weit  ist  bis  zu  dem 
Gemutsmenschentum,  das  seelen- 
ruhig  Untaten  inszeniert,  ohne 
sich  selbst  die  Finger  schmutzig 
zu  machen.  Der  Parole,  aus  der 
Gewaltverweigerung  zu  desertie- 
ren,  wollen  wir  zumindest 
den  EntschluB  entgegenstellen, 
unsern  leidenschaftlichen  Ekel 
vor  Waffen  bis  zum  XuBersten 
zu  bekennen. 

Willi  Wolfradt 

Aus  dem  bayrischen 
Potizeikabinett 

J\  uf  einem  Werbeplakat  der 
**  Reichsarbeitsgemeinschaft  frei- 
geistiger  Verbande,  das  in  ganz 
Deutschland  angeschlagen  wart 
stand  unter  anderm  zu  lesem 
„Der  Hebe  Gott  hilft  dir  nicht". 
In  Kaufbeuren,  der  mit  einem 
Irrenhaus  und  einer  flottgehen- 
den  Lebkuchenfabrik  gesegneten 
Stadt  Bayerns,  erhielt  der  Vor- 
sitzende  des  dortigen  Freiden- 
kervereins  auf  eine  Anzeige  der 
Presse  hin  fur  dieses  Plakat  eine 
Gefangnisstrafe  von  einem  Monat. 
* 

Die  Jagd  auf  nachtliches  Frei- 
wild  hat  sich  zu  einer  besonde- 
ren,  zum  System  gewordenen 
Pflichtaufgabe  der  miinchner  Poli- 
zei  ausgewachsen;  nichts  erzeugt 
mehr  Gegenliebe  bei  der  Bayri- 
schen Volkspartei,  als  diese 
ffStraBenreinigungen\  Da  fiustert 
zum  Beispiel  ein  Madchen  einem 
Geheimpolizisten     zu:     nWohin?^ 


Der   Angesprochene    fragt  schein- 

heilig:    „Warum?"     Die  Antwort: 

„Mit  mir"  kostet  ftinf  Tage  Haft 

Wer   ohne  Hin   und    Her   „Komm 

mit"  fliistert,  verwirkt  zehn  Tage, 

und    wird    der   werbende    Anlauf 

gar    iiber    die    StraBe    unternom- 

men,      so     werden     es     vierzehn 

Tarfe.      In     diesem     Stil     wurden 

jiingst   zehn    Falle   hintereinander 

abgehandelt. 

* 

Ein  Fufibad  mit  etwas  Kochsalz 
vermischt  bringt  zwei  Monate  Ge- 
fangnis  —  die  hahnebuchene 
Reichsgerichtsentscheidung  zum 
§  218  ist  in  Miinchen  stehende 
Richtschnur, 

* 

Karl  Valentin  hat  seinen  Gro- 
tesken  einen  neuen  Dreh  gege- 
ben,  er  spielt  einen  ^Firmpaten". 
Hierfiir  wurden  Photos  her- 
gestellt,  die  einen  typischen  Firm- 
ling,  etwa  vom  Stamme  der  Fa- 
milie  Filser,  wiedergaben,  Der 
Erzbischof  von  Miinchen  sah  die 
gottesjammerliche  Blodheit  des 
naturgetreu  reproduzierten  Sprofi- 
lings  als  „gotteslasterlich"  an; 
ein  Wink,  und  die  Polizei  verbot 
den  weitern  Aushang  des  Bildes. 
* 

Granowskys  ((Lied  vom  Leben", 
das  mit  47  Ausschnitten  versehen 
endlich  von  der  Oberpriifstelle 
freigegeben  wurde,  wurde  in 
Miinchen  neuerdings  verboten: 
die  Darstellung  der  Schmerzen 
bei  der  Geburt  eines  Menschen, 
noch  dazu  in  einer  Gebaranstalt, 
konnte  der  Austibung  ehelicher 
Pflichten  abtraglich  sein. 

Julian   Marcuse 


„—  aber  etwas  fehlt  — " 
A  usstellung  MKampf  dem  Krebs" 
**im  Europahaus. 

Sehr  viel  eindrucksvolle  Stati- 
stik  iiber  die  erschreckende  Zu- 
nahme  der  Krankheit,  ein  paar 
recht  gute  Photomontagen  iiber 
die  gigantische  Zahl  der  Todes- 
falle  und  viele  schlecht  gezeich- 
nete,  unkiinstlerische  Plakate. 

Dies  besonders  fallt  un- 
angenehm  auf,  weil  es  nicht  nur 
schlecht,  sondern  eindruckslos  ist, 
wie  zum  Beispiel  das  Bild  der 
Patientin,  die  zusammengebrochen 
auf  ihrem  Stuhl  hockt,  weil  der 
Arzt  ihr  gesagt  hat:  Hebe  Frau( 
Sie  haben  Krebs  (was  kein  Arzt 
je  tun  wurde!),  Unterschrift: 
„Warum  sind  Sie  nicht  friiher  ge- 
kommen?" 

Ja  —  warum? 

Zunachst  einmal  geht  kein 
Mensch  gern  zum  Arzt,  j  eder 
wartet  lieber,  ob  es  nicht  doch 
von  selbst  vergeht,  denn  —  und 
dies  ist  die  Frage  —  auBer 
der  VogelstrauBmethode,  die  je- 
der  gern  mit  sich  selbst  treibt, 
wenn  er  Wahrheit  fiirchtet  — 
auBer  dieser  Methode  spielt  Ver- 
trauensmangel  neben  Geldmangel 
die   Hauptrolle, 

Zu  welchem  Arzt,  in  welches 
Krankenhaus  —  alle  sind  im 
Grunde  genommen  dieselben. 
Denn  der  Kranke  sieht  im  Arzt, 
und  nicht  mit  Unrecht,  ein  gleich- 
giiltiges,  weiBbemanteltes  Wesen, 
das  klopft,  herumhorcht,  Rezepte 
schreibt  und  „der  Nachste,  bitte" 
sagt.  Der  Kranke  hort  und  liest 
von  Mifigriffen,  der  gleichgiiltige 
Arzt  vertieft   das  MiBtrauen.  Der 


Wenn  Sie  Geld  zahlen, 

passen  Sie  gewiB  auf  jedes  Stuck  und  seine  Priigung,  jeden  Schein  und 
seine  Echtheitszeichen  auf!  Geuau  so  mussen  Sie  alle  Worte  und  Satze 
bewufitprufen,  wennSie  in denBesitz  der Werte  gelangen  wollen,  dielhnen  die 

B6  Yin  Rd-Bucher 

zu  geben  haben. 

Bo  Tin  R^  J*  Schneiderfranken  ist  ein  moderner  Mensch,  dem  die  altesten 
Zeiten  ihre  Weisheit  erschlossen  haben.  Er  zeigt  Ihnen,  wie  Sie  die  macht- 
vollen  Krafte  Ihrer  Seele  Ihrem  heutigen  Dasein  nutzbar  machen  kbnnen, 
und  noch  vieles  mehr.  Orientieren  Sie  sich  durch  die  Flugschrift  von 
Dr.  jur.  Alfred  Kober-Staehelin,  die  Sie  kostenfrei  verlangen  wollen. 
Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 

303 


Kranke    weiB,    daB    in    Kranken-       Teil      des    Wesens      seines      Ob- 


hausern  experimented;  wird,  und 
wenn  es  schief  geht,  ist  niemand 
dran  schuld.  Genau  wie  im  Lii- 
beckprozeft,  wo  die  Arzte  sagten, 
die  Bazillen  sind  schuld,  nicht 
wir.  (Wenn  Bazillen  sprechen 
konnten,  hatten  sie  gerufen:  die 
Arzte  sind  schuld!)  Die  Behand- 
lung  am  laufenden  Band,  die  Art 
der  Abfertigung,  blutjunge,  einge- 
bildete  Arzte  in  Krankenhausern 
auf  Wehrlose  loszulassen,  —  das 
wird  sehr  viele,  die  mit  Entsetzen 
die  Praparate  der  Krebsausstel- 
lung  sahen,  verhindern,  zura  Arzt 
zu  gehen,  selbst  wenn  sie  die  dort 
aufgezeigten  Symptome  an  sich 
bemerkt  haben  sollten. 

Diese  Ausstellung  ist  geschickt 
und  lehrreich  —  aber  etwas 
fehlt;  der  deutliche  Hinweis  dar- 
auf,  wohin  sich  ein  geangstigter 
Mensch  wenden  soil,  urn  gewissen- 
haft,  kostenlos  und  vor  allem 
etwas  menschenwurdig  untersucht 
zu  werden. 

Denn  nur  die  wenigsten  wis- 
sen,  daB  es  in  der  Charite  eine 
Spezialabteilung  gibt.  Aber  eine 
Ausstellung,  die  sokhen  Zwecken 
dient,  muB  eben  deutlich  genug 
darauf  hinweisen,  wo  die  zustan- 
dige   Stelle   ist. 

Doch  erst,  wenn  der  Mensch 
sich  nicht  mehr  als  anatomische 
Sache  fiihlt,  die  am  laufenden 
Band  abgefertigt  wird,  werden 
solche  Ausstellungen  den  Wider- 
hall  finden,  den  ein  Kampf  gegen 
den    Krebs    erfordert, 

Elisabeth   von   Castonier 

Zwischen  den 'Fronten 

I_Tans  Natonek  ,,Gelu  regiefi  die 
1  *  Welt"  oder  „Die  Abenteuer 
des  Gewissens"  (Paul  Zsolnay, 
Wien-Berlin).  Das  Ich  des  Erzah- 
lers  —  scheinbar  nur  skepti- 
scher     Beobachter,     in     Wahrheit 

m 


jekts  —  .  wandert  mit  durch 
die  Geschehnisse  und  notiert 
sie,  notiert  sie  aber  nicht  nur 
gctreu  wie  ein  Chronist  sondern 
deutet  sie  aus  und  um.  Es  ent- 
steht  so  eine  Fiille  von  Psycho- 
logismen,  die  zuweilen  fast  das 
Band  der  Ereignisse  zerreiBen. 

Adalbert  Weichhardt  ist  durch 
„ZufaH"  GroBaktionar  des  Che- 
mie-Blocks  geworden,  Er  versucht 
vergeblich,  sich  in  das  neue  Milieu 
einzuleben.  Mit  der  Pinzette  des 
Seelenarztes  tastet  der  Autor  in 
die  feinsten  Spalten  der  Weich- 
hardtschen  Widerspriiche,  macht 
den  standigen  Kampf  um  die 
Entscheidung  plastisch,  das  Hin 
und  Her  zwischen  Ruhe  und  Auf- 
gestortheit.  Der  AnpassungsprozeB 
muB  miBlingen,  da  Weichhardt 
von  der  Art  Juden  ist,  „die  am 
Kapital  leidet,  nicht  von  jener,  die 
es  mehrt,  liebt  und  seiner  Macht 
sich  freut".  Er  sucht  Erlosung 
durch  die  Tat-  Solange  aber  die- 
ser  Drang  chaotisch  und  wirkungs- 
los  ist,  bleibt  alle  „Tat"  sinnlos. 

So  wirft  Weichhardt  zum  Beispiel 
in  einem  deutschen  Hotel  Sudtirols 
eine  Chiantiflasche  gegen  das 
Duce-Bild  und  ist  hinterher  ent- 
setzt,  als  ihm  darob  Huldigungen 
durch  die  deutsche  nationa- 
listische  Presse  dargebracht 
werden;  er  holt  seinen  Vetter 
Victor  aus  einem  Keller,  wo  dieser 
sein  Leben  zwischen  Kisten  voll 
Waff  en  verbringt,  um  ihn  nur 
noch  tiefer  in  den  Sumpf  einer 
Zeitungsredaktion  zu  versenken 
und  um  gleichzeitig  einen  kom- 
munistischen  Arbeiter  wegen  der 
waiienxunuB  ins  /juciiiiia.ui»  Zu 
bringen;  er  befreit  einen  tschechi- 
schen  Dienstverweigerer  aus  dem 
Gefangnis,  um  diesen  ahnungs- 
losen  Christenmenschen  zwischen 
groBstadtischen    Kaffeehausschrei- 


!IIIIIIEI!llllllll![IEIIIIIIII[ll!li!!llllllllllllllllllll!IIIEHIIIIEIIIIIN^ 

FRIEDEN  UND  FRIEDENSLEUTE 

Genfereien  v.  Walther  Rode.     Schutzumschi.  v.  GULBRANSSON 

Das  Elend  kommt  von  der  tragischen  BefMssenheit,  den  Bock  der  Zelten  zu  melken,  ob 
er  Milch  geben  kann  oder  nicht.   Niemand  weiS,  wohin  die  Mensch- 
helt  steuert,  ob  sie  leben  oder  sterben  will;  gewlB  ist  nur,  daB  sie 
das  nicht  will,  was  Ihr  die  Oberlehrer  der  GIDckseligkeitzudenken. 

TRANSMARE  VERCAG  A,-G.f  BERLIN  W  10 

304 


Kartoniert 

3.— RM 


bern  so  zerbrechen  zu  lassen,  daG 
er  in  seine  Heimat  zuriickkehrt, 
dort  Soldaten  zum  Ungehorsam 
aufreizt  und  erschossen  wird;  er 
gibt  dem  Literaten  Baron  fur  sein 
(Tribunal*  Geld,  mit  dem  Erfolge, 
daft  dieser  sich  an  Bergfeld,  den 
Beherrscher  des  Chemieblocks, 
verkauft ;  und  als  Weichhardt 
endlich  doch  mit  einem  Gewaltakt 
seinen  Machtanteil  aus  dem  ka- 
pitalistischen  Block  lossprengt, 
um  Geld  und  Leben  den 
Ideen  des  Professors  Kelsen  zu 
opfern,  geht  dieser  Kelsen  daran 
zugrunde  —  die  Geldmacht  er- 
fahrt  an  dem  Bruch  Weichhardts 
mit  seiner  Klasse  die  Gefahrlich- 
keit  der  Kelsenschen  Lehren  und 
laBt  den  Storer  ihrer  sogenannten 

Ordnung    „erledigen":    unter 

Adalberts  Handen  wurde  alles 
Mifierfolg  und  Sinnbild."  Doch  er 
weifi  jetzt,  wo  er  hingehort:  HDie 
Macht  ging  uber  zum  Geist,  um 
ihm  zu  dienen,  wodurch  allein 
ihre  Existenz  gerechtfertigt 
wurde".  Er  braucht  nicht  mehr 
am  Kapital  zu  leiden. 

Das  alles  schildert  Natonek  mit 
einer  fast  leidenschaftslosen 
Niichternheit  Zuweilen  gerat  er 
bei  seinen  Deutungsversuchen,  bei 
den  vielen  Diskussionen  um 
Geistiges  und  Seelisches  in  eine 
unfruchtbare  Spintisiererei;  man- 
cher  Versuch,  Klarheit  zu  schaf- 
fen,  endet  so  im  Dickicht.  In  der 
Fahigkeit,  die  „Abenteuer  des  Ge- 
wissens"  darzustellen,  liegt  die 
Starke  des  Buches,  daneben  wir- 
ken  die  Stellen,  wo  das  Geistige 
in  den  Hintergrund  tritt,  fast  fa- 
denscheinig  diinn,  trotz  dem  grofien 
Wortreichtum. 


Natonek  hat  in  der  Figur  des 
Professors  Kelsen  dem  Philo- 
sophen  Leonhard  Nelson  ein 
Denkmal  setzen  wollen,  und  es 
kann  gesagt  werden,  dafi  es  ihm 
gelungen  ist,  mit  ganz  wenigen 
Strichen  den  Gedankenkomplex 
dieses  Lehrgebaudes  nachzuzeich- 
nen.  Man  spiirt  die  klare  Luft 
um  Nelson  und  seine  Schuler, 
man  erlebt,  wie  hier  nach  einem 
ganz  neuen,  und  dabei  doch  so 
alten  Prinzip  Menschen  erzogen 
werden,  um  die  schwere  Arbeit 
der  Weltanderung  auf  sich  zu 
nehmen.  Natonek  darf  das  Ver- 
dienst  fur  sich  in  Anspruch 
nehmen,  der  Welt  aufierhalb  der 
sachlich  interessierten  Kreise 
eine  Ahnung  von  dem  groBen 
Werk  des  vor  mehr  als  vier  Jah- 
ren  verstorbenen  Menschen- 
erziehers  vermittelt  zu  haben. 
Walther  Karsch 

Die  Gesch&ftsordnutig 

Cine  Frau  gerat  in  eine  Ver- 
"  sammlung  von  Mannern  und 
erlebt    folgendes; 

„Ich  erbitte  das  Wort  zur  Ge- 
schaftsordnung/' 

Der  Vorsitzende:  (lSie  konnen 
jetzt  nicht  zur  Geschaftsordnung 
sprechen/' 

Ein  Dicker:  „Nach  Absatz  3 
des  §  2  unsrer  Statuten . . ." 

Ein  Andrer:  „Aber  unmoglich, 
wir  haben  doch  das  letzte 
mal . . ," 

„Ich  stehe  vollig  auf  dem 
Standpunkt,  dafi  Herr  Doktor 
Miillhoff  zur  Geschaftsordnung 
sprechen  darf/' 


der  neueste  sammelband  von  kurt 

TUCHOLSKY  •  PETER  PANTER  •  THEOBALD 
TIGER  •  IGNAZ  WROBEL  •  KASPAR  HAUSER 

Lerne  ladien  ohne  zu  weinen 


15.  TAUSEND  •  NEUE  VERBILLIGTE  PREISE 
KARTONIERT  4.80  •  LE1NENBAND  6.50 

ROWOHLT   VERLAG   BERLIN  W  50 

305 


Ein  Dicker:  ,,Nach  Absatz  3 
des  §  2  unsrer  Statuten." 

Ein  Andrer;  „UnmogHch,  die 
Statuten . . ." 

Vorsitzender:  ttEinen  Moment 
Ruhe.  Wir  haben  nur  das  Recht 
abzustimmen.  Wir  haben  nicht 
das  Recht,  iiber  die  Geschaftsord- 
nung zu  debattieren," 

„Zur  Geschaftsordnung,"  „Zur 
Geschaftsordnung." 

Vorsitzender:  ,(Wir  mtissen 
dann  abstimmen,  ob  zur  Ge- 
schaftsordnung gesprochen  werden 
darf  oder  nicht. 

Ein  Dicker:  f)Ich  bitte  zu  be- 
denken,  daB  nach  Absatz  2  des 
§  3  unsrer  Statuten  . , ." 

Ein  Andrer:  f,Unmdglich,  die 
Statuten  0." 

Ein  Weitrer:  „Es  ist  statuten- 
widrig." 

(tEs  ist  nicht  statutenwidrig." 

„Es  ist  doch  statutenwidrig." 

„Sie  wollen  mich  am  Reden 
hindern," 

tfAber  seien  Sie  doch  nicht  so 
aufgeregt." 

„Ich  bitte,  mir  das  Wort  zu  er- 
teilen." 

„Sie  konnert  nicht  zur  Ge- 
schaftsordnung reden."     ' 

Klingel  des  Vorsitzenden: 
„Ruhe,  meine  Herren.  Wollen 
wir  doch  daruber  abstimmen,  ob 
zur  Geschaftsordnung  gesprochen 
werden  darf  oder  nicht!" 

Ein  Dicker:  „Laut  Absatz  5  des 
§  1  darf  nicht  daruber  abgestimmt 
werden.  Wir  miissen  iiber  den 
Antrag  abstimmen,  aber  kernes - 
wegs  darf  iiber  die  Geschaftsord- 
nung abgestimmt  werden.  Das 
liefe  auf  eine  Statutenanderung 
hinaus.  Dafiir  ist  aber  nur  die 
ordentliche  Hauptversammlung 
zustandig." 

,,Vollstandig  richtig,  Uber  Sta- 
tutenanderungen  kann  nur  die 
Hauptversammlung  beraten." 

„Hier  steht  aber  in  Absatz  1 
§  5:  „Gegenstande,  die  nicht  auf 
der  Tagesordnung  stehen,  konnen, 
soweit  sie  zum  Aufgabenkreis  der 
Mitgliederversammlung  gehoren, 
beraten  werden,  wenn  die  Mehr- 
heit    sich    dafiir  ausspricht." 

Der  Vorsitzende  unwillig: 
„Aber  was  hat  denn  das  mit 
unsrer  Frage  zu  tun,  ob  zur  Ge- 
306 


schaftsordnung  gesprochen  wer- 
den darf  oder  nicht?  Da  iiber 
Statutenanderungen  nur  die 
Hauptversammlung  beraten  darf." 

Die  Frau,  sehr  schuchtern;  „Es 
sind  doch  aber  alle  da,  die  in  der 
Hauptversammlung  auch  da  sind." 

Der  Dicke,  unwillig:  „Wir  sind 
doch    keine    Hauptversammlung." 

Der  Vorsitzende:  „Die  Einbe- 
rufung  der  Hauptversammlung  er- 
folgt  dreiflig  Tage  vor  dem  Ter- 
min  der  Hauptversammlung  unter 
Angabe  von  Zeit  und  Ort." 

Vorsitzender:  „AuBerdem  sind 
wir  nicht  beschluBfahig.  In  der 
Hauptversammlung  mtissen  min- 
destens  ein  Drittel  der  MitgHeder 
anwesend  sein." 

„Nein,  Zweidrittelmehrheit  ist 
zur  Statutenanderung  erforder- 
lich." 

„Ich  behaupte  aber,  daB  ich  zur 
Geschaftsordnung  sprechen  darf, 
ohne  j  ede  Anderung  der  Sta- 
tuten." 

„Es  darf  nur  abgestimmt  wer- 
den." 

MDie  Frage  der  Geschaftsord- 
nung ..." 

„Ich   bitte,  schweigen   Sie." 

Geschrei:  „Ruhe",  „Abstim- 
mung",  ..Geschaftsordnung",  „Ab- 
stimmung". 

Klingel  des  Vorsitzenden, 

Die     Frau    versteht    uberhaupt 
nichts  mehr.        Gabriele  Tergit 
Der  Osaf 

In  dem  „Schrittmacher"-Sohn 
*  „Zorn"  aus  der  Zucht  von  Sa- 
barth-Riemendorf,  Kr,  Lowenberg, 
steckt  ebenfalls  viel  Musik.  Der 
imponierende  Eindruck,  den  so- 
wohl  sein  markanter  Typ  wie 
seine  formvollendete  Figur  er- 
weckten,  ist  in  der  Hauptsache 
auf  ein  fabelhaft  schmissiges  Pro- 
fit mit  einer  durch  nichts  gestor- 
ten  Linie  zuruckzufuhren, 

Tierzuchtinspektor  Pieritz 

iiber   eine   Bullenauktion 

,Schlesische  Zeitung',  14.  2.  32 

Nachgeburt 

T^enn  nirgends  ist  der  Humor 
~  der  zweiten  Menschwerdung, 
die  Rekrutenzeit  der  Vorkriegs- 
jahre  so  trefflich  und  amusant 
gezeigt    worden. 

Ufa-Inserat 


Erregte  Szene 
p\  er   Vater:    „Sie!     Ich    verbitte 
***    mir      Ihr     Benehmen      gegen 
Agathe.  Wer  sind  Sie  tiberhaupt? 
Wie  ist  Ihr  Name?" 

„Egon  Faschken." 

„Ich  verstehe  nicht^  Wie  heiBen 
Sie?" 

1tFaschken.    Ich  buchstabiere: 

F  —  wie  Flitscherl, 

A  —  wie  Aas, 

Sch  —  wie  Schneppe, 

K  —  wie  Kanaille, 

E  —  wie  Ekel  —  und 

N  —  wie  Ihr  Fraulein  Tochter." 
Roda  Roda 


Frau  Winifred  Wagner 

J  a,  sie  hats  nicht  leicht,  die  giite  Dame, 
In  ihr  kampfen  hcftig  Licb  und  Pflicht: 
Eioerseits  benotigt  sie  Reklame, 
Andrerseits  may  sie  die  Juden  nicht 

AUzu  heftge  nationale  Neigung 
Macht  bei  alien  Abonnenten  Stunk. 
Zur  Vermeidung  schadlichrr  Verzweigung 
Widerrief  sie  kurzerhand  im  Funk. 

Zwar  ihr  Hausgast  war  sehr  oft  Herr  Hitler 
Und  sie  trug  recht  lang  das  Hakenkreuz. 
Jetzt  verriets  e:n  demokratscher  Kritler 
Und  die  Huterin  des  Grals  bereuts. 

Gott,  das  war  schon  so  beim  Schwiegervater, 
Das  ist  angelernt  und  eingeimpft: 
Erst  sind  Juden  Heifer  und  Berater, 
Hinterher  wird  feste  drauf  geschimpft. 


Karl  Schnog 


Liebe  Wettbflhnet 

Uerr  Geheimrat  X,  ist  geschafts- 

^  fiihrendes  Vorstandsmitglied 
eines  groBen  Wirtschaftsverbandes, 
Herr  Geheimrat  legt  Wert  darauf, 
daB  er  auch  als  solcher  angeredet 
wird.  Er  erhalt  taglich  sehr  viel 
Post,  die  zum  Teil  auch  an  ihn 
direkt  und  nicht  nur  an  den  von 
ihm  geleiteten  Verband  gerichtet 
ist.  Neulich  ist  es  nun  einem  un- 
gliicklichen  Brief  schreiber  pas- 
siert,  dafi  er  seine  Mitteilung 
nicht  mit  der  Anrede  „Sehr  ge- 
ehrter  Herr  Geheimrat"  versah, 
sondern  den  Empfanger  nur  mit 
i,Sehr  geehrter  Herr  X."  begriifite. 

Was  tut  der  Herr  Geheimrat? 
Den  Brief  zuruckschicken  kann  er 
nicht  gut,  da  er  ausnahmsweise 
ein  Interesse  daran  hat,  den  Ab- 
sender  nicht  vor  den  Kopf  zu 
stoBen.  Andrerseits  ware  es  doch 
unertraglich,  wenn  die  Verbands- 
akten  einen  Brief  mit  der  Anrede 
„Sehr  geehrter  Herr  X."  enthiel- 
ten,  Also  muB  ein  Ausweg  ge- 
sucht  werden.  Herr  Geheimrat 
laflt  seine  Sekretarin  kommen  und 
tragt  ihr  auff  den  fehlenden  Titel 
in  der  Anrede  des  ungluckseligen 
Briefes  mit  Schreibraaschine  nach-  « 
zutragen.  Damit  ist  der  Schaden 
wieder  kuriert. 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Deutsche  Liga  fur  Menschenrechte.    Montag  20.30.    Herrenhaus,    Leipziger  Str.  3:  Ver- 

brechen  und  Strafe  in  Amerika,  Emma  Goldmann. 
Die  Lupe.     Donnerstag   20  30.     Klubhaus    am   Knie,    Berliner  Str.  27:    Neue  Wege    der 

Rundfunkmusik,  Walter  Gronostay. 

BQcher 

Max  Beer:  Die  Reise  nach  Genf.    S.  Fischer,  Berlin. 

Friedrich  Wendel:  Der  Gendarm  von  Hildburghausen.  (Ein  nation al-sympathisches 
Traktatchen.)    I.  H.  W.  Dietz  Nacbfolger,  Berlin. 

Rundfunk 

Di  en  stag.  Berlin  15.20:  Die  Frau  als  Arbeitgeber,  Gertrud  Sternberg-Isolani.  —  Kftnigs- 
berg  18-50:  Erich  Ebermayer  Heat.  —  Konigswusterhausen  20.15:  Nationalsoztalismus 
und  Eigentumsbegriff,  Gottfried  Feder,  —  Berlin  20.45:  Zum  Tode  Heinz  Lipmanns, 
Leopold  Jeflner.  —  Anschlieflend:  Sophokles'  Antigone  in  der  Bearbeitung  von 
Heinz  Lipmann.  —  Leipzig  20  45:  Drei  junge  Menschen  unterhalten  sich  tiber  Bttcher 
von  Ebermayer,  Kastner,  Lindsey,  Klaus  Mann,  TieB,  Joe  Lederer.  —  Freitag. 
K6nigGberg  19.20:  Das  Abenteuer  im  Roman,  Ernst  W.  FreiBler.  —  Sonnabend. 
Breslau  17.40:  Die  Situation  des  Geistes,  Bernard  Guillemin, 

307 


Antworten 


Vossische  Zeitung.  Ihr  bringt  diese  herrliche  Berichtigung:  „In 
unserm  Kabel  aus  Schanghai  iibcr  die  Kampfe  am  Wangpu-FluB  hat 
sich  durch  Verstiimmelung  des  englischen  Textes  ein  sinnentstellender 
Fehler  ergeben.  Die  Japaner  wurden  nicht  ,whipped  out*  (heraus- 
gepeitscht)  sondern  .wiped  out*  (herausgeworfen).  Wit  betonen  den 
Zusammenhang,  weil  die  falsche  Lesart  die  japanische  Waffenehre 
empfindlich  treffen  miifite,"  Der  Leser  fragt  erstaunt,  was  vorgefallen 
ist.  Ein  solcher  Irrtum  kann  vorkommen,  man  kann  ihn  einfach  rekti- 
fizieren,  ohne  gleich  die  japanische  Waffenehre  zu  bemiihen,  Diese 
selbe  Meldung  1st  namlich  auch  von  der  ,B.  Z.  am  Mittag*  gebracht 
worden  und  dort  unter  der  herrlichen  Uberschrift  „Krieg  mit  —  Peit- 
schen".  Whipped  out  oder  wiped  out,  kein  verniinftiger  Mensch  wird 
wohl  auf  die  Idee  kommen,  daB  die  Chinesen  buchstablich  mit  Peit- 
schen  in  den  Graben  gestiirmt  sind  und  die  Japaner  hinausgepriigelt 
haben.  Was  fiir  eine  verriickte  Assoziation  im  Kopfe  dessen,  der  diese 
Oberschrift  verbrochen  hat!  Oder  gehort  so  etwas  zum  neuen,  zum 
schneidigen  Kurs? 

Reichswehrminister.  Vor  kurzem  ist  ein  torichter,  hetzerischer 
Roman  erschienen,  dessen  Verfasser  sich  Hans  Nitram  nennt  und  der 
den  etwas  umstandlichen  Titel  fiihrt:  „Achtung!  Ostmarkenrundfunk. 
Polnische  Truppen  haben  heute  nacht  die  ostpreuBische  Grenze  iiber- 
schritten."  Der  Roman,  der  zur  Zeit  auch  in  einer  Reihe  von  deut- 
schen  und  namentlich  ostdeutschen  Blattern  in  Fortsetzungen  lauft, 
ist  eines  jener  zahlreichen  unbegabten  Machwerke,  die  im  Gefolge  des 
sogenannten  Neuen  Nationalismus  laufen  und  von  dem  Meister  des 
Genres,  Herrn  Arnolt  Bronnen,  nur  die  Roheit  ubernommen  haben 
und  nicht  den  SchmiB.  Ein  nationalistischer  Hetzroman  wie  viele, 
man  brauchte  dabei  nicht  weiter  zu  verweilen,  wenn  nicht  der  Verlag 
Gerhard  Stalling  in  Oldenburg,  der  schon  allerlei  dubiose  Militar- 
literatur  verlegt  hat,  fiir  dieses  sein  Produkt  eine  Reklame  machte, 
die  sich  eines  Mittels  bedient,  das  auch  Sie,  Herr  Reichswehrminister, 
lebhaft  interessieren  diirfte,  Der  Verlag  Stalling  versendet  namlich 
an  Buchhandler  und  Sortimenter  ein  Reklameschreiben,  das  in  die  fol- 
genden  Satze  ausmiindet:  HVertraulich  mochten  wir  Ihnen  mitteilen, 
daB  das  Werk  von  einem  Angehorigen  der  Reichswehr  geschrieben 
worden  ist  und  daB  die  Verof fentlichung  des  Werkes  von  der  zustan- 
digen  Instanz  genehmigt  wurde,  Man  ist  sich  bewuBt,  daB  sich  aus 
dem  Buche  unter  Umstanden  diplomatische  Schritte  Polens  ergeben, 
wird  aber  einen  solchen  diplomatischen  Schritt  voraussichtlich  nicht 
ungern  sehen,  um  der  kommenden  Abrustungskonferenz  in  Genf  mehr 
als  man  es  sonst  konnte,  vorhalten  zu  konnen,  wie  wehrlos  Deutsch- 
tand  ,  und  itisbesoiidere  wie  wehrlos  das  ostpreuBische  Keimatgebiet, 
das  man  vom  Mutterlande  getrennt  hat,  jedem  Angriff  des  mit  alien 
modernen  Kriegsmitteln  bewaffneten  Polen  ausgeliefert  ist."  Wir  fra- 
gen  Sie,  Herr  Minster,  ob  der  Verlag  die  Wahrheit  spricht  oder  ob 
er  seine  Reklame  auf  eigne  Verantwortung  weiter  als  zulassig  treibt. 
Wir  sind  auch  neugierig,  Herr  Minister,  dxejenige  zustandige  Instanz 
kennen  zu  lernen,  die  sich  bewufit  ist,  daB  sich  aus  dem  Buch  unter 
Umstanden  diplomatische  Schritte  Polens  ergeben  konnen,  die  aber 
einen  solchen  diplomatischen  Schritt  voraussichtlich  nicht  ungern  sieht, 
Welche  Instanz  in  Ihrem  Ministerhim  ist  es,  die  auf  eigne  Faust  in 
die  AuBenpoIitik  hineinmurkst,  die  in  die  Genfer  Abrustungskonferenz 
ein  Moment  hineintragt,  das  Herrn  Nadolny  und  seine  Vertreter  in  eine 
Debatte  verwickeln  kann,  die  von  diesen  voraussichtlich  nicht  gern  ge- 
sehen  wird.  Welche  Instanz  in  Ihrem  Ministerium  ist  es,  die  den 
Herrn  Tardieu  und  Paul-Boncour  diesen  heifi  ersehnten  Ball  zuwirft? 
Denn  ein  Buch  wie  dieses,  von  einem  Soldaten  geschrieben,  mit  dem 

308 


Segen  des  Kriegsministeriums  in  die  Welt  geschickt,  setzt  unsre  diplo- 
raatische  Vertretung  in  Genf,  die  bekanntlich  ein  Abrtistungsprogramm 
vorgelegt,  dagegen  keinen  Versuch  gemacht  hat,  einen  deutsch-polni- 
schen  Konflikt  zu  provozieren,  in  den  Verdacht  der  Zweideutigkeit. 
Der  Roman  des  Herrn  Nitram,  dessen  Verfasser  nach  Mitteilung  des 
Verlags  eih  Angehorger  der  Reichswehr  ist,  bedeutet  nicht  mehr  als 
ein  elendes,  unbegabtes  Elaborat,  das  von  einem  reiBerischen  Titel 
lebt.  Wir  sind  nicht  der  Meinung,  daB  es  einem  Angehorigen  der 
Reichswehr  verwehrt  sein  soil,  so  gute  oder  so  schlechte  Romane  zu 
verdffentlichen,  wie  er  leisten  kann,  wir  sind  aber  unbedingt  der  Mei- 
nung, daB  es  nicht  die  Aufgabe  des  Reichswehrministeriums  ist,  ein 
Buch  deshalb  zu  genehmigen,  weil  es  unter  Umstanden  diplomatische 
Schritte  einer  auswartigen  Macht  hervorrufen  kann,  Vor  allem  aber 
halten  wir  es  fur  reichlich  unklug,  dafi  nunmehr  auch  der  Verleger 
dieses  Buches  noch  mit  einem  solchen  Motiv  krebsen  geht.  Wir  fassen 
es  nicht  als  unsre  Aufgabe  auf,  Landsleute,  die  andrer  politischer  An- 
schauung  sind  als  wir,  bei  jeder  Gelegenheit  des  Landesverrats  zu  ver- 
dachtigen.  Aber  wenn  die  Behauptungen  dieses  Verlagsprospekts 
wirklich  der  Wahrheit  entsprechen,  so  ist  dem  Verlag  Stalling  dafur 
griindlich  auf  die  Finger  zu  klopfen,  daB  er  die  Tinte  nicht  lassen 
kann  und  eine  schon  aus  leicht  faBbaren  Intelligenzgriinden  geheim- 
zuhaltende  Sache  propagandistisch  ausposaunt.  Entspricht  die  Be- 
hauptung  des  Verlags  aber  nicht  der  Wahrheit,  hat  sich  nur  ein  findi- 
ger  Reklamemann  die  ganze  Geschichte  aus  den  Pfoten  gesogen,  auch 
dann  ist  es  notwendig,  daB  Sie,  Herr  Minister,  einschreiten,  Weil  ein 
solcher  Unfug  Ihre  eigne  Politik  vor  aller  Welt  in  ein  haflliches  Licht 
setzt  und  dadurch  deutsche  Reichsinteressen  schwer  schadigt.  Sie, 
Herr  Minister,  sind  der  Autor  des  Wortes  „Staatsverleumdung".  Wenn 
jemals  die  Merkmale  einer  solchen  zu  konstatieren  sind,  dann  in  die- 
sem  Falle.  Schreiten  Sie  ein,  Herr  Minister,  und  beschranken  Sie  sich 
nicht  auf  ein  so  kriippliges  Dementi  wie  in  der  Sache  der  „Gelande- 
tibungen"  auf  dem  Doberitzer  Ubungsplatz.  Dort  hat  man  allsonntag- 
lich  das  Feld  einer  Naziorganisation  tiberlassen,  die  als  „Verein  fur 
Volkssport"  maskiert  gewesen  ist.  Wir  glauben  gern,  daB  das  Reichs- 
wehrministerium  das  akzeptiert  hat,  obgleich  immerhin  doch  ein  im 
Vollbesitz  seiner  geistigen  Krafte  befindlicher  Ministerialbeamter  die 
Frage  hatte  aufwerfen  miissen,  wozu  man  in  drei  Teufels  Namen  hier 
am  Rande  von  Berlin  Gelandeubungen  treibt,  Wir  erwarten  also,  daB 
nach  diesem  Ungliicksfall  Sie  sich  etwas  intensiver  um  die  propagan- 
distischen  Gelandeubungen  eines  Verlags  minderwertiger  militarischer 
Schriften  bekummern,  der  sich  erdreistet,  fur  den  flottern  Absatz 
seiner  Ware  ein  diplomatisches  Geheimnis  entweder  preiszugeben  oder 
wenigstens  vorzutauschen,  in  jedem  Falle  aber  in  unverschamtester 
Form  gegen  die  gesamtdeutschen  Interessen  zu  hiandeln.  Sie  werden 
der  deutscheh  Offentlichkeit  die  Antwort  nicht  schuldig  bleiben  kon- 
nen.  Vor  ein  paar  Tagen  brachte  die  Zeitung  .Berlin  am  Morgen'  die 
Geschichte  von  einem  kleinen  Mifigeschick,  das  Ihnen  in  diesen  Ta- 
gen passiert  sein  soil,  als  Sie  sich  abends  nach  dem  Theater  nach 
einem  Wagen  umsahen:  „Der  Taxischoffor  sah  den  Pour  le  merite,  der 
Groener  beim  Halse  heraushing,  er  fixierte  den  Minister  genau,  rief 
laut:  ,Nee,  den  Herrn  fahre  ick  nich*  und  gab  Vollgas."  Ich  weiB  nicht, 
ob  Ihnen,  Herr  Minister,  noch  etwas  an  der  Wertschatzung  der  deut- 
schen  Republikaner,  deren  Favorit  Sie  friiher  waren,  liegt..  In  letzter 
Zeit  sind  die  Neigungen  etwas  erkaltet,  und  es  kann  sehr  wohl  der 
Augenblick  kommen,  wo  Sie,  ein  oft  erprobter  Mann  der  Realitat, 
wieder  einmal  den  Boden  republikanischer  Tatsachen  suchen  miissen. 
Und  dann,  Herr  Groener,  wird  die  Antwort  lauten:  „Nee,  den  Herrn 
fahr  ick  nich!" 

Kunstfreund.    Sie  werden  sich  yielleicht  bei  der  Lektiire  des  Ar- 
tikels    von    Kallai    daran    erinnern,    daB    Adolf    Behne    bei    uns    im 

309 


Heft  46  des  vorigen  Jahres  geschrieben  hat,  Nierendorf  sei  in  den 
Keller  gezogen.  Sie  werden  nun  glauben,  auch  die  von  Kallai  be- 
sprochene  Ausstellung  habe  im  Keller  stattgefunden.  Dieser  Mifl- 
deutung  der  Bemerkungen  von  Behne  sind  wir  des  of  tern  begegnet 
und  wollen  deshalb  bei  dieser  Gelegenheit  feststellen,  daB  die  Galerie 
Nierendorf  nach  wie  vor  ihren  Laden  als  Ausstellungsraum  benutzt 
und  nur  die  Ausstellung  „Die  Welt  von  unten"  milieugerecht  in  einem 
besonders  dazu  hergerichteten  Keller  veranstaltet  hat. 

Mopr-Verlag,  Berlin.  Wir  berichteten  neulich,  daB  der  chem- 
nitzer  Polizeiprasident  Heft  2  Ihrer  „Roten  Reihe",  Kobayashi  „Der 
15.  Marz  1928",  verboten  hat.  Die  von  Ihnen  bei  der  Kreishaupt- 
mannschaft  Chemnitz  eingelegte  Beschwerde  wurde  abgewiesen,  und 
zwar  mit  der  Begriindung,  daB  die  Darstellung  der  japanischen  Vor- 
gange  „eine  Aufreizung  der  Anhanger  der  kommunistischen  Idee  gegen 
die  jetzt  bestehenden  Verhaltnisse  nicht  bloB  in  Japan,  sondern  auch 
in  alien  andern  Landern,  die  kommunistisch  nicht  regiert  werden,  be- 
zweckt.  DaB  sie  auch  gegen  die  Verfassung  des  Deutschen  Reiches 
und  seiner  Lander  aufreizen  will,  ergibt  sich  schon  daraus,  daB  sie  ' 
ins  Deutsche  iibersetzt  worden  ist  und  im  Deutschen  Reich  verbreitet 
werden  soil."  Mehr  blamieren  kann  man  sich  eigentlich  schon  nicht 
mehr.  Man  fragt  sich  nur,  was  groBcr  ist,  die  Verbohrtheit  dieser 
Zeilen  oder  die  Schamlosigkeit,  mit  der  solcher  Unsinn  als  amtliche 
t, Begriindung"  firmiert  wird,  Inzwischen  hat  die  Polizeidirektion 
Nurnberg-Furth  ftir  den  Regierungsbezirk  Mittelfranken  die  Einziehung 
und  Beschlagnahme  des  ersten  Bandchens  dieser  Reihe  verfiigt.  Das 
Heft  enthalt  einen  Auszug  aus  den  Erinnerungen  von  Schapowalow, 
Diese  Memoiren  sind  seit  1927  in  einer  deutschen  Gesamtausgabe  er- 
schienen,  und  jeder  Mensch,  auch  in  Mittelfranken,  kann  sich  das 
kaufen.  Die  Beschlagnahme  eines  Abschnitts  aus  einer  nicht  be- 
schlagnahmten  Druckschrift  zeigt  deutlich,  daB  hier  eine  bestimmte 
Methode  vorliegt.  Die  kleinen  Heftchen  kosten  20  Pfennige,  sind  also 
jedem  zuganglich;  das  ganze  Buch  ist  erheblich  teurer,  seiner  Ver- 
breitung  sind  somit  Grenzen  gezogen.  Die  Absicht  geht  also  dahin, 
die  revolutionare  Literatur  unter  keinen  Umstanden  an  die  Arbeiter- 
schaft  heranzulassen.  Die  billigen  Heftchen  werden  beschlagnahmt, 
Zeitungen,  die  Marx-Zitate  bringen,  verboten,  und  dafiir,  daB  die 
groBe  Masse  nicht  an  die  Gesamtausgaben  herankommt,  sorgt  deren 
hoher  Preis.  So  allein  erklart  sich  dieser  scheinbare  Unsinn,  ein 
Heft  zu  verbieten,  das  nur  einen  Auszug  aus  einem  groBern,  nicht  ver- 
botenen  Werk  darstellt, 

Spender.  Fur  den  Fond  der  Strafanstalt  Celle  sind  unter  anderm 
eingegangen:  5  RM.  von  Herrn  Dr,  Kleemann,  Berlin  SO.;  10  RM,  von 
Herrn  J.  Scherer  in  Koln. 

Flensburger.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Herrn  M.  Martens, 
Duburger  Str.  19,  der  regelmaBige  Zusammenkunfte  der  flensburger 
Weltbiihnenleser  in  die  Wege  leiten  will. 


Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne.  Charlottenburg,  Kantstr.  1^2?  in 
ricfaten ;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sons!  keine  Rucksendung  erfo'gen  kann. 
Das  AuffUhrungsrecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  muslk- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  Ton  RadiovortrHgea 
bleiben   ffir   alle  in  der  WeltbQhne  erscheinenden  Beitrage  aaadrQcklich  vorbebalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v,  Oasietzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  Tudiolsky   geleitet.  —   Verantwortli'ch:   Carl  v.  Ossiet2ky,   Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Ttlepnon:  Cl,  Stein  plat  z  7757.   —   Postscheckkonto:  Berlin  11958. 
Bankkonto:    Darmstadt er    u.    Nationalbank.      Depoaitenkasse    Charlottenbur;,    Kantstr.   112. 


XXVIII.  Jahrgang  1 .  Marz  1932  Nnmmer  0 

Gang  eillS  von  Carl  v.  Ossietzky 

Byzanz 

T\\i  muBt  es  dreimal  sagen:  der  Generalfeldmarschall  v.'Hin- 
x^  dcnburg  ist  kcin  tragbarer  Kandidat  fur  die  Linke,  Die 
Parteizentrale  der  Sozialdemokratie  hat  gesprochen.  Wie 
viele  Wahler  werden  am  13.  Marz  folgen?  Das  ist  das  Ratsel 
des  ersten  Wahlgangs, 

Die  Sozialdemokratie  formuliert  ihre  Losung  lieber:  ,,ge- 
gen  den  Fascismus"  als  ,,fiir  Hindenburg".  Niemand  weiB,  wie 
sicb  die  organisierten  Mitglieder  verhalten  werden,  noch  weni- 
ger,  wie  die  grofien  unkontrollierbaren  Massen  der  Mitlaufer, 
der  Sympathisierenden.  Was  in  dera  unermeBlichen  Inselmeer 
der  politischen  Linken  heimatlos  treibt,  die  vom  biirgerlichen 
Republikanertum  oder  die  von  der  deutschen  Verkorperung 
des  Kommunismus  Enttauschten,  die  meisten  von  ihnen  pHeg- 
ten  wohl  fiir  einen  Wahltag  in  der  stillen  Bai  der  alten  So- 
zialdemokratie zu  landen.  Werden  sie,  wie  die  sozialdemo- 
kratischen  Blatter  verkiinden,  ((mit  Hindenburg  gegen  den 
Fascismus  kampfen"  — ? 

Dazu  miiBte  sich  der  erwahlte  Kandidat  zunachst  selbst 
auBern,  Der  Herr  Reichsprasident  betont  aber  nur  seine  f,Ober~ 
parteilichkeit",  ein  Begriff,  der  bekanntlich  recht  verschieden 
auslegbar  ist.  Da  ist  die  Begleitmusik  der  zahlreichen  Helden- 
und  Jungfern-Kranzchen,  die  die  Kandidatur  Hindenburg 
affichieren,  schon  viel  deutlicher.  So  hat  der  gute,  alte 
Graf  Westarp,  der  am  9.  November  1918  wie  ein  Gebilde  von 
Braunbier  und  Spucke  durch  die  Reichstagsgange  irrte  und 
sich  damals  wohl  nicht  traumen  lieB,  er  wtirde  dreizehn  Jahre 
spater  den  Primas  der  Deutschen  Republik  ktiren  helfen,  einen 
Aufruf  gestartet,  in  dem  es  heiBt:  „In  der  Stunde  des  Entschei- 
dungskampfes  um  Deutschlands  Wehrhoheit  und  Tributfreiheit 
hat  Generalfeldmarschall  von  Hindenburg  sich  entschlossen, 
noch  einmal  die  schwere  Biirde  des  Reichsprasidenten  anzu- 
nehmen.  Hindenburg  verkorpert  uns  deutsche  Gottesfurcht 
und  Treue  im  Dienst  des  Vaterlandes,  eisernes  PflichtbewuBt- 
sein  und  deutsches  Soldatentum."  Unterschrieben  ist  der  Auf- 
ruf vornehmlich  von  einigen  Dutzend  Herrschaften  aus  GroB- 
grundbesitz  und  Schwerindustrie,  wozu  sich  die  Damen  Graf  in 
Bassewitz  (Datzingen),  Grafin  Giinther  v*  d.  Groeben  Exzel- 
lenz,  Freifrau  Hiller  v.  Gaertringen,  Grafin  Elisabeth  v.  Pfeil, 
Oberin  v.  Lindeiner-Wildau,  Grafin  v.  Uexkull-Gyllenband  Ex- 
zellenz  und  viele  andre  noch  gesellen,  darunter  Cimbal  (Al- 
tona),  ein  allzu  schwacher  Cimbalschlag  nur  neben  so  viel 
kurbrandenburgischen  Fanfaren. 

Nun  sind  das  alles  nur  Namen,  aber  keine  Wahler.  Letz- 
tere  miissen  namlich  von  der  Sozialdemokratie  geliefert  wer- 
den; that*  s  the  humour  of  it!  Unsre  armen  sozialistischen 
Freunde,  die  in  den  letzten  Jahren  so  oft  im  Wachstuchzylinder 
und  Radmantel  von  Achtundvierzig  paradieren  muBten,  wer- 
den sich  nun  —  o  Meiningerei  der  Politik!  —  nach  einem  noch 

i  311 


weiter  zuriickliegenden  Kostiim  umzusehen  haben,  urn  vor 
Elisabeth  v.  Pfeil  odcr  Elsa  von  Brabant  Gnade  zu  finden, 
In  der  Stunde  des  Entscheidungskampfes  urn  Deutschlands 
Wehretat  und  Tributfreiheit .  ,■.  1st  dies  das  Programm  der  So- 
zialdemokratie?  . . ,  Deutsche  Gottesfurcht  und  Treue..,  Sind 
dies  ihre  Ideale? 

Wenn  die  Sozialdemokratie  sich  schon  entschlossen  hat, 
fur  Hindenburg  einzutreten,  so  muB  sie  diesem  Kampf  auch  das 
Cachet  geben,  so  muB  sie  ihr  Fahnentuch  um  die  Herme  ihres 
Kandidaten  schlagen,  anstatt  diesen  im  Kriegervereinsgeschwa- 
fel  von  Leuten  verschwinden  zu  lassen,  die  sonst  den  sanftesten 
Demdkraten  gleich  arretieren  lassen  mochten.  Ein  Wahlkampf 
von  heute  ist  keine  Wagneroper,  und  die  sozialistischen  Wah- 
ler  sind  kein  Stimmvieh,  das  einfach  abkommandiert  werdeh 
kann.  . 

Aber  schlieBlich  kann  man  Westarp  und  den  andern 
Ritterbiirtigen  keinen  Vorwurf  machen,  wenn  der  Reichskanz- 
ler  vor  dem  Parlament  selbst  eine  Sprache  wahlt,  die  nicht 
nach  Weimar  sondern  nach  Byzanz  leitet.  „Wenn  ich  die 
Hoffnung  in  diesen  schweren  Tagen  nie  aufgegeben  habe, 
dann  aus  einer  Tatsache:  aus  der,  daB  ich  einem  Manne  dienen 
darf  wie  dem  Reichsprasidenten  von  Hindenburg.  Vergessen 
Sie  eines  nicht;  von  der  Wiederwahl  des  Reichsprasidenten  von 
Hindenburg  hangt  es  auch  ab,  ob  die  Welt  glauben  soil,  daB 
im  deutschen  Volke  noch  Ehrfurcht  und  Achtung  vor  der  Ge- 
schichte  und  der  geschichtlichen  Person  besteht."  Ehrfurcht 
vor  der  Geschichte  ist  bei  einem  Volke  eine  sehr  schatzens- 
werte  Eigenschaft,  aber  daB  es  sich  hier  um  einen  kardinalen 
Faktor  handelt,  von  dem  die  Meinung  der  Welt  uber  uns  ab- 
hangt,  will  mir  nicht  recht  einleuchten.  In  die  Gegenwart  eines 
Volkes  mischen  sich  viele  Traditionen,  es  fragt  sich  nur,  an 
welche  anzukniipfen  ist.  Die  achtzigjahrigen  Herren  Eduard 
Bernstein  und  Georg  Ledebour,  zum  Beispiel,  erinnern  uns 
an  die  Zeit  des  Sozialistengesetzes  oder  an  die  groBen  prin- 
zipiellen  Auseinandersetzungen  zwischen  Reformisten  und  Ra- 
dikalen-  Der  Herr  Reichsprasident  dagegen  bedeutet,  wie  das 
nicht  anders  sein  kann,  eine  naturliche  Verbindung  mit  dem 
Kaiserreich  und  dem  alten  preufiischen  Militarismus,  also  An- 
kmipfung  an  eine  Tradition,  die  dem  Geiste  der  Republik  in 
alleni  kontrar  ist.  Wenn  der  Reichskanzler  sich  gliicklich  er= 
klart,  daB  er  Hindenburg  „dienen"  diirfe,  so  bedeutet  das 
einen  Riickfall  in  jene  Epoche,  in  der  seine  Amtsvorganger 
sich  bemuhen  muBten,  auch  vor  dem  Parlament  die  Sprache 
des  Hofzeremoniells  beizubehalten. 

Die  Minister  sind  nicht  die  „Diener"  des  Reichsprasiden- 
ten. Die  Stellung  des  Reichsoberhauptes  ist  durch  die  Ver- 
f  assung  abgegrenzt.  Der  Reichskanzler  jedoch  ist  laut  Verfassung 
derjenige,  der  die  Anordnungen  und  Verfiigungen  des  Reichs- 
prasidenten gegenzeichnet  und  damit  die  Verantwortung  uber- 
nimmt.  Artikel  54  sagt  nichts  von  ,,Dienst",  wohl  aber;  ,,Der 
Reichskanzler  und  die  Reichsminister  bediirfen  zu  ihrer  Amts- 
fiihrung  das  Vertrauen  des  Reichstags.  Jeder  von  ihnen  muB 
zuriicktreten,    wenn   ihm    der  Reichstag  durch  ausdriicklichen 

3i2 


BeschluB  sein  Vertrauen  entzieht."  Die  Verehrung  eincs 
Ministerprasidenten  fiir  das  Staatsoberhaupt  ist  cine  ange- 
nehme  Zugabe,  die  das  Zusammenarbeiten  gewiB  erleichtert, 
aber  ein  konstitutioneller  Faktor  ist  das  nicht.  Ausschlag- 
gebend  bleibt  das  Vertrauen  des  Parlaments  und  die  von  ihm 
bestimmte  Linie.  Gelegentlich  hat  auch  Disharmonie  zwischen 
hochsten  Staatsstellen  groBe  historische  Resultate  nicht  ver- 
hindern  konnen,  wie  im  Falle  Clemenceau-Poincare. 

Es  ist  wieder  ein  sehr  deutsches  Ungliick,  daB  als  Reichs- 
president  nicht  etwa  jemand  gesucht  wird,  der  wiirdig  repra* 
sentiert  und  nicht  zu  impulsiven  Zwischenspielen  neigt.  Gesucht 
wird  iiberhaupt  kein  sterblicher  Mensch  sondern  ein  Retter, 
ein  Baldur,  eine  Figur  aus  dem  Mythos.  Das  sitzt  so  tief,  dafi 
selbst  ein  so  sparliches  Temperament  wie  Briining,  der  als 
Redner  sich  ganz  gewiB  nicht  leicht  an  die  Schwarmerei  der 
Sekunde  verliert,  seine  Beziehung  zum  Reichsoberhaupt  durch 
ein  mittelalterliches  Bild,  in  dem  sich  Heroismus  mit  Dome- 
stikentum  seltsam  mischt,  zu  illustricren  fiir  notwendig  findet. 

Herr,  wo  war  en  Sie  im  Krleg  —  ? 

Herr  Briining  macht  den  Republikanern  die  Kandidatur 
Hindenburg  iiberhaupt  nicht  leicht.  Er  treibt  sie  unerbittlich 
durch  das  kaudinische  Joch  seiner  konseryativen  Ideologic 
Manchmal  hat  das  fast  friderizianischen  Stil.  ,,Wollt  ihr  Rak- 
ker  denn  ewig  leben?"  Das  klingt  so  zwischen  den  Zeilen  der 
kanzellarischen  Kundgebungen.  So  rief  Briining  in  seiner 
Reichstagsrede  den  Nationalsozialisten  erregt  zu:  ,,Am  9,  No- 
vember war  ich  an  der  Spitze  einer  Offizierstruppe,  die  sich 
zur  Niederwerfung  der  Revolution  gebildet  hatte/'  Der  Be- 
richt  der  .Vossischen  Zeitung'  bemerkt  dazu:  „Bei  diesenWor- 
ten  klatschen  die  Mittelparteien  sturmisch  Beifall,  wahrend 
man  auf  der  Linken  deutlich  eine  Bewegung  bemerken  kann," 

Doch  schon  in  der  Morgenausgabe  darauf  betont  die  ,Vos- 
sische  Zeitung',  der  Satz  laute  nach  der  amtlichen  Wiedergabe: 
„Am  9.  November  war  ich  in  der  Gruppe  Winterfeld,  die  zur 
Niederwerfung  der  bolschewistischen  Revolution  gebildet  wor- 
den  wan" 

Nun  haben  einige  Millionen  Deutsche  durch  den  Rund- 
funk  die  erste  Fassung  gehort.  Der  Reichskanzler  rektifiziert 
sich,  indem  er  hervorhebt,  er  habe  bei  einer  Truppe  gestan- 
den,  die  nur  gegen  Spartakus  kampfen  wollte,  nicht  aber  fiir 
die  gestiirzte  Monarchie.  Das  ist  der  Sinn  seiner  Kqrrektur 
des  amtlichen  Stenogramms,  Wer  die  damalige  Zeit  m!*erlebt 
hat,  weiB,  daB  cer  Unterschied  nicht  erheblich  war.  Wen'g- 
stens  konnte  man  das  den  damals  in  den  StraBen  herum- 
pfeifenden  Kugeln  nicht  anhoren,  ob  sie  gegen  den  Bolschewis- 
mus  oder  fur  Wilhelm  abgefeuert  wurden. 

Es  ist  begreiflich,  daB  die  Sozialisten  bei  diesem.  auto- 
biographischen  Bekennmis  Briinings  klamme  Finger  bekamen. 
Tags  zuvor  noch  hatten  sie  ihre  nationale  Stubenreinheit  stiir- 
misch  genug  b^teuert,  als  sie  von  dem  kleinen  Goebbels  „Par- 
tei  der  Deserteure"  genannt  wurden.  Natiirlich  hatte  der 
kleine  Goebbels,  der  seine  Unterleibsbeschwerden  mit  Vor- 
liebe   auf   der   Rednertribiine   exhibitioniert   —   ein   Zug,    den 

313 


Tacitus  bei  den  alten  Germanen  nicht  wahrgenommen  hat  — 
cine  harte  Abfuhr  verdient.  Abcr  wic  die  Gekrankten  rea- 
gierten,  das  ist  wieder  bezeichnend  fiir  die  Niveaulosigkeit 
dieses  Parlaments.  Im  Nu  hatte  sich  der  Reichstag  in  elnen 
provinzialen  Verein  verwandelt,  dessen  verzankte  Mitglieder 
sich  gegenseitig  die  Schicksalsfrage  zuschreien:  ,,Herr,  wo 
waren  Sie  im  Krieg  — ?"  Die  Sozialdemokraten  pochten  auf 
ihre  eisernen  Kreuze  und  ihre  intakten  Soldbiicher  und  fiihr- 
ten  ihre  Narben  vor  wie  Coriolan.  Die  Sozialdemokraten  waren 
viel  patriotischer  als  die  Nationalisten,  Hand  aufs  Herz, 
wer  verlangt  das  von  der  internationalen,  der  volkerbefreien- 
den  Sozialdemokratie?  Die  Arbeiter,  die  Republikaner,  die 
antimilitaristischen  Burger,  die  diese  Partei  wahlen?  Kaum, 
aber  die  Kandidatur  Hindenburg  verlangt  es.  Damit  die  Bas- 
sewitze  und  Itzenplitze,  damit  der  ganze  von  Westarp  und 
Treviranus  auf  die  Zitterbeine  getrommelte  Adelskalender 
nicht  doch  noch  zu  Hitler  oder  Duesterberg  humpelt,  deshalb 
muB  die  Partei  mit  blankgeputzter  Montur  antreten. 

Das  ist  das  Erschiittern^e  an  dem  gegenwartigen  Zustand: 
nicht  der  Fascismus  siegt,  die  Andern  passen  sich  ihm  an. 
Bruning  sucht  sich  Hitler  anzugleichen,  die  Sozialdemokraten 
bilden  sich  an  Bruning.  Der  Fascismus  jedenfalls  bestimmt 
das  Thema,  das  Niveau.  Eine  hingeworfene  Schnoddrigkeit 
des  berliner  Sportpalast-Tribunen  jagt  zehn  Dutzend  sozia- 
listische  Deputierte  von  den  Platzen,  zwingt  sie  dazu,  sich  als 
gut  vaterlandisch  zu  legitimieren,  Ein  blamabler  Zwischen- 
fall,  der  nur  zeigt,  daB  die  Initiative  rechts  liegt, 

Es  mag  Zeiten  gebenf  wo  auch  in  der  Politik  die  Anpas- 
sung  notwendig  ist  und  Wunder  bewirken  kann.  Aber  in  so 
entscheidenden  Phasen  wie  heute  kommt  es  nicht  auf  An- 
gleichung  und  Schutzfarbung  an  sondern  auf  die  Herausarbei- 
tung   des   konsequenten  Gegentyps  der  herrschenden  Machte. 

Ein  lehrreiches  Exempel,  wie  diese  Debatte  zu  behandeln 
war,  gab  merkwiirdigerweise  der  Staatsparteiler  Doktor  We- 
ber, ein  mafilos  GemaBigter  sonst.  Er  verteidigte  nam- 
lich  nicht  die  angezweifelte  nationale  Haltung  seiner  Leute, 
sondern  hielt  den  Fascisten  einfach  ihre  Mordliste  vor.  Und 
die  ganze  braune  Fraktion  stob  auseinander  wie  eine  Beliais- 
schar,  die  plotzlich  vor  ein  Pentagramm  geraten  ist.  Der 
kleine  Goebbeis  schiich  bekiommen  hinterher  wie  der  Kater 
beim   Gewitter. 

Th&lmann 

Der  erste  Wahlgang  kann  keine  Entscheidung  bringen. 
Die  radikale  Rechte  tritt  gespalten  auf.  Wahrscheinlich  ist 
die  Stahlhelm-Kandidatur  nur  ein  Kind  der  Angst,  schon  jetzt 
eine  Entscheidung  fallen  zu  miissen.  Hindenburg  oder  Hitler? 
Der  Stahlhelm  wird  am  Ende  bei  dem  sein,  der  am  13,  Marz 
am  besten  abschneidet  und  am  meisten  bietet. 

Im  iibrigen  muB  noch  immer  mit  einer  Resignation  Hin- 
denburgs  nach  dem  ersten  Wahlgang  gerechnet  werden.  Ent- 
spricht  das  Resultat  nicht  seinen  Erwartungen,  setzen  wieder 
neue  Intrigen   von   f ascistischer   Seite   ein,   stellt   das  Braune 

314 


Haus  etwa  an  Hitlers  Stelle  einen  Hohenzollernprinzen  auf,  so 
wird  sich  der  Reichsprasident  kaum  den  Fahrlichkeiten  des 
zweiten  Wahlgangs  aussetzen.  Hugenberg  und  Hitler  sind  vollig 
skrupellose  Gegner,  die  sich  mit  dem  Hinweis  auf  die  Verant- 
wortung  nicht  bluffen  lassen.  Sie  werden  nicht  davor  zuriick- 
schrecken,  mit  Petarden  zu  schieBen. 

Tmmer  wieder  werde  ich  in  Zuschriften  von  Lesern  ge- 
fragt,  wer  denn  am  13.  Marz  zu  wahlen  sei.  Bleibt  denn  nichts 
andres  iibrig,  so  heiBt  es  immer  wieder,  als  diese  fatale,  diese 
entmutigende  Politik  des   Mkleinern  Obels"? 

Ich  bin  kein  Ratgeber  auf  dem  Kandidatenmarkt,  und 
wer  einer  Partei  angehort,  wird  im  Endkampf  zwischen  Diszi- 
plin  und  besserer  Oberzeugung  durchweg  der  Disziplin  den 
Vorrang  geben.  Gern  hatte  ich  als  parteiloser  Mann  der  Lin- 
ken  fur  einen  akzeptablen  Sozialdemokraten  wie  Paul  Loebe. 
oder  Otto  Braun  gestimmt.  Da  kein  sozialdemokratischer  Kan- 
didat  vorhanden  ist,  muB  ich  schon  fiir  den  kommunistischen 
stimmen.  Wahrscheinlich  werden  vieie,  die  ahnlich  denken, 
ebenso   handeln. 

Man  muB  festhalten;  die  Stimme  fiir  Thalmann  bedeutet 
kein  Vertrauensvotum  fiir  die  Kommunistische  Partei  und  kein 
HochstmaB  von  Erwartungen.  Linkspolitik  heiBt  die  Kraft 
dort  einsetzen,  wo  ein  Mann  der  Linken  im  Kampfe  stent 
Thalmann  ist  der  einzige,  alles  andre  ist  mehr  oder  weniger 
nuancierte  Reaktion.     Das  erleichtert  die  WahL 

Die  Sozialdemokraten  sagen:  Hindenburg  bedeutet  Kampf 
gegen  den  Fascismus*  Von  wannen  kommt  den  Herren  diese 
Wissenschaft?  Der  Kandidat  betont  nur  seine  Oberpartei- 
lichkeit,  in  Sturmzeiten  eine  lebensgefahrliche  Formel.  Da 
Propaganda  und  Farbengebung  der  Kandidatur  Hindenburg 
ganz  und  gar  in  den  Handen  von  Rechtsleuten  liegt,  so  ist  es 
auch  vollig  unmoglich,  iiber  Garantien  zu  disputieren,  die  man 
sonst  von  einem  Kandidaten,  einerlei  ob  Parteimann  oder  nicht, 
verlangt,  Politik  ist  ein  Frage-  und  Antwortspiel.  Wo  man 
das  Recht  zu  fragen  als  g*obe  Ungebiihr  ablehnt,  da  mag  ein 
Reich  beginnen,  das  schoner  und  edler  ist  als  das  der  Politik, 
aber,  wie  gesagt,  die  Politik  hat  dort  aufgehort. 

Es  ist  ein  Unsinn,  die  Kandidatur  Thalmann  als  eine  bloBe 
Zahlkandidatur  hinzustellen,  Wahrscheinlich  wird  Thalmann 
eine  iiberraschend  hohe  Stimmenzahl  erzielen  konnen.  Das 
wird  iibrigens  heute  schon  von  burgerlichen  Politikern  in  pri- 
vaten  Unterhaltungen  geauBert.  Je  besser  Thalmann  abschneidet, 
desto  deutlicher  wird  demonstriert,  welch  einen  Erfolg  eine 
sozialistische  Einheitskandidatur  hatte  haben  konnen,  was  fiir 
Moglichkeiten  noch  immer  bestehen.  Auf  diese  Lektion 
kommt  es  an.  Die  Hindenburg-Koalition  zwischen  ausgedien- 
ten  Hofdamen  der  Monarchie  und  kommenden  Hoflingen  der 
diktatorialen  Republik  ist  ein  Produkt  von  Parteibureaus,  die 
das  Tastgefiihl  fiir  die  Schwankungen  der  Wahlerschaft  ver- 
loren  haben.  Deutschland  hat  in  diesen  Jahren  zu  viel  gelitten, 
zu  viel  gehungert,  urn  sich  in  seinen  Entscheidungen  von  Pietat 
bestimmen  zu  lassen-  Die  Meisten  haben  nichts  zu  gewinnen, 
wohl  aber  eine  verlorene  Existenz  zu  rachen. 

2  315 


Die  Verschworung  der  deutsch- 

franzosischen  Rechten  von  w.coiepepper 
i 

Henri  de  Kerillis  vom  ,Echo  de  Paris* 

I_I  err  Henri  de  Kerillis,  einer  der  hauptsachlichen  Leiter  des 
erzreaktionaren  ,Echo  de  Paris',  hat  sich  zu  Ehren  der  Ab- 
riistungskonf  erenz  eine  neue  Politik  zurechtgemacht.  Er  hat 
einen  seiner  Redakteure,  einen  gewissen  Andre  Pironneau,  der 
sich  fur  gewohnlich  mit  den  Geschaften  der  franzosischen  und 
deutschen  Kanonenfabrikanten  abgibt,  damit  beauftragt, 
systematisch  die  Tatigkeit  der  franzosischen  Friedensf reunde  zu 
denunzieren.  Die  franzosischen  Pazifisten  sind  natiirlich 
«,Narren",  „Utopisten\  „Vaterlandsverrater"  oder  „im  Solde 
Deutschlands  stehend";  die  deutschen  Pazifisten  dagegen  „wahre 
Patrioten"  und  „Reaiisten'\  Voller  Entgegenkomraen  unterzieht 
Pironneau,  ein  gewesener  Offizier,  die  leipziger  Landesverrats- 
prozesse  einer  genauen  Priifung.  Er  hat  ein  besonderes  Faible 
fur  die  tWeltbuhne\  und  tut  so,  als  hatte  er  von  ihr  das  Man- 
dat,  in  Frankreich  den  deutschen  Militarismus  zu  bekampfen. 
Wer  ist  Herr  de  Kerillis?  Was  will  er?  Welche  offenen 
wnd  verborgenen  Ziele  verfolgt  er? 

* 

Herr  de  Kerillis  gehort  zu  den  Wortfiihrern  der  franzosischen 
Reaktion.  Und  keiner  versteht  so  wie  er,  den  Aristokraten  unci 
Bourgeois,  die  vor  dem  Kommunismus  zittern,  und  den  Riistungs- 
industriellen  des  Comite  des  Forges  die  hochsten  Sum- 
men  zu  erpressen,  Mit  diesem  Geld  kann  er  es  sich  leisten, 
Paris  und  ganz  Frankreich  mit  Plakaten  zu  bekleben,  die  den 
Krieg  prophezeien,  den  baldigen  Einfall  der  Deutschen  in 
Frankreich  und  die  verbrecherischen  Taten  der  franzosi- 
schen Linken  enthiillen.  Er  hat  einen  Stamm  von  Propagan- 
disten  herangebildet,  die  ganz  Frankreich  bereisen  und  Marchen 
von  deutschem  und  sowjetrussischem  Terror  erzahlen. 
Man  nahert  sich  den  Wahlen:  sie  miissen  unter  dem  Druck  der 
Angst  durchgefiihrt  werden,  um  die  Rechte  wieder  ans  Ruder 
zu  bringen.  Denn  auf  beiden  Seiten  des  Rheins  geht  es  glei- 
cherweise  zu:  wahrend  die  Franzosen  vor  der  deutschen  Re- 
vanche zittern,  furchten  die  Deutschen  den  franzosischen  Ira- 
perialismus. 

Noch  vor  ungefahr  zwolf  Jahren  war  Kerillis  ganz  unbe- 
kannt,  Er  suchte  seinen  Weg.  Als  im  April  1920  in  Paris  der 
Generalstreik  ausgerufen  wurde  und  die  Arbeiterparteien  und 
Gewerkschaften  jenen  bekannten  AusschuB  bildeten,  der  die 
kapitalistische  Macht  sttirzen  sollte,  trat  Kerillis  der  revolutio- 
naren  Bewegung  bei.  Ja,  er  wurde  Mitglied  einer  jener  Grup- 
pen  revolutionarer  Fachleute,  deren  Aufgabe  es  war,  im  Falle 
einer  Revolution  das  gesamte  Wirtschaftsleben  neu  aufzu- 
bauen. 

Aber  die  Revolution  ging  in  die  Briiche.  De  Kerillis,  der 
auf  einen  Sitz  in  der  neuen  revolutionaren  Regierung  gehofft 

316 


hatte,  verlieB  die  Fahne  der  Geschlagenen.  Er  wurde  Ver- 
trcter  der  Flugzeugfabrik  Farman  und  bemiihte  sich,  dcr  fran- 
zosischen Regierung  Flugzeuge  zu  verkaufen. 

DaB  Henri  de  Kerillis  ein  gerissener  Geschaftsmann  ist,  be- 
xweifelt  kein  franzosischer  Steuerzahler  mehr,  Im  August  1921 
gelang  es  ihm,  dem  Kriegsministerium  175  Metallflugzeuge  zu 
verkaufen,  die  elf  Millionen  Francs  kosteten  und  im  voraus  be- 
zahlt  wurden,  Kerillis  steckte  davon  als  Provision  zwei  Mil- 
lionen in  die  eigne  Tasche,  und  die  Farmanwerke  bekamen  die 
restlichen  neun  Millionen.  Acht  Monate  nachher  wurden  die 
Flugzeuge  abgeliefert.  Aber  bald  weigerten  sich  die  Piloten, 
sie  zu  besteigen,  und  das  Kriegsministerium  untersagte  ihre 
Benutzung.     Sie  waren  unbrauchbar. 

Was  tat  Herr  de  Kerillis?  Gab  er  das  Geld  zuriick?  Er 
erhielt  im  Gegenteil  noch  eine  Million,  um  die  Flugzeuge  re- 
parieren  zu  lassen.  Doch  als  sie  nach  der  ersten  Reparatur 
immer  noch  nicht  fliegen  wollten,  verlangte  er  noch  etwa  an- 
derthalb  Millionen,  um  sie  einer  erneuten  Reparatur  unterwer- 
fen  zu  lassen.  Tatsachlich  flog  keines  dieser  Flugzeuge  jemals 
wirklich,  und  sie  wurden  schlieBlich  zum  alten  Eisen  geworfen. 

In  einem  offiziellen  Militarbericht  vom  27.  August  1923 
wird  konstatiert,  „daB  auf  eine  Bestellung,  von  175  Flugzeugen, 
die  durch  die  Vermittlung  von  Herrn  de  Kerillis  bei'den  Far- 
manwerken  gemacht  wurde,  blofi  131  Flugzeuge  geliefert  wur- 
den und  zwar  in  ganz  unbrauchbarem  Zustand,"  und  „daB  Herr 
Kerillis,  bevor  noch  ein  einziges  Flugzeug  geliefert  worden  sei, 
bereits  10  Millionen  991  633  Francs  einkassiert  habe."  Es  ist 
also  ganz  folgerichtig,  wenn  Henri  de  Kerillis  im  Jahre  1932 
ein  grofier  Nationalist  ist,  der  taglich  gegen  den  jammerlichen 
Zustand  des   franzosischen  Flugwesens   protestiert. 

* 

So  sieht  also  einer  der  fiihrenden  Manner  der  franzosi- 
schen Reaktion  aus.  Den  Plan,  den  er  verfolgt,  wollen  wir 
hier  entwickeln: 

Schon  seit  einigen  Monaten  sind  unter  der  Aegide  des  fran- 
zosischen Botschafters  in  Berlin,  Herrn  Francois-Poncet,  Ver- 
handlungen  zwischen  der  franzosischen  und  deutschen  Schwer- 
industrie  im  Gange.  Offiziell  befaBten  sich  diese  Yerhand- 
lungen  mit .  der  Bildung  von  Kartellen,  Zolltarif en,  Kontingen- 
tierung  etcetera.  Hinter  den  Kulissen  wurden  natiirlich 
interessantere  Dinge  besprochen:  Aufriistung  Deutschlands, 
Sicherheit  Frankreichs,  militarisches  Zusammengehen  beider, 
Kredite,  Hitler,  Wahlen,  Reglementierung  des  Sowjetexports  in 
Europa.  Kurz,  seit  Mitte  November  besteht  zwischen  der  deut- 
schen und  franzosischen  Schwerindustrie  ein  modus  vivendi, 
eine  Art  gentleman  agreement.  Politisch  zeigte  sich  dies  im 
,Temps'  vom  16.  November  durch  den  Verzicht  auf  §  231  des 
Vertrages  von  Versailles,  der  sich  auf  die  Kriegsschuld  Deutsch- 
lands bezieht.  Dadurch  wird  die  Revision  der  Reparationen 
moglich.  Seitdem  verhandeln  die  beiden  Regierungen  nicht 
mehr  iiber  das  Prinzip  der  Reparationen,  sondern  nur  noch  iiber 
die  Hohe  der  Summe.  Auf  deutscher  Seite  hat  die  Schwer- 
industrie Francois-Poncet  versprochen,  Hitler  und  seine  Nazis 

.    317 


zu  „zivilisieren"  und  sie  auf  keinen  Fall  in  die  Regierung  zu 
lassen,  bevor  sie  nicht  mit  Frankreich  Fiihlung  genommenrhaben 
und  bevor  nicht  die  Sicherheit  Frankreichs  garantiert  ist. 

Auf  dieser  Basis  bewegen  sich  heiite  die  Verhandlungen 
zwischen  Deutschland  und  Frankreich.  Und  was  soil  das 
alles?  Ganz  einfach:  es  besteht  ein  Abkommen  zwischen  der 
deutschen  und  der  franzosischen  Rechten.  Der  Krach,  der 
Mitte  Januar  anlaBlich  der  Reparationsfrage  nach  der  Er- 
iclarung  von  Sir  Horace  Rumbold  ausgebrochen  war,  bedeutete 
nicht  viel  mehr  als  eine  Komodie:  Frankreich  bot  Briining  die 
Moglichkeit,  Hitler  zu  iibertrumpfen.  Alle  Kampfe,  die  zwischen 
der  deutschen  und  der  franzosischen  Delegation  in  Genf  dem- 
nachst  ausgefochten  werden,  sind  nur  Scheinkampfe.  Das 
deutsch-franzosische  Zusammengehen  ist  eine  historische  Not- 
wendigkeit  geworden.  Es  wird  mit  oder  gegen  Hitler  durch- 
gefiihrt  werden.  Wirtschaftlich  besteht  es  bereits;  hundert- 
zwanzig  deutsch-franzosische  Kartelle  funktionieren  schon. 

Doch  eine  Frage  bleibt:  wie  wird  sich  diese  Wendung  im 
politischenLeben  der  beidenVolker  vollziehen?  Da  sie  nicht  mehr 
zu  vermeiden  ist,  wollen  die  Rechtsparteien  sie  selbst  zu  ihrem 
eignen  Nutzen  ins  Leben  setzen.  Unter  ihrem  hohen  Schutz 
soil  die  deutsch-franzosische  Annaherung  zustande  kommen,  In 
Deutschland  ist  man  bereits  soweit,  daft  die  Gefahr,  die  Linke 
konnte  etwa  ans  Ruder  kommen,  nicht  mehr  besteht.  Nur  Hitler, 
der  ein  Wegbereiter  des  Bolschewismus  sein  konnte,  und  dar- 
iiber  sind  sich  die  Herren  Voegler,  Wiskott,  Krupp  von  Boh- 
len,  Francois-Poncet,  Schneider-Creusot,  de  Peyerimhoff  einig 
—  Hitler  mufi  gedampft  oder  durch  kleine  Freundlichkeiten 
beschwichtigt  werden.  Deshalb  diirfen  Nationalsozialisten  jetzt 
in  die  Reichswehr  eintreten,  und  als  grSBeres  Geschenk  wird 
ihnen  vielleicht  sogar  PreuBen  iiberlassen  werden. 

In  Frankreich  jedoch  drohen  Linkswahlen.  Unter  der  tiich- 
tigen  Leitung  des  Herrn  de  Kerillis  wurde'ein  Plan  ausgearbei- 
tet,  urn  die  Rechte  wieder  nach  ob en  zu  bringen.  Das  Wahl- 
gesetz  sollte  reformiert,  der  zweite  Wahlgang  abgeschafft 
werden  und  die  Wahlen  Ende  Mai  stattfinden,  also  nach  den 
Wahlen  in  PreuBen,  nachdem  Hitler  und  seine  Partei  fur  die 
Prasidentenwahl  nicht  mehr  in  Betracht  kommen,  man  ihn  je- 
doch in  PreuBen  durchgesetzt  haben  wird. 

Dies  war  der  Plan,  den  Herr  de  Kerillis  zusammen  mil 
Laval  und  der  Schwerindustrie  ausgearbeitet  hatte.  Doch  der 
Senat  durchschaute  die  Sache  und  vereitelte  das  ganze  schone 
Unternehmen,  indem  er  Laval  stiirzte.  Tardieu  wird  die  Re- 
form des  Wahlgesetzes  aufgeben  miissen,  und  die  Wahlen  wer- 
den,  wie  ursprunglich  festgesetzt,   im  April  stattfinden. 

So  ist  Herr  de  Kerillis  heute  gezwungen,  sich  etwas  Neues 
auszudenken.  Vorlaufig  hat  er  sich  fiir  eine  hartnackige  Kam- 
Dagne  zugunsten  der  deutschen  Pazifisten  engagieri. 

Alles  das  bildet  nur  einenTeil  aus  der  Verschworung  der 
deutsch-franzosischen  Rechten.  Wir  gedenken  nicht,  hier  die 
ganze  umfangreiche  Geschichte  dieser  dunklen  Zusammenarbeit 
aufzurollen.  Doch  wollen  wir  in  einem  andern  Artikel  eine 
Hauptphase  dieser  patriotischen  Tatigkeit  beleuchten. 

318 


Diktatur  Briining  von  Leo  Trotzki 

|}as  XL  EKKI-Plenum  fand  sich  bemttBigt,  mit  jenen  fehler- 
*^  haft  en  Auffassungen  SchluB  zu  machcn,  die  sich  stutzen 
auf  die  „liberale  Konstruktion  eines  Gegensatzes  zwischen 
Fascismus  und  biirgerlicher  Demokratie,  wie  auch  zwischen 
den  parlamentarischen  Formen  der  biirgerlichen  Diktatur  und 
den  offen  fascistischen  Formen  . . ."  Der  Wesenskern  dieser 
Stalinschen  Philosophic  ist  sehr  einfach:  aus  der  marxisti- 
schen  Verneinung  eines  absoluten  Gegensatzes  leitet  sie  die 
Verneinung  des  Gegensatzes  iiberhaupt  ab,  und  sei  er  auch 
relativ.  Es  ist  dies  ein  typischer  Fehler  des  Vulgarradikalis- 
mus.  Wenn  aber  zwischen  Demokratie  und  Fascismus  kei- 
nerlei  Gegensatz  besteht,  nicht  einmal  auf  dem  Gebiete  der 
biirgerlichen  Herrschaftsformen,  miissen  beide  Regimes  ein- 
fach miteinander  zusammenf alien/  Die  SchluBfolgerung:  So- 
zialdemokratie-Fascismus.  Aus  irgend  einem  Grunde  nennt 
man  indessen  die  Sozialdemokratie  Sozial-Fascismus.  Was  in 
diesem  Zusammenhange  „Sozial"  eigentlich  bedeutet,  hat  man 
uns  bis  jetzt  immerhin  nicht  erklart.  Metaphysiker  (antidia- 
lektisch  denkende  Menschen)  haben  fiir  ein  und  dieselbe  Ab- 
straktion  zwei,  drei  und  mehrere,  of t  vollstandig  einander  wider- 
sprechende  Bestimmungen*  „Demokratie"  iiberhaupt  und 
, .Fascismus"  iiberhaupt  unterscheiden  sich,  wie  wir  gehort 
haben,  durch  nichts  voneinander,  Dafiir  muB  es  aber  auf  der 
Welt  noch  eine  „Diktatur  der  Arbeiter  und  Bauern"  (fiir 
China,  Indien,  Spanien)  geben.  Eine  proletarische  Diktatur? 
Nein!  Eine  kapitalistische  Diktatur?  Neini  Also  welcher 
Art?  Demokratisch!  *  Es  zeigt  sich,  daB  noch  eine  reine, 
uber  den  Klassen  stehende  Diktatur  auf  der  Welt  besteht. 
Aber  das  XL  EKKI-Plenum  hat  doch  erklart,  daB  sich  Demo- 
kratie und  Fascismus  voneinander  nicht  unterscheiden.  Unter- 
scheidet  sich  also  die  „demokratische  Diktatur"  von  .-. .  fasci- 
stischer   Diktatur?  ^ 

Nur  ein  vollig  naiver  Mensch  wird  von  den  Stalinisten  die 
/   ernste   und  ehrliche  Beantwortung   dieser   prinzipiellen   Frage 
erwarten:   ein  Obriges  an  Schmahungen  —  das  ist  alles.     In- 
dessen ist  mit  dieser  Frage  das  Geschick  der  Revolutionen  des 
Ostens  verbunden, 

Allein  die  Natur  der  Dinge  wechselt  nicht  mit  den  Be- 
schliissen  des  EKKI-Plenums.  Zwischen  Demokratie  und 
Fascismus  besteht  ein  Gegensatz,  Er  ist  durchaus  nicht  „ab- 
solut"  oder,  um  in  der  Sprache  des  Marxismus  zu  reden,  be- 
zeichnet  durchaus  nicht  die  Herrschaft  zweier  unversohnlicher 
Klassen.  Aber  er  kennzeichnet  verschiedene  Herrschafts- 
systeme  ein  und  derselben  Klasse.  Diese  beiden  Systeme:  das 
parlamentarisch-demokratische  und  das  fascistische  stutzen  sich 
auf  verschiedene  Kombinationen  der  unterdriickten  und  aus- 
gebeuteten  Klassen  und  geraten  miteinander  unvermeidlich  in 
schroffe   ZusammenstoBe. 

Die  Sozialdemokratie,  jetzt  Hauptvertreterin  des  parla- 
mentarisch-biirgerlichen  Regimes,  stiitzt  sich  auf  die  Arbeiter, 
der    Fascismus    auf    das    Kleinburgertum.      Die    Sozialdemo- 

319 


kratie  kann  ohnc  Massenorganisationen  der  Arbeitcr  keinen 
EinfluB  ausiiben,  der  Fascismus  seine  Macht  nicht  andcrs  befesti- 
gen  als  durch  Zerschlagung  der  Arbeiterorganisationen.  Haupt- 
arena  der  Sozialdemokratie  ist  das  Parlament,  Das  System  des 
Fascismus  bedingt  die  Vernichtung  des  Parlamentarismus.  Fur 
die  monopolistische  Bourgeoisie  stellen  parlamentarisches  und 
fascistisches  System  blofl  verschiedene  Werkzeuge  ihrer  Herr- 
schaft  dar:  sie  nimmt  zu  diesem  oder  jenem  Zuflucht,  je 
nach  den  historischen  Bedingungen.  Jedoch  fiir  die  So- 
zialdemokratie wie  fiir  den  Fascismus  ist  die  Wahl  des  einen 
oder  des  andern  Werkzeugs  von  selbstandiger  Bedeutung,  noch 
mehr:  die  Frage  ihres  politischen  Lebens  oder  Todes, 

Die  Reihe  ist  ans  fascistische  Regime  gekommen,  sobald 
die  ,,normalen"  militarisch-polizeilichen  Mittel  der  burgerlichen 
Diktatur  mitsamt  ihrer  parlamentarischen  Hiille  fiir  das  gesell- 
schaftliche  Gleichgewicht  nicht  mehr  ausreichen.  Durch  die  fasci- 
stische Agentur  setzt  das  Kapital  die  Massen  des  -verdummten 
Kleinburgertums  in  Bewegung,  die  Banden  deklassierter,  demo- 
ralisierter  Lumpenproletarier  und  all  die  zahllosen  Menschen- 
existenzen,  die  das  gleiche  Finanzkapital  in  Verzweiflung  und 
Elend  gestiirzt  hat.  Vom  Fascismus  f  ordert  die  ■.  Bourgeoisie 
ganze  Arbeit:  hat  sie  einmal  die  Methoden  des  Biirgerkriegs 
zugelassen,  will  sie  fiir  lange  Jahre  Ruhe  haben,  Und  die  fasci- 
stische Agentur,  die  das  Kleinburgertum  als  Prellbock  benutzt 
und  alle  Hemmnisse  aus  dem  Wege  raumt,  leistet  die  Arbeit 
bis  zum  Ende.  Der  Sieg  des  Fascismus  fiihrt  dazu,  daB  das 
Finanzkapital  direkt  und  unmittelbar  alle  Organe  und  Einrich- 
tungen  der  Herrschaft,  Verwaltung  und  Erziehung  in  stahlerne 
Zangen  zwangt:  Staatsapparat  und  Armee,  Gemeindeverwaltun- 
genf  Universitaten,  Schulen,  Presse,  Gewerkschaften,  Genos- 
senschaften.  Die  Fascisierung  des  Staates  bedeutet  nicht  nur 
Mussolinisierung  der  Verwaltungsformen  und  -griffe  -^  auf 
diesem  Gebiete  sind  die  Veranderungen  schlieBlich  von  zweit- 
rangigem  Charakter  —  sondern  vor  allem  und  hauptsachiich: 
Zertriimmerung  der  Arbeiterorganisationen,  Zuriickwerfung 
des  Proletariats  in  amorphen  Zustand,  Schaffung  eines  Systems 
tief  in  die  Massen  dringender  Organe,  die  die  selbstandige 
Kristallisierung  des  Proletariats  unterbinden  sollen.  Eben  darin 
besteht  das   wesen  des  fascistischen  Regimes. 

Dem  Gesagten  widerspricht  in  keiner  Weise  die  Tatsache, 
daB  sich  zwischen  demokratischem  und  fascistischem  Regime 
wahrend  einer  gewissen  Periode  ein  Obergangsregime  heraus- 
bildet,  das  Ziige  des  einen  und  des  andern  in  sich  vermengt: 
dies  ist  iiberhaupt  das  Gesetz  der  Ablosung  zweier  sozialer  Re- 
gimes, selbst  unversohnlich  miteinander  verfeindeter.  Es  gibt 
Augenbiicke,  wo  sich  die  Bourgeoisie  sowohl  auf  die  Sozial- 
demokratie als  auch  auf  den  Fascismus  stiitzt,  das  heiBt,  sich 
zu  gleicher  Zeit  ihrer  versohnlerischen  und  ihrer  terroristischen 
Agentur  bedient.  So  in  gewissem  Sinne  die  Kerenski-Regierung 
wahrend  der  letzten  Monate  ihrer  Existenzi  halb  stiitzte  sie 
sich  auf  die  Sowjets,  um  gleichzeitig  eine  Verschworung  mit  Kor- 
nilow  einzugehen.  So  die  Briining-Regierung,  die  auf  einem  Seile 
zwischen  den  beiden  unversShnlichen  Lagern  tanzt,   den  Stab 

320 


tier  Notverordnungen  in  den  Handen.  Doch  ein  derartiger  Zu- 
stand  von  Staat  und  Regierung  hat  vorubergehendeh  Charakter. 
Er  bezeichnet  die  ttbergangsperiode,  wo  die  Sozialdemokratie 
bereits  der  Erschopfung  ihrer  Mission  nahe  ist,  wahrend  zu 
gleicher  Zeit  sowohl  Kommunismus  als  auch  Fascismus  noch 
nicht  fiir  die  Machteroberung  bereit  sind. 

Die  italienischen  Kommunisten,  die  sich  schon  lange  mit 
dem  Fascismus  hatten  beschaftigen  miissen,  protestierten  mehr 
als  einmal  gegen  den  so  vorbereiteten  MiBbrauch  mit  diesem 
Begriff.  Zur  Zeit  des  VI.  Kongresses  der  Komintern  ent- 
wickelte  Ercoli  immer  noch  Ansichten  uber  den  Fascismus,  die 
jetzt  als  ,,trotzkistisch"  bezeichnet  werden.  Nachdem  er  den 
Fascismus  als  konsequentestes  und  bis  zu  Ende  gefiihrtes 
System  der  Reaktion  detiniert  hatte,  erlauterte  Ercoli:  „Diese 
Behauptung  stiitzt  sich  nicht  auf  die  grausamen  Terrorakte, 
nicht  auf  die  groBe  Zahl  der  ermordeten  Arbeiter  und  Bauern, 
nicht  auf  die  Roheit  der  reichlich  ungewandten  Folterungs- 
artent  nicht  auf  die  Harte  der  Aburteilungen;  sie  ist  begriindet 
durch  die  systematische  Vernichtung  aller  und  jeglicher  For- 
men  selbstandiger  Massenorganisationen/'  Ercoli  hat  hier  voll- 
auf  recht;  Wesen  und  Bestimmung  des  Fascismus  bestehen 
in  der  vollstandigen  Aufhebung  der  Arbeiterorganisationen  und 
in  der  Verhinderung  ihrer  Entstehung.  In  der  entwickelten 
kapitalistischen  Gesellschaft  ist  dieses  Ziel  durch  bloBe  Poli- 
zeimaBnahmen  nicht  zu  erreichen.  Der  einzige  Weg  dazu  ist, 
dem  Druck  des  Proletariats  —  im  Augenblick  seiner 
Schwachung  —  den  Druck  der  verzweifelten  kleinburgerlichen 
Massen  gegentiberzustellen.  Eben  dieses  besondere  System 
kapitalistischer  Reaktion  ist  in  die  Geschichte  unter  dem  Na- 
men  Fascismus  eingegangen, 

„Die  Frage  der  Beziehungen,  die  zwischen  Fascismus  und 
Sozialdemokratie  bestehen,"  schreibt  Ercoli,  „gehort  ins  gleiche 
Gebiet  (der  Unversohnlichkeit  zwischen  Fascismus  und  Arbei- 
terorganisationen). In  dieser  Hinsicht  unterscheidet  sich  der 
Fascismus  kraB  von  alien  (ibrigen  reaktionaren  Regimen,  die 
sich  gegenwartig  in  der  modernen  kapitalistischen  Welt  be- 
festigt  haben.  Er  verwirft  jegliches  KompromiB  mit  der  So- 
zialdemokratie, hat  sie  wiitend  verfolgt,  aller  legalen  Existenz- 
moglichkeiten  beraubt,  sie  zur  Emigration  gezwungen/1 

So  lautete  ein  im  leitenden  Organ  der  Komintern  abge- 
druckter  Artikel!  Danach  hat  Manuilski  dem  Molotow  die 
groBe  Idee  der  „Dritten  Periode"  eingegeben.  Frankreich, 
Deutschland  und  Polen  wurden  in  die  „erste  Reihe  der  revolutio- 
naren  Offensive"  abkommandiert,  zur  tinmittelbaren  Aufgabe 
wurde  die  Machteroberung  erklart.  Da  aber  vor  dem  Antlitz 
des  proletarischen  Auf  stands  alle  Parteien,auBer  der  kommuni- 
stischen  konterrevolutionar  sind,  bestand  keine  Notwendigkeit 
mehr,  zwischen  Fascismus  und  Sozialdemokratie  zu  unterschei- 
den.  Die  Theorie  vom  Sozialf ascismus  wurde  eingefuhrt.  Die 
Beamten  der  Komintern  riisteten  urn,  Ercoli  eilte  zu  bewei- 
sen,  daB  ihm  die  Wahrheit  teuer  sei,  Molotow  aber  noch  teu- 
rer,  und  . . .  er  schrieb  ein  Referat  zur  Verteidigung  der  Theorie 
des  Sozialfascismus.     ,fDie  italienische  Sozialdemokratie",  er 

321 


klarte  er  im  Februar  1930,  „fascisiert  sich  auBerst  leicht."  Aber 
ach,  noch  lcichtcr  servilisieren  sich  die  Funktionare  des  otfi- 
ziellen  Kommunismus ... 

Unsre  Kritik  an  Thcorie  und  Praxis  dcr  „Dritten  Periode" 
er  klarte  man  gebiihrlich  fur  konterrevolutionar.  Die  grausamc 
Erfahrung,  die  das  Proletariat  teuer  zu  stehen  kam,  erzwang 
allerdings  auch  auf  diesem  Gebiet  eineWendung.  Die  „Dritte 
Periode"  ward  in  RuBland  versetzt,  sowie  Molotow  selbst  — 
aus  der  Komintern,  Die  Theorie  des  Sozialfascismus  indes 
blieb  als  einzige  reife  Frucht  der  MDritten  Periode".  Hier  kann 
es  Abandeningen  nicht  geben:  mit  der  ,,Dritten  Periode"  hat 
sich  nur  Molotow  engagiert;  im  Sozialfascismus  hat  Stalin 
selbst  sich  verstrickt. 

Als  Leitmotiv  fur  ihre  Forschungen  iiber  den  Sozialfascis- 
mus hat  ,Die  Rote  Fahne'  Stalins  Worte  erkoren:  „Der  Fascis- 
mus  ist  eine  Kampforganisation  der  Bourgeoisie,  die  sich  auf 
die  aktive  Unterstiitzung  der  Sozialdemokratie  stiitzt.  Die  So- 
zialdemokratie ist  objektiv  der  gemaBigte  Flugel  des  Fascis- 
mus."  Wie  bei  Stalin  ublich,  sobald  er  zu  verallgemeinern  ver- 
sucht,  widerspricht  der  erste  Satz  dem  zweiten.  DaB  die  Bour- 
geoisie sich  auf  die  Sozialdemokratie  stiitzt  und  der  Fascis- 
mus  eine  Kampforganisation  der  Bourgeoisie  darstellt,  ist  un- 
bestreitbar  und  schon  lange  vorher  gesagt  worden.  Doch  dar- 
aus  erhellt  nur,  daB  Sozialdemokratie  ebensd  wie  Fascismus 
Werkzeuge  der  GroBbourgeoisie  sind.  Wie  dabei  die  Sozial- 
demokratie iiberdies  noch  den  ^Flugel"  des  Fascismus  bildet, 
ist  nicht  zu  verstehen.  Auch  die  zweite  Feststellung  des 
gleichen  Autors  ist  nicht  viel  tiefsinniger:  Fascismus  und  Sozial- 
demokratie sind  nicht  Gegner  sondern  Zwillinge.  Zwillinge 
konnen  erbitterte  Gegner  sein;  andrerseits  miissen  Verbiindete 
ke  in  es  falls  am  gleichen  Tage  von  einer  gemeinsamen  Mutter 
geboren  sein.  Stalins  Konstruktion  gebricht  es  selbst  an  for- 
maler  Logik,  von  Dialektik  nicht  zu  reden.  Die  Kraft  dieser 
Konstruktion  besteht  darin,  daB  niemand  ihr  widersprechen 
darf.  Zwischen  Demokratie  und  Fascismus  besteht  kein  Unter- 
schied  im  „Klasseninhalt'\  lehrt  nach  Stalin  Werner  Hirsch 
(,Die  Internationale',  Januar  1932).  Der  Obergang  von  Demo- 
kratie zu  Fascismus  kann  den  Charakter  eines  ,,organischen 
Prozesses"  annehmen,  das  heifit,  „allmahlich  und  auf  kaltem 
Wege"  sich  vollziehen.  Diese  Erwagung  wiirde  verbliiffend 
klingen,  hatte  uns  das  Epigonentum  nicht  abgewohnt,  uns  ver- 
bliiffen  zu  lassen. 

Zwischen  Demokratie  und  Fascismus  besteht  kein  „Klas- 
senunterschied".  Das  soil  offenbar  bedeuten,  daB  die  Demo- 
kratie biirgerlichen  Charakters  ist  wie  der  Fascismus.  Das 
haben  wir  auch  schon  vor  dem  Januar  1932  gewuBt.  Indes  lebt 
die  herrschende  Klasse  nicht  im  luftleeren  Raum.  Sie  stent  in 
bestimmten  Beziehungen  zu  den  ubrigen  Klassen.  Im  „demo- 
kratischen"  Regime  der  entwickelten  kapitalistischen  Gesell- 
schaft  stiitzt  sich  die  Bourgeoisie  vor  allem  auf  die  von  den 
Reformisten  im  Zaum  gehaltene  Arbeiterklasse.  Am  vollendet- 
sten  kommt  dieses  System  in  England  zum  Ausdruck,  bei  der 
labour istischen  wie  bei  der  konservativen  Regierung.  Unter  dem 

322 


fascistischen  Regime  zumindestens  wahrend  seines  ersten  Sta- 
diums stiitzt  sich  dasKapital  auf  das  Kleinbiirgertum,  das  die 
Organisationen  des  Proletariats  verriichtet.  So  Italien.  Be- 
steht  ein  Unterschied  im  MKlasseninhalt''  dieser  beiden  Re- 
gimes? Stellt  man  lediglich  die  Frage  nach  der  herrschenden 
Klasse,  so  ist  kein  Unterschied  vorhanden.  Nimmt  man  Lage 
und  Wechselbeziehungen  aller  Klassen  unter  dem  Gesichts- 
winkel  des  Proletariats,  erweist  sich  ein  durchaus  groBer  Un- 
terschied. 

Im  Laufe  vieler  Jahrzehnte  haben  die  Arbeiter  innerhalb 
der  biirgerlichen  Demokratie,  unter  deren  Ausnutzung  und  im 
Kampf  mit  ihr,  eigne  Festungen,  eigne  Basen,  eigne  Herde  der 
proletarischen  Demokratie  gebaut:  Gewerkschaften,  Parteien, 
Bildungsklubs,  Sportorganisationen,  Genossenschaften  etcetera. 
Das  Proletariat  kann  zur  Macht  nicht  im  formellen  Rahmen 
der  biirgerlichen  Demokratie  gelangen  sondern  nur  auf  revolu- 
tionarem  Wege;  das  ist  durch  Theorie  und  Praxis  gleicher- 
maBen  erwiesen.  Aber  grade  fur  den  revolutionaren  Weg  be- 
notigt  es  die  Stiitzpunkte  der  Arbeiterdemokratie  innerhalb 
des  biirgerlichen  Staates,  Auf  die  Schaffung  solcher  Punkte 
lief  ja  die  Arbeit  der  Zweiten  Internationale  in  jener  Epoche 
hinaus,  da  sie  noch  eine  progressive  historische  Arbeit  versah. 

Der  Fascismus  hat  zur  grundlegenden  und  einzigen  Bestim- 
mung:  bis  aufs  Fundament  alle  Einrichtungen  der  proletarischen 
Demokratie  zu  zerstoren.  Hat  dies,  fur  das  Proletariat  einen 
„Klassensinn"  oder  nicht?  Mogen  die  hohen  Theoretiker  dar- 
iiber  nachdenken.  Wahrend  er  das  Regime  biirgerlich  nennt 
—  was  unbestreitbar  ist  —  vergiBt  Hirsch  gleich  seinen  Lehr- 
meistern  eine  Kleinigkeit:  den  Platz  des  Proletariats  in  diesem 
Regime.  Den  historischen  ProzeB  ersetzen  sie  durch  eine  nackte 
soziologische  Abstraktion.  Der  Klassenkampf  jedoch  wird  auf 
dem  Erdball  der  Geschichte  gefiihrt  und  nicht  in  der  Strato- 
sphare  der  Soziologie.  Der  Ausgangspunkt  des  Kampfes  mit 
dem  Fascismus  wird  nicht  durch  die  Abstraktion  des  demo- 
kratischen  Staates,  sondern  durch  die  lebendigen  Organisatio- 
nen des  Proletariats  selbst  gebildet,  in  denen  seine  ganze  Er- 
fahrung  konzentriert   ist   und   seine   Zukunft   vorbereitet  wird. 

DaB  der  Obergang  von  Demokratie  zu  Fascismus „organi- 
schen"  und  t,allmahlichen"  Charakter  haben  kann,  bedeutet 
offenbar  nichts  andres,s  als  daB  man  dem  Proletariat  nicht  nur 
alle  materiellen  Eroberungen  —  ein  bestimmtes  Lebensniveau, 
soziale  Gesetzgebung,-  biirgerliche  und  politische  Rechte  — 
sondern  auch  die  Hauptwaffe  dieser  Eroberungen,  seine  Orga- 
nisationen ohne  Erschutteningen  und  ohne  Kampf  abneh- 
men  kann.  Unter  Obergang  zum  Fascismus  „auf  kaltemWege" 
wird  somit  die  schrecklichste  politische  Kapitulation  des  Prole- 
tariats verstanden,  die  man  sich  iiberhaupt  vorzustellen  vermag. 

Die  theoretischen  Erwagungen  von  Werner  Hirsch  sind 
nicht  zufallig:*  wahrend  sie  Stalins  theoretische  Orakel  weiter- 
entwickeln,  verallgemeinern  sie  gleichzeitig  die  gesamte  gegen- 
wartige  Agitation  der  Kommunistischen  Partei.  Ihr  hauptsacih- 
lichstes  Bestreben  ist  ja  gegenwartig  auf  den  Beweis  gerich- 
tet:     zwischen  Bruningregime    und    Hitlerregime  besteh'   kr' 

^  323 


Unterschied.     Darin  sehen  augenblicklich  Thalmann  und  Rem- 
mele  die  Quintessenz  der  bolschewistischen  Politik. 

Die  Sachc  beschrankt  sich  nicht  blofi  auf  Deutschland.  Die 
Idee,  der  Sieg  des  Fascismus  werde  nichts  Neues  bringen,  wird 
jetzt  eifrig  in  alien  Sektionen  der  Komintern  propagiert.  Im 
Januarheft  der  franzosischen  Zeitschrift  ,Cahiers  du  Bolche- 
visme'  lesen  wir:  ,,Die  Trotzkisten,  die  in  der  Praxis  wie  Breit- 
scheid  handeln,  ubernehmen  jetzt  die  bertihmte  Theorie  der 
Sozialdemokratie  vom  kleinern  Obel,  nach  der  Brtining  nicht 
so  schlecht  sei  wie  Hitler,  nach  der  unter  Briining  Hungers  zu 
sterben  weniger  unangenehm  sei  als  unter  Hitler  und  unend- 
lich  vorteilhafter,  von  Groener  erschossen  zu  werden,  als  von 
Frick."  Dieses  Zitat  ist  nicht  das  dummste,  obwohl  —  man 
muB  Gerechtigkeit  iiben  —  dumm  genug.  -  Doch  driickt  es  leir 
der  die   politische  Philosophie   der  Kominternfuhrer  aus. 

Die  Ursache  liegt  darin,  daB  die  Stalinisten  die  beiden  Re- 
gimes unter  dem  Gesichtswinkel  der  Vulgardemokratie  ver- 
gleichen.  In  der  Tat,  geht  man  an  das  Brtiningregime  mit 
formal-„demokratiscken"  Kriterien  heran,  ergibt  sich  der  un- 
widerlegbare  SchluB;  von  der  stolzen  Weimarer  Verfassung 
sind  nichts  als  Haut  und  Knochen  geblieben.  Doch  fur  uns 
entscheidet  das  dieFrage  noch  nicht.  Man  muB  sie  vom  Stand- 
punkt  der  proletarischen  Demokratie  betrachten.  Dies  ist  das 
einzig  verlaBliche  Kriterium  auch  fur  die  Frage,  wo  und  wann 
die  ,, normal e"  Polizeireaktion  des  verfaulenden  Kapitalismus 
durch  das  fascistische  Regime  ersetzt  wird. 

Ob  Briining  „besserM  ist  als  Hitler  (etwa  sympathischer?), 
diese  Frage  iriteressiert  uns,  wir  miissen  gestehen,  wenig,  Es 
geniigt  aber  die  Liste  der  Arbeiterorganisationen,  um  zu  sa- 
gen;  in  Deutschland  hat  der  fascismus  noch  nicht  gesiegt.  Noch 
stehen  gigantische  Hindernisse  und  Krafte  auf  dem  Weg  zu 
seinem  Sieg. 

Das  gegenwartige  Brtiningregime  ist  das  Regime  einer 
bureaukratischen  Diktatur,  besser:  der  mit  militarisch-polizei- 
lichen  Mitteln  verwirklichten  Diktatur  der  Bourgeoisie.  Das 
fascistische  Kleinbiirgertum  und  die  proletarische  Avantgarde 
halten  einander  gleichsam  die  Wagschale.  Waren  die  Arbeiter- 
organisationen durch  Sowjets  vereinigt,  wiirden  die  Betriebs- 
rate  um  Produktionskontrolle  kampfen  —  konnte  man  von 
Doppelherrschaft  sprechen.  Durch  die  Zerstuckelung  des  Prole- 
tariats und  die  taktische  Hilflosigkeit  seiner  Avantgarde  ist 
dem  noch  nicht  so.  Jedoch  allein  die  Tatsache,  daB  machtvolle 
Arbeiterorganisationen  vorhanden  sind,  die  unter  bestimmten 
Bedingungen  dem  Fascismus  vernichtenden  Wid  erst  and  leisten 
konnen,  halt  Hitler  von  der  Macht  ab  und  verleiht  dem  bureau- 
kratischen Apparat  eine  gewisse  „Unabhangigkeit'\ 

Die  Briiningdiktatur  ist  eine  Karikatur  auf  den  Bonapartis- 
mus.  Diese  Diktatur  ist  unbestandig,  unsicher,  kurzlebig.  Sie 
bedeutet  nicht  den  Beginn  eines  neuen  sozialen  Gleichgewichts, 
,  sondern  kiindigt  vielmehr  den  Zusammenbruch  des  alten  an. 
Unmittelbar  auf  eine  nur  geringfiigige  biirgerliche  Minder- 
heit  gestiitzt,  von  der  Sozialdemokratie  gegen  den  Willen  der 

324 


Arbeitcr  toleriert,  bedroht  vom  Fascismus,  ist  Bruning  zu  Ver- 
ordnungsdonnern  fahig,  nicht  abcr  zu  realern.  Das  Parlament 
mit  dessen  eigncr  Zustimmung  nach  Hause  schicken,  einigc  Ver- 
brdnungen  gegcn  die  Arbciter  erlassen,  den  Weihnachts-Burg- 
frieden  dekretieren,  um  unter  dessen  Hulle  einige  Bescherungen 
vorzunehmen,  einhundert  Versammlungen  auflosen,  ein  Dut- 
zend  Zeitungen  konfiszieren,  mit  Hitler  Brief  e,  wiirdig  eines 
Provinzapothekers,  wechseln  —  das  ist  allesr  wozu  es  bei'  Brii- 
ning Iangt.   Weiter  reicht  sein  Arm  nicht. 

Briining  ist  genotigt,  das  Bestehen  der  Arbeiterorganisatio- 
nen  zu  dulden,  weil  er  nicht  heute  schon  Hitler  die  Macht  zu 
iibergeben  gewillt  ist,  und  weil  er  nicht  selbstandige  Krafte 
zu  ihrer  Liquidierung  besitzt.  Bruning  ist  genotigt,  dieFasci- 
sten  zu  tolerien  und  zu  begiinstigen,  weil  er  den  Sieg  der 
Arbeiter  auf  den  Tod  fiirchtet.  Das  Briiningregime  ist  ein 
Obergangregime  von  kurzer  Dauer,  das  der  Katastrophe  vor- 
ausgeht.  Die  gegenwartige  Regierung  kann  sich  nur  deshalb 
halten,  weil  die  Hauptlager  noch  nicht  dazu  gekommen  sind, 
die  Krafte  zu  messen.  Der  richtige  Kampf  hat  noch  nicht  be- 
gonnen,  Er  steht  noch  bevor.  Die  Pause  bis  zum  Kampf,  bis 
zu  dem  Zeitpunkt,  wo  sich  die  Krafte  of  fen  messen  werden, 
ftillt   die  Diktatur  der  bureaukratischen  Ohnmacht  aus. 

Die  Weisen,  die  sich  dessen  riihmen,  daB  sie  keinen  Unter- 
schied  f)zwischen  Bruning  und  Hitler"  kennen,  sagen  in  Wirk- 
lichkeit:  ob  unsre  Organisationen  noch  bestehen  oder  ob  sie 
bereits  zertriimmert  sindf  ist  ohne  Bedeutung.  Hinter  dieser 
scheinradikalen  Phraseologie  versteckt  sich  die  niedertrach- 
tigste  Passivitat:  einer  Niederlage  konnen  wir  doch  nicht  ent- 
gehenl  Man  lese  nur  aufmerksam  das  Zitat  aus  der  Zeitschrift 
der  franzosischen  Stalinist  en:  das  ganze  Problem  lauft  darauf 
hinaus,  unter  wem  es  sich  besser  hungern  laBt  —  unter  Bruning 
oder  unter  Hitler.  Wir  aber  stellen  die  Frage  nicht  so;  wie 
und  unter  welchen  Bedingungen  laBt  sich  besser  sterben,  son- 
dern:  wie  miissen  wir  kampf  en  und  siegen.  Unsre  SchluB- 
folgerung  ist:  die  Generalschlacht  muB  geliefert  werden,  bevor 
Briinings  bureaukratische  Diktatur  vom  fascistischen  Regime 
abgelost  wird,  das  heiBt,  bevor  die  Arbeiterorganisationen  ver- 
nichtet  sind.  Auf  die  Generalschlacht  muB  man  sich  vorberei- 
ten,  in  dem  lokale  Kampf e  weitergetrieben,  verbreitert  und  ver- 
scharf t  werden,  Dazu  niuB  man  im  Besitze  einer  richtigen  Per- 
spektive  sein  und  vor  allem:  man  darf  nicht  als  Sieger  den 
Feind  proklamieren,  der  vom  Siege  noch  weit  entfernt  ist. 

Hier  ist  der  Kern  der  Frage,  hier  ist  der  strategische 
Schliissel  zur  Lage,  hier  ist  der  Ausgangspunkt  fur  den  Kampf. 
Jeder  denkende  Arbeiter,  und  um  so  mehr  jeder  Kommunist, 
ist  verpflichtet,  sich  Rechenschaft  abzulegen  iiber  die  ganze 
Leere,  die  ganze  Nichtigkeit  des  faulen  Geredes  von  Stalins 
Bureaukratie,  Bruning  und  Hitler  seien  ein  und  dasselbe.  Das 
heiBt  die,  Dinge  verwirren.  Schandlich  verwirren  aus  Angst  vor 
den  SchwierigkeXten,  aus  Angst  vor  den  groBen  Aufgaben.  Ant- 
worten  wir  ihnen.  Ihr  kapituliert,  ohne  den  Kampf  auf- 
genommen  zu  haben,  ihr  erklart,  wir  hatten  bereits  eine  Nie- 
derlage erlitten.     Ihr  lugt!     Die  Arbeiterklasse  ist  gespalten, 

325 


gcschwacht  durch  die  Reformisten,  desoricnticrt  durch  die 
Schwankungen  der  eignen  Avantgarde,  aber  noch  nicht  ge- 
schlagen,  ihre  Krafte  sind  nicht  erschopft.  Nein,  Deutschlands 
Proletariat  ist  machtig.  Die  optimistischsten  Berechnungeri 
werden  gewaltig  iibertroffen  werden,  wenn  seine  revolutionare 
Energie  sieh  den  Weg  in  die  Arena  der  Aktion  gebahnt  haben 
wird. 

Briinings  Regime  ist  ein  Regime  der  Vorbereitung.  Wofiir? 
Entweder  fur  den  Sieg  des  Fascismus  oder  fur  den  Sieg  des 
Proletariats.  Es  ist  ein  Vorbereitungsregime  aus  dem  Grunde, 
weil  beide  Lager  sich  auf  den  entscheidenden  Kampf  erst  vor- 
bereiten.  Briining  mit  Hitler  zu  identifizieren  bedeutet,  die 
Situation  vor  dem  Kampfe  mit  der  Situation  nach  der  Nieder- 
lage  zu  identifizieren;  bedeutet,  ira  voraus  die  Niederlage  als 
unvermeidlich  zu  betrachten;  bedeutet  die  Aufforderung,  ohne 
Kampf  zu  kapitulieren. 

Die  erdrxickende  Mehrheit  der  Arbeiter,  besonders  der 
Kommunisten,  will  das  nicht.  Auch  die  Stalin-Bureaukratie 
will  es  natiirlich  nicht.  Doch  man  muB  nicht  von  den  guten 
Aussichten  ausgehen,  mit  denen  Hitler  die  StraBen  seiner  Holle 
pflastert,  sondern  von  dem  objektiven  Sinn  der  Politikt  ihrer 
Richtung,  ihren  Tendenzen,  Es  ist  notwendig,  den  passiven, 
angstlich  abwartenden,  kapitulationsbereiten,  deklamatorischen 
Charakter  der  Politik  Stalin-Manuilski-Thalmann-Remmele  zu 
entlarvenf  Es  ist  notwendig,  daB  die  revolutionaren  Arbeiter 
begreifen:  der  Schliissel  zur  Position  ist  bei  der  Kommunisti- 
schen  Partei;  aber  mit  diesera  Schliissel  versucht  die  Bureau- 
kratie  Stalins,  das  Tor  zur  revolutionaren  Tat  zu  verschlieBen, 

Ostmarken-Prozefi  von  jan  skaia 

\/or  dem  Gericht  der  hinterpommerschen  Stadt  Stolp  ist  vor  kur- 
v  zem  ein  MeineidsprozeB  abgehaspelt  worden,  der  mit  alien  seinen 
Phasen,  einschliefilich  der  Voruntersuchung,  das  politische  Interesse 
Deutschlands  noch  weiter  beschaftigen  wird.  Die  Vorgange  sind  aus 
der  Tagespresse  unter  der  Generaliiberschrift  „MeineidsprozeB  gegen 
den   grofipolnischen  Agitator   Jan   Bauer"   bekannt. 

In  einem  BagatellprozeB  —  Beleidigung  des  Gemeindevorstehers 
von  Oslau-Damerow  durch  einen  Angehorigen  der  polnischen  Min- 
derheit  —  wurde  der  Leiter  der  polnischen  Minderheitsschulorgani- 
sation  unter  Eid  dariiber  vernommen,  ob  er  nationalpolnische,  groB- 
polnische  Propaganda,  weiter,  ob  er  uneflaubte  Agitation  fur  die  pol- 
nische  Minderheitsschule  getrieben  habe.  Bauer  Verneinte  bei  des. 
Darauf  wurde  er  wegen  Meineidsverdacht  verhaftet  und  seit  Mai  1931 
in  Untersuchungshaf t  gehalten.  Anf ang  Februar  f and  die  oben  er- 
wahnte  Schwurgerichtsverhandlung  gegen  Bauer  statt;  sie  endete  mit 
der  Verurteilung  des  Angeklagten  zu  einem  Jahr  Gef angnis. 

Also  wird  sich  Bauer  wohl  eines  Meineids  schuldig  gemacht 
haben  und  zu  Recht  verurteilt  worden  sein. 

Keineswegs,  Weder  hat  er  in  dem  obigen  BagatellprozeB  etwas 
Falsches,  Unwahres  beschworen,  noch  kann  von  einem  Recht  ge- 
sprochen  werden.  Der  ProzeB  fand  nach  alien  Regeln  der  politischen 
J-ustiz  statt;   das  Urteil  wurde  mit  politischen  Argumenten  begriindet. 

Man  vergegenwartige  sich  einen  Augenblick  das  Milieu:  Oslau- 
Damerow,  ein  pommersches  Dorf  mit  polnischer  (kaschubischer)  Ein- 
wohner mehrheit,  Der  Gemeindevorsteher  ein  Staatsforster,  Stahlhelm- 
angehoriger,    Arbeitgeber    fiir    die    zumeist    polnischen   Waldarbeiter, 

326 


Fuhrwerksbesitzer  etcetera.  Bauer  stellt  auf  Grund  der  preuBischen 
Schulordnung  fur  das  polnische  Minderheitsschulwesen  vom  31.  De- 
cember 1928  die  Zahl  der  Schulkinder  fest,  die  dort  eingeschult  wer- 
den  sollen.  Die  Schule  entsteht,  gentigend  Kinder  melden  sich.  Eine 
Anzahl  von  armen  Waldarbeitern,  die  deutsche  Staatsbiirger  sind,  aber 
der  polnischen  Minoritat  angehoren  und  ihre  Kinder  in  die  staatlich 
anerkannte  Minderheitsschule  Schick  en,  werden  aus  der  Forstarbeit 
entlassen;  sobald  sie  die  Kinder  in  die  deutsche  Schule  stecken,  er- 
halten  sie  wieder  Arbeit  oder  sie  wird  ihnen  in  Aussicht  gestellt, 
wenn  sie  tun,  was  Herr  Zimmermann,  der  Gemeindevorsteher 
und  Staatsforster,  wunscht.  Bauer  erklart  den  Eltern,  dafi  nach  den 
Bestimmungen  der  erwahnten  preuBischen  Verordnung  von  1928  nie- 
mand  die  Erklarung  der  Eltern  zum  Besuch  der  Minderheitsschule 
nachpriifen  durfe,  denn:  Minderheit  ist,  wer.willl  Man  beschuldigt 
ihn,  daB  er  seine  Agitation  mit  unerlaubten  Mitteln  betreibe,  Nie- 
mand  aber  weifi  recht  zu  sagen,  was  „nationalpolnische  Propaganda" 
ist,  und  selbst  in  der  Verhandlung  wird  festgestellt,  daB  er  sich  des 
gewiB  verwerflichen  Kaufs  von  Schulkindern  durch  Geldzuwendungen 
an  die  Eltern  nicht  schuldig  gemacht  haben  kann,  einfach  weil  keine 
Mittel  dafiir  vorhanden  waren  und  weil  die  Leitung  des  polnischen 
Schulvereins  grundsatzlich  solche  Methoden  verwirft.  Aber  er  hat 
vom  polnischen  Staate  das  Geld  bekommen,  wird  behauptet;  bewiesen 
wird  es  nicht.  Ein  Zeuge  zwar  gibt  an,  daB  ihm  600  Mark  ge- 
boten  worden  seien,  falls  er  seine  Kinder  in  eine  noch  zu  errichtende 
Minderheitsschule  schicke.  Tatsachlich  gehen  seine  Kinder  in 
eine  deutsche  Schule.  Bauer  hat  ihn  mit  seinem  Kreditgesuch  an 
eine  polnische  Volksbank  gewiesen,  der  aber  die  Sicherheiten  des 
Zeugen  nicht  genugten.  Also  bekam  er  kein  Geld.  Im  ProzeB  be- 
schwor  er  aber  als  Kronzeuge  das  GegenteiL  Das  gemigte  dem  Ge- 
richt,  obwohl  durch  Zeugeneid  festgestellt  wurde,  daB  er  in  einer 
andern  ProzeBsache  einem  Zeugen  gesagt  hat:  Schwore  doch  ruhig 
falsch;  du  kannst  es  ja  beichten  und  damit  ist  alles  erledigt.  Dieser 
Kronzeuge  Pluto  von  Pradzinski  ist  von  demselben  Landgerichts- 
direktor  Schroder  voriges  Jahr  wegen  Urkundenfalschung  zu  drei 
Monaten  Gefangnis  verurteilt  worden;  der  Strafantritt  ist  bis  zur  Er- 
Iedigung   des   Prozesses   Bauer  hinausgeschoben   worden. 

Bauer  hat  also  seinerzeit  mit  Recht  beschworen,  daB  er  keine 
unerlaubte  Agitation  getrieben  hat;  was  unter  „nationalpolnisch"  zu 
verstehen  ist,  ist  unklar;  zumindest  war  es  und  ist  es  heute  noch  fur 
die  Beteiligten  ein  Begriff,  den  jeder  anders  erlautert.  Aber  des- 
wegen   eine   Verurteilung   wegen   Meineids? 

Ja.  Weil  „das  bedrohte  Deutschtum  in  der  Grenzmark  ftihlen  und 
aus  diesem  ProzeB  die  moralische  GewiBheit  gewinnen  miisse,  daB  es 
nicht  schutzlos  dastehe",  so  argument iert  Herr  Doktor  Schroder, 

Bedrohtes  Deutschtum  an  den  Ostgrenzen?  Schutzlos?  Von  wem 
bedroht  und  gegen  was  schutzlos? 

GewiB:  In  Oslau-Damerow  wurde  im  Jahre  1930  ein  Schulfest 
der  polnischen  Minderheit  von  dreihundert  Stahlhelmleuten,  die  mit 
Lastautos  angerollt  kamen,  gestort,  Fenster  und  Zaune  des  Hauses, 
in  dem  die  polnische  Minderheitsschule  untergebracht  war,  demoliert. 
Ist  der  Staatsforster  und  Gemeindevorsteher  deswegen  eingeschritten? 
Nein,  er  hat  nichts  bemerkt.    So  sieht  das  „bedrohte  Deutschtum"  aus. 

Und  nun  die  „groBpo!nische"  Propaganda  Bauers,  deren  Aus- 
tibung  er  eidlich  verneint  hat.  Was  ist  „groBpoInisch"?  Wieder  voll- 
kommene  Ratlosigkeit,  denn  der  Gerichtsvorsitzende  versteht  darunter 
etwas  andres  als  Bauer.  Deswegen  eine  Verurteilung  wegen  Meineids? 

Ja.  Weil  Bauer  in  Polen  auf  einem  Seminar  ausgebildet  worden 
war,  was  nach  der  preuBischen  Verordnung  zulassig,  der  Leitung  des 
Polnischen  Schulvereins  aber  gar  nicht  erwiinscht  ist.  und  nur  deshalb 
akzeptiert  wird,    weil  es  in  Deutschland  selbst  keine  Ausbildungsmoglich- 

327 


keiten  fur  die  Minderheitsschullehrer  gibt.  Weil  Bauer  ferner  einer 
polnischen  Pfadfinderorganisation  angehort  hatt  in  Vortragen  angeb- 
lich  eine  neue  Grenze  bei  Stettin  gefordert  bat  (Zeugenaussagen  sagen 
das  Gegenteil),  zwei  jungen  Leuten  den  Aufentbalt  auf  der  Volks- 
hochschulc  in  Dalki  (Polen)  ermoglicht  hat,  kurz:  weil  das  alles  groB- 
polnische  Agitation  sei  und  die  musse  als  staatsgefahrlich  bestraft 
werden,  Bauer  hat  seinerzeit  bescbworen,  sich  „groBpolnisch",  wo* 
runter  er  ,,irredentistisch"  verstand  und  folgerichtig  nur  verstehen 
muBte,  nicht  betatigt  zu  haben. 

Derselbe  Gerichtsvorsitzende  Schroder,  der  den  MeineidsprozeB 
gegen  Bauer  leitete,  hat  seinerzeit  dem  Angeklagten,  als  er  in  dem 
BagatellprozeB  des  staatsforsterlichen  Gemeindevorstehers  Zimmer- 
mann  vernommen  wurdef  den  Eid  abgenommen  und  sich  trotzdem 
gegeniiber  dem  Ablehnungsantrag  der  Verteidiger  von  Bauer  als  nicht- 
befangen  erklart.  Auch  im  Haftpriifungstermin  hat  er  mehrere  Male 
Entscheidungen  getroffen,  und  schlieBlich  ist  er  im  Voruntersuchungs- 
verfahren  als  Zeuge  dariiber  vernommen  worden,  welche  Fragen  er 
Bauer  vorgelegt  und  welche  Ant  wort  Bauer  darauf  erteilt  habe, 

Ich  resumiere: 

Bauer  hat  der  Wahrheit  gemaB  beschworen,  daB  er  weder  un- 
erlaubte  nationalpolnische  Agitation  noch  groBpolnische  Propaganda 
getrieben  habe.  Da  uber  beide  Begriffe  zwischen  dem  vernehmenden 
Richter  Doktor  Schroder  und  dem  zeugeneidlich  vernommenen  Bauer 
verschiedene  Auffassungen  bestanden,  muB  als  erwiesen  geHen,  daB 
Bauer  zumindest  subjektiv  die  Wahrheit  gesagt  hat,  dann  aber  konnte 
und  durfte  er  nicht  verurteilt  werden.  Der  gegen  ihn  durchgefuhrte 
MeineidsprozeB  hat  aber  auch  objektiv  erwiesen,  daB  Bauer  keinen 
Meineid  geleistet  hat,  denn  die  Gesamtbewertung  der  Zeugen,  ange- 
fangen  bei  Herrn  Oberforster  und  Gemeindevorsteher  Zimmermann 
und  aufgehort  bei  dem  zur  Beichte  ratenden  Herrn  Pluto  v.  Prad- 
zinski,  bestatigt  eine  alien,  die  sich  mit  der  Eidesreform  beschaftigcn, 
bekannte  Erfahrung,  daB  wohl  nirgends  so  viel  Gelegenheit  zu  einer 
Meineidsleistung  gegeben  ist  wie  in  einem  MeineidsprozeB, 

DaB  Bauer  wegen  Meineids  verurteilt  wurde,  ist  ein  Akt  poli- 
tischer  Justiz.  Zwar  haben  der  Gerichtsvorsitzende  Doktor  Schroder 
sowie  der  Beisitzer  v,  Kleist  und  alle  Geschworenen  des  Prozesses  auf 
Anfrage  der  Verteidigung  bestritten,  Angehorige  des  Stahlhelms  oder 
der  N.S.D.A.P.  zu  sein.  In  der  ProzeBfuhrung  aber  kam  die  Tendenz, 
Bauer  politisch  zu  belasten,  deutlich  zum  Ausdruck,  manchmal  aller- 
dings  mit  einem  Stich  ins  Fatale,  so  als  eine  Einladung  des  polnischen 
Staatsprasidenten  zum  Tee  behandelt  wurde  oder  bei  Erorterung  iiber 
den  Gesang  der  „kaschubischen  Hymne".  Ganz  besonders  aber  ist  die 
politische  Tendenz  in  der  miindlichen  Urteilsbegrundung  heraus- 
zuhpren  gewesen. 

Man  vergegenwartige  sich  Folgendes: 

Irgend  ein  deutscher  Minderheitslehrer  in  Polen  oder  sonstwo  be- 
miiht  sich  urn  die  Errichtung  einer  deutschen  Minderheitsschule,  sam- 
melt  die  deutschen  Kinder,  besorgt  einem  oder  dem  andern  jungen 
Mann  eine  Stelle  auf  einer  deutschen  Volkshochschule,  halt  Vortrage 
iiber  die  Korridorfrage,  uber  die  Ostmarkenpolitik  Bismarcks,  uber 
die  neuen  Grenzen  nach  Versailles,  besucht  die  Tagungen  des  V.D.A,, 
beteiligt  sich  an  Kursen  der  Deutschen  Hochschule  fur  Leibesubungen, 
nimmt  eine  Einladung  zum  Tee  beim  Herrn  Reichsprasidenten  an, 
singt  bei  Gelegenheit  „Deutschland,  Deutschland  iiber  alles .  . .  von 
der  Maas  bis  an  die  Memel,  von  der  Etsch  bis  an  den  Belt . , ,"  Man 
macht  ihn  dann  bei  einem  BagatellprozeB  zum  Zeugen  und  fragt  ihn, 
ob  er  nationaldeutsche  Agitation  und  grofideutsche  Propaganda  be- 
treibe,  und  er  verneint  das  unter  Eid.  Darauf  wird  ihm  ein  Meineids- 
prozeB angehangt,  er  wird  verurteilt,  weil  der  Richter  unter  grofideut- 
scher  Agitation  sowohl  die  Beziehungen  zum  V.D.A.,  zum  deutschen 

328 


Wehrsport  etcetera,  als  auch  die  volksbildende  Vortragstatigkeit  und 
die  Werbearbeit  ftir  die  Mindefheitsschule  versteht.  So  ungefahr 
liegen  der  Prozefi  Bauer  und  seine  Begleitumstande,  wobei  zu  be- 
achten  ist,  dafi  Bauer  weder  einer  antideutschen  Organisation  ange- 
hort,  nie  an  polnischem  Wehrsport  teilgenommen  und  auch  nie  eine 
Einladung  zum  Tee  beim  polnischen  Staatsprasidenten  erhalten  hat. 
Ist  unter  solchen  Umstanden  noch  irgend  einem  Minderheitsange- 
horigen  —  ob  Pole  in  Deutschland  oder  Deutscher  in  Polen  — *  iiber- 
haupt  noch  erlaubt  und  also  moglich,  fur  sein  verbiirgtes  lcgales  Recht 
einzutrelen  und   fur  sein  Volkstum  kulturell  zu  arbeiten? 


pin  Schritt  von  mir!  Tuchfiihlung  fast!  Da  steht  er! 
Bumm! 

Aura  von  Waih-Geschrien-  und  Heil-Gezeter! 
Fiinf  Herren!    Zackigl    Seele  angewinkelt ! 

Nackenkrumm! 
Zwei  Falten!    Mundabwarts  gesteilt!  Verhalten! 

Vom  Schicksal  eingeplattet! 
Die  rechte  Schulter  hangt!  Krampfhaft-lassig!  Stimme  knarrt 

Anpfiffl 

Siiddeutsch  gefettet! 
Kinn  flieht!    Gehacktes  Bartchen  trommelt   Angrif!{ 

Nachts  aber  traumt  das  — 
Bodenloses  offnet  sich  dem  Falle  — 
Der  Wille  irrt  in  Oden  ohne  Zweck 
Der  Traum,  kaftangewandet,  spreizt  die  Kralle: 
Judas  Rachel 
Den  Albdruck  wegf 
Den  Albdruck  weg! 
Deutschland  erwache! 

Die   Rechte  in   der   Tasche!    Linke  mahnt!    Alldeutschlands 

Ober 
Haupt! 

Versetztes  Lacheln!    Ein  getretner,  grober 

Schani,  der  eines  dicken  Juden  ekles  Trinkgeld 

klaubtl 
Verfluchte  Drohnen!  Faust  stofit  vorl  Der  Wunderattentater! 

Mittelstandsheiland ! 
Den  Kopf  im  Mythos!    Knocheltief  durchs  Blutmeer  der  Ver- 

rater 

Zum  Rasse-Eiland! 

Hat  er  £etraumt?  Er  sieht  sich  um!  MilHonen  folgen!  Bumml 

Da  steht  erf 


PortrSt  nach  der  Natur  von  Walter  Mehrlng 

329 


Auf  dem  NaChttlSCh  von  Peter  Panter 

fljraf  A,  Stenbock-Fermor  „Deutschland  von  unten"  (bei  J.  Engel- 
^*  horns  Nachfolger  in  Stuttgart  erschienen) ,  Em  schones  und  lehr- 
reiches  Buch.  Gut  illustriert  ist  es;  auch  bringt  es  erschiitterndes  Ma- 
terial tiber  deutsche  Heimarbeiter,  iiber  die  Not  des  Landes,  eine 
Not*  die  so  gar  nichts  mit  den  „Tributen"  zu  tun  hat.  Merkwiirdig 
ubrigens:  wenn  irgend  ein  nationaler  Esel  so  ein  Schlagwort  in  die 
Luft  wirft,  dann  fangen  es  tausend  andre  auf.   Also  Stenbock, 

Am  besten  hat  mir   das   Kapitel   iiber   das  Leuna-Werk   ge  fa  lien. 

Da  hat  er  furchtbare  Einzelheiten  zusammengetragen:  namlich 
iiber  die  Ereignis'se,  die  sich  nach  der  Besetzung  des  Werkes  durch 
die  WeiBen  zugetragen  haben.  Die  Weifien  nannten  sich  „Vertreter 
der  Ordnung",  und  die  Sache  wurde  so  geordnet,  dafi  drauf  losgeprii- 
gelt,  erschossen  und  kartatscht  wurde  -^  nach  der  Besetzung  I  nach 
4er  Gefangennahme  der  Leute!  nachher!  — ,  es  war  eine  Lust  zu 
leben.  Unters.uchungsausschuB  des  Preufiischen  Landtages:  Sind  Ver- 
stoBe  vorgekommen? 

Und  ob.  Und  ob.  Jedoch  ein  Leutnant:  „Ich  habe  meine  Pflicht 
getan,  aber  wir  sind  alle  Menschen."  Fragei  Sind  ErschieBungen  von 
Qefangenen  vorgekommen?  „Das  ist  bei  mir  nicht  vorgekommen.  Die 
es  getan  haben,  miissen  es  verantworten  und  ver  ant  wort  en  es  auch/' 
Namlich  so:  „Meine  Herren,  wenn  Sie  sich  das  durch  den  Kopf  gehen 
lassen,  wenn  Sie  sich  in  unsre  Lage  hineindenken  wollen . , .  und 
hinterher  dieser  Dank!  Das  tut  weh,  dann  verliert  man  Lust  und 
Liebe,  in  einer  ahnlichen  Angelegenheit  vorzugehn."  Oberschrift:  Wenn 
wir  nicht  tun  durfen,  was  wir  wollen,  dann  macht  uns  der  ganze 
Ordnungsdienst  keinen  SpaB.  Den  Arbeitern,  denen  man  manches 
hat  durch  den  Kopf  gehn  lassen,  hats  auch  weh  getan.  Doch  trosten 
wir   uns: 

Ein  Abgeordneter:  „Ich  glaube,  der  Hen*  Zeuge  ist  iiber  die  Ar- 
beit des  Untersuchungsausschusses  vollkommen  im  Unklaren.  Der 
UntersuchungsausschuB  hat  niemals  Angriffe  gegen  die  Schutzpolizei 
erhoben.  Der  Dank  der  Regierung  wird  sicherlich  von  dem  ganzen 
AusschuB  geteilt,  soweit  wenigstens  meine  Partei  in  Frage  kommt." 
Na,  dann  ist  ja  alles  in  Ordnung.  Auf  WiederschieBen  beim  nach- 
sten  Mai! 

Das  nachste  Mai  wird  gut  vorbereitet,  aber  nicht  so  sehr  von 
links,  wie  man  dem  Ausland  gern  glauben  machen  mochte,  sondern 
durchaus  und  durchum  von  rechts  her,  „Aufstand,  Querschnitt  durch 
den  revolutionaren  Nationalismus,"  Herausgegeben  von  Goetz  Otto 
Stoffregen.  (Erschienen  im  Brunnen-Verlag  Willi  Bischoff  in  Berlin,) 
Erschienen  und  sogleich  beschlagnahmt;  wegen  darin  enthaltener  An- 
griffe gegen  die  Justiz.     Ich  habe  schon  mal  bosere  Angriffe  gelesen, 

Eigentlich  ist  es  nicht  ritterlich,  mit  Gegnern  zu  polemisieren, 
die  mundtot  gemacht  sind,  wenigstens  fur  diesen  einzelnen  Fall 
mundtot,  Doch  haben  diese  Jurigen  auf  Ritterlichkeit  keinen  Anspruch 
—  sie  sinds  ja  auch  nicht,  Gegen  solche  Knaben  kampfe  man  mit  der 
Holzkelle,  nicht  mit  dem  Florett. 

In  diesem  Buch  geht  alles  bunt  durcheinander.  Wirklich  geistige 
Dinge  und  daneben  der  Jude  Arnolt  Bronnen;  leeres  Geschwatz  und 
beachtliche  Satze  iiber  deutsche  Kunst,  alles  nebeneinander.  Auch 
etwas  Lyrik,     Die  sieht  so  aus: 

Wir  sind  einer  Fahne  geboren, 
Die  fern  wo  im  Walde  schlagt. 
Haben   Sie   schon   mal   eine  Fahne  schlagen  horen?      Davor   und   da- 
hinter  volkische  Theorie,  und  die  lohnt  anzusehn, 

..Aufgabe  der  deutschen  Nation  in  staatlicher  Hinsicht  ist  es,  den 
Raum  zwischen  Flandern  und  Burgund,  Sieberiburgen  und  Dorpat  zu 

330 


gestalten  und  zu  sichern  und  die  ost-  und  siidosteuropaischen  Gebiete 
mit  ihren"  —  hor  zu!  —  „mit  ihren  zur  Nationbildung  ungeeigneten 
Volkern  unter  Wahrung  des  volkischen  Eigendaseins  ihrer  Volkstumer 
dem  politischen  und  wirtschaftlichcn  deutschen  Machtbereich  ein- 
zuordnen , . .  Aufgabc  des  Reiches  aber  ist  es,  den  Tragern  der  an 
keine  Nation,  kein  Volk  und  keine  Rasse  gebundenen  Deutschheit  die 
Herrschaft  zu  iibertragen,  um  das  Erdreich  Gottes  zu  gestalten."  Genau 
so  dumm  sagts  die  ,Tat'  auch,  nur  mit  ein  biBchen  andern  Worten. 
Nun  denke  man  sich  einen  volkischen  Helden,  der  zufallig  das  Un- 
gliick  hat,  in  der  Tschechei  geboren  zu  sein  —  dann  gilt  die  ganze 
Volkheit  nicht,  denn  sein  Volk  ist  zur  Bildung  einer  Nation  nicht  ge- 
eignet.  Und  das-  entscheiden  jene  mit  ihrem  schmutzigen  Hals.  Feine 
Leute.  SchieBen  zum  Beispiel  die  belgischen  Einwohner  auf  die  Deut- 
schen, so  gehoren  sie  an  die  Wand.  Umgekehrt  aber:  „Der  insurrektive 
Krieg  ist  die  Grundlage  einer  Landesverteidigung,  die  den  Einbruch 
des  Feindes  an  der  Grenze  nicht  sof ort  abf angen  kann,  sondern  den 
eingedrungenen  Heersaulen  mit  jedem  Kilometer  und  von  alien  Seiten 
'  wachsende  Gegenwehr  entgegenstellen  kann,  so  dafi  diese  revolutio- 
nare  Landesverteidigung . . ."  Und  wundern  sichf  daB  das  Ausland  ihr 
Vokabular  nicht  adoptiert,  sondern  das,  was  die  Herren  treiben  und 
treiben  wollen  und  treiben  konnen,  ganz  anders  benennt. 

Soweit  rechts.  Von  links:  „Wilhelm  II".  Ein  Film  von  Dosio 
Koffler  (erschienen  im  Lucifer-Verlag  in  Berlin).  Keine  Sorge  —  die- 
ser  Film  wird  nie  gespielt  werden,  der  Autor  weifi  es.  Denn  das 
Kino  ist  eine  Kleinkinderbewahranstalt,  beaufsichtigt  von  Brillenr 
Stiftsdamen  und  einer  Industrie,  die  niemals  etwas  gegen  das  Kapital 
spielen  laBt.  Das  ware  ein  Filmchen!  Manches  ist  allzu  eng  nach 
Heinrich  Manns  „Untertan"  gearbeitet,  so  die  Stelle  auf  Seite  29,  wo 
sich  der  Untertan  Willi  und  der  Kaiser  ansehn;  manches  ist  weder 
filmisch  noch  gut,  wie  etwa  die  szenische  Anmerkung;  „Holsteins 
Amtsstube.  Man  hat  das  Gefuhl  dumpfer  Hehlerluft."  Nee,  eben 
nicht!  Wie,  glauben  Sie,  hats  in  dem  Bureau  ausgesehn?  Wie  in 
jedem  andern  auch,  Sehr  gut  ist  der  Abmarsch  Wilhelms  des  Schick* 
salslosen  liber  die  hollandische  Grenze  —  ich  hoffe,  dartiber  das  No- 
tige  in  einem  Nekrolog  sag  en  zu  konnen.  (Taktlos?  Ich  kann  mich 
nicht  besinnen,  Herr  Zwischenrufer,  so  zarter  Rucksichtnabme  bei  der 
viehischen  Ermordung  Liebknechts  begegnet  zu  sein.  Taktlos?  Wer 
geht  denn  mit  uns  sanft  um?)  In  einem  Nekrolog  will  ichs  sagen. 
Den  der  Hebe  Gott  noch  lange  hinausschieben  moge,  lang  lebe  der 
Konig!  Denn  dieser  Mann  kann  gar  nicht  spat  genug  sterben;  je  spa- 
ter,  um  so  unbeachteter  wird  er  dahingehn,  Sein  Tod  wird  in  seinem 
Leben  das  einzige  sein,  das  er  mit  Napoleon  gemeinsam  hat:  auch  des- 
sen  Tod  war,  nach  Talleyrand,  kein  Ereignis,  er  war  eine  Nachricht. 
Fedor  Vergin  „Das  unbewuBte  Europa"  (erschienen  bei  Hefi  &  Co. 
in  Wien).  Ach,  da  gehts  aber  zu!  So  klug,  und  so  freudianisch  und 
iiberhaupt  sehr  gebildet  aus  zweiter  Hand.  Dabei  stehen  in  diesem 
Essayband  sehr  vernunftige  Bemerkungen  iiber  Europa  —  wenn  nur 
fur  solche  Art  Schriftsteller  Freud  nicht  gelebt  hatte!  Sehr  gescheite 
Satze  iiber  die  Englander:  „Sie  sind  einfach  da,  ihr  So-Sein  geniigt 
ihnen  restlos.  Sie  streben  gar  nicht,  anders  zu  sein.  Sie  reformieren 
im  kleinen  gern  und  mit  Humor,  sie  doktern  an  sich  immer  ein  wenig 
herum,  aber  sie  werden  niemals  ihre  psychischen  Ideale  aufgeben. 
Darin  sind  sie  sich  einig  wie  kein  andres  Volk  auf  Erden."  Und: 
„Der  englische  Humor  der  Selbstpersiflage,  so  kennzeichnend  ftir  den 
normalen  Englander,  hat  in  einem  so  unkritischen  Volk  wie  dem 
deutschen,  das  iiber  sich  selbst  stets  falsche  Ansichten  hegt,  trotzdem 
es  sich  standig  ein  Problem  ist,  die  verheerende  Wirkung  ausgelost, 
dafi  man  die  englische  Selbstkritik  todernst  nahm  und  generalisierte," 
Und  so  noch  manches  MaL  Was  hingegen  iiber  die  Franzosen  da 
steht,      ist     milder     Wahnwitz.     „Der     sadistische     Nordfranzose    im 

331 


Apachentanz,  wobei  eine  Frau  von  einem  Banditen  mit  dem  Messer 
zerstochen  wird . .  /'  also  das  ist  Cabaret  in  Duisburg,  sicher  sehr 
schon,  aber  Duisburg,  Auch  dafi  der  franzosische  Sparsinn  nichts 
als  Sadismus  sei,  hore  ich  zum  ersten  Mai,  ,,Der  franzosische  Nach- 
kriegsnationalismus  ist  wesentlich  sadistisch.  Er  ergotzt  sich  man- 
gels Zahlungen  von  Reparationen  an  der  Qual  des  Opfers  ..."  Ich 
habe  fiinf  Jahre  in  Frankreich  verbracht,  ich  fahre  fast  jedes  Jahr 
dorthin,  ich  habe  mit  den  Leuten  zusammengelebt,  und  ich  darf  aus 
tiefster  Erfahrung  sagen:  dies  ist  heller  Blodsinn  und  nichts  als 
Stammtischgeschwatz,  pseudowissenschaftlich  frisiert.  Merkwurdig 
bei  einem  Mann,  der  immerhin  so  viel  politische  Einsicht  hat,  daB 
er  erkennt;  „Die  neuen  Nationalstaaten  Osteuropas  sind  seelische 
Nachfolger  der  altosterreichischen  Politik,  an  der  Deutschland  naiv 
zugrunde  ging.  Der  Franzose  ahnt  nicht,  was  eigentlich  Macedonien, 
was  Siebenburgen  bedeutet."  Ah,  das  ist  etwas  anders.  Die  immense 
Schuld  Frankreichs,  insbesondere  Clemenceaus,  an  diesem  neuen,  ge- 
fleckten  und  geflickten  Europa  —  das  ja.  Aber  Sadismus  gegeniiber 
Deutschland,    das   nein.  t 

ttber  Deutschland  vermeldet  der  Autor  gute  Sachen.  „Antise- 
mitismus  wtirde  beispielsweise  fortbestehen,  wenn  es  langst  keinen 
Juden  mehr  in  Deutschland  gabe.  Seelisch  fuhlt  sich  das  groBe 
Kind  immer  haBerfullt  gegen  einen  fiktiven  Eindringling  und  Be- 
droher  seiner  Mutter:  dem  nationalen  Gebiet . . .  Das  vom  Natio- 
nalismus  benotigte  HaBobjekt  sind  Juden  oder  Nachbarvolker,  die 
natiirlich  immer  bedrohen."  Sehr  gut  diese  Bemerkung  —  hort  es, 
ihr  volkischen  Beobachter!  — :  „Jeder,  der  anno  1914  gut  burger- 
liche,  also  gesittete  Frauen  in  alien  Kulturlandern  beobachten  konnte, 
wie  sie  sich  iiber  Nacht  in  Prostituierte  der  Begeisterung  verwan- 
xlelten . .  /'  das  sollte  man  sich  merken.  Sehr  gut  auf  Seite  308 
<;ine  fundierte  Darlegung  dessen,  was  man  auch  bei  einem  Rich- 
ter  und  einem  Staatsanwalt  als  „Seele"  bezeichnet.  „Man  straft  so 
gern  andere  fur  das,  was  man  sich  selbst  nicht  gonnt/'  Das  Buch 
hat  Perspektiven,   keine   grofien,   viele    falsche,    aber   immerhin. 

Bliebe  als  vorletztes  ein  merkwtirdiges  Ding  von  einem  Buch.  „Er- 
lebtes.  Erstrebtes.  Erreichtes"  von  Franz  Oppenheimer  (erschienen 
im  Welt-Verlag  zu  Berlin).  Ganz  so  schlimm,  wie  ich  es  mir  nach 
dem  Vorabdruck  gedacht  habe,  ist  es  nicht  geworden  —  aber  pein- 
lich  ist  es  immer  noch.  Es  bleibe  ganzlich  aufier  Betracht,  was  dieser 
Nationalokonom  in  seinem  Fach  bedeutet,  das  steht  auf  andern  Blat- 
tern.    Er  gibt  hier   seine  Lebensgeschichte. 

Dieser  Mann  —  und  nur  deshalb  bespreche  ich  das  Buch  — 
besitzt  in  hochstem  MaBe  etwas,  was  ich  die  „indirekte  Eitelkeit" 
nennen  mochte. 

Er  sagt,  auBerhalb  seines  Faches,  niemals:  Ich  bin  ein  grofier 
Mann,  ich  bin  ein  fabelhafter  Kerlf  —  wenigstens  sagt  er  das  nicht 
direkt.  Aber  er  hat  auf  alien  seinen  Freunden  Reflektoren  an- 
gebracht,  die  ihn  beleuchten,  und  er  hat  nur  bedeutende  Freunde. 
Kennt  ihr  solche  Menschen,  die  ununterbrochen  im  Munde  fuhren: 
„Mein  Freund  Leopold,  einer  der  groBten  Halsarzte  Frankfurts  . , ."? 
Andre  als  groBte  kennt  diese  Sorte  gar  nicht.  Was  in  das  Lichtfeld 
von  Oppenheimers  Leben  tritt,  ist:  der  bedeutendste,  der  groBte,  der 
bekannte,  der  beste,  der  schonste . . .  merkwurdig.  Von  diesen 
Schwanen  aber  mag  ein  gut  Teil  Ganse  sein.  Ich  habe  diese  Art 
von  Eitelkeit  schon  ofters  angetrof f en.  Hermann  Bahr  hatte  sie  im 
hochsten  Grade;  Rathenau,  in  einer  andern  Kulor,  auch,  nur  war  der 
zu  kalt,  urn  mit  seiner  Eitelkeit  Menschen  zu  begnaden,  er  spiegelte 
sich  in  Sachen.  Es  ist  jene  Eitelkeit,  die  den  eignen  Freundeskreis 
lacherlich  aufblaht  und  seine  Bedeutung  auf  das  unsinnigste  iiber- 
schatzt.  Wenn  nun  eines  dieser  Privat-Genies  auch  auBerhalb  des 
Kreises  nur  einen  kleinen  Erfolg  hat,  so  nuckeln  alle  mit  dem  Kopf : 

332 


„Na  naturlich.  Das  haben  wir  ja  immer  gewuBt.  ^Unser  Anton.., 
aber  das  ist  doch  ein  Genie,  wufiten  Sie  das  nicht?"  Und  dann 
wird  auch  der  mittlere  Erfoig  des  Herrn  Anton  vergrbfiert  und  auf- 
gepustet  und  bis  an  die  Wolken  gehoben;  sie  konnen  sich  gar  nicht 
lassen  vor  Entziicken,  dafi  einer  d«r  ihren  nun  wirklich  Privatdozent 
ist  oder  Regierungsrat,  oder  daB  er  einen  Orden  bekommen  hat...  sie 
niachen  aus  Serienfabrikaten  handwerkliche  Prachtstiicke.  Und  es  ist 
.alles  nicht  wahr. 

Eine  fazettierte  Eitelkeit,  von  Oppenheimer  bis  herunter  zu  den 
weiblicheri  wiener  Schmocken,  es  ist  immer  dieselbe:  t,Ich  kann  Ihnen 
in  Oslo  meinen  Freund  Gunnar  empfehlen,  das  ist  der  bedeutendste 
norwegische  Journalist."  Und  dann  bist  du  in  Oslo,  und  dann  ist  Herr  \ 
Gunnar  ein  braver  und  brauchbarer  Mann,  wie  zehn  andre  auch. 
Oppenheimer  ist  ein  NarziB,  der  sich  in  Menschen  spiegelt. 

Er  hat  also  den  Krieg  erlebt.  „Ich  war  dicht  daran,  mich  als 
alter  Alpinist  bei  einem  Alpenkorps  zu  melden.  Aber  ich  war  da- 
mals  zwanzig  Jahre  aus  aller  Praxis  heraus  (Oppenheimer  ist  fruher 
Arzt  gewesen)  und  hatte  mindestens  einige  Monate  auf  Wieder- 
holungskurse  verwenden  mussen,  um  nicht  mehr  Schaden  als  Nutzen 
zu  stiften;  denn  ich  hatte  selbstverstandlich  die  Leitung  eines  Laza- 
retts  ubernehmen  mussen."  Warum?  Warum  hatte  er  nicht  in  be- 
scheidener  Weise  wie  hunderttausend  andre  mitmachen  konnen? 
Dann  hatte  ihm  der  ganze  Krieg  keinen  SpaB  gemacht. 

So  ging  er  damals  umher,  verfertigte  Denkschriften,  machte  sich, 
wie  er  angibt,  nutzlich,  und,  wie  er  nicht  angibt,  recht  wichtig,  und 
das  Ganze  ist  und  bleibt  peinlich.  Bis  zu  diesen  letzten  Kapiteln 
kann  man  nicht  sagen,  daB  dieser  ehemals  aktive  Burschenschafter 
so  etwas  wie  das  Kreuz  seines  Judentums  mit  sich  schleppe  —  aber 
dann  schleppt  ers  eben  doch.  MZur  Rechten  Hindenburgs  saB  der 
greise  General,  der  den  Liebesgabenzug  hergebracht  hatte,  zu  seiner 
Link  en  ich  als  der  Altere  von  uns  beiden,  mir  zur  Link  en  Luden- 
dorff  und  an  dessen  Seite  mein  Kollege  Bodenheimer.  Mir  gegenuber 
saB  ein  Herzog  von  Sachsen,  ganz  unten  an  der  langen  Tafel  der 
jiingste  Prinz  von  Preufien  unter  den  Leutnants."  O  du  seliger 
Untertan. 

Kommt  hinzu,  daB  diese  gradezu  groteske  Eitelkeit  eigentumliche 
Wellen    schlagt.  Der    Mann    spricht    immer    von    „seinem"    Berlin; 

„mein  Freiburg",  sagt  er,  ltmein  Liliencron"  und  einmal  sogar,  von  der 
Erfindung:  „mein  elektrisches  Licht".  Er  erinnert  in  manchem  an  diese 
geblahten  Privatdozenten  aus  Heidelberg  oder  Gottingen;  wenn  man 
denen  zuhort,*  wundert  man  sich  immer,  daB  es  uberhaupt  noch  so 
etwas  wie  ein  Weltratsel  gibt,  es  ist  doch  alles  schon  langst  gelost, 
namlich  von  dem  Betreffenden,  oder  von  seinem  Freund  oder  eben 
von  „seinem  Kreis",  Und  dann  kommst  du  hin,  und  dann  ist  es  gar 
nichts  oder  wenig,  und  die  Welt  pfeift  auf  Gottingen  und  auf  Heidel- 
berg, und  es  ist,  wie  Salomo  sagt,  alles  eitel. 

Zum  Schlufi   wollen  wir  uns  ein  Bildermappchen  ansehn. 

„Blutproben."  Zehh  Stiche  von  Johannes  Wusten  (erschienen 
bei  der  Volksbuhnen-Verlags-  und  Vertriebs-G.  m.  b.  H.,  wie  kann  man 
nur  so  heiBsn!  in  Berlin  NW  40,  Platz  der  Republik  7),  '  Das  Heft- 
chen  enthalt  Reproduktionen.  Schade,  daB  sie  so  nackt  herausge- 
kommen  sind;  das  kleine  Motto,  das  Wusten  jedem  Blatt  vorangesetzt 
hat,  ist  allemal  sehr  treffend  —  aber  textieren  hatte  das  Erich  Kastner 
sollen.     Es  ist  wie  fiir  ihn  gemacht. 

Man  denke  sich  eine  Mischung  von:  Willi  Geiger,  Grosz,  Kubin . . . 
so  etwa.  Und  doch  durchaus  eigenartig.  Und  bose,  herrlich  bose  — 
bose  aus  enttauschter  Giite.  Die  drei  Betsch western  sind  eine  blanke 
Freude;  die  Trauung  ist  ein  Juwel;  das  Blatt  „Tot"  reicht  in  sehr 
mysteriose  Tiefen,  und  die  „Elegie"  habe  ich  mir  einrahmen  lassen. 
Hier  eben  fehlt  Kastner.    Es  ist  ganz  groBartig. 

333 


Lcicht  hat  es  Wusten  nicht.  Er  lebt  in  Gorlitz;  seine  Radierun- 
gen  waren  dort  ausgestellt,  aber  plotzlich  zog  die  Museumsleitung 
drei  Blatter  zuriick.  Die  hiefien,  wie  der  Zufall  spielt:  „Andacht" 
und  „Trauung"  und  (fleilsarmee'*,  indem  den  Gorlitz ern  etwas  Re- 
ligion erhalten  bleiben  muQ,  Wusten  schreibt  mir:  „Man  liest  oft, 
dafi  der  Kiinstler  in  der  Provinz  noch  so  etwas  wie  eine  kulttirelle 
Aulgabe  habe.  Wer  die  erf iillen  will,  muB  j  etzt  Wartburgbilder 
malen  und  die  Konigin  Luise  verehren."  Wusten  malt  weder  das  eine 
noch  verehrt  er  die  andre,  und  das  macht  nicht  beliebt. 

Der  Mann  verdiente  bekannter  zu  sein,  als  er  es  ist  —  in  dem 
steckt  etwas.  Lafit  euch  das  Heftchen  einmal  kommen.  Es  wird  euch 
viel  Freude  machen. 

Vaterchen  richtet,  Tochterchen  tanzt  von  Anton  Kuh 

*7  wci  Thcscn:  Im  Deutschland  von  1932  muB  man  bci  allem 
wicder  von  vorne  zu  denken  anfangcn  —  die  Selbstver- 
standlichkeit  von  gestern  ist  das  Paradox  von  heute.  Zwei- 
tcns:  dieses  Deutschland  ist  von  Hermann  Sudermann  erfun- 
den,  auch  dort,  wo  es  glaubt,  von  Gerhart  Hauptmann  zu  sein. 

In  den  Urtagen  unsrer  Kindheit  —  wenn  wir  schlaflos  in 
den  Betten  lagen  und  der  Phantasie  Gefahrspiele  zu  kosten 
gaben  —  haben  wir  den  Tag  des  Gerichts,  der  einmal  unsre 
Schuld  oder  Unschuld  vor  einem  Tribunal  ans  Licht  bringen 
soil,  so  gesehen;  wir  werden  alsdann  von  zwei  Augen  in 
stumme  Blickprtifung  genommen,  nicht  wie  von  einem  Vor- 
sitzenden  sondern  wie  von  einem  Pokerpartner,  der  wissen 
will,  ob  wir  vier  Asse  haben  oder  bluffen;  wir  werden  bei  Tag 
und  Nacht  belauert,  was  wir  tun,  woran  wir  denken,  wieweit 
wir  uns  BloBen  geben  und  ob  wir  uns  insgeheim  belustigen;  wir 
werden  mit  unsern  Verdrangungstaten  konfrontiert,  die  man 
durch   geheime   Schliissellocher   erspaht  hat. 

Dann  kommt  das  Leben,  die  praktische  Belehrung  und 
ruft  uns  zu:  MUnsinn,  kleiner  Moritz!...  Das  ist  die  infantile 
Vorstellung  von  der  Justiz!  Grade,  weil  der  Hebe  Gott  alles 
weiB  und  sieht,  weifl  er,  wie  trtiglich  oft  das  ist,  was  er  sieht. 
Der  Richter  ist  sein  Stellvertreter  auf  Erden.  Wenn  er  der 
Hascher  deiner  Seele,  der  Schliissellochgucker  deines  augen- 
blicklichen  Tuns  sein  wollte,  kame  er  iiber  die  Erweislichkeit 
oder  Unerweislichkeit  deiner  Tat  en  nie  ins  Klare.  Justiz  ist 
das  Gegenteil  von  dem,  was  du  glaubst:  Abkehr  vom  Tag 
drauCen  hinter  den  ,Gerichtsfenstern,  Ausschaltung  des  Unge- 
fahren,  Unneugier  fxir  alles,  was  nicht  im  Saal  sitzt  und  hier 
vor  sich  geht.  Darin  definiert  sich  ja  das  Wesen  des  Gerichts, 
das  grade  nennt  man  seine  Hoheit.  Welche  Verwirrungen, 
Gemeinheiten,  Mystifikationen,  Katz-  und  Mausspiele  des  Ge- 
wissens  gabe  es,  wenn  es  anders  ware,  und  wie  wtirdelos 
mtiBte  ein  Gericht,  das  sich  darauf  einlieBe,  hinter  dem  Alltag 
her  sein,  der  den  Gerichtstag  begleitet,  sich  in  ihn  mischen, 
mit  ihm  balgen,  seinen  Zufallen  nachlaufen.  Nein;  das  Gericht 
thront,  es  kriecht  nicht  auf  alien  Vieren.  Es  hat  fur  die 
Dauer  des  Prozesses  kein  Privatleben."  So  spricht  die  Norm. 

Aber  wir  leben  nicht  im  Land  der  Norm.  Der  Amts- 
gerichtsrat  KeBner  etwa,  der  den  Vorsitz  im  ProzeB  Sklarek 
fiihrt,  hat  andre  Auffassungen  von  der  Gerichtshoheit,  er  setzt 
unser  infantiles  Schreckbild  ins  Recht.  Er  sieht,  daB  er  es  mit 
334 


zwei  gescheitcn  oder  sagen  wir  ihm  zu  Liebe:  geriebenen 
Briidcrn  zu  tun  hat  und  das  stachelt  scinen  Ehrgeiz,  hinter 
ihnen  nicht  zuriickzubleiben;  er  schlieBt  aus  ihrem  Augen- 
ausdruck  auf  ihr  Pokerblatt;  cr  weiB,  ob  sic  im  Auto  oder  per 
StraBenbahn  zur  Verhandlung  kamen,  erfahrt,  was  sic  zu 
Mittag  gegessen  haben,  beobachtet  sic  auf  dem  Korridor. 
Manchmal  erhalt  er  cinen  Brief  zugeschickt,  dann  schmunzelt 
er  vielbedeutsam,  rcicht  ihn  dem  Staatsanwalt  hin  und  weidet 
sich  an  der  hoffnungslosen  Neugier  der  Anwalte,  die  nur  glau- 
ben  sollen,  daB  hier  das  schriftliche  Gestandnis  vorliegt,  wah- 
rend  vielleicht  ein  Portier  personliche  Bekundungen  vorge- 
bracht  hat.  Kurz:  dieser  ProzeB  ist  ein  Turnier,  seine  Arena, 
die  ProzeBstimmung  und  der  Tag  neben  dem  Gerichtstag  sollen 
Tatbestande  schliissig  machen,  die  von  selber  nicht  das  Maul 
aufmachen  wollen. 

Der  Amtsgerichtsrat  muB  davon  cinen  kleinen  Sklarek- 
komplex  haben.  Auch  seine  Familie  steht  mit  im  Kampf.  Es 
ist  wie  in  den  Dilettanten-Gerichtsstiicken  und  -Filmen,  wo 
der  Papa  Richter  am  Mittagstisch  sorgenschwer  vor  sich  hin 
briitet  und  auf  die  Frage  des  an  seinen  Hals  fliegenden  Toch- 
terchens;  ,,  Vater,  warum  so  traurig?"  haarstreichelnd  erwidert: 
„Ach  du  weiBt  ja  —  dieser  ProzeB  Kulicke . . ."  Als  dieser 
Tage  bei  der  Verhandlung  von  der  Beschuldigung  die  Rede 
war,  Leo  Sklarek  haben  soeben  um  180  000  Mark  eine  Villa 
erstanden  und  Sklareks  Verteidigcr  in  den  Vorsitzenden 
drangt,  von  wo  die  Information  stammc,  da  sprach  dieser  voll 
Feinheit  (der  Bericht  verzeichnet  ,,Bewegung")  <len  Satz:  ,Jch 
kann  doch  nichts  dafur,  daB  ich  eine  Tochter  habe,  die  manch- 
mal mit  einem  Herrn  tanzt,  der  zufallig  Anwalt  ist.  Anschei- 
nend  ist  der  Besitzer  der  Villa  ein  Mandant  des  Anwalts." 

DaB  der  Vater  der  Tanzpartnerin  des  Anwalts  des  Villen- 
besitzers  als  Geruchtfanger  an  die  beriihmte  „Freundin  des 
Schwagers  vom  Hauswart  des  Onkels  meines  Brudcrs"  erinnert 
—  nur  nebenbei.  Aber  sein  dramatisch  vcrhaltenes,  beiBend- 
trotziges  ,,Ich  kann  doch  nichts  dafiir . . ."  konnte  von  Gerhart 
Hauptmann  sein.  Es  ist  die  Verwicklung  eincr  gedichteten 
Person  mit  einer  amtstatigen  (wobci  der  gedichtete  Teil 
realistisch  und  der  amtierende  erfunden  wirkt.)  Man  sieht 
den  Vater,  die  Tochter,  die  Dekoration  von  Ernst  Schiitte. 
Papa  kommt  achzend  hcim.  Tochterchcn  fliegt  ihm  entgegen: 
„Vater,  frohe  Ncuigkeit  fur  unsan  ProzeB!"  „Nicht  doch?" 
„Ja  doch.  Du  weiBt  doch,  ich  habe  jestern  mit  Dr.  Schwie- 
bicke  getanzt..."  „Und?"  „Na  —  heut  wird  dir  die  Suppe 
schmecken;  stell  dir  voa ..." 

Man  dichte  nach  Belieben  weiter.  Sklareks  Geister  sitzen 
als  Gaste  an  des  Richters  Mittagstisch,  Ein  deutsches  Heim 
hat  seinen  sonnigen,  werkfrohen  Inhalt:  den  ProzeB.  Die  rich- 
tenden  Papas  haben  hierzulande  eben  ein  Gewissen.  Es  ist 
wie   im   Traum  des   kleinen  Buben . . . 

* 

Ein  Haupt-  oder  Sudermann  hat  die  deutsche  Wirklichkeit 
erfunden.  So,  daB  sich  grade  das,  was  beim  Autor  dilettan- 
tisch   ist,   in   der   Schopfung   als   hochster   Realismus   darstellt. 

335 


Josef  von  Sternberg  kabelt  von  Rudolf  Amheim 

r^iescr  Tage  schickte  der  Filmregisseur   Josef  von  Sternberg 
aus  Hollywood  das  folgende  Telegramm: 

Habe  eben  Ihre  Kritik  uber  die  deutsche  Version  von  ,X  2T 
gelesen.  Verstehe  nicht,  wie  Sie  mit  Ihrem  Scharfsinn  sich  er- 
lauben,  diese  dumme  Bearbeitung,  von  Dilettanten  gefiihrt,  als. 
mein  Werk  zu  kritisieren,  Der  Film  wurde  yon  mir  fur  die 
englisch  sprechende  Welt  gemacht  und  enthalt  sicher  viele 
Fehler,  aber  nicht  diejenigen,  die  Sie  aufzeichnen.  Mit  blod- 
sinniger  deutscher  Uberschrift  und  vergewaltigter  Behandlung 
ist  die  deutsche  Version  von  ,X  27'  und  .Marokko*  jeder  meiner 
Ideen  beraubt,  Schade,  daB  kein  berliner  Kritiker  den  Mut 
hat  zu  sagen,  daB  solcher  Quatsch  unmoglich  von  mir  stammen 
kann.     GrtiBe  —  Josef  von  Sternberg, 

Solcher  Tadel  starkt  das  Herz.  Mit  Freude  wurde  man 
eingestehen,  einem  Kiinstler  unrecht  getan  zu  haben,  dessen 
Arbeiten  man  liebt,  dessen  letzter  Film  aber  eine  Enttauschung 
genannt  werden  mufite.  Ich  kabelte  also  um  Abdruckserlaub- 
nis  und  erhielt  sie  auch,  nebst  einigen  unfreundlich  formulier- 
ten  Bemerkungen  iiber  einen  Aufsatz,  der  unter  Sternbergs 
Namen  jiingst  im  ,Filmkurier*  erschienen,  „dessen  idiotischer 
Inhalt"  aber  nicht  von  ihm  sei.  „Ich  weiB  nicht,  warum  sa 
viele  in  Berlin  daran  Vergmigen  finden,  meinen  Namen  mit 
gradezu  unmoglichen  Ideen  zu  verkuppeln.  Dank  und  GriiBe 
—  Josef  von  Sternberg." 

Gar  so  einfach  liegt  die  Sache  pun  nicht.  Sternbergs 
fruherer  Film,  „Marokko",  ist  hier  zwar  unter  dem  Titel 
„Herzen  in  Flammen"  gelaufen,  womit  vermutlich  auf  die  Her- 
zen  der  Verleiher  abgezielt  wurde;  der  neue  Spionagefilm  hin- 
gegen  hieB  in  Berlin  sachlich  und  unanfechtbar;  |tX  27".  Dieser 
Film  ist  nicht,  wie  Sternberg  schreibt,  in  einer  deutschen 
Version  gelaufen  sondern  in  der  original  amerikanischen,  Ver- 
anderungen  gegenuber  der  Urfassung  konnen  also  allenfalls 
darin  bestehen,  daB  man  Stiicke  herausgenommen  hat.  Nun 
bezog  sich  das,  was  hier  gegen  den  Film  eingewendet  wurdet 
nicht  nur  auf  Dinge,  die  man  an  ihm  vermiBte,  sondern  vor 
allem  auch  auf  Dinge,  die  er  enthielt.  Ja  gewisse  Einzelszenent 
die  bei  der  ersten  berliner  Auffiihrung  wegen  ihrer  Geschmack- 
losigkeit  zu  spontanen  Protestkundgebungen  des  geladenen 
Kritikerpublikums  gefiihrt  hatten,  wurden  erst  daraufhin  vom 
berliner  Bureau  der  Paramount  entfernt,  Es  ist  theoretisch 
moglich,  daB  die  Art,  wie  in  „X  27"  das  Thema  Krieg  und 
Spionage  behandelt  wurde,  zum  Teil  deshalb  so  spielerisch 
und  unernst  wirkte,  weil  wichtige  Partien  der  ursprunglichen 
Fassung  fehlten.  Wir  wollen  das  gern  unterstellen.  Keines- 
falls  aber  kann  man  Entgleisungen  damit  entschuldigen,  daB 
der  Film  „fur  die  englisch  sprechende  Welt  gemacht"  worden 
sei.  Wenn  es  dem  amerikanischen  Geschmack  entsprache, 
dafl  eine  zum  Tode  verurteilte  Spionin  den  blanken  Sabel  des 
Exekutionsoffiziers  als  Spiegel  benutzt,  um  sich  zum  letzten 
Gang  zu  pudern,    so    konnten   wir    nicht    umhin,    diesen  Ge- 

336 


schmack  ubel  zu  nenncn.     Nationale  Unterschiede  haben  mit 
Qualitatsunterschieden  nichts  zu  tun. 

Sehr  geheimnisvoll  stent  es  urn  den  fraglichen  Aufsatz  im 
,Filmkurier*,  wennschon  es  gar  kein  Geheimnis  ist,  daB  die 
Plaudereien,  die  unter  dem  Namen  bekannter  ,Filmkiinstler  in 
Zeitungen  und  Magazinen  erscheinen,  zumeist  von  den  Presse- 
chefs  der  Filmfirmen  verfaBt  sind.  Das  braucht  uns  in  manchen 
Fallen  wenig  zu  kummern,  denn  ob  eine  Schilderung  humo- 
ristischer  Zwischenfalle  im  Atelier  von  Lilian  Harvey  selbst  oder 
von  dem  Waschzettellyriker  ihrer  Firma  stammt,  dtirfte  stilistisch 
wie  inhaltlich  ziemlich  auf  dasselbe  herauskoramcn.  Unange- 
nehmer  und  weniger  gleichgultig  ist  es  schon,  wenn  etwa  unter 
dem  Namen  Greta  Garbo  Aufsatze  gedruckt  werden,  die  in 
einem  kindischen  Kleinmadchendeutsch  das  Thema:  „Wie  kann 
man  Mannerherzen  betoren?"  abhandeln.  '  Erscheinen  9abert 
gezeichnet  Josef  von  Sternberg!  programmatische  Bemcrkun- 
gen  iiber  die  Verwendung  der  Tonfilramittcl,  so  ist  unbedingt 
zu  fordern,  daB  sie  authentisch  seien;  denn  solche  AuBerungen 
schaffender  Kunstler  gehoren  von  jeher  zu  den  wichtigsten 
Quellen  fur  den  Theoretiker.  Nun  hat  aber  die  Redaktion  des 
.Filmkuriers'  jenen  Aufsatz  als  ein  Originalmanuskript  von  der 
Paramount  erhalten,  und  zwar  mit  der  Bitte,  man  moge  das 
englische  Manuskript  nach  Gebrauch  zuriickgeben,  weil  es 
eigenhandige  Bleistiftnotizen  Sternbergs  enthalte.  Da  selbst 
die  amerikanische  Apparate-Industrie  bis  heute  noch  nicht  so 
weit  fortgeschritten  sein  dtirfte,  daB  sie  eigenhandige  Literatur- 
produkte  herstellen  konnte,  die  der  Autor  nie  gesehen  hat, 
erhoffen  wir  von  den  Beteiligten  noch  nahere  Aufklarung* 
Unal)hangig  davon  aber,  wen  in  diesem  besonderen  Fall  die 
Schuld  trifft,  war  es  notig,  einmal  auf  den  Falschmiinzerbetrieb 
hinzuweisen,  der  da  im  Namen  mehr  oder  weniger  wehrloser 
Kunstler  neckische  Proklamationen  in  die  Presse  lanciert,  die 
weniger  empfehlend  als  blamabel  wirken  miissen  und  zu  un- 
angenehmen  Irrtiimern  fiihren  konnen.  Die  Filmkiinstler 
haben  es  ohnehin  schwer  genug;  man  verstiimmelt  den  Re- 
gisseuren  ihre  Arbeit,  man  schiebt  den  Schauspielern  fremde 
Stimmen  ais  Wechselbalg  unter  —  will  man  sie  nicht  wenig- 
stens  dort  ihre  eigne  Sprache  sprechen  lassen,  wo  eine  be- 
scheidene  Handiungsfreiheit  sich  bis  heute  erhalten  hat:  auf 
dem  Papier! 

Sternberg  tut  den  Filmkritikern  unrecht.  Fur  ihn  gehort 
Mut  dazu,  eine  MeinungsauBerung  wie  die  obige  drucken  zu 
lassen*  Fiir  uns  nicht,  Aber  er  verlangt  mehr  als  Mut,  er  ver- 
langt  Hellseherei.  Es  ist  —  von  krassen  Fallen  abgesehen  — 
unmoglich,  auseinanderzuhalten,  was  der  Autor  urspriinglich 
gewollt  und  was  Firma  und  Zensur  nachtraglich  verschnitten 
haben.  Der  Kritiker  kann  nichts  als  das  vorliegende  Produkt 
beurteilen  und  istjim  ubrigen  auf  die  Informationen  der  Be- 
teiligten angewiesen.  Nicht  jeder  riskiert  est  sie  ihm  zu 
geben,  aber  dann  moge  man  ihn  nicht  schraahen;  oder  man 
moge  ihm  einen  dreifiiBigen  Raucherkessel  unter  dem  Parkett- 
klappsessel  einbauen,  auf  daB  er  delphisch  durch  die  Leinwand 
hindurch  in  die  Schlichen  der  Produktion  blicke. 

337 


DaS  Reich  alS  Bankier  von  Bernnard  Citron 

Tm  Jahre  des  ,,kleinern  Ubels"  ist  auch  die  Sanierung  der 
GroBbanken  von  der  Offentlichkeit  mit  bewunderungswiirdi- 
^em  Gleichmut  aufgenommen  worden,  Allerdings  wird  nie- 
mand  der  gefundenen  Losung  recht  froh.  Die  Privatwirtschaft 
stellt  f  est,  daB  trotz  einem  bis  an  die  Grenzen  der  staatlichen 
Selbsterhaltung  gehenden  Entgegenkommen  des  Reiches  das 
deutsche  Kreditgewerbe  in  weitestem  Umfange  unter  die  Kon- 
trolle  der  sogenannten  ,,6ffentlichen  Hand"  geraten  ist.  Der 
Steuerzahler  gewinnt  den  Eindruck,  daB  insgesamt  fast  eine 
Milliarde  Mark  in  die  Bankensanierung  gesteckt  worden  ist 
und  daB  yon  dieser  stattlichen  Summe  die  Halfte  niemals  oder 
wenigstens  nicht  in  absehbarer  Zeit  einzubringen  ist.  Aber  der 
Schrecken  der  Julikatastrophe  sitzt  noch  tief  in  alien  Gliedern, 
daB  man  vorlaufig  mit  jeder  Form  der  Krisen-Liquidierung,  an 
der  spater  vielleicht  einmal  Kritik  geiibt  werden  wird,  zu- 
frieden  ist. 

Auliallend  ist  die  groBe  Bereitwilligkeit,  mit  der  das  Reich 
den  Banken  neue  Mittel  zur  Verfiigung  gestellt  hat.  Man  ging 
dabei  iiber  die  unbedingt  notwendigen  Aufwendungen  noch  hin- 
aus.  So  erhielt  die  Dresdner  Bank  verschiedene  stille  Re- 
serven  und  einen  Delkredere-Fond  von  zusammen  etwa  hun- 
dert  bis  zweihundert  Millionen  Mark.  Diese  Summe,  deren 
genaue  Hohe  das  Rcichsfinanzministerium  unverstandlicher- 
weise  verschweigt,  soil  nicht  zur  Deckung  von  Verlusten  oder 
noch  entstehenden  Ausfallen  auf  alte  Engagements,  sondern 
zur  Ankurbelung  des  neuen  Instituts  dienen.  Die  Leitun^  der 
Dresdner  Bank  hat  selbstverstandlich  die  nie  wiederkehrende 
Ge^legenheit,  derartig  groBe  Zuwendungen  zu  erhalten,  mit  Ver- 
gniigen  ergriffen,  sie  war  anscheinend  selbst  von  der  Freigebig- 
keit  der  Reichsregierung  uberrascht.  Zwar  befinden  sich  acht- 
zig  Prozent  des  Aktienkapitals  im  Besitze  des  Reichs  be- 
ziehungsweise  der  Golddiskontbank,  so  daB  man  im  Finanz- 
ministerium  jede  Unterstiitzung  der  Dresdner  Bank  als  Star- 
kung  eines  Reichsbetriebes  ansieht.  Aber  pHegt  der  Fiskus 
nicht  sonst  auch  bei  der  Erfiillung  der  eigentlichen  Staatsauf- 
gaben  zu  knausern?  Wer  einige  charakteristische  Vorgange  im 
Zuge  der  Bankenreform  genau  beobachtet  hat,  wird  mit  Er- 
staunen  feststellen,  daB  unsre  gewiB  nicht  sozialistisch  infizierte 
Reichsregierung  im  Kreditwesen  einen  klaren  staatskapitalisti- 
schen  Kurs  anstrebt.  Die  giinstigen  Erfahrungen  bei  der 
Reichsbank,  der  Golddiskontbank  und  der  Reichskreditgesell- 
schaft  haben  die  Regierung  auf  den  Geschmack  des  Bankge- 
schafts  gebracht.  Ahnliche  Gewinne,  wie  sie  bei  den  bisheri- 
gen  reichseignen  Instituten  gemacht  worden  sind,  lassen  sich 
nach  Ansieht  des  Finanzministeriums  auch  bei  den  Depositen- 
banken  erzielen.  Man  sieht  den  Herrn  Reichsfinanzminister 
formlich,  wie  er  sich  die  Armel  aufkrempelt  und  den  rampo- 
nierten  Bank-  und  Borsenfiirsten  zuruft:  „Ihr  habt  vom  Bank^ 
geschaft  nichts  verstanden,  jetzt  lafit  uns  mal  ran!" 

Von  zwei  Dingen  haben  die  Finanzgewaltigen  wirklich 
nicht  allzuviel  gewuBt:  von  der  Buchhaltung  und,  merkwiirdi- 

338 


gerweise,  auch  von  der  Borse.  Das  cine  geben  die  meisten 
Bankdirektoren  —  soweit  sie  nicht  wie  Hcrr  von  StauB  in  dcr 
Buchhaltung  groB  geworden  sind  —  unumwunden  zu,  Aber  daB 
sie  im  Grunde  auch  nicht  allzuviel  von  der  Borsenpsyche  ver- 
standen  haben,  muB  ihnen  erst  von  andrer  Seite  bescheinigt 
werden.  Im  SchultheiB-ProzeB  sagte  der  Vizeprasident  des 
Borsenvorstandes  Paul  Bergmann  in  seiner  Eigenschaft  als 
Sachverstandiger  iiber  die  grofien  Aufkaufe  durch  die  Danat- 
und  Commerzbank,  daB  man  sich  an  der  Borse  stets  iiber  die 
Herkunft  dieser  Kaufe  gewundert  habe  und  daB  man  eigentlich 
auch  an  andrer  Stelle  (Deutsche  Bank)  hatte  fragen  miissen, 
wer  hinter  dieser  Aktion  nun  eigentlich  stande.  Man  habe  sich 
jedenfalls  an  der  Borse  iiber  die  Kaufe  der  Danat-  und  Com- 
merzbank viel  mehr  den  Kopf  zerbrochen  als  im  Aufsichtsrat 
der  Gesellschaften. 

Ahnliche  Beobachtungen  konnte  man  iibrigens  auch  an 
andern  Effekfenmarkten  machen.  Die  Banken  zeigten  sich 
iiber  die  Entwicklung  der  ihnen  anvertrauten  Papiere  wenig 
informiert.  Die  Interventionskaufe  sind  ziemlich  schematisch 
vorgenommen  worden,  aber  welche  Krafte  plotzlich  Aufkaufe 
oder  Verkaufe  hervorriefen,  wuBte  niemand  zu  sagen.  So  wur- 
den  die  Offentlichkeit  und  der  Aufsichtsrat  der  Schantung-Ge- 
s  ells  ch  aft  vor  etwa  einem  Jahre  von  der  Tatsache  iiberrascht, 
daB  die  Majoritat  der  Gesellschaft  in  andre  Hande  iibergegan- 
gen  sei.  Nicht  minder  haufig  ist  es  aber  auch  vorgekommen, 
dafi  groBe  Aktienpakete  locker  geworden  sind  (Deutsche  Lino- 
leum, Karstadt,  Norddeutsche  Wolle  etcetera),  ohne  daB  sich 
die  Emissionsbanken  ernsthaft  gefragt  haben,  wer  hier  der  Ver- 
kaufer  ist.  Allerdings  muB  gerechterweise  zugegeben  werden, 
daB  auch  die  Reichs-Kreditgesellschaft  nicht  immer  iiber  ge- 
wisse  Konsortien  unterrichtet  war,  an  denen  sie  sogar  selbstf 
vielmehr  eines  ihrer  inzwischen  verstorbenen  Vorstandsmitglie- 
der  sehr  stark  beteiligt  war. 

Wenn  das  Reich  nurimehr  einen  maBgebenden  EinfluB  im 
Bankgewerbe  besitzt,  so  wird  man  wohl  zunachst  an  eine  ge- 
wisse  Bureaukratisierung  des  Betriebes  gehen.  In  vielen  Fal- 
len hat  sich  die  Fessel  des  bureaukratischen  Apparats  aufs 
trefflichste  bewahrt.  Sie  schiitzt  das  Unternehmen  vor  allzu 
grofien  und  uniiberlegten  Spriingen  fiihrender  Personlichkeiten. 
Das  ausgezeichnete  Wort  eines  Bankbeamten-Vertreters  auf 
der  Generalversammlung  der  Dresdner  Bank,  daB  die  Banken 
zu  viele  Direktoren  und  zu  wenige  Buchhaiter  gehabt  haben, 
wird  hoffentlich  in  den  reformierten  Banken  eine  Nutzanwen- 
dung  findeyv  Qb  sich  in  den  Beziehungen  der  Bankdirektoren 
zur  Borse  allerdings  sehr  viel  andern  wird,  bleibe  dahingestellt. 
Die  erste  Garnitur  der  Bankdirektoren  ist  durch  die  Krise  in 
ihrem  Ansehen  stark  geschadigt  und  wird  nur  teilweise  wieder 
ihre  Platze  einnehmen.  Die  zweite  Garnitur  und  etwa  heu  in 
die  Vorstande  der  GroBbanken  eintretende  Vertreter  des  Reichs 
diirften  aber  auch  nicht  viel  mehr  psychologisches  Verstandnis 
fiir  die  Wertpapiermarkte  aufbringen  als  die  bisher  leitenden 
Personlichkeiten.  Zudem  bildet  die  Betatigung  an  der  Borse 
fiir  einen  Teil  der  GroBbanken  und  iibrigens  auch  einiger  Real- 

339 


kreditinstitute  einen  verhangnisvollen  Korruptionsherd,  Wenn 
das  Reich  jctzt  Bankier  geworden  ist,  so  braucht  es  noch  nicht 
Borsianer  zu  werden.  Es  ware  durchaus  moglich  und  wiin- 
schenswert,  daB  die  Gelegenheit  wahrgenommen  wird,  urn  die 
Banken  von  dem  Borsenbetriebe  fernzuhalten  und  nach  angel- 
sachsischem  Muster  auf  ihren  eigentlichen  Aufgabenkreis  als 
Depositenbanken  zu  beschranken. 

Heute  scheint  es  fast  so,  als  habe  sich  in  den  Fronten  der 
GroBbanken  nicht  viel  geandert.  Die  vergroBerte  Dresdner 
Bank  ist  in  gewisser  Beziehung  auch  eine  vergroBerte  Danat- 
bank,  und  den  Platz  Jacob  Goldschmidts  hat  das  Reichsfinanz- 
ministerium  eingenommen.  Es  bemiiht  sich  daher  auch,  „seine" 
Banken  gegen  die  Vorwiirfe  fiber  die  Fehler  der  letzten  Jahre 
in  Schutz  zu  nehmen.  „Schuld  und  Schicksal"  sind  die  Worte, 
die  in  merkwiirdiger  Ubereinstimmung  Jacob  Goldschmidt  und 
Minister  Dietrich  am  22.  Februar,  dem  Geburtstage  des  neuen 
deutschen  Bankgewerbes,  fiir  alles  Vergangene  gebraucht 
haben.  Beide  haben  erklart,  daB  die  Verhiste  der  Banken  etwa 
gleich  gewesen  sind  und  daB  sich  die  Institute  nur  in  der  Hohe 
ihrer  Liquiditat  unterschieden  haben.  Hierin  liegt  aber  ein  be- 
ivuBter  oder  unbewuBter  Denkf ehler.  Liquiditat  ist  fiir  eine 
GroBbank  hochst  kostspielig.  Im  Grunde  genommen  hat  doch 
die  Bank  besser  gewirtschaftet,  die  Verluste  verzeichnete,  weil 
sie  die  eingelegten  Gelder  auszahlungsbereit  halten  wollte,  und 
nicht  jene,  die  bei  den  gleichen  EinbuBen  auf  ihre  Liquiditat 
keine  Rucksicht  nahm.  Um  diese  theoretischen  Erorterungeh 
auf  die  Praxis  anzuwenden,  muB  also  festgestellt  werden,  daB 
bei  aller  Kritik,  die  an  den  Handlungen  der  Deutschen  Bank 
vor  und  in  der  Julikrise  zu  uben  ist,  ihre  Geschaftstaktik  doch 
nicht  auf  eine  Stufe  mit  der  planlosen  Haltung  der  Danatbank 
gestellt  werden  darf.  Das  Reich  ist  anscheinend  in  alle  Rechte 
der  libernommenen  Banken  eingetreten,  auch  in  das  der  prin- 
zipiellen  Gegnerschaft  zur  Deutschen  Bank.  Vielleicht  erweist 
sich  in  der  nachsten  Zeit,  daB  eine  Sozialisierung,  die  nicht  nur 
die  Verluste  sondern  auch  die  Gewinne  und  die  Geschaftsfiih- 
rung  umfafit,  im  Kreditwesen  volkswirtschaftlichen  Nutzen 
bringt.  Solange  aber  noch  nicht  alle  Banken  unter  Staats- 
aufsicht  stehen  und  das  Reich  im  Falle  von  Schwierigkeiten 
auch  wieder  bei  den  von  ihm  nicht  betreuten  Instituten  ein- 
greifen  wiirde,  ist  es  nicht  recht  verstandlich,  warum  der 
Reichsfinanzminister  die  .,KonkurrenzM  madig  zu  machen  sucht. 
Man  gewinnt  sogar  den  Eindruck,  als  hatte  der  Minister  nicht 
ungern  gesehen,  wenn  sich  die  Deutsche  Bank  gleichfalls  um 
Hilfe  an  ihn  gewendet  hatte.  Dem  Insjitut  wurd&*ines  Tages 
erklart^  „Am  22.  Februar  ist  die  Bilanz  dem  Aufsichtsrat  vor- 
?:ulegen '  —  dies  war  acht  bis  zehn  Tage  vorher.  Hatte  die 
Deutsche  Bank  noch  groBere  Abschreibungen  gemacht,  was 
nach  Ansicht  des  Finanzministeriums  nicht  ungerechtfertigt  ge- 
wesen ware,  oder  ware  es  ihr  nicht  gelungen,  in  wenigen  Tagen 
Abnehmer  fiir  22  Millionen  Aktien  zu'  finden  mit  der  Aussicht, 
weitere  fiinfzig  Millionen  innerhalb  der  nachsten  Monate  zu 
placieren,  dann  hatte  das  Reich  auch  fiir  die  Deutsche  Bank 
eine  groBziigige  Aktion  einleiten  miissen. 


Das  Reich  hat  seinen  Platz  in  der  Behrenstrafie  teuer  er- 
kauft,  es  verfiigt  iiber  die  Dresdner  Bank  fast  unumschrankt 
und  kontrolliert  die  Major  it  at  der  Commerz-  und  Privatbank. 
Gegen  eine  Verstaatlichung  der  Banken  besteht  bei  der  Mehr- 
heit  des  deutschen  Volkes  keine  Abneigung.  Verschiedener 
Meinung  ist  man  lediglich  iiber  den  Preis,  der  fur  ein  solches 
Experiment  gezahlt  werden  darf.  Unabhangig  von  Sympathien 
und  Antipathien  gewinnt  die  Entwicklung,  die  nicht  beim  Kre- 
ditwesen  Halt  macht  sondern  sich  auf  andre  hilfsbediirftige 
Wirtschaftszweige  ausdehnen  wird,  allergroBte  Bedeutung. 
Noch  sind  die  Verhaltnisse  in  der  Montanindustrie  unbereinigt, 
noch  weiB  man  nicht,  wie  die  GroBschiffahrt  saniert  werden 
soil,  aber  wenn  eine  Dauerlosung  fur  die  durch  Schuld  des 
Systems  zusammengebrochene  kapitalistische  Wirtschaft  ge- 
funden  werden  kann,  so  wird  der  Weg  stets  iiber  die  Gemein- 
wirtschaft  fiihren,  die  jetzt  im  Bankgewerbe  eine  erste  Probe 
ablegen  mufi. 


§  §  §  §  von  Theobald  Tiger 


In   der   GroBstadt,    auf    dem   Lande,    in  den    Stadtchen 
*  gibt   es   schone,   aber   tugendhafte  Madchen. 

Still t   Still! 

Man  kann  nicht  alles  sagen,  was  man  will. 
Denen  gleich  das  Herze  schmilzt,  die  haben  keinen. 
Die  du  gern  erobern  willst,  die  haben  schon  einen . . . 

Kommt  ne  leere  Droschke  an, 

ist  sie  meist  besetzt. 

Hat  die  Frau  einen  andern  Mann, 

dann  f luster st  du  zuletzt: 

Soil   ich   dir   mal   sagen, 

wie  mein  Herz  tanzt? 

Soil  ich  dir  mal  sagen, 

was  du  inir  kaniist? 

Wenn  ich  dich  seh,  gibts  mir  nen  Sticb 

mein  ganzes  Sehnen  kreist  um  dich  — 

Konnt  ich  dir  doch  sagen; 
O  kiisse  mich  — I 

Schau  ich  mich  so  um  in  unsrer  lieben  Runde: 
jedem  Deutschen  hangt  ein  §  am  Munde ... 

Still!  Still! 

Man  kann  nicht  alles  sagen,  was  man  will. 
Schreibst  du:   „Dieser  Bursche  ist  total  besoffen" 
gleich  ftihlt  irgend  ein  Minister  sich  getroffen. 

Seh  ich  mir  die  Gegner  an, 

wie  kommen  die  mir  vor! 

Ich  ginge  gern  zu  jedem  ran 

und  f luster t  ihm  ins  Ohr: 

Soil  ich  dir  mal  sagen, 

wie  mein  Herz  tanzt? 

Soil   ich  dir  mal   sagen, 

was  du  mir  kannst? 

Wenn  ich  dich  seh,  gibts  mir  nen  Stich. 

mein   ganzes    Sehnen   kreist   um   dich: 

Konnt  ich  dir  doch  sagen: 
0   kiisse   mich  — I 

Und  so  sei  es  denn  hiermit  gesagt, 

341 


Bemerkungen 

Privat 

VV7  eil  es  in  Deutschland  kein 
"  offentliches  Leben  gibt,  son- 
dern  nur  Kongresse  und  Tumulte, 
so  nennt  sich  gern  alles,  was  ein 
biBchen  was  ist:    privat. 

Die  Sache  hat  wohl  damit  an- 
gefangen,  dafi  Zigarettenfirmen 
gewisse  Markeu  fur  die  Chefs 
und  fur  das  Haus  herstellen  lie- 
Ben  —  diese  Mischungen  waren 
vorerst  nicht  fur  den  Handel  be- 
stimmt,  Dann  aber  kamen  sie 
doch  in  den  Handel,  und  um  zu 
zeigent  wie  fein  und  vornehm  der 
neue  Tabak  sei,  nannte  man 
ihn  nun:  Pebeco  privat.  Und 
das  griff  dann  auf  den  Gott- 
behute  Weinbrand  iiber  und  auf 
den  Sekt,  und  jetzt  heiBen  auch 
schon  Schreibmaschinen  so. 
tlWenn  Sie  in  Ihrer  Privatbar  . . ." 
habe  ich  neulich  gelesen.  Denn 
mit  dem  Fressen  ist  das  so  eine 
Sache,  aber  Privatbar  muB  sein. 
Und  wenn  sie  drei  alte  Photos 
veroffentlichen,  auf  denen  zu  sehn 
ist,  wie  sie  als  Kind  auf  dem 
Lackstuhlchen  gesessen  haben, 
dann  sind  diese  Bilder  „aus  Pri- 
vatbesitz",  das  klingt  so  hiibsch 
nach  Gemaldegalerie,  aber  es  ist 
bloB  ein  altes  Photographiealbum. 

Sie    spielen   Privatleben, 

„Wie  ich  in  einem  auBerdienst- 
lichen  Gesprach  privat  erfahren 
habe ..."  —  aber  lacht  sie  doch 
aus  mit  ihrer  Wichtigtuerei, 
fegt  das  doch  mit  einer  Hand- 
bewegung  vom  Tisch,  denn  alles 
das  besteht  ja  nur  in  diesen  mit 
Sandpapier  abgeschabten  Kopfen, 
Es  ist  vpllig  gleichgiiltig,  ob  einer 
eine  Sache  offiziell,  offizios  oder 
privat  erfahren  hat  —  er  weifi 
sie  eben,  und  wenn  es  sich  zum 
Beispiel  um  eine  Schiebung  han- 
delt  und  er  packt  nicht  zu,  dann 
ist  er  ein  Schweinehund.  Ein  of- 
fizieller,  ein  offizioser,  ein  priva- 
ter  —  zum   Aussuchen. 

Sie   spielen   Dienst. 

Ob  Kellner,  Regierungsrat  oder 
Radauknecht  bei  Hitler  — :  sie 
haben  eine  Uniform  an,  stehn 
vor  sich  selber  stramm  und  glau- 
ben  an  ihre  irdische  Mission. 
Die  ist   dienstlich.     Dahinter  lebt 

342 


dann,  kummerlich  aber  immerhin, 
das  sogenannte  Privatleben.  „Sie 
war",  schrieb  neulich  einew  Zei- 
tung  ganz  ernsthaft,  ftsie  war 
privatim  blond".  Als  Klavierlehre- 
rin  war  sie  das  namlich  nicht,  da 
war  sie  nur  Klavierlehrerin. 

Sie  glauben  ernsthaft,  das 
sei  sachlich.  Es  ist  aber  nur  die 
trube  Atmosphare  der  Kompag- 
nie-Schreibstube,  wo  der  Feld- 
webel  dienstlich  von  nichts 
wuBte  und  auBerdienstlich  grin- 
send  in  eine  Stulle  bifJ.  Dienst- 
lich hat  diese  Welt  manche  Er- 
folge  zu  verzeichnen.  Privatim 
ist  sie  rechtens  immer  hinten 
heruntergefallen. 

Ignaz   Wrobel 

Der  blutige  Dilettant 

YV/arum  hat  man  dem  harm- 
**  losen,  oft  sogar  liebenswer- 
ten  Dilettanten  dieses  schreck- 
liche  Beiwort  „blutig"  angeheftet? 
Doch  nicht  allein  deshalb,  um 
seine  Harmlosigkeit  zu  unter- 
streichen  und  zu  steigern? 

Es  lebt  in  vielen  Dilettanten 
ein  heimlicher  Machttraum;  der 
Wunsch,  Vergeltung  zu  iiben  fur  , 
erlittene  Zuriicksetzung  und  Ver- 
kennung;  es  brennt  in  ihm  die 
Sehnsucht,  das  Gesetz  seines 
■  Nichtkonnens  der  verhaBten  Welt 
der  Konner  aufzuzwingen.  Die 
Harmlosigkeit  des  Dilettanten 
entpuppt  sich  haufig  als  Geduckt- 
heit.  Wenn  er,  durch  Umstande 
begiinstigt,  seine  naturliche  Ein- 
ordnung  sprengt,  kennt  sein 
Machtwahn  keine  Grenzen. 

Er  muB  seine  Grenzen  uber- 
schreiten,  um  groB  zu  erscheinen, 
um  nicht  erkannt  zu  werden.  Er 
hat  so  viel  Spuren  zu  verwischen, 
so  viel  zu  furchten  in  seiner  be- 
standigen  Unsicherheit  und  Ge- 
fahrdung,  daB  ihm  gar  nichts 
andres  ubrig  bleibt  als  Furcht  zu 
verbreiten.  So  wird  der  Dilettant 
blutig. 

Das  Genie  hat  die  Zucht  seines 
innern  Gesetzes,  aber  schon  beim 
Talent  beginnen  die  Gesetze  zu 
wanken,  und  der  entfesselte  Di- 
lettant, wenn  er  innere  Stimmen 
hort.  fiihlt  sich  von  Damonen  ge- 


rufen.  Die  Damonie  des  Dilettan- 
ten  erweist  sich  bei  naherer  Un- 
tersuchung  als  die  groBe  Inszenie- 
rung  der  Rache  und  als  das  Gau- 
kelspiel  des  sklavisch  rebellieren- 
den  Blutes. 

In  Nero  hat  sich  dieser  Typus 
am  deiitlichsten  geformt.  Das  MiB- 
verhaltnis  zwischen  Machtfulle 
und  der  sie  tragenden  Personlich- 
keit  hat  hier  vollendete  Gestalt 
gefunden.  Die  Selbstbescheidung, 
die  dem  gutgearteten  Dilettanten 
eigen  ist,  ist  hier  in  ihr  Gegen- 
teil  umgeschlagen.  Vor  nichts 
macht  der  Geltungsdrang  des  ne- 
ronischen  Menschen  Halt;  er  ist 
der^  erste  Priester,  der  erste 
Staatsmann,  der  erste  Kunstler 
seines  Landes.  (Bei  Wilhelm  II. 
war  die  Allmacht  des  herrschen- 
den  Dilettanten  schon  abgemildert 
zur  blofien  Kennerschaft,  zur 
Rtihrigkeit  der  Intelligenz,  die 
sich  alles  zutraut  und  dabei  im 
tiefsten   unsicher  ist.) 

Es  gibt  keine  Palme,  um  die 
der  blutige  Dilettant  nicht  ringt, 
und  sei  es,  dafi  er  den  Menschen, 
der  ihn  nicht  anerkennt,  an  ihren 
Asten  aufkniipft,  Der  Lorbeer, 
den  sich  der  Dilettant  pfliickt, 
farbt  sich  unter  seinen  Handen 
rot.  Da  der  Widersacher,  der  ihn 
4urchschaut,  nie  zu  gewinnen,  nie 
zu  iiberzeugen  ist,  muB  er  ver- 
nichtet  werden.  (MWer  -sich  mir 
entgegenstellt,  den  zerschmettere 
ichT)  Es  muB  das  Reich  des 
blutigen  Dilettanten  aufgerichtet 
werden,  damit  die  Herrschaft  des 
zur  Macht  Gelangten  gesichert 
sei. 

Die  Unsicherheit  des  blutigen 
Dilettanten,     der     ein    politischer 


Dilettant  ist,  verbirgt  sich  hinter 
der  Gewalt.  Die  Unfahigkeit,  zu 
iiberzeugen,  wird  ausgeglichen 
durch  die  Faust.  Mit  dem  Terror 
kann  jeder  Trottel  regieren.  Die 
fur  den  Dilettanten  so  typische 
Unoriginalitat  versteckt  sich  hin- 
ter dem  neugepragten  Kraftaus- 
druck  des  Schtagwortes.  Ehe  man 
dieses  System  von  heimlichen 
Verschlagen  und  Hintergriinden 
durchschaut ,  kann  es  wohl  ge  - 
schehen,  dafi  es  voriibergehend  zu 
Herrschaft  gelangt. 

Welche  ungeheuere  Verlockung 
steckt  in  dem  Satz:  „Wenn  wir 
zur  Macht  gelangen,  aber  dann 
. . ."  Millionen  verwandter  Na- 
turen  stromen  solcher  VerheiBung 
zu.  Denn  nichts  ist  so  verbreitet 
wie  der  Dilettantismus,  und 
nichts  ist  leichter  als  ihn  rach- 
siichtig  zu  machen.  Indem  man 
den  „groBen  Fuhrer"  anerkennt, 
sichert  man  sich  selbst  einige  Gel- 
tung.  Er  ist  gradezu  ein  Repra- 
sentant  aller  Dilettantismen,  die 
in  Niedergangszeiten  als  Ver- 
schwommenheit,  Wirkungs-  und 
Rachgeliiste  auftreten,  und  wenn 
man  ihn  als  Erloser  umjubelt,  so 
hat  das  seine  Richtigkeit,  wie 
wenn  die  GeiBler  hinter  dem  Fla- 
gellanten  herziehen.  Hier  ist  ein 
Wortftihrer  der  unbescheidenen 
Minderwertigkeit,  der  aller  Un- 
sicherheit durch  ein  Diktat  ein 
Ende  macht  Dem  blutigen  Di- 
lettanten folgen  blindlings  die 
kleinen  Dilettanten,  die  in  der 
Wirklichkeit  so  viele  Enttau- 
schungen  erlebt  haben;  sie  sind 
Anhanger  mit  dem  ganzen  Fana- 
tismus,  dessen  die  Unfahigkeit 
fahig  ist.  Der  blutige  Dilettant 
und     der    blinde     Gehorsam    — : 


Horchen  Sie  nkht  sinnlos  herum! 

In  naiver  Hoffnung,  dafi  Ihnen  die  letzten  Fragen  der  Menschheit  von  irgend 
einem  Katheder  oder  irgend  einer  Kanzel  herunter  beantwortet  werden 
kOnnten!  Die  Antworten,  die  Sie  suchen,  konrien  Sie  nur  in  sich  selber 
finden.   Wie  Sie  das  begumen  mtlssen,  sagen  Ihnen  die  bei  uhs  erschienenen 

Bd  Yin  Rd-Biicher 

die  schon  Unzahlige  ihr  hochstes  Lebensgluck  finden  lehrten. 
Bo  Yin  Ra,  J.  Schneiderfranken,  bringt  Ihnen  keine  Glaubensartikel  and 
keine  erkliigelten  Gedankenexperimente,  sondera  praktisch  erprobte  An- 
weisung,    wie  Sie  selbst  sich  Klarheit  verschaffen   konnen.     Kober'sehe 
Veriagsbuchhandlung  (gegr.  1816),  Basel-Leipzig. 

343 


welch    ein    symbolisches  Btindnis 
des  geheimen  Gebrechens! 

Alle  feinern  Geister  haben  mit 
Zweifel  und  Bedenken  zu  ringen. 
Und  sie  machen  daraus  kein  Ge- 
heimnis.  Es  ist  schwer,  mit  dem 
Zweifel  zu  leben,  aber  das  Leben 
im  Zweifel  ist  der  erreichbaren 
Wahrheit  ganz  nahe  und  jeden- 
falls  der  Wirklichkeit  gemaB. 

Niemaud  hatte  mehr  Ursache  zu 
zweifeln  als  der  Dilettant.  In 
der  Gestalt  des  Amateurs  —  wie 
liebenswert  scbon  das  Wort,  in 
dem  sich  der  verlegene  Liebhaber 
des  Lebens,  der  scheu  Verebrende 
verbirgt!  —  sind  alle  sympathi- 
schen  Ziige  des  Dilettanten 
vereinigt.  Im  blutigen  Dilettan- 
ten sind  sie  entstellt,  verzerrt, 
verraten,  iiberkompensiert;  aus 
der  Schiichternheit  ist  Angst  ge- 
worden;  aus  der '  Angst  Gewalt. 
Aus  der  Zartheit  ist  Robustheit 
geworden;  aus  dem  Zweifel  un- 
duldsame  Dogmatik,  Es  muB 
unendlich  viel  Selbstverrat  ge- 
schehen,  bevor  ein  blutiger  Di- 
lettant  zur  Wirkung  gelangt.  Und 
ununterbrochen  wiederholt  sich  in 
der  Anhangerschaft,  bewuBt  oder 
unbewuBt,  dieser  Selbstverrat,  so- 
lange  dem  blutigen  Dilettanten 
die  Chance  der  Macht  bluht. 
Denn  wenn  er  emporkommt,  ver- 
heiBt  er  schreckliche  Abrechnung, 
und  um  ihr  zu  entgehen,  begibt 
sich  die  als  Kraft  maskierte  Cha- 
rakterschwache  massenhaft  in  das 
Lager  des  Machtwahns. 

Hans  Natonek 
Katnpf  um  Kitsch 
l^ein  Wort  soil  gegen  Kampf 
*^  um  Kitsch  gesagt  werden, 
weder  gegen  das  vorziigliche  Stuck 
noch  gegen  das,  worum  es  geht. 
Der  Kampf  gegen  den  Kitsch, 
gegen  den  Glasstiebel  mit  der 
goldnen  25,  von  dem  immerzu 
die  Rede  ist,  ist  ein  guter 
Kampf.  Das  Gute  ist  keineswegs 
das  Teure,  und  blaue  Baumwolle 
kann  schoner  sein  als  ein  Zackel- 
muster  auf  grunem  Damast,  Das 
sind  bereits  Gemeinplatze;  Aber 
im  letzten  Akt  wird  alles,  was  in 
den  ersten  Akten  gelobt  wurde, 
verdammt  mit  einem  einzigen 
Wort,  „Solange"  heiBt  es,  „so- 
lange  ftir  die  Polizei,  solange  fiir 
344 


Denkmalsschutz  noch  Geld  da  ist, 
darf  nicht  an  die  Schule  geruhrt 
werden."  Warum  gegen  Denk- 
malsschutz? Weil  das  Lebendige 
wichtiger  ist  als  das  Tote?  Aber 
so  einfach  ist  das  nicht,  Ich  denke 
„Kampf  gegen  Kitsch"?  Gehen 
wir  also   dem  Thema  zu  Leibe. 

Vor  ein  paar  Jahren  sahen  wir 
uns  ein  altes  Haus  an,  ein  Herr, 
oder  muB  ich  sagen  ein  Mann, 
es  war  ebenso  gut  ein  Mann  wie 
ein  Herr,  sah  es  ebenfalls  an,  Er 
sagte:  „Wundersch6ne  Fenster 
sind  das",  und  er  zeigte  uns  von 
welch  feinem  Gefiihl,  wie  ab- 
gewogen  die  Breite  zur  Hohe 
war,  das  Fensterkreuz,  vor  allem 
die  Beschlage,  Dieser  Herr  war 
ein  Tischler  aus  dem  Bremischen, 
ein  Kommunist  und  mit  Radek 
befreundet.  Der  Glaube  und  der 
Kampf  um  die  Vergesellschaftung 
der  Produktionsmittel  hatten  seine 
Augen  nicht  blind  gemacht  fiir  die 
Schonheit,  seine  Seele  nicht  ver- 
dorren  .  lassen,  sondern  das  Mafi 
ergriff  ihn  wie  nur  jc  einen  Hu- 
manisten,  Denkmalsschutz  schutzt 
die  wenigen  alten  Dinge,  die  wir 
noch  besitzen  und  in  denen  alte 
Handwerkstradition  aufbewahrt 
ist.  Es  gibt  gute  und  schlechte 
Sachen,  nicht  alte  und  neue.  Eine 
moderne  glatte  Tur  kann  scheuB- 
lich  sein.  Wie  einem  Menschan 
zeigen,  wann  eine  Tur  gut  ist? 
Man  zeigt  ihm  eine  glatte  alte 
Tur,  Und  wenn  er  diese  alten 
Dinge  recht  erkannt  hat,  in  denen 
ein  Gefuhl  fur  das  Echte  wohnt, 
wird  er  den  Glasstiebel  von  al- 
lein  nicht  mehr  dulden.  So  flach 
kann  man  nicht  urteilen,  daB  man 
Kampf  um  Kitsch  ftihren  will  und 
zugleich  den  Denkmalsschutz  ver- 
dammen.  Ein  Schritt  weiter,  und 
auch  Rembrandt  ist  uberflussig. 
Wenn  man  auf  diesem  Standpunkt 
stent,  und  man  kann  auf  diesem 
Standpunkt  stehen,  ist  „Kampf 
um  Kitsch"  eine  Phrase. 

Gabriele  Tergit 

Nahrutigssorgeti 
f^er    dicke  Herr    im    Restaurant 
*-'    seufzend  zur  Gattin: 

„Reich  mir  mal  die  Speisekarte, 
Gertrud!  Will  sehen,  was  ich 
essen  mochte,  wenn  ich  —  ach  — 
bloB  noch  konnte," 


Avis  an  meinen  Verleger 

Won  alien  Leser-Briefen,  lieber 
Y  Meister  Rowohlt,  scheint  mir 
dieser  hier  der  allerschonste  zu 
sein.  Er  stammt  von  einem  Ober- 
rcals chiller  aus  Number g. 
,,Lieber  Herr  Tucholskyl 

Erlauben  Sie  mir,  daB  ich  Ihnen 
zu  Ihren  Werken  meine  vollste 
Anerkennung  ausspreche.  Das 
wird  Ihnen  zwar  gleichgultig  sein 
—  aber  ich  mochte  doch  noch 
eine  weitere  Bemerkung  hinzu- 
fugen.  Hoffentlich  sterben  Sie 
recht  bal d,  damit  Ihr e  Bucher 
billiger  werden  (so  wie  Goethe 
zum  Beispiel),  Ihr  letztes  Buch 
ist  wieder  so  teuer,  daB  man  es 
sich  nicht  kaufen  kann. 

■  GruB!" 

Da  hast   es. 

Lieber  Meister  Rowohlt,  Hebe 
Herren  Verleger!  Macht  unsre 
Bucher  billiger!  Macht  unsre 
Bucher  billiger  1  Macht  unsre 
Bucher     billiger  I 

Kurt  Tucholsky 

Ein  Orchester 

A  chtzig  Mann.  Zwei  Kontra- 
**  basse,  eine  Pauke,  eine  Kes- 
selpauke,  ein  Schlagzeug  und 
ganz  vorn  rechts  etwas  Besonde- 
res,  Alles  ubrige  Blech.  Also 
mehr  als  siebzig  Blaser,  Blech 
und  Holz.  Keine  Violine,  keine 
Bratsche,  kein  Cello.  Und  samt- 
liche  Musiker  in  Uniform.  Bei- 
nah  kriegerisch.  Und  doch  nicht 
wie  Soldaten.  Eher  wie  Feld- 
webel  vom  Proviantamt  oder  vom 
Bezirkskommando.  Einige  mit 
Brille  oder  Kneifer.  Die  meisten 
nur  kostumiert.  Zivilisten  in  Ver- 
kleidung.  Aber  seit  wann  tragt 
man  den  Korporalsrock,  wenn 
man  offentlich  musiziert?  Und 
warura  hat  der  Mann  ganz  vorne 


rechts  dies  besondere,  so  unbe- 
quern  zu  transportierende  Mobel 
mitgebracht?  Der  Kapellmeister 
erscheint,  es  geht  los.  Als  erstes 
ein  Richard  Wagner,  die  Ouver- 
ture  zum  ..Hollander",  Im  Pro- 
grammheft  steht  wortlich:  „Das 
Thema  entstammt  der  Legende 
der  Fliegende  Hollander;  die  seit 
dem  15.  Jahrhundert  unter  dem 
Matrosenvolk  erhalten  ist.  Die 
Ouverture  ist  eine  symphonische 
Dichtung,  in  der  alle  Wende- 
punkte  enthalten  sind,  die  der 
Oper  ihre  Entstehung  gaben/' 
Was  fur  ein  narrisches  Orchester 
da  oben  —  in  strammer  Uniform, 
ausschlieBlich  Chargen  vorgeruck- 
ten  Alters,  mehr  als  siebzig  Bla- 
ser, an  den  Pauken  und  mit  dem 
Becken  und  den  Kastagnetten  ein 
wohlfrisierter  Spitzbart  und  ganz 
vorn  rechts  ein  Militarsoldat  an 
einem  schwierig  zu  transportie- 
renden  Gerat,  das  einstweilen 
zum  Schweigen  verdammt  istl 
Den  einen  Mann  ausgenommen, 
ist  keiner  muBig,  Es  findet  allge- 
meine  Blaserei  statt.  Der  Spitz- 
bart gibt  sein  Bestes,  Der  Diri- 
gent  ist  kuhl  und  souveran  wie 
unser  Leo  Blech.  Mehr  furs  Ohr 
als  furs  Auge.  Wenn  man  nicht 
hitischaut,  merkt  man  nichts  vom 
Fehlen  der  Streicher.  Diese  Sol- 
daten hand-  und  mundhaben  ihre 
blitzenden  und  glitzernden  und 
quackernden  und  nohlenden  und 
brummelnden  und  rummsenden 
Instrumente,  als  fiedelten  sie 
ganz  sanft  auf  einer  Geige. 
Ein  tolles  Orchester.  Als  zwei- 
tes  eine  Kleinigkeit  von  Mau- 
rice Ravel.  Militarmusik  und 
Maurice  Ravel.  Ich  staune.  So 
delikat  habe  ich  noch  nie  Ravels 
Konservatoriums-Arbeit  spielen 
gehort,  Der  Soldat  ganz  vorne 
rechts  tritt  in  Aktion,  Er  zupft 
die  Harfe.     Ich    kann    den    Blick 


ADAM  UND  EVA 

Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSGABE 

Adam,  ein  wunderbarer  tolpat'schiger  Bursche,  steht  Immer  wieder  verblDfft  vor  den 
Wandelbarkeiten  der  beiden  Frauen:  Lllith  und  Eva,  der  Qeliebten 
und  der  grSSIich  Legltimen.    Allea,  was  zwischen  Mann  und  Frau 
existiert,  wird  in  diesem  getstreichen,  wltzigen  Buche  ausgesprochen. 

TRANSMARE  VERLAO  A.*G.t  BERLIN  W  10 


iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinifiiimiiiiiiiiiiitiiiiiio 


Lelnen 

3.35  RM 


345 


nicht  von  ihm  wenden,  Ein  Sol- 
dat  •  in  voller  Kriegsbemalung 
zupft  die  Harfe,  dieses  lyrischste 
aller  Instruments  Es  ist,  wie 
wenn  Grock  den  Hamlet  spielt, 
Oder  wenn  Ivar  Kreuger  ein  Dun- 
hill  benutzt.  Oder  wenn  die  Biene 
Maja  an  Mostrich-Buchsen  nippt. 
Oder  ein  Freudianer  die  Existenz 
des  Oedipus  leugnet,  Es  ist  ein 
Paradox.  Aber  der  Soldat  ahnt 
nichts  davon.  Es  ist  ihm  zur  Ge- 
wohnheit  geworden.  Und  dann 
kommt  etwas  aus  der  „Walkure" 
dran,  und  im  Programmheft  wird 
folgendes  mitgeteilt:  „Brunhilde, 
die  kriegerische  Jungfrau,  bevor- 
zugte  Tochter  Wotans  des  Konigs 
der  Gotter,  hat  ihrem  Vater  nicht 
gehorcht,  der  ihr  untersagt  hat, 
Siegmund  zu  bevorzugen,  obwohl 
er  fur  den  jungen  Helden  tief- 
gehendes  Wohlwollen  hatte." 
Aber  gespielt  wird  es  koniglich. 
Und  der  darauffolgende  Albeniz 
(dessen  Triana  man  von  Back- 
haus  gehort  haben  muB)  bringt 
das  Publikum  gradezu  in  Raserei, 
obwohl  die  Menschen  in  Zurich 
gemeinhin  der  Raserei  abhold 
sind.  Am  liebsten  hatten  sie  es 
wiederholt.  Aber  der  Spitzbart 
am  Schlagzeug  ist  bereits  zum 
Wrack  zermatscht,  und  seine  Fri- 
sur  schaut  entsetzlich  ramponiert 
aus.  Mit  einem  kostlichen  Schei- 
tel  begann  er,  und  jetzt  hat  sich 
eine  Glatze  zum  Licht  gerungen. 
Und  was  sagt  das  Programmheft 
von  Albeniz?  „Geboren  1860  in 
Comprddon,  starb  nach  langer 
Krankheit  im  Jahr  1909.  Seine 
Musik  ist  in  hohem  MaBe  leben- 
dig  und  beeinfluBt  von  seiner 
Gutmtitigkeit  und  seiner  volks- 
tiimlichen  Starke."  Eh  bien.  Und 
zum  SchluB  gibt  es  einen  Gla- 
zounow,  der  sich  gewaschen  hat. 
Das  Publikum  applaudierte  sich 
in  Stucke.  Vor  alien  Dingen,  urn 
einen  schneidigen  Marsch  zu 
horen.  Aber  der  Dirigent  war 
unerbittlich.  Es  war  aus  und 
blieb  aus.  Und  dann  wurden  die 
achtzig  Mann  inklusive  Harfe  in 
die  bereit  stehenden  Autos  gepackt 
und  weiter  verfrachtet.  Jedes 
Autb  war  so  lang  wie  die  StraBe, 
wo  es  schnaufte.  Die  StraBen 
ringsum  wimmelten  von  Autos. 
Aber  es  waren  insgesamt  nur  vier 
346 


Autos.  Und  das  Orchester  war 
das  Orchester  der  Garde  Republi- 
caine  unter  der  Leitung  des  Herrn 
Pierre  Dupont.  Ich  beneide  die 
Franzosen  urn  dieses  Orchester. 
Und  dem  Mann  an  der  Harfe 
driicke  ich  pazifistisch  die  Hand 
Hans  Reimann 

Landstrafie  mit  Stubenluft 

1UI  ax  Barthel  heiBt  der  Erfinder, 
***  Man  sollte  ihn  patentieren, 
diesen  Max  Barthel,  er  hat  ein 
neues  System  erfunden:  er  tragi 
seinen  Schreibtisch  auf  eine 
Wiese,  steckt  unter  dem  Eindruck 
der  Natur  die  anarchistischen 
Reste  seines  Wesens  in  Brand  und 
transponiert  die  erzielte  Glut  in 
Dichtung.  Resuitat:  der  Land- 
straBenroman  „Das  Gesicht  der 
Medusa".  Produktionsleitung 

Hesse  und  Becker  in  Leipzig, 

Der  Fabrikarbeiter  Paul  Hirsch- 
muller  geht  unter  die  Tippelbrii- 
der,  Er  vergewissert  sich  vorher, 
daB  seine  Redakteure  in  Stutt- 
gart, Munchen  und  Berlin  ihm 
Skizzen  abnehmen,  damit  er  nicht 
in  der  Luft  hangt.  In  Efilingen 
iernt  er  eine  Rosa  kennen,  eine 
Rosa  schlechthin,  ein  absolutes 
Madchen,  von  der  niemand  ahnt, 
wie  wichtig  sie  fur  den  SchluB 
des  Buches  noch  werden  wird. 
Dann  tippelt  er,  teils  mit  Schnell- 
zug,  teils  mit  StraBenbahn,  teils 
wirklich.  Er  traumt  und  schwarmt 
und  bekommt  Lause,  an  denen 
sich  sein  Humor  entzundet.  Wenn 
er  kein  Geld  mehr  hat,  geht  er 
zum  Postamt  und  holt  sich,  was 
die  Redakteure  geschickt  haben, 
Oder  er  sauft  mit  den  andern 
Kunden.  Fechten  ist  nicht  sein 
Fall,  das  Liigen  geht  ihm  nicht 
vom  Munde  und  auBerdem  ist  er 
doch  eigentlich  Schriftsteller,  der 
Barthel  Hirschmuller,  also  gewis- 
sermafien  was  Besseres.  Vor  dem 
Vierwaldstatter  See  zum  Beispiel 
philosophiert  er  in  sich  hinein: 
„Hier  an  diesem  See  erbrauste 
j  ene  groBe  Symphonie,  die  aus 
dem  Zusammenprall  von  Wasser 
und  Felsen  kommt  und  den  Be- 
trachter  mit  Heroismus  erfullt." 
Barthel,  Barthel,  mach  uns  die 
Sommerfrischler  nicht  eitell  Und 
wenn      der     Barthel     etwas     be- 


schreibt,  dann  weifi  man  aber 
auch  alles:  „Am  nachsten  Morgen 
erreichte  cr  das  alte,  hochgebaute 
Siena,  das  am  reinsten  aus  dem 
Mittelalter  in  die  neue  Zeit  ge- 
kommen  ist>  Palaste  und  wun- 
dervolle  Platze,  enge  Gassen  und 
beriihmte  Strafien,  das  war 
Siena  . . ,"  Mit  diesen  Worten 
wandert  Barthel  weiter  und  laBt 
Siena  beschrieben  hinter  sich. 

Man  brauchte  iiber  die  Sache 
keine  Worte  zu  machen,  wenn 
nicht  wieder  eine  groBe  Stoffmog-> 
Iichkeit  vor  die  Hunde  gegangen 
ware.  Eine  einzige  Feder  kann 
tatsachlich,  wenigstens  fur  den 
glaubigen  Leser,  eine  ganze  Wirk- 
Hchkeit  entmannen.  Die  Feder, 
solche  Federn,  kann  man  nicht 
trre  machen;  aber  vielleicht  den 
Leser  unglaubig. 

Gattamelafa 

Wirtschattsfflhrcrklughelt 

Herr  von  Staufi  hat  im  Katzen- 
ellenbogen-ProzeB  ein  Wort 
gesagt,  das  wert  ist,  in  den 
Buchmann  aufgenommen  zu  wer- 
den,  ein  prophetisches  Wort,  das 
Wort  eines  wirklichen  Wirt- 
schaftsfuhrers  f 

Er  sagte:  „Damals  im  (  Novem- 
ber 1930  gab  es  drei  Moglichkei- 
ten,  entweder  es  wurde  besser, 
oder  es  blieb,  wie  es  war,  oder  es 
wurde  schlechter."  Jedermann 
wird  zugestehen,  daB  diese  Aus- 
sage  wahrhaft  hinreiflend  ist. 
Wann  bitte  gibt  es  nicht  diese 
drei  Moglichkeiten?  Nur  damals, 
im  November  1930?  Es  ist  das 
herrlichste  Beispiel  eines  Gemein- 
platzes,  vorgetrageri  mit  dem 
Schein  der  uberragenden  Klug- 
heit:    „Meine  Herren,   es   gab   da- 


mals drei  Moglichkeiten,  entwe- 
der es  wurde  besser,  oder  es  blieb 
wie  es  war,  oder  es  wurde 
schlechter." 

Bildung 

Der  Begriff  der  Kultur-Platte  ist 
nicht  erfullt  durch  die  geist- 
liche  und  padagogische  Platte. 
Jede  Schallplatte,  die  in  Wille 
und  Wirklichkeit,  im  Geist  und  im 
Material  bei  kiinstlerischer  und 
technischer  Vollkommenheit  eine 
Erscheinung  unsres  Kulturguts  in 
Klang  und  Sprache  erlebnis-  und 
erkenntnisfordernd  vermittelt  — 
ist  Kulturplatte  I  Unter  diesen 
Voraussetzungen  kann  eine  Auf- 
nahme  aus  der  „Matthaus- 
Passion"  wie  die  eines  Volks- 
Liebeslieds,  ein  Wiener  Walzer 
wie  ein  qtialitatsbestimmter  neu- 
zeitlicher  Song  unter  den  Bereich 
der  Kulturschallplatte  fallen.  Wie 
es  bei  der  padagogischen  Sprech- 
Lehrplatte  darauf  ankommt:  iiber 
die  blofle  Vermittlung  phoneti- 
scher  Kenntnisse  und  Anleitung 
zu  lautreiner  Aussprache  hinaus 
das  verloren  gegangene  Gefiihl 
fur  das  bluthaft  Lebendige, 
Schicksalhafte  unserer  Mutter- 
sprache  bewuBt  und  stark  zu 
machen;  wie  die  musikalisch- 
kunstlerische  Lehrplatte  iiber  die 
Moglichkett,  als  Beispiel  der  Mu- 
sik-  und  Kulturgeschichte  zu  die- 
nen,  hinaus  vermag:  die  Erkennt- 
nis  zu  schaffen,  daB  dem  Mu- 
sischen  in  seiner  Schonheitsdestalt 
aus  Genie-  und  Volkskraft 
hochste  Logik,  letzte  Sinndeutung 
des  Lebens  und  sittltche  Kraft 
innewohnt,  wie  der  tiefste  Sinn 
des  Erzieherischen  immer  das 
Menschliche    bleibt,    so    muB    die 


Sofiben  erscheint:  Kart  3.80 

KURT  HILLER,  Der  Sprung  Ins  Helle 

REDEN,  OFFNE  BRIEFE,  ZWIE6ESPRACHE,  ESSAYS,  THESEN,  PAMPHLETE 

Auseirrandersetzung  mit  Th.  Wolff,  Wi (helm  II.,  Scheler,  Schauwecker,  Weh- 
berg,  v.  Schoenaich,  Foerster,  Albert  Einstein.  Willy  Haas,  Hellpach,  Kar! 
Kraus,  Coudenhove,  Mussolini,  PiusXI.,  PaterStratmann,  MGnzenberg,  Lenin 

•  Wie  verhindern  wir  den  nachsten  Krieg?  • 
Demokratie?  Materiafismus?  Arischer  und  judischer  Imperialismus;  Nazis 
und  Pazis;  SPD,  KPD  und  die  Rote  Einheit 

Wolfgang  Richard  Lindner  Verlag  •  Leipzig 

347 


kirchenmusikalische  und  padago- 
gische  Platte  als  Weg  und  Vor- 
stufe  zur  eigentlicheh,  umfassen- 
den  Kulturschallplatte  crkannt 
wcrden.  Einer  Schallplatte,  die 
Kultur  —  gleich  welchen  Stoffes 
—  in'  sich  hat,  die  durch  das  Me- 
dium kiinstlerischer  Gestaltung 
geklarte,  erhohte  und  verdichtete 
Lebensformen  vermittelt;  in  einer 
Art,  die  tatsachlich  das  mensch- 
liche  Leben  wieder  beriihrt  und 
mit  neuen  Werten  fur  jedermann 
fiillt.  Die  bei  selbstverstandlicher 
kiinstlerischer  Qualitat  im  gewei- 
teten  Sinne  kulturerzieherisch 
ohne  lehrhaite  Aufdringlichkeit 
und  wjeder  im  besten  Sinne 
unterhaltsam  wirkt,  Eine  Schall- 
platte nicht  fur  diesen  oder  jenen 
Zweck,  diesen  oder  jenen  Men- 
schen, sondern  schlechthin  fur  den 
Menschen! 

.Frankfurter  Zeltung' 
Der  beste  judische  Witz 

T  Tber  den  jiidischen  Witz  sind 
*^  Biicher  und  Abhandlungen 
geschrieben  worden.  Man  hat 
die  Gipfel  dieses  Humors  philo- 
sophised   ausgemessen,     man     hat 


ihr  oft  unertragliches  Sumpfland 
der  Selbstironie  mit  barter  Kri- 
tik   nicht   zuschiitten   kdnnen 

Es  gibt  Menschen,  die  keine 
Witze  behalten  konnen.  Zu  ihnen 
gehore  ich.  Bleibt  aber  einmal 
ein  .Witz  im  Ohr  hangen.  dann 
1st  das  eine  so  seltene,  die  Regel 
bestatigende  Ausnahme,  dafi  sich 
mir  die  Untersuchung  nach  einem 
HWeshalb"  lohnt.  So  habe  ich 
geiundent  daB  der  einzige  ju- 
dische Witz,  den  ich  behalten 
habe*  gradezu  in  erhabener  Form 
die  beste  Wesens-Seite  des 
Volkes  spiegelt,  dem  er  ent- 
stammt.     Er  lautet: 

Ein  Jude  gerat  beim  Kriegs- 
ausbruch  1914  in  der  Nahe  der 
russischen  Grenze^  auf  ein  Ge^ 
lande,  das  von  einem  Posteri  be*, 
wacht  wird,  Der  Posten  hebt  das 
Gewebr  und  schreit:  „Halt,  oder 
ich  schieBe!"  Der  Jude  wischt 
mit  einer  argerlichen  Handbewe- 
gung  durch  die  Luft:  „Sind  Sie 
meschugge?  Tun  Sie  das  Gewehr 
weg.  Sehen  Sie  denn  nicht,  daB 
hier  ein  Mensch  steht?" 

Manfred  Georg 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Deutsche  Lirfa  ftir  Menschenrechte.  Montag  20.00.  Langenbeck-Virchow-Haus,  Luisen- 
strafle  58:  PoHHsche  Prozesse  und  politische  Verfahren.  Es  sprechen:  Alfred 
Apfel,  Gfinther  Grzimek,  Oberstaatsanwalt  KShler,  Cail  Misch,  Rudolf  Olden,  Ernst 
Ottwalt,  Landgerichtsdirektor  Siegert,  Justizrat  Werthauer  und  Peter  Wittkowski. 

Neue  Filmgruppe.  Montag  20.00.  Alter  Askanler,  Anhaltstr.il  fU-Bahn  Kochstrafie) : 
Tendenzfilra  —  KompromiBfilm.  Es  sprechen:  Ernst  Angel,  Rudolf  Arnheim,  Heinz 
Ludecke,  He  in  rich  Oberlander  und  ein  Arbeiter. 

Arbeitsgemeinschaft  marxistiscber  Sozial arbeiter.  Mittwoch  20.00,  Haverlands  Festsale, 
Neue  Friedrichetr.  35:  Der  Klassencharakter  der  modernen  Psychologies  Maces 
Sperber. 

Itidividualpsychologische  Gruppe.  Montag  (7.)  20.00.  Klubhaus  am  Knie,  Berliner  Str.  27: 
Empfindung  und  ihre  Darstellung,  Georg  Netzband. 

Ham  burg 

Weltbiihnenleser.     Freitag  20.00,    Timpe,  Grindelallee  10:  Die  yviittsche  Lage. 
Gruppe    Revolutionfirer    Pazifisten.     Stadtbundklub,    Jungfernstieg   30.     Freitag    20.00: 

Zur  Reichsprasidentenwahl,  Kurt  Hiller.  —  Sonntag  11.005Ueber  die  Ursachen  des 

nationalsozialistischen  Erfolges,  Kurt  Hiller. 

Bflcher 

Bernard  v.  Brentano:  Der  Beg  inn  der  Barb  arc  i  in  Deutschland.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 
Gerhart  Hauptmann:  Vor  Sonnenuntergang.    S.  Fischer,  Berlin. 
Alfred  Neumann:  NarrenspiegeT.    Propylfien-Verlag,  Berlin. 

Rundftwk 

Diensta?.  Frankfurt  18.40:  Der  politische  Publizist,  Kurt  Hiller.  —  Berlin  19.10:  Straf- 
prozesse  der  Wirtschaft,  A^ntsgerichtsrat  Unger  und  Georg  Lowenthal.  —  Kflnijfs- 
berg  20.15:  Friedrich  KayBler  Hest  Dichtungeh  von  Goethe.  —  Mittwoch.  Frank- 
furt 19.35:  Wirtscbaftskrise  und  Lohnpolitik,  Prof.  Beckerath  und  Prof.  Led  ere  r.  — 
Berlin  20.10:  Matthias  Claudius,  Bruno  Adler  und  Edlef  KSppen.  —  Kdnigsberg  21.10: 
Szenen  aus  der  Inflation  von  Ernst  W.  Freifller.  —  Donnerstajr/  Breslau  21.30: 
Mexikanische  Geschichten  von  B.  Traven.  —  Freltagr-  Leipzig  16,00:  Th,  Th.  Heme 
65  Jahre,  Franz  Schonberner.  —  Muhlacker  18.40:  Stimmen  der  Tiere.  Hans  Rei- 
mann.  —  Breslau  21.00:  Goethes  G5tz  von  Berltchingen.  —  Sonnabend.  Langen- 
■     —     -         -      -      -      -  -  -  -      feL_ 


berg  16.20:  Die  Frau  in  der  Rechtsprechui>g  der  deutschen  Gerichte,  Grete  Stoffel. 
Muhlacker  19.45:  Vilma  Monckeberg-Kollmar  liest  Lyrik  von  Franz  Werfe). 


348 


Antworten 

Teutscher,  Ihr  ,Deutsches  Volkstum*  nimmt  sich  des  Bauern- 
fiihrers  Claus  Heim  an,  eines  Mannes,  der  genau  das  getan  hat,  was 
Max  Holz  gemacht  hat  —  es  ist  kein  Unterschied.  Auch  nicht  im 
Charakter:  dieser  Heim  ist  em  tapfrer  und  auf reenter  Mann.  Soweit 
gut.  Er  sitzt  in  Celle.  Fiir  den  Fond  dieser  Strafanstalt  hat  hier  neu- 
lich  Ignaz  Wrobel  gebeten:  es  solle  ihr,  wers  hat,  Geld  spenden. 
Grund  genug  fiir  Albrecht  Erich  Gunther,  im  .Deutschen  Volkstum' 
ein  groBes  Geschrei  zu  erheben.  Claus  Heim  sei  fiir  diesen  Strafvoll- 
zug  zu  gut.  Nun  ist  —  was  Gunther  seinem  Leser  verschweigt  — 
Ignaz  Wrobel  ein  Gegner  des  Strafvollzugs  in  Stufen,  er  ist,  was 
Gunther  verschweigt,  ein  Gegner  des  Systems,  die  Leute  zu  „artigen" 
Gefangenen  zu  machen,  und  er  hat  fiir  den  Direktor  in  Celle,  Herrn 
Fritz  Kleist,  stets  geworben,  weil  dieser  verdienstvolle  Mann,  der  Ver- 
fasser  des  Buches  „Jugend  hinter  Gittern",  ein  Charakter  und  ein 
Menschenkenner  ist,  der  seiner  schweren  Aufgabe,  so  gut  es  eben 
gent,  gerecht  wird.  Schade,  daB  es  Gunthern  nicht  vergonnt  ist,  ein- 
mal  drei  Jahre  abzusitzen  —  er  wurde  rasch  lernen,  ob  die  von 
Wrobel  geforderte  Humanitat  „diffamierend"  ist,  Schade,  daB  in  die- 
sem  Volkstum,  das  keines  ist,  soviel  gelogen  wird,  denn  man  kann  auch 
durch  Schweigen  liigen.  Und  wir  hatten  den  Doktor  Stapel  fiir  einen 
honorigen  Mann  gehalten,  Man  soil  den  Stapel  nicht  vor  dem 
Gunther  loben. 

WestpreuBe.  Sie  schreiben  uns,  daB  Herr  Hans  Nitram,  der  Ver- 
fasser  eines  schlechten  nationalistischen  Hetzromans,  mit  dem  wir  uns 
im  vorigen  Heft  an  dieser  Stelle  beschaftigten,  ein  aktiver  Offizier  in 
Marienwerder  ist.  Das  sei  uberall  jenseits  des  Korridors  bekannt.  Es 
handelt  sich  dabei  urn  einen  Oberleutnant  Martin,  Adjutant  beimAus- 
bildungs-Bataillon  Marienwerder  des  3.  (PreuBischen)  Infanterie- 
Regiments,  Kommandeur  Oberst  v.  Niebelschiitz,  Regimentsstab  in 
Deutsch-Eylau.  Zu  unsern  Anfragen  wegen  des  Stallingschen  Pro- 
spekts  hat  sich  der  Herr  Reichswehrminister  nicht  geauBert.  Herr 
Groener  beantwortet  weder  offne  Briefe  noch  Fragen,  die  ihm  nicht 
gefallen. 

Auswartiges  Amt.  Das  nachfolgende  Schreiben  hat  der  Leiter 
der  Auslandsabteilung  in  der  NSDAP.,  Doktor  Hans  Nieland,  M.d.R., 
am  17.  November  1931  an  einen  Auslandsdeutschen  in  Bogota,  Colum- 
bien,  gerichtet:  „Der  geniale  Fiihrer  unserer  herrlichen  Freiheits- 
bewegung,  Adolf  Hitler,  hat  mit  dem  Ziele,  die  wertvollen  Krafte,  die 
durch  unsere  Auslandsdeutschen  verkorpert  werden,  fiir  die  Befreiung 
unseres  Vaterlandes  aus  Sklavenjoch  und  Ohnmacht  nutzbar  zu 
machen,  die  Grtindung  der  Auslandsabteilung  verfiigt  und  mich  mit 
der  Leitung  beauftragt,  Hieraus  erwachst  mir  die  Aufgabe,  alle  Vor- 
falle  in  der  gesamten  Welt  aufmerksam  zu  verfolgen  und  zu  registrie- 
ren  und  insbesondere  unsere  Diplomaten  zu  beobachten,  um  beiUber- 
nahme  der  Macht  durch  unsre  Bewegung  in  der  Lage  zu  sein,  zum 
Wohle  unsres  Volkes  uberall  dort  einzugreifen  und  Wandel  zu  schaf- 
fen,  wo  sich  solches  jetzt  als  no  tig  herausstellt.  DaB  dieser  Zeitpunkt 
nicht  mehr  fern  ist,  werden  Sie  aus  den  beispiellosen  Erfolgen  unsrer 
Bewegung  bet  den  letzten  Wahlen  in  Mecklenburg,  Anhalt,  Hamburg 
und  Hessen  ersehen  haben.  Unsre  Bewegung,  die  wohl  heute  bereits 
weit  uber  15  Millionen  wahlberechtigte  Deutsche  hinter  sich  hat,  kann 
fur  sich  in  Anspruch  nehmen,  uber  die  bestorganisierte  Partei,  die 
Deutschland  je  gesehen  hat,  zu  verftigen,  und  es  ist  mein  Wille  und 
mein  Ziel,  ein  Gleiches  mit  den  Deutschen  im  Auslande  in  die  Wege 
zu  leiten.  Mir  liegen  die  Artikel  vor,  die  die  dortige  Zeitung  ,E1 
Tiempo*  Ende  September  dieses  Jahres  uber  die  Angelegenheit  Julius 

349 


Berger  anlafilich  der  Kammerdebatte  brachte  und  gleichfalls  babe  icb 
Kenntnis  von  der  Stellungnahme  der  deutschen  Kolonie  in  Bogota  zu 
diesen  Vorf alien,  abgedruckt  in  ,E1  Tiempo'  vom  24.  September  1931. 
Auf  diese  Weise  erhielt  ich  Kenntnis  von  Ihrer  Anschrift  und  ich 
nehme  daher  biermit  Veranlassung,  Sie  zur  aktiven  Mitarbeit  an  der 
Befreiung  unsres  geliebten  Vaterlandes  aufzufordern.  Ich  lasse  Ihnen 
gesoadert  das  Programm  unsrer  Bewegung  sowie  die  Rundverfilgung  1 
zugehen  und  empfeble  beides  Ihrem  sorgfaltigen  Studium.  Auch  an- 
deren,  dort  ansassigen  Deutschen  schreibe  icb  mit  gleicber  Post  in 
diesem  Sinne.  Setzen  Sie  sicb  bitte  mit  Herrn  J.  H.  Schlubach, 
welcher  Mitglied  unsrer  Bewegung  ist,  in  Verbindung,  mit  dem  Ziele, 
dort  eine  machtige  Ortsgruppe  ins  Leben  zu  rufen,  Hoffentlich  be- 
ricbten  Sie  mir  mit  wendender  Post,  daft  Sie  unsrer  Bewegung  als 
Mitkampfer  beigetreten  sind  und  senden  mir>  die  Ibnen  gleichfalls 
gcoondert  ziigehende  Beitrittserklarung  vollzogen  zuriick.  Mit  Hitler 
Heil!"  Die  hier  beabsichtigte  Bespitzelung  Ihrer  Vertreter  im  Aus- 
land  wird  Sie  sicher  interessieren, 

Adolf  Hitler.  Man  hat  Ihnen  den  braunschweigischen  Beamteneid 
im  Kaiserhof  abgenommen.  So  f reundlich  ist  man  sonst  nicht  zu 
einem  kleinen  Regierungsrat.  Wird  jetzt  die  ganze  Gesandtschaft  zur 
Arbeit  zu  Ihnen  ins  Hotel  kommen?  In  einem  guten  Restaurations- 
betrieb  geht  alles  viel  leichter  vonstatten.  Im  iibrigen  gratulieren 
wir  Ihnen  aufrichtig  zu  Ihrer  endlich  ermogelten  Einbiirgerung. 

Kriegsbegelsterter.  Kaufen  Sie  sich  die  Nummer  7  der  .Ztircher 
Hlustrierten,  die  dem  Them  a  „Abru6tung"  gewidmet  ist.  Es  wird 
sehr  lehrreich  fiir  Sie  sein,  zu  erfahren,  wie  der  nachste  Heldentod 
aussieht,  ob  man  den  nun  an  der  Front  oder  im  Hinterlande  stirbt. 
Weil  Bilder,,  Schilderungen  und  Dokumente  immer  der  subjektiven 
Ausdeutung  unterliegen,  wird  Sie  das  wahrscheinlich  nicht  uberzeugen. 
Sie  werden  wieder  sagen;  Krieg.  hat  es  immer  gegeben  und  uns  fehle 
der  Sinn  furs  Heldische.  Wir  wollen  Ihnen  mal-  sagen,  wofiir  uns  der 
Sinn  fehlt:  daftir,  dafi  ein  Tod,  der  durch  stiickweises  Ausbrechen  der 
Lunge  eintritt,  etwas  Heidi sches  sein  soil.  Das  ist  einfach  gegen- 
seitiger  Mord,  •  wobei  es  nur  darauf  ankommt,  wer  die  bessern  Me- 
thoden   entwickelt  hat,  also   schneller  an  sein  Ziel  kommt, 

Theaterireund.  Sie  haben  ganz  recht,  werm  Sie  von  Werner 
KrauB  und  seiner  Lei  stung  in  dem  neuen  Hauptmann-Stiick  scbwar- 
men.  Kraufl  ist  in  der  Tat  mitreiflend  wie  noch  nie,  Jeder  Jtingling 
im  Parkett  fuhlt  sich  als  ein  rustiger  Siebziger. 

Neugieriger.  Der  Artikel  von  Leo  Trotzki  wird  eins  der  Kapitel 
seines  neuen  Buches  bilden,  das  demnachst  unter  dem  Titel  „Was 
nun?  Schicksalsfragen  des  deutschen  Proletariats"  im  Verlag  von 
Anton   Grylewicz,   Berlin-Neukolln,   erscheint. 

Republikaner.  Hitler  ist  nur  in  dem  MaBe  stark,  wie  ihr  schwach 
seid.     Einer  kann  nur  oben  liegen  —  muBt  ihr  immer  linten  liegen — ? 


Manuakripte  aind  nur  an  die  Redaktion  der  WeUbuhne,  Chartottenbnrg,  Kantstr.  lb%  xu 
richten  ;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beixulegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann, 
Daa  Auf  f  tthr  ungsrecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  Im  Rahnten  des  Filma,  die  muaik* 
mechaniache  Wieder  gabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahnten  von  Radiovortrttgen 
biciben   fttr   alio  in  der  Weltbtlhne  eracheinenden  Beitraga  auadriicklich  vorbehaUa*. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  V.  Oasietzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  Tucholsky   geleitet  —  Verantwortlich :   Carl  v.  Oasietzky,   Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsoan  &  Co.,  Charlottenburg. 

Tdephon:  Cl,  Steinplatz  7757.   —   Postscheckkonto :  Berlin  11958. 
Bankkonto:     Daimstadter    u.    Nationalbank.       Depoiitenkasae    Charlottenburg,    Kantatr.   112 


IXVIU.Jitifgang  8.Mlrzl932  Namaer  10 


Duesterbergs  diistere  Rolle  von  cari  v.  ossietzky 

jTJcr  Hindenburg-AusschuB  zeichnet  sich  durch  eine  beson- 
■^  ders  ungeschickte  Propaganda  aus.  Hitler  spritzt  Vitriol, 
das  Hindenburg-Komitee  Limonade.  Man  lese  die  Rede  nach, 
die  Landrat  Gereke,  der  sonst  fur  einen  der  groBten  Schlau- 
fiichse  der  Grunen  Front  gilt,  bei  dem  grofien  Presseemp- 
fang  gehalten  hat:  ,,Wie  kann  man  Hindenburg  zum  Vorwurf 
machen,  daB  jetzt  in  seiner  Front  auch  Kreise  stehen,  die  ihn 
1925  nicht  gewahlt  haben?  Wolle  man  ausgerechnet  von 
Hindenburg,  der  Zeit  seines  Lebens  fur  die  echte  Volksgemein- 
schaft  gerungen  hat,  erwarten,  daB  er  jemanden  zurtickstoBt, 
der  sich  unter  dem  Eindruck  seiner  Personlichkeit  zu  ihm 
und  damit  zur  deutschen  Einigkeit  bekennt?" 

,,Der  Sieg  ist  ein  Sack,  den  man  mit  Faustschlagen  be- 
arbeitet",  sagte  Marschall  Foch,  Hindenburgs  gliicklicherer 
Gegner.  Herr  Gereke  redet,  als  gehe  es  nur  darum,  ein  paar 
der  alten  Generalskanonen  von  Oberost  zu  bestricken,  die  heute 
von  Hitler  gegen  ihren  ehemaligen  Vorgesetzten  abgeprotzt 
werden,  Es  handelt  sich  aber  darum,  fur  die  Kandidatur 
Hindenburg  so  gegen  acht  Millionen  Sozialdemokraten  zu  ge- 
winnen,  von  denen  gewifi  ein  beachtlicher  Prozentsatz  lieber 
zu  Hause  bleiben  mochte.  Den  Kandidaten  hat  es  noch  nicht 
gegeben,  der  ,, jemanden  zuriickstoBt",  der  ihn  wahlen  mochte, 
es  miiBte  denn  ein  einzigartiges  MiBverstandnis  vorliegen. 

Diese  ganze  schiichterne  Aufmachung  der  Hindenburg-Pro- 
paganda  berechtigt  zu  einer  etwas  pietatlosen  aber  notwendi- 
gen  Frage:  Ist  der  Herr  Reichsprasident  iiberhaupt  davon 
unterrichtet,  daB  er  der  Kandidat  der  Sozialisten  ist?  Hat 
seine  Umgebung  ihm  davon  Kenntnis  gegeben?  Oder  glaubt 
er,  der  auf  den  Ehrenvorsitz  beim  Stahlhelm  noch  immer  nicht 
verzichtet  hat,  vor  der  gleichen  Truppe  wie  1925  zu  mar- 
schieren? 

* 

Jedoch  Herr  Oberstleutnant  Duesterberg,  <ler  Chef  des 
Stahlhelms,  steht  diesmal  gegen  Hindenburg.  Der  Kandidat 
Duesterberg  zeichnet  sich  nicht  durch  politische  Reize  aus. 
Er  vertritt  jenes  miBgelaunte  spieBerliche  Patriotentum,  das 
auf  die  Gongschlage  der  Weltgeschichte  mit  dem  ewig  gleichen 
verzogenen  Mopsgesicht  reagiert.  So  steigen  jetzt  beflissene 
Biographen  in  die  ruhmreiche  Vergangenheit  des  Mannes,  und 
da  sie  nichts  ans  Licht  fordern  als  gleichgultige  militarische 
Beforderungsdaten,  so  teilen  sie  die  mit,  als  hatte  an  diesen 
Tagen  die  Welt  gewackelt. 

Einer  dieser  Chronisten  erzahlt,  Duesterberg  habe  1918, 
wahrendder  Friedensverhandlungen  in  Bukarest,  einen  Kon- 
flikt  zwischen  Wilhelm-StraBe  und  O-HX.  herbeigefiihrt.  Er 
bemerkte  namlich  eines  Abends  vor  einem  bekannten  Amusier- 
lokal  das  Auto  des  Staatssekretars  von  Kuhlmann.  Da  mufite 
etwas  geschehen.     Duesterberg  der  edle  Ritter  fegte  wie  ein 

i  351 


Ungewitter  zu  der  Heeresleitung  hin.  Die  O.H.L.  teilte  die 
Entriistung  des  puritanischen  Otfiziers  und  erhob  Vorstellun- 
gen.     So  war  der  schonste  Krach  da. 

Ob  das,  was  man  so  gemeinhin  Tugend  nennt,  wirklich 
existiert  oder  nur  ein  Hirngespinst  grauer  Moralisten  ist, 
bleibe  dahingestellt.  Sicher  ist  nur,  dafl  die  Tugend  nicht  in 
Bukarest  erf  und  en  worden  ist.  Es  gab  da  genug  General- 
stabler,  die  es  sich  in  der  gemiitlichen  Verhurtheit  der  balkani- 
schen  Hohenzollern-Residenz  wohl  sein  lieBen,  aber  die  Sit- 
tenstrenge  der  O.H.L.  erwachte  erst,  als  sich  die  Moglichkeit 
bot,  die  Herren  von  der  als  anti-annexionistisch  verschrienen 
Friedensdelegation  bei  den  Hanunelbeinen  zu  kriegen.  In  der 
alldeutschen  Presse,  die  am  Strange  Ludendorffs  zog,  waren 
furchtbare  Geschichten  zu  lesen  von  den  Sektorgien  der  Diplo- 
maten;  eine  sehr  unappetitliche  aber  sonst  gut  vaterlandische 
Alkoven-  und  Matratzeninspektion  setzte  ein,  und  endlich 
regnete   es  Beleidigungsprozesse. 

Ob  Duesterberg,  der  Dunkelmann,  damals  den  eignen  har- 
ten  Prinzipien  folgend,  den  Angeber  machte,  ob  er  von  der 
O.H.L.  zum  vorschriftsmaBigen  AnstoBnehmen  vor  den  Siindcn- 
pfuhl  beordert  wurde,  wird  niemals  beantwortet  werden.  Hier 
schweigt  Plutarch. 

Von  links  gesehen  wirkt  die  Kandidatur  Duesterberg  iiber- 
flussig  und  unverstandlich,  wie  eine  schwachsinnige  Vereins- 
meierei.  Sie  scheint  nur  die  Aufspaltung  der  Harzburger  Front 
zu  demonstrieren.  Von  der  andern  Seite  gesehen  hat  dagegen 
die  Kandidatur  Duesterberg  durchaus  ihren  Sinn. 

Sie  sichert  namlich  Hugenbergs  iiberlegene  Schlusselstel- 
lung.  Sie  hindert  das  allzu  ungemessene  Wachstum  von  Hit- 
lers Hausmacht,  sie  warnt  ihn  vor  dem  allzu  vertrauensvollen 
Glauben  an  die  Zahl,  ruft  ihm  seine  eigne  Abhangigkeit  von 
der  Schwerindustrie  und  der  Gesamtheit  der  Reaktion  wieder 
ins   Gedachtnis. 

Hugenbergs  Kalkulation  mit  Duesterberg  ist  jedenfalls 
sehr  beachtlich.  Denn  sie  macht  ihn  zum  Herren  iiber  den 
zweiten  Wahlgang.  Auf  der  Rechten  wird,  und  vielleicht  allzu 
optimistisch,  gerechnet,  daB  Duesterberg  gegen  drei  Millionen 
Stimmen  erhalten  wird.  Selbst  wenn  diese  Zahl  nicht  her- 
auskommen  sollte,  so  wird  doch  gewiB  eine  Hohe  erreicht 
werden,  die  Duesterberg-Hugenberg  fiir  den  zweiten  Gang 
ausschlaggebend  machen  kann.  Dann  wird  Hindenburg  sich 
Hugenbergs  Diktat  fiigen  miissen. 

In  gewissen  DebattieTkiubs  der  Rechten  wird  die  Situation 
nach  dem  erst  en  Wahlgang  so  dargestellt:  Hindenburg  hat  die 
erste  Stelle  inne,  Hitler  weniger  Stimmen  als  bei  den  Reichs- 
tagswahlen;  so  liegt  die  Entscheidung  beim  Wahlblock  Schwarz- 
weiBrot,  also  bei  Deutschnationalen  und  Stahlhelm.  Die 
SchwarzweiBroten  aber  sind  nicht  gesonnen,  ohne  beschwo- 
rene  Garantien  fiir  Hindenburg  zu  votieren.  Sie  fordern  na- 
tiirlich  wieder  die  Umbildung  des  Kabinetts,  die  weitere  Um- 
gruppierung  nach  rechts:  Groener,  Reichskanzlerj  Briining, 
AuBenminister;  Duesterberg,  Wehrminister.     Und  da  die  preu- 

352 


Bischen  Wahlen,  die  entwcder  gleichzeitig  mit  der  Prasiden- 
tenwahl  oder  bald  darauf  stattfinden,  keinen  Sieg  dcr  alien 
Koalition  mchr  bringen  konnen,  so  soil  dort  cine  „Beamten- 
regierung"  eingesetzt  werden.  Also  erne  Hugenbergregierung. 
Die  Gefahrlichkeit  solcher  Plane  kann  nicht  leicht  uber- 
schatzt  werden.  Das  Biirgertum  befindet  sich  weiter  im  Ab- . 
marsch  nach  rechts.  Das  bezeugt  von  neuem  die  jammervolle 
Katastrophe  von  Stresemanns  schlechtestem  Vermachtnis,  der 
Deutschen  Volkspartei,  die  sich  wortwortlich  auflost,  so  wie 
in  dem  alten  Marchen  das  Schiff,  das  sich  dem  Magnetberg 
nahert.  Heraus  die  Nag  el  und  Schrauben  und  eisernen  Klam- 
mern;  die  Planken,  eben  noch  festgefiigt,  treiben  im  Wasser. 
Dieser  Magnet  ist  der  Fascismus. 

* 

Wir  haben  im  vorigen  Heft  aufgefordert,  fiir  Thalmann  zu 
stimmen,  weil  jeden  Sozialisten  und  aufrichtigen  Republika- 
ner  die  Alternative  „Hindenburg  oder  Hitler?"  wie  eine  Per- 
versitat  anmuten  muB.  Die  Losung  fiir  die  Kandidatur  Thal- 
mann schafft  klarere  Verhaltriisse,  in  dem  sie  alle  zu  sammeln 
trachtet,  die  sich  weigern,  die  Ergebnisse  von  republikani- 
scher  und  sozialdemokratischer  Unfahigkeit  wie  eine  Schick- 
salsfiigung  hinzunehmen.  Eine  moglichst  grofie  Stimmenzahl 
fiir  Thalmann  bedeutet  nicht  Sieg,  wohl  aber  Ausblick.  Die 
sozialistische  Arbeiterschaft,  an  den  Kinderwagen  der  Bonzo- 
kratie  gewohnt,  muB  von  neuem  gehen  lernen. 

Unsre  republikanischen  Freunde  heben  warnend  den  Pa- 
dagogenfinger  und  fragen:  Was  wird,  wenn  durch  Thalmanns 
Sonderkandidatur  etwa  Hitler  gewahlt  wird?  Wir  stellen 
eine  andre  Frage:  Was  wird,  wenn  Hindenburg  gewahlt  wird?* 

Die  Sozialdemokraten  nehmen  es  als  allzu  selbstverstand- 
lich  an,  das  bedeute  die  Beibehaltung  des  von  ihnen  tolerier- 
ten  gegenwartigen  Zustandes.  Geht  aber  Hindenburg  mit 
den  Hilfsvolkern  des  Stahlhelms  in  den  Siegt  so  bedeutet  das 
wohl  einen  personlichen  Erfolg  fiir  ihn,  jedoch  eine  Niederlage 
der  Republik.  Die  Leute  der  Linken  haben  dann  zwar  Hin- 
denburg gewahlt,  aber  in  Wahrheit  Hugenberg  in  den  Sattel 
gehoben.  ,,WahIt  am  13.  Marz  Duesterberg,"  erklarte  Hugen- 
berg vor  ein  paar  Tagen  im  Sportpalast.  „Was  dann  weiter  zu 
geschehen  hat,  bitte  ich  freundlichst  mir  zu  uberlassen." 

Man  darf  sicher  sein,  daB  Briining  in  jeden  Schacher  ein- 
willigen  wird,  um  die  Kandidatur  Hindenburg  zu  retten,  Briining 
hat  neulich  im  Reichstag  erklart,  er  ware  bei  den  Verhand- 
lungen  mit  Hitler  bereit  gewesen  zu  resignieren,  nur  habe  er 
sich  geweigert,  den  Mgesamten  Staatsapparat"  an  die  National- 
sozialisten  auszuliefern.  Darum  handelt  es  sich  bei  Hugen- 
berg gewiB  nicht.  Hier  wird  die  Form  besser  gewahrt  bleiben. 
Hier  kann  Bruning  im  Interesse  der  heiligen  Einigkeit  ohne 
Gewissensskrupel   verzichten. 

Den  W«g  dazu  bietet  die  Kandidatur  Duesterbergs,  eine 
Hintergrundssache  gewiB.  Aber  wenn  der  erste  Wahlgang 
unentschieden  bleibt,  wird  iiber  ihre  Bedeutung  kein  Zweifel 
sein.  Die  Sozialdemokratie  fragt  nicht,  fordert  nicht.  Die  Hin- 
denburgwahler  torkeln  ins  Ungewisse 

S53 


Woffir  — ?  von  Banns-Erich  Karainski 

r\eutschland  lebt  bereits  in  der  Atmosphare  des  Burgerkriegs, 
in  dcr  Lult  liegt  Panik, :  morgens  und  abends  findet  der 
Zeitungsleser  in  seine m  Blatt  die  neuesten  Kampfberichte.  Das 
Land  hat  wieder  einmal  Blut  gekostet,  und  es  schmeckt  ihm 
ausgezeichnet.  Denn  Blut  gilt  als  eine  Bestatigung  fur  das 
Gro'Oe  und  Schone,  es  macht  jeden  Bluff,  jeden  Irrsinn  heroisch, 
wenn  es  flieflt,  ach,  es  flieBt  niemals,  es  rinnt  und  sickert  nur, 
aber  wenn  es  vergossen  wird,  sei  es  fremdes  oder  auch  eignes, 
so  fiihlen  sich  die  Menschen  erhoben  und  erhaben,  Und  diese 
Trunkenheit  erfafit  immer  weitere  Kreise,  schon  rufen  drei 
Viertel  der  Nation  wie  der  Cyrano  von  Bergerac:  „Ich  schlage 
mich,  ich  schlage  mich,  ich  schlage  mich!"  —  man  weiB  alien- 
falls  noch  gegen  wen,  aber  wofiir,  wofiir,  wofiir? 

Einen  Augenblick  schien  esf  als  wiirde  sich  auch  dieLinke 
nun  endlich  a  uf  raff  en,  und  wer  optimistisch  genug  ist,  darf 
immer  noch  glauben,  daB  sich  ihre  Truppen  wenigstens  am 
Entscheidungstag  zusammenfinden  werden.  Zu  befurchten 
bleibt  nur,  daB  .dieser  Entscheidungstag  niemals  kommt. 

Was  droht,  ist  ja  nicht  so  sehr  ein  Putsch  der  Braunhem- 
den,  mit  dem  wiirden  wir  sehr  bald  f  ertig  werden.  Die  deutsche 
Gegenrevolution  gleicht  weniger  einem  Bazillus,  der  von  auBen 
tiefer  in  den  Volkskorper  einfriBt.  Es  geniigt  deshalb  nicht,  alle 
Abwehrkrafte  dagegen  zu  sammeln  und  zu  organisieren,  es  ge- 
niigt nicht  einmal,  es  herauszuschneiden,  man  muB  das  Wachs- 
tum  des  Geschwiirs  verhindern  und  dem  ganzen  Korper  neue 
Krafte  zufuhren. 

Der  Nationalsozialismus  bedeutet  gewiB  kein  Ideal,  aber 
seine  Anhanger  sehen  es  in  ihm;  sie  glauben  sogar  an  das 
Programm,  das  er  nicht  hat;  jeder  einzelne  von  ihnen  ist  iiber- 
zeugt,  im  Dritten  Reich  werde  es  ihm  besser  gehen,  denn  jeder 
vermeint,  zu  der  Elite  zu  gehoren,  die  dann  iiber  das  gemeine 
Volk  herrschen  wird, 

Darum  kann  auch  die  Abwehr  des  Fascismus  nicht  bloB  darin 
bestehen,  den  Massen  der  Nazis  kommunistische  oder  sozial- 
demokratische  oder,  wenn  es  solche  gibt,  demokratische  Mas- 
sen  entgegenzustellen.  DashieBe,  in  denselben  Fehler  verfallen, 
den  Ludendorff  beging,  in  einen  sehr  deutschen  Fehler.  Auch 
Ludendorff  sah  nur  Zahlen,  ob  es  sich  dabei  um  Geschiitze, 
Munition,  Tanks,  Flugzeuge,  Eisenbahnwaggons  oder  Soldaten 
handelte,  War  ihm  gleichgultig.  Niemals  erfaBte  er,  daB  auch 
der  Soldat  ein  Mensch  mit  menschlichen  Bediirfnissen  und 
menschlichen  Schwachen  ist,  er  begriff  nicht  einmal,  daB  das 
Heer  von  1918  ganz  anders  geartet  war  als  das  von  1914, 

Zur  Strategic  gehort  die  Psychologie,  und  ohne  Verstand- 
nis  fur  das  Seelische  bleibt  die  starkste  Macht  leblos  und 
zur  Niederlage  verurteilt.  Die  Menschen  wollen  sich  auf 
die  Dauer  nicht  schlagen  wie  die  Landsknechte,  und  der  Rausch 
des  Blutes  iibertont  niemals  lange  die  Frage  nach  dem  Wofiir. 
Die  Bereitschaft  zu  kampfen  und  zu  sterben  kommt  aus  un- 
erforschten  Bezirken  der  Seele,  aber  es  gibt  sie;  immer  je- 
doch  verlangt  sie  den  vielleicht  irrtiimlichen  Glauben,  es  lohne 

354 


sich,  die  viclleicht  sinnlose  Zuversicht,  dutch,  das  dargebrachte 
Opfcr  werde  alles  besscr  werden;  immcr  entspringt  sie  der 
Unterwerfung  unter  ein  Gebot,  das  starker  erscheint  als  alle 
Bindungen  und  selbst  als  das  Leben. 

Solch  ein  Ideal  ist  der  Antifascismus  nicht,  solch  ein  Ideal 
kann  iiberhaupt  keine  Negation  sein,  Es  mnfl  ins  Positive  ge- 
wendet  werden,  und  es  darf  nicht  nur  Forderungen  an  den  ein- 
zelnen  stellen,  es  mufi  ihm  auch  etwas  verheiflen,  Sonst  be- 
steht  die  Gefahr,  dafi  der  Kampf  gegen  den  Nationalsozialismus 
im  Technischen  stecken  bleibt  und  vollig  versagt,  wenn  sich 
die  Kriegslage  andert  und  es  etwa  iiberhaupt  keine  der  soge- 
nannten  Volksrechte  mehr  gibtf  die  erhalten  werden  sollen. 

So  labile  Institutionen  wie  die  deutsche  Republik  und  gar 
die  deutsche  Demokratie  sind  gewifi  immer  noch  wert,  ver- 
teidigt  zu  werden;  zu  begeistern  vermogen  sie  sicher  nicht. 
Auch  ein  noch  so  gutes  Arbeitsbeschaffungsprogramm,  ja 
selbst  die  Lohne  von  1929  sind  noch  kein  Ideal,  das  die  Mas- 
sen  vor  den  Lockungen  der  Reaktion  und  vor  allem  vor  der 
Indifferenz  zu  bewahren  vermag. 

Aber  der  Antifascismus  braucht  gar  nicht  aul  die  Suche 
nach  einem  Ideal  zu  gehen  noch  etwa  mikroskopische  Unter- 
suchungen  dartiber  anzustellen,  was  denn  eigentlich  den 
Fascismus  ausmacht  und  ab  oder  wie  weit  wir  ihn  schon  haben. 
Das  Programm  nicht  nur  fur  die  Abwehr  sondern  auch  fiir  den 
Angriff  ist  langst  vorhanden,  es  wirkt  auf  die  Menschheit  seit 
bald  einem  Jahrhundert,  und  es  hat  alle  Merkmale  einer  Re- 
ligion fiir  unsre  Zeit.  Dieses  ideale  Programm,  dieser  pro- 
gramma  tische  Idealismus  ist  der  Sozialismus,  man  braucht  ihn 
nur  lebendig  zu  machen!  So  stark  ist  die  Anziehungskraft,  die 
das  Wort  schon  ausubt,  dafi  es  ja  sogar  die  Reaktionare  ge- 
stohlen  haben! 

Niemals  aber  war  die  Situation  fiir  die  Konkretisierung 
des  Sozialismus  guns  tiger  als  jetzt.  Ach  Gott,  man  schamt  sich 
fast,  es  niederzuschreiben,  so  banal  und  selbstverstandlich 
kiingt  es,  Aber  merkwurdigerweise  wird  unter  all  den  Forde- 
rungen, die  taglich  neu  erhoben  werden,  nur  eine  nirgends  ge- 
stellt:  die  Sozialisierung.  Und  dabei  ist  sie  nur  die  logische 
und  okonomische  Konsequcnz  der  meisten  Plane,  die  augen- 
blicklich  diskutiert  werden<  Lediglich  der  Afabund  ist  jetzt 
darauf  gekommen. 

„Schulden  kann  man  nicht  sozialisieren",  meinten  1918 
Leute,  die  sich  vor  ihrer  eignen  Courage  fiirchteten,  und  heute 
sagen  dieselben  Leute  wieder  dasselbe.  Aber  warum  kann 
man  eigentlich  nicht  Unternehmungen  ebensogut  sozialisieren 
wie  subventionieren,  warum  kann  die  Allgemeinheit  nicht  eben- 
sogut ihren  Gewinn  erhalten  wie  sie  heute  ihren  Verlust  tragt? 
Freilich,  der  Sozialismus  ist  im  Augenblick  nicht  zu  verwirk- 
lichen,  Aber  was  die  englischen  Sozialisten  fordern,  namlich 
die  Sozialisierung  bestimmter  Teile  der  Volkswirtschaft,  ist 
auch  im  kapitalistischen  System  durchaus  moglich,  Und  ist 
Deutschland,  dessen  gesamte  Wirtschaftspolitik  zwischen 
freier  und  gebundener  Wirtschaft  hin  und  her  schwankt,  denn 
noch    ein   kapitalistischer   Staat  im   Sinne    des  Liberalismus? 

2  355 


Um  zwdlftausend  GroBgrundbesitzer  zu  rctten,  die  doch 
nk&ht  zu  retten  sind,  werden  Steuergeider  vergeudet,  Zollkriege 
geJEiihrt,  die  Lebensmittelpreise  kunstlich  erhoht  und  die 
schwersten  Eingriffe  in  bestehende  Rechtsverhaltnisse  gemacht. 
Dabei  ist  Deutschland  das  einzige  Land  Europas,  das  nach  dem 
Weltkrieg  keine  Agrarreform  durchgefiihrt  hat.  In  alien  ubri- 
gen  Landern,  auBer  in  Frankreich,  wo  es  schon  seit  h under t 
Jahren  keinen  GroBgrundbesitz  mehr  gibt,  sind  die  Latifundien 
zerschlagen  worden,  sogar  in  Ungarn  hat  man  wenigstens  einen 
TeJL  der  Riesengtiter  fur  Bauernsiedlungen  enteignet.  Warum 
verlangt  niemand,  daB  auch  in  Deutschland  der  GroOgrund- 
besitz sozialisiert  wird? 

Weiter.  Eine  der  wichtigsten  Fragen  ist  gegenwartig  die  der 
Devisenbeschaffung.  Jeder  zweite  Mensch  in  Deutschland  hat 
einen  ineuen  Plan  dafiir  ausgearbeitet,  vorlaufig  aber  fliefien  der 
Reichsbank  die  Devisen  trotz  der  hohen  Ausfuhr  nur  sparlich 
zu.  Warum  kommt  nun  eigentlich  keiner  auf  die  Idee,  statt 
die  Zahlungen  im  AuBenhandel,  den  AuBenhandel  selbst  zu  be- 
wirtschaften  und  ein  sozialistisches  AuBenhandelsmonopol  we- 
nigstens fur  einige  Waren  zu  schaffen.  Fur  Getreide  gibt  es 
solche  AuBenhandelsmonopole  in  Jugoslawien  und  in  Bulgarien. 

Weiter.  Die  Bergwerke  brauchen  keine  Sozialabgaben  zu 
zahlen,  zahlreiche  Industrien  konnen  nur  noch  dank  f ortlauf en- 
den  ^Subventionen  existieren,  die  Banken  werden  zum  groBen 
Teil  niit  offentlichen  Mitteln  finanziert.  Alle  Welt  spricht  jetzt 
von  Aufsichtsamtern,  Staatskommissaren,  Zwangskartellen,  nur 
davon,  diese  Almosen  empfangenden  Unternehmungen  zu  so- 
zialisieren,  spricht  niemand.  Selbst  Mussolini  aber  hat  soeben 
die  gesamte  italienische  Schiffahrt  zu  einer  einzigen  Gesell- 
schaft  zusammengeschlossen  und  unter  Staatskontrolle  gestellt. 

Alle  derartigen  SozialisierungsmaBnahmen  waren  vom 
marxistischen  Standpunkt  aus  gewiB  sehr  anfechtbar,  jedoch 
die  richtige  Sozialisierung  ist  liberhaupt  nur  im  sozialistischen 
System  denkbar.  In  jedem  Fall  zeigt  sich  hier  die  Moglichkeit, 
Forderungen,  die  in  die  Zukunft  weisen,  in  ein  Sofortprogramm 
einzuarbeiten. 

Im  librigen  will  ich  hier  kein  Sozialisierungsprogramm 
entwerfen.  Ich  will  nur  auf  ein  Ziel  hinweisen,  das  wahrhaftig 
immer  noch  das  Ziel  vieler  Millionen  ist.  Worauf  es  ankommt, 
ist  allein,  es  von  neuem  in  den  Vordergrund  zu  rticken.  Denn 
es  kann  kein  Trost  fur  die  Menschen,  die  hungern  und  darben, 
sein,  daB  es  ihnen  wieder  so  herrlich  wie  im  Jahre  1929  gehen 
wird,  wenn  die  Krise  erst  einmal  voruber  ist,  und  daB 
sie  kampfen  miissen,  damit  das  kapitalistische  System  sich  in 
Ruhe  weiter  entwickeln  kann.  Dagegen  ware  es  ein  Trost  und 
ein  Ansporn,  wenn  man  diesen  Menschen  sagte;  MIhr 
miiBt  Opfer  bringen,  vielleicht  noch  groBere  als  die,  zu  denen 
Ihr  jetzt  schon  gezwungen  seid;  aber  Ihr  bringt  sie,  damit  die 
Betriebe  Euer  werden  und  damit  Ihr,  wenn  die  Krise  vorbei 
sein  wird,  die  NutznieBer  der  neuen  Prosperitat  sein  werdet 
so  wie  Ihr  jetzt  die  Leidtragenden  der  Depression  se^d!"  Dann 
wiirde  sich  zeigen,  daB  das  deutsche  Proletariat  nicht  weniger 
leidensfahig  ist  als  das  russische. 

356 


Man  kann  dem  entgegenhalten,  daB  selbst  ein  begfenztes 
Sozialisierungsprogramm  heute  nicht  durchfiihrbar  ist  und  ESB 
es  taktisch  nicht  klug  ware,  in  diesem  Augenblick  dafiir  ein- 
zutreten.  Abcr  vicle  Forderungen  sind  nicht  immer  gleich 
durchfiihrbar  und  werden  dennoch  erhoben,  und  jc  lauter  sic 
crhoben  werden,  je  mehr  sie  begeistern  konnen  und  begeistern, 
desto  mehr  von  ihnen  wird  schlieBlich  zur  Wirklichkeit.  Und 
die  Taktik?  Ja,  wo  sind  denn  die  Erfolge  der  bisherigen 
Methode,  immer  nbesonnen"  zu  bleiben,  Riicksichten  zu  neh- 
men  und  Zugestandnisse  zu  machen?  Hat  man  etwa  schon  die 
Formel  gefunden,  die  die  Mittelparteien  an  die  Linke  bindet? 
Und  ist  es  iiberhaupt  klug,  nur  fur  den  einen  Fall  des  Putsches 
vorzusorgen  und  nicht  daran  zu  denken,  dafi  man  schon  Ostern 
oder  Pfingsten  vor  einer  ganz  neuen,  wenn  auch  „legalen" 
Situation  stehen  konnte?  Was  ware  das  fur  eine  tragische 
Situation,  wenn  die  deutsche  Linke  dann  programmlos  Und 
folglich  aktionsunfahig   den  Ereignissen  gegenuberstunde! 

Die  Sozialisierung  ware  die  Parole,  unter  der  sich  die 
marxistische  Front,  die  bisher  leider  nur  in  der  Einbildung 
ihrer  Gegner  besteht,  sammeln  konnte.  Freilich,  auf  die  demo- 
kratische  Bourgeosie,  die  es  angeblich  noch  in  der  Mitte  geben 
soil,  muBte  man  verzichten.  Doch  dafiir  brauchte  man  nicht 
mehr  nach  der  Formel  zur  Verstandigung  mit  den  demokrati^ 
schen  und  katholischen  Arbeitern  rechts  von  der  Sozialdema- 
kratie  zu  suchen;  sie  wiirden  von  selber  kommen. 

GewiB:  auch  ein  groBes  Ideal  und  ein  davon  inspiriertes 
handfestes  Programm  allein  geniigen  nicht.  Aber  sie  erst 
konnen  den  Kampf  gegen  den  Fascismus  zu  einem  Erlebnis 
machen,  das  immer  wachsende  Massen  in  seinen  Bann  zieht. 


Der  breite  Riicken  von  Theobald  nger 

,Weltbahne'f  25.  Mart  1930 
1  Jnd  wenn  der  bpse  Feind  kommt,  kriechen  alle 
*^   rasch  hinter  diesen  breiten,  alten  Mann ... 
Gedeckt  sehn  sie  auf  die  Krawalle 
und  freun  sich,  daB  man  ihnen  da  nichts  machen  kann. 

Sie  schtitzen  nicht.     Sie  lassen  sich  nur  schtitzen. 
Sie  starren  wie  behext:  „Die  Augen  links I" 
dann  ziehn  sie  iibers  Ohr  die  Zipfelmiitzen  — 
es  lachelt  stumm  die  Paragraphen-Sphinx. 

*     Sie  schtitzen  nicht.     Sie  machen  taglich  Pleite. 
Die  Fahne  Hegt  zertreten  und  zerfetzt. 
„Atsch!     aber  ER  ist  auch  auf  unserer  Seite! 
Na,   Hitler?      Manneken?    Was    sagst    du   jetzt?" 

Wie  sind  sie  mutig,  diese  lieben  Kleinen! 

Die  Reichswehr  wird  zersetzt.     Es  knackt  das  Haus  . . . 

Sie  aber  stehen  zwischen  seinen  Beinen 

und  stecken  lachelnd  ihren  Kopf  heraus. 

Wir  brauchen  Arbeit,  Ruhe  in  Betrieben. 

Es  drohnt  ein  Land.     Wer  sichert  uns  den  Sieg? 

Ein  alter  General  ist  uns  geblieben 

als  Ietzte  Hoffnung  dieser  Republik. 


357 


Die  Verschworung  der  deutsch- 

franzosischen  Rechten  von  w.  coiepepper 
ii 

Hitler  und  Frankreich 

W7ahrend  in  Genl  deutsche  mid  franzosische  Delegierte  Thea- 
"  terduelle  ausfechten;  wahrend  die  beiden  Delegationen  ver- 
suchen,  einander  Alliierte  zu  stehlen;  wahrend  Italien,  genau 
wie  1914  und  1915  sich  dem  Meistbietenden  zu  verkaufen  bereit 
ist  —  bauen  die  deutsche  und  die  franzosische  Industrie  Kartelle 
und  ,,sichern  den  Frieden",  indem  sie  iiber  eine  eventuelle  teil- 
weise  Wiederaufriistung  Deutschlands  mit  einer  Beteiligung  von 
25  bis  30  Prozent  der  franzosischen  Industrie  verhandeln.  All 
das  nennt  sich  (,deutsch-franzosische  Annaherung".  DerFriede 
wird  aber  erst  dann  perfekt  sein,  wenn  man  einen  neuen, 
gemeinsamen  nErbfeind"  gefunden  hat,  was  sicher  nicht  sehr 
schwer  sein  wird.  Trotz  der  Eile  der  Kommunisten  ist 
man  heute  noch  nicht  so  weit,  RuBland  als  diesen  ge- 
wiinschten  Erbfeind  zu  betrachten. 

Man  versteht  also,  dafi  unter  derartigen  Umstanden  die 
Rechte  zu  beiden  Seiten  des  Rheins  bestrebt  ist,  die  Macht 
beizubehalten,  ihre  Lage  zu  festigen  und  aus  diesem  Frieden 
eine  Kriegsgefahr  zu  machen.  In  dem  vorhergehenden  Afti- 
kel  haben  wir  gezeigt,  wie  die  Tardieu,  Laval  und  Kerillis 
planen,  diese  Operation  durchzufiihren.  In  Deutschland  ist  die 
Lage  nicht  die  gleiche.  Mom  en  tan  besteht  keinerlei  Gefahr, 
daB  die  Linke  zur  Macht  gelangt  Doch  beschaftigt  die  Her- 
ren  ein  andres  Problem:  Hitler  und  sein  Nationalsozialismus. 
Das  bedeutet  nicht,  dafl  Hitler  fiir  gefahrlich  gehalten  wird. 
Als  internationale  Drohung  ist  er  sogar  ein  wunderbares  Ge- 
schaft,  und  Herr  Schneider-Creusot  weiB  recht  gut,  warum  er 
ihn  subventioniert.  Wenn  es  gelingt,  einige  seiner  Seitenspriinge 
zu  korrigieren,  wird  er  ganz  gut  in  die  Linie  passen.  Doch 
von  Krupp  bis  Schneider-Creusot,  von  Vogler  und  Wiskott  bis 
Peyerimhoff  und  Duchemin,  fiirchten  alle,  daB  Hitler  ein  Weg- 
bereiter  des  Bolschewismus  werden  konnte,  Werden  sich  die 
pauperisierten  Kleinbiirger  von  Hitler  nicht  in  die  Arme  der 
Kommunisten  fluchten?  Deshalb  ist  Hitler  eine  deutsch- 
franzosische  Angelegenheit,  die  man  gemeinsam  regeln  muB, 
genau  so  wie  ein  Kartell. 

* 

Als  die  deutschen  Industriellen  zum  ersten  Mai  die  Giite 
hatten,  Hitler  ins  Ohr  zu  flustern,  er  solle  doch  mit  Frankreich 
reden,  da  brach  im  hohen  Lager  der  Nationalsozialisten  flam- 
mende  Entriistung  aus.  Da  hat  man  also  eine  grandiose  Bewe- 
gung  geschaffen,  um  das  Vaterland  zu  befreien,  und  nun  soil 
man  sie  an  Frankreich  verkaufen!  Unterstiitzt  von  jenem  Teil 
der  deutschen  Industrie,  der  iiberhaupt  und  prinzipieU  gegen 
jede  Verstandigung  mit  Frankreich  ist,  organisierte  Hitler  die 
passive  Resistenz.  Die  t,zukunftige  Regierung"  trat  zusammen 
und  zum  ersten  Mai  in  ihrem  Leben  muBte  sie  selbstandig  den- 
ken.  Schwere  Geburtsstunden.  Mit  Paris  verhandeln?  Un- 
moglich!  Moskau  kommt  nicht  in  Betracht.  Die  Herren  In- 
358 


dustrieilen  habcn  doch  nicht  jahrelang  gezahlt,  damit  man 
hcutc  die  politischen  Geschafte  der  Bolschewiken  mache.  Mit 
Moskau  verhandeln,  das  ware  noch  viel  delikater  als  mit  Paris. 
So  blieb  nur  Rom  und  London.  In  Rom  aber  teilt  der  Papst  die 
Ansicht  der  Herren  Krupp  und  Peyerimhoff  und  betrachtet 
Hitler  als  einen  Vorlaufer  des  Kommunismus,  Mussolini  hin- 
gegen  braucht  Geld,  das  ihm  Frankreich  sehr  gut  verschaff  en 
kann,  und  er  bleibt  kiihL  So  schickte  die  „zukunftige  Regie- 
rung"  den  designierten  AuBenminister  Rosenberg  nach  London. 
Der  Erfolg,  den  er  dort  zu  verzeichnen  hat,  ist  ein  ahnlicher, 
den  Grock  auf  seinen  Tourneen  erringt,  und  derSchatzkanzler 
Neville  Chamberlein  hat  ihn  folgendermafien  charakterisiert: 
,,Seit  warm  betreibt  man  Politik  mit  Sauglingen?" 

Der  designierte  AuBenminister  reiste  also  nach  Miinchen 
zuriick.  Die  Mzukiinftige  Regierung"  trat  abermals  zusammen 
und  muBte  erfahren,  daB  Europa  nicht  so  groB  ist,  wie  es  von 
Miinchen  aus  erscheint.  To  be  or  not  to  be . , .  Und  so  be- 
schloB  man  also,  tiefe  Trauer  im  Herzen,  „mit  Frankreich  zu 
sprechen".  Man  yersteht  die  Notiz  amerikanischer  und  eng- 
lischer  Journalisten,  die  um  diese  Zeit  Hitler  im  Kaiserhof  bei 
einer  Ansprache  an  die  Auslandspresse  erlebten;  sie  schrieben, 
Hitler  habe  „Schaum  vor  dem  Munde  gehabt,  als  er  von 
Frankreich   sprach". 


So  begannen  die  Unterhandlungen  mit  Frankreich.  Doch 
wollen  wir  zuerst  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  den  Mann  vor- 
stellen,  von  dem  es  in  den  politischen  und  journalistischen  Mi- 
lieus von  Paris  heiBt,  er  habe  als  Erster  im  Namen  Frankreichs 
mit  Hitler  Riicksprache  gehalten.  Er  heiBt  Max  Hoschiller, 
ist  stellvertretender  Sekretar  der  deutsch-franzosischen  Wirt- 
schaftskommission  und  Strohmann  des  aus  dem  Comite  des 
Forges  hervorgegangenen  Botschafters  Francois-Poncet.  Cha- 
rakteristisch  fiir  Hoschiller  ist  folgendes:  Man  weiB  niemals, 
ob  er  in  eine  Sache  verwickelt  ist,  weil  sie  dunkel  ist,  oder 
ob  die  Sache  dunkel  ist,  weil  Hoschiller  mitten  drinn  steckt. 

Herr  Max  Hoschiller  ist  in  Lemberg  geboren  und  stammt 
von  einem  osterreichischen  Vater  und  einer  russischen  Mutter. 
Er  muBte  sich  der  Musterungskommission  in  Lemberg  stellen. 
Spater  kam  er  nach  Frankreich  und  arbeitete  in  der  anarchisti- 
schen  Arbeiterbewegung.  Er  schrieb  flammende  Artikel  in  der 
revolutionaren  Zeitung  Gustave  Herves  unter  dem  Pseudonym 
Roudine.  Bei  Kriegsausbruch  verlaBt  Hoschiller  Frankreich 
nicht.  Sonderbarerweise  wird  dieser  Oesterreicher  weder  in- 
terniert  noch  ausgewiesen  noch  sonstwie  belastigt.  Er  hat 
gute  Protektion. 

Vor  dem  Krieg  schon  bestand  zwischen  der  deutschen  und 
der  franzosischen  Rustungsindustrie  ein  Obereinkommen,  dem- 
zuiolge  im  Kriegsfalle  zwischen  Deutschland  und  Frankreich 
das  Eisenbassin  von  Briey  und  die  Fabriken  weder  von  deut- 
scher  noch  von  franzosischer  Artillerie  bombardiert  werden 
diirften.  Es  waren  die  Deutschen,  die  1914  Briey  besetzten;  die 
Franzosen  respektierten  den  geheimen  Vertrag.  Offiziere  des 
Generalstabes,  im  Einvernehmen  mit  dem  Comite  des  Forges, 

359 


wachten  daruber,  daB  das  Erzbecken  von  Briey  nicht  beschos- 
sen  werde.  Flieger,  die  1915  Briey  dennoch  mit  Bombcn  be- 
legten,    wurden   bestraft, 

Damals,  mitten  im  Krieg,  gab  es  jedoch  gewissc  pariser 
Zeitungen,  wie  zum  Beispiel  .L'Oeuvre',  die  das  Spiel  des 
Comite  des  Forges  und  der  deutschen  Schwerindustrie  durch- 
schauten  und  das  schandliche  Einverstandnis  der  deutschen  und 
i ranzosischen  Riistungsindustrie  denunzierten,  Trotz  der  Presse- 
kampagne  der  Linken  weigerte  sich  im  Jahre  1915  der  fran- 
zosische  Generalstab,  Briey  zu  beschieBen.  Das  franzosische 
Publikum  beunruhigte  sich.  Da  erschien  im  ,Temps\  dem  Or- 
gan des  Comite  des  Forges,  eine  Serie  wirtschaftlicher  Artikel, 
in  denen  versichert  und  mathematisch  nachgewiesen  wurde,  daB 
die  deutsche  Armee  in  Briey  kein  Kilogramm  Eisen  fordern 
kqnne,  was  der  Wahrheit  natiirlich  nicht  entsprach.  Diese 
Artikel  waren  von  Max  Hoschiller  gezeichnet,  Sie  waren  auf 
GeheiB  des  Comite  des  Forges  geschrieben  worden,  an  dessen 
Spitze  als  Generaldirektor  mitten  im  Krieg  ein  Deutscher 
stand,  Herr  Goldsberger.  Heute  ist  der  Mann  noch  immer 
Bevollmachtigter  des  Comite  des  Forges. 

Briey  wurde  nicht  bombardiert,  Krupp  und  de  Wendel 
konnten  wahrend  des  ganzen  Krieges  ihre  eintragliche  Zusam- 
menarbeit  aufrechterhalten.  Wer  diesen  wirklich  unglaub- 
Bch%WTatsachen  skeptisch  gegeniibersteht,  moge  in  das  Sit- 
zungsprotokoll  der  f ranzosischen  Kammer  vom  24.  und  31.  Ja- 
nuar  1919  Einsicht  nehmen. 

Spater  linden  wir  Hoschiller  auf  der  Konferenz  von  Genua 
wieder,  und  niemals  hat  man  von  sfeinem  Treiben  dort  erfah- 
ren.  Bose  Zungen,  denen  man  natiirlich  nicht  glauben  soil, 
behaupten,  er  hatte  dort  im  Auftrag  des  Erkundungsbureaus 
iitt  Kriegsministerium  die  Russen  beobachtet,  Im  Jahre  1923 
erhalt  er  schlieBlich  eine  feste  Beschaltigung.  Als  Krupp  von 
Bohlen  bei  der  Ruhrbesetzung  wegen  der  ^essener  Zwischen- 
fall-e  £estg«halten  wurde,  wurde  der  lemberger  Franzose  Ho- 
schiller beauftragt,  das  Verhor  des  groBen  deutschen  Indu- 
striellen  zu  fiihren.  Stand  Herr  Hoschiller  diesmal  nicht  im 
Dienste  des  Erkundungsbureaus?  Und  dies  ist  derselbe  Mann, 
der  heute  als  stellvertretender  Sekretar  der  deutsch-franzosi- 
schen  Wirtschaftskommission  fungiert. 

* 

Bei  Herrn  Hoschiller  ist  man  sich  niemals  klar,  in  wes- 
sen  Auftrag  er  handelt:  ob  fiir  die  Regierung,  das  Comite  des. 
Forges  oder  irgend  eine  mehr  oder  weniger  offiziose  Stelle; 
dies  gestattet  jedenfalls  all  denen,  die  an  diesen  Verhandlungen 
interessiert  waren,  zu  erklaren,  er  hatte  keineswegs  in  ihrem 
Namen  mit  Hitler  verhandelt.  Auch  Herr  Hoschiller  wird 
sicher  ein  Dementi  abgeben  miissen.  Doch  bezweifeln  wir 
nicht,  daB  er  tatsachlich  der  geeignetste  Mann  ist,  mit  den  Nazis 
zu  verhandeln;  schon  seine  jiidische  Herkunft  pradestiniert  ihn 
dazu,  und  auBerdem  ist  er  ein  alter  Landsmann  Hitlers.  Wir 
begniigen  uns  damit,  einfach  wiederzugeben,  was  in  pariser  po- 
litischen    Zirkeln    erzahlt  wird* 

360 


Man  kantt  sich  sehr  gut vOrsteilen,  wie  sich  die  Szene  ab- 
gespielt  hat,  Im  Grunde  genommen  kamen  sie  zusammcn,  mn 
sich  gegenseitig  „zu  informieren".  Hitler,  der  groBe  Diplomat, 
entrollte  sein  Programm:  Abschaffung  des  Versailler  Vertrags 
und  der  ..Tribute",  polnischer  Korridor,  Kolonialfrage.  Kriegs- 
schuldliige.  Der  lemberger  Franzose,  heiOt  es,  war  schlauer. 
Er  schlug  vor,  anstatt  mit  dem  Erisapfei  Fangball  zu  spielen, 
eine  gemeinsame  Basis  zu  suchen,  Und  Hitler  hatte  keinen 
Schaum  mehr  vor  dem  Munde.  Man  versichert,  daB  er  im 
Gegenteil  einfach  begeistert  war.  Und  die  beiden  brauchtgn 
nicht  lange  zu  suchen.  was  wohl  zwei  Lakaien  der  Industrie 
vereinen  konnte.  Bekampfen  nicht  beide  die  bolschewistische 
Gefahr?  Naf  also!  Kurz  und  gut,  beide  wurden  sich  uber  die 
groBe  Gefahr  einig  und  uber  die  Notwendigkeit,  sie  mit  alien 
zur  Verfiigung  stehenden  Mitteln  zu  bekampfen.  Und  siehe 
da:  einige  Stunden  spater  erklarte  Hitler  im  Kaiserhof  der 
amerikanischen  Presse,  er  wollc  Deutschland  gegen  den  Bol- 
schewismus  immun  machen.  Wirklich  ein  groBer  Staatsmann! 
Aber  als  der  osterreichische  Franzose  nach  Paris  zuruckkam, 
erklarte  er  lib  er  all  ganz  off  en:  Hitler  sei  der  groflte  Idiot,  den 
er  jemals  gesehen  habe. 

Nachdem  sich  also  der  ungluckliche  Diplomat  Hitler  .den 
Weg  nach  Rom  und  London  versperrt  hatte,  fiel  er  plump  in 
die  Falle,  die  ihm  die  verbundete  deutsche  und  franzosiscl^e 
Industrie  gelegt  hatte.  Eines  Tages  wird  man  wahrscheinlich 
sagen,  daB  die  Dekadenz  Hitlers  von  da  an  datiert,  wo  er  poli- 
tischer  Gefangener  der  Industrie  und  der  „wirtschaftlichen  Zu- 
sammenarbeit  Deutschlands  und  Frankreichs"  ge  word  en  sei. 

Die  Tage  vergingen,  und  der  Franzose  aus  Letnberg  kam 
nicht  wieder.  Die  „zukunftige  Regierung",  die  die  Lage  noch 
nicht  ganz  erfaBt  hatte,  beschloB  eine  neue  Aktion,  urn  Frank - 
reich  zu  gewinnen.  In  Paris  arbeitete  der  franzosische  Hitler- 
freund  Robert  Fabre-Luce  und  versuchte  mit  wenig  Erfolg,  den 
Gesandten  Hitlers,  den  Abgeordneten  Schulz-Wilmersdorf,  in 
jene  politischen  Salons  einzufiihren,  wo  man  heute  scharfe 
Propaganda  fur  die  Habsburger  treibt.  Die  Regierung  Laval  lieB 
diesen  Gesandten  indirekt  sondieren  und  kummerte  sich  dann 
nicht  weiter  um  ihn. 

Da  nahm  sich  schlieBlich  Hauptmann  Goring,  die  rechte 
Hand  Hitlers,  derSache  an  und  erschien  bei  Francois-Poncet. 
Dieser  behauptet,  er  habe  Goring  und  seine  Freunde  nicht  of- 
fizieil  empfangen  sondern  blofl  als  Privatmann.  Geben  wir 
uns  mit  dieser  feinen  Nuance  zufrieden-  Tatsache  ist,  daB 
Goring  und  seine  Freunde  Francois-Poncet  drei  Mai  h inter ein- 
ander  besucht  haben.  Genau  drei  Mai.  Dies  bedeutet  immer- 
hin,  daB  zwischen  Francois-Poncet  und  Goring,  sagen  wir,  eine 
zusammenhangende  Besprechung  stattgefunden  hat.  Doch  hat 
sich  auch  Francois-Poncet  —  dies  muB  man  wohl  anerkennen  — 
sehr  reserviert  gehalten,  viel  zu  reserviert  fur  die  National- 
sozialisten,  wahrend  Goring,  ganz  wie  der  groBe  Diplomat  Hit- 
ler gegenuber  Hoschiller,  sein  Programm  restlos  ausleerte.  Dies- 
mal  handelte  es  sich  nicht  mehr  darum,  Versailles  und  die 
.,,  Tribute"  abzuschaffen  und  Deutschland  seine  Kolonien    und 

361 


den  Polnischen  Korridor  wiederzugeben;  Francois-Poncet 
stellte  ganz  prazise  Fragen.  Goring  holtc  die  Antworten  und 
versprach  im  Namen  Hitlers  alles,  was  der  andre  nur  wollte;* 
er  erkannte  an,  daB  ElsaB-Lothringen  endgiiltig  Frankreich  ge- 
hore,  er  versprach,  daB  eine  nationalsozialistische  Regierung 
nicht  nur  keinen  Krieg  gegen  Frankreich  fiihren  werde,  son- 
dern  die  unterzeichneten  Vertrage,  das  heiBt,  den  Youngplan, 
anerkennen  und  nicht  versuchen  werde,  durch  Gewalt  den  Ver- 
sailler  Vertrag  abzuandern.  Also  vollstandige  Kapitulation. 
Francois-Poncet  konnte  nichts  andres  tun,  als  diese  Erklarung 
zur  Kenntnis  zu  nehmen  und  seiner  Regierung  mitzuteilen. 

So  wurde  die  deutsch-franzosische  Hitleraffare  von  der 
deutsch-franzosischen  Schwerindustrie  erledigt;  Hitler  konnte 
selbst  seine  Plane  in  Diisseldorf  vor  den  Industriemagnaten 
entwickeln.  Ein  Vertreter  des  Comite  des  Forges  wohnte  dis- 
kret  der  Sitzung  bei,  Der  Bericht  dieser  Sitzung  fand  bei 
den  franzosischen  Industriellen  in  Paris  eine  giinstige  Auf- 
nahme.  Hitler  hat  heute  nichts  andres  zu  tun,  als  den  Befehlen 
des  GroBkapitals  zu  gehorchen.  Morgen  wird  er  das  werden, 
was  seine  deutschen  lind  franzosischen  Geldgeber  aus  ihm  zu 
machen  belieben. 

Die  beleidigte  Reichswehr  von  Ludwig  Quidde 

C  ehr    geehrte    Redaktion.      Sie     sind    verwundert,     daB    der 

Reichswehrminister  gegen  Ihren  Verantwortlichen  eine 
Klage  wegen  Beleidigung  der  Reichswehr  angestrengt  hat,  da 
Ignaz  Wrobel  in  einem  kleinen  Artikel  „Der  bewachte  Kriegs- 
schauplatz"  geschrieben  hatte: 

Da  gab  es  vier  Jahre  lang  ganze  Quadratmeilen  Landes,  auf 
denen  war  der  Mord  obligatorisch,  wahrend  er  eine  halbe  Stunde  da- 
von  entfernt  ebenso  streng  verboten  war,  Sagte  ich:  Mord?  Natiirlich 
Mord.     Soldaten  sind  Morder. 

Sie  hatten  recht,  verwundert  zu  sein,  wenn  wir  noch  im  alten 
kaiserlichen  Deutschland  lebten,  oder  wenigstens,  wenn  ein 
Kriegsminister  des  Konigsreichs  Bayern  berufen  ware,  die  Ehre 
der  Armee  gegeniiber  der  Presse  zu  wahren.  Das  erscheint 
Ihnen  nun  vielleicht  verwunderlich  und  nicht  recht  glaublich, 
Ich  werde  es  Ihnen  an  einem  Beispiel  beweisen. 

Von  dem  Drama  von  Fuchsmuhl,  das  einst  in  ganz  Bayern 
eirie  gewaltige  Erregung  hervorrief  und  iiber  die  Grenze  des 
Landes  hinaus  Auisehen  erregte,  werden  Sie  schwerlich  etwas 
wissen?  Sie  sind  dazu  zu  jung  und  die  meisten  Ihrer  Leser 
ebenso.     Ich  muB  also  kurz  erzahlen. 

Am  30.  Oktober  1894  rotteten  sich  die  Bauern  von  Fuchs- 
muhl  zusammeh  und  zogen  in  den  zum  Gute  Fuchsmuhl  ge- 
horenden  Wald,  um  dort  Holz  zu  schlagen,  worauf  sie  auf 
Grund  alter  Forstrechte  einen  Anspruch  zu  haben  meinten, 
wahrend  der  Gutsbesitzer,  ein  Herr  von  Zoller,  der  das  Gut 
als  „Kronlehenu  der  Krone  Bayern  besaB,  diesen  Anspruch  be- 
stritt.  Der  Bezirksamtmann  von  Tirschenreut  bot  gegen  die 
Bauern  Militar  auf.  Die  Soldaten  vom  6.  Infanterie-Regiment 
gingen  mit  dem  Bajonett  vor,  und  zwei  Bauern  wurden  zu  Tode 
f,gestupft".     In   ganz   Bayern  erhob  sich   eine   ungeheure   Ent- 

362 


riistung,  und  die  Prcsse  gab  ihr  sehr  ungeschminkt  Ausdruck. 
Die  Kritik  richtete  sich  besonders  auch  gegen  das  Militar.  Was 
ptassierte  darauf? 

Bei  Verschiedenen  Amtsgerichten  wurde  gegen  die  Prefi- 
siinder  Anklage  wegen  ,,groben  Unfugs"  erhoben.  Der  Grobe- 
Unfug-Paragraph  war  in  jener  Zeit  ja  Madchen  fur  alles.  In 
diesem  Fall  war  besondere  Veranlassung  gegeben,  ihn  in  An- 
spruch  zu  nehmen.  Hatte  man  wegen  Beleidigung  der  Armee, 
der  Beamten  und  des  Herrn  von  Zoller  ader  auf  Grund  des 
§  131  des  Strafgesetzbuches  wegen  Verachtlichmachung  von 
Staatseinrichtungen  geklagt,  so  ware  der  ProzeB  vor  ein 
Schwurgericht  gekommen;  denn  fur  alle  PreBvergehen  war  in 
Bayern  das  Schwurgericht  zustandig.  Bayrische  Geschworene 
aber  hatten  sicher  freigesprochen.  Deshalb  klagte  man  nur 
wegen  groben  Unfugs,  der  zu  den  „t)bertretungen"  gehort,  und 
entzog  so,  das  darf  man  ruhig  sagen,  die  Angeklagten  ihrem 
ordentlichen  Richter.  Am  28,  Dezember  kam  die  Anklage 
gegen  die  verantwortlichen  Redakteure  von  sechs  miinchner 
Zeitungen  vor  dem  Amtsgericht  Miinchen  zur  Verhandlung. 
Unter  ihnen  befand  sich  der  Redakteur  der  .Miinchener  Post', 
Eduard  Schmid,  der  spatere  Oberbiirgermeister  von  Miinchen. 
Gegen  ihn  wurden  nicht  weniger  als  sieben  Anklagepunkte 
vorgebracht,  unter  ihnen  der,  in  einer  Polemik  gegen  die 
,Munchner  Neuesten  Nachrichten*  den  Militarismus  eine  auf 
den  innern  und  auflern  Feind  dressierte  Bestie  genannt  zu 
haben.  Das  Amtsgericht  sprach  ihn  in  fiinf  Fallen  frei  und  ver- 
urteilte  ihn  in  zweien  zu  je  zwanzig  Mark  Geldstrafe. 

Und  der  Kriegsminister?  Zunachst  schwieg  er.  Als  aber 
im  nachsten  Herbst  der  Landtag  zusammentrat,  kam  in  einer 
der  ersten  Sitzungen  die  Interpellation  des  Zentrumsfuhrers 
Schadler  wegen  des  ^Atifruhrs  in  Fuchsmiihl"  zur  Verhandlung, 
und  dazu  nahm  natiirlich,  am  4.  Oktober  1895,  auch  der  Kriegs- 
minister Freiherr  von  Asch  das  Wort.  Er  begriindete  unter 
anderm,  weshalb  eine  oberpfalzische  Zeitung  aus  der  Kaserne 
in  Amberg  verbannt  sei,  und  schloB  daran  folgende  Bemerkung: 

Ich  gestatte  mir  hier  zu  erwahnen,  daB  ein  miinchner  Blatt  die 
Armee  als  eine  auf  den  innern  und  aufiern  Feind  dressierte  Bestie 
bezeichnete.  Auch  gestern  noch  sah  sich  der  Abgeordnete  Grillen- 
berger  veranlafit,  zu  erwahnen,  daB  es  wohl  angezeigt  gewesen  ware, 
Fuchsmuhl  auf  dem  Oktoberfest  vorzufiihren  und  die  tapfern  Sechser 
dem  Volke  zu  zeigen.  Meine  Herren,  als  eine  ernste  Bemerkung 
kann  ich  das  nicht  auffassen,  und  Witze  zu  machen,  dazu  scheint  mir 
denn  doch  das  ganze  Drama  zu  duster  angelegt. 

Sonst  kein  Wort.  In  dieser  wiirdigen  Weise,  nicht  durch 
eine  Beleidigungsklage  oder  durch  Entfesselung  eines  Ent- 
riistungssturmes  namens  der  Armee  begegnete  der  Minister 
PresseauBerungen,  die  fraglos  direkt  beleidigend  waren  und 
ihm  selbstverstandlich  als  schwere  Exzesse  erscheineri  muBten. 

Heute  sind  die  Herren  vom  Militar  viel  empfindlicher, 
entrusten  sich  und  rufen  nach  dem  Staatsanwait.  Sie  teilen 
diese  Empiindlichkeit  allerdings  mit  andern  Kreisen.  Als  ein 
sehr  bekannter  und  angesehener  Volkerrechtslehrer  als  Sach- 
verstandiger  beim  Reichsgericht  einmal  ganz  harmlos  vom 
Krieg   die   ihm    gelaufige  Bezeichnung    Morganisierter   Massen- 

3  363 


morel"  brauchte,  fuhr  der  Vorsitzende  in  heller  Emporung  auff 
und  d«r  Sachverstandige,  der  bis  dahin  mit  Aufmerksamkeit 
tind  Achtung  angehort  worden  war,  hatte  es,  wie  mir  der  Ver- 
teidiger  erzahlte,  vollstandig  verspielt.  Wir  werden  das,  so  be- 
triibend  es  ist,  zugleich  sehr  komisch  finders  Kein  vernunftiger 
Mensch  kann  doch  bestreiten,  daB  der  Krieg  ein  organisierter 
Massenmord  ist,  mag  man  auch  den  Ausdruck  als  Definition 
des  Krieges  ungeniigend,  weil  unvollstandig,  finden. 

In  dem  Satz:  ,,SoIdaten  sind  Morder"  eine  Beleidigung 
der  deutschen  Reichswehr  zu  finden,  ist  wirklich  schon  der 
Gipfel  der  Unvernunft.  Der  Satz  soil  doch  fur  Soldaten  aller 
Nationalitaten  gelten  und  offenbar  fur  alle  Kriegsteilnehmerf 
nicht  nur  fur  die  Berufssoldaten;  er  soil  den  Gedanken,  daB 
der  Krieg  Mord  ist,  in  besonders  scharf  gepragter  Form  zum 
Ausdruck  bringen.  Ob  mit  Recht,  dariiber  mag  man  streiten. 
Aber  deshaLb  wegen  Beleidigung  klagen,  das  heiBt  nicht  nur, 
sich  lacherlich  machen,  sondern  auch  die  Freiheit  des  Wortes 
knebeln.  Das  werden  wir  nicht  aufhoren,  weiter  zu  behaup- 
ten,  auch  wenn  ein  deutsches  Gericht  der  Klage  Recht  geben 
sollte,  denn  von  deutschen  Gerichten  sind  wir  nachgrade  ge- 
wohnt,  daB  sie  in  politischen  Prozessen  verurteilen,  was .  wir 
fur  Recht  halten,  und  freisprechen,  wo  fur  uns  emporendes 
Unrecht  nach  Vergeltung  schreit. 

Warum  aber  sind  Militarbehorden  und  vom  Militarismus 
infizierte  Gerichte  heute  bei  Beurteilung  von  Angriffen  auf  das 
Soldatentum  und  auf  Kriegfuhrung  so  viel  unduldsamer  als  in 
den  Zeiten  des  alten  Militarismus  im  kaiserlichen  Deutschland? 
Damals  schien  dessen  Stellung  so  unerschiitterlich,  daB  seine 
Vertreter  geringschatztg  von  oben  herab  Angriffe  ignorieren 
konnten.  Heute  wissen  die  Vertreter  des  alten  Militargeistes, 
daB  der  Boden  unter  ihren  FuBen  wankt,  Sie  fiihlen  sich  un- 
sicher  und  rufen  deshaib  nach  dem  Staatsanwalt,  versuchen 
deshalb  mit  Strafen  den  Geist  der  konsequenten  Kriegsgegner- 
schaft  in  Fesseln  zu  schlagen.  DaB  heute  Herr  Groener  daran 
denkt,  eine  Beleidigungsklage  zu  stellen,  wo  Herr  von  Asch 
sich  damit  begnugte,  Angriffe  niedriger  zu  hangen,  ist  freilich 
ein  klagiicher  und  beschamender  Riickschritt  auf  militarischer 
Seite,  bezeugt  aber  die  Fortschritte,  die  wir  machen.  Der 
Antimilitarismus  marschiert  und  der  Militarismus  versucht  in 
ohnmachtiger  Wut,  ihn  in  die  Waden  zu  beiBen.   Ists  nicht  so? 


Wo  ist  das  zu  lesen? 

Bei  Hugenberg  —  ? 

Bei  Rosenberg  —  ? 

TV7ir  haben  fur  die  .Weltbiihne'  und  den  widerwartigen  Literaten- 
kliingel,  der  dort  giftgeschwollen  witzelt,  nicht  einen  Funken 
Sympathte;  Groeners  Abscheu  vor  diesen  Herren  kann  nicht  grofier 
sein  als  der  unsre.  Und  doch  bedauern  wir  die  dauernden  Pro- 
zesse  gegen  die  ,Weltbuhne\  Damit  niitzt  man  der  deutsche  Sache 
gar  nichts,  man  pumpt  nur  die  eitlen  Literaten  zu  einer  von  ihnen 
ersehnten,    aber    nie    verdienten    Wichtigkeit    auf. 

'Zt  '£  'Z  won  t°H^3  udftunqiuoff*  uay3si}Djyoui3p}Dizo$  tut  —  V^sjy 
364 


Noch  eintnal  Oslo  von  Adou  Behne 

Das  System  der  Ruckversicherungen 

Che  wir  uns  nach  Oslo  begeben,  machen  wir  einen  kleinen  Rund- 
*"*  gang  durch  National- Galerie  und  Kronprinzenpalais.  In  beiden 
Hausern  sind  die  Mittelgeschosse  neu  geordnet.  Justi  ist  ein  Museums- 
mann  von  Geschmack,  er  macht  manches  ganz  ausgezeichnet.  Wir  er- 
kenhen  mit  Dank  an,  dafi  er  jetzt  Karl  Blechen,  in  dem  die  Deut- 
schen  einen  groBen  Meister  besitzen,  den  sie  noch.  kaum  kennen,  bes- 
ser  herausgestellt  und  dafi  er  endlich  alle  Franzosen  von  Millet  bis 
Cezanne  zusammengehangt  hat.  Sehr  schon  . . .  aber  was  ist  im  ersten 
Corneliussaal  los  ?  Da  hangen,  neu  aus  den  Depots  ausgebuddelt: 
die  Merste  Tanzstunde"  (Vautier),  der  ,*,SalontirolerM  und  „Andreas 
Hofers  Ausmarsch"  (Defregger),  „Wie  die  Alten  sungen"  (Knaus)  , . . 
und  wahrhaftig:  da .  hangt  Anton  von  Werners  blonder  Husar  am 
franzosischen  Kamin  von  1870,  Etappe  vor  Paris,  schlimmster  wilhel- 
minischer  Kitsch*  Ware  das  Bild  kunstlerisch  hervorragend,  dann 
ware  die  Ausgrabung  gerechtfertigt.  Ware  es  auch  nur  malerisch 
interessant:  in  Gottes  Namen,  Aber  es  ist  cine  oldruckhafte  Graus- 
lichkeit  Warumholt  es  Justi  eben  jetzt  aus  dem  Keller  hervor? 
Derselbe  Justi,  der  fiir  Nolde  und  Feininger  begeistert  ist?  Riicken- 
deckung.     Politik.      Im   Falle    des   Falles! 

Wir  gehen  in  das  Kronprinzenpalais  und  erleben  im  Mittel- 
geschofi  eine  andre  erstaunliche  Uberraschung;  Spiro,  Hiibner,  Rhein, 
Kampf,  Purrmann,  Moll,  Grofimann,  Franck,  Krauskopf,  Kohlhoff, 
die  ganze  Sezession,  alle  die  Maler,  die  Justi  nach  Oslo  nicht  mit- 
nahm  —  hier  hangen  sie  komplett  auf  den  besten  Platzen.  Ubrigens 
fehlt  auch  hier  die  Riickendeckung  nicht,  nach  der  andern  Seite,  im 
Falle  des  andern  Falles:  ganz  hinten  ein  t,proletarisches"  Kabinett: 
Kollwitz  und  Zille. 

Die  Ausstellung  in  Oslo  nennt  sich  „neuere  deutsche  Kunst".  Das 
Kronprinzenpalais  sammelt  „neuere  deutsche  Kunst".  Wieso  ist  die 
Ausgabe  neuerer  deutscher  Kunst  in  Oslo  so  ganz  anders  als  in  Ber-  . 
Hn?  Bitte,  welche  Ausgabe  vertreten  Sie,  Herr  Geheimrat?  Wenn 
die  Spiro,  Hiibner,  Kampf,  Franck,  Rhein  Ihnen  so  wichtig  sind,  daB 
Sie  in  Berlin  das  ganze  MittelgeschoB  fur  sie  einraumen,  warum  las- 
sen  Sie  sie  fur  Oslo  aus?  Andersrum:  wenn  Sie  und  Ihr  Kustos  Thor- 
mahlen  so  stolz  sind  auf  den  Mut,  mit  dem  Sie  in  Oslo  nur  die 
wahre,  echte,  reine  deutsche  Kunst  gezeigt  haben,  warum  ist  dieser 
Mut  nur  ein  Exportartikel  ?  Warum  dann  die  Heimlichkeit  der  Vor- 
bereitungen  fiir  Oslo?  Sollte  die  Moglichkeit  eines  offenen  Vergleichs 
der  beiden  Ausgaben   erschwert  werden? 

Nachdem  die  ,DAZ/  ihn  so  herzlich  dazu  ermuntert  hat,  erklart 
Thormahlent  er  nehme  selbstverstandlich  die  voile  Verantwortung  fiir 
Oslo  auf  sich,  um  sie  im  gleichen  Atemzuge  auf  Edvard  Munch  und 
den  Vorstand  des  Kiinstlerhauses  in  Oslo  abzuladen.  Die  Herren  hat- 
ten  bestimmte  deutsche  Maler  erbeten.  Ihr  gutes  Recht.  AberPflicht 
der  Staatlichen  Galerie  war,  es  den  Herren  in  Oslo  zu  sagen,  wenn 
ihre  Liste  etwa  einseitig  und  schief  war.  Wenn  morgen  das  Kiinstler- 
haus  in  Sofia  kommt  und  eine  Ausstellung  neuerer  deutscher  Kunst 
von  der  Galerie  erbittet  und  vielleicht  nur  die  Namen  Purrmann, 
Moll,  Kohlhoff,  Spiro  nennt . , .,  wird  die  Galerie  solche  Ausstellung 
machen?  Die  Galerie  hat  unter  alien  Umstanden  die  Pflicht,  die 
neuere  deutsche  Kunst  im  Auslande  so  auszustellen,  wie  sie  sie  im 
Inlande  vertritt,  und  keine  tapfere  Berufung  auf  Munch  oder  das 
Kunstlerhaus  in  Oslo  kann  sie  von  dieser  Pflicht  befreien.  Ubrigens 
ist  in  der  Erklarung  des  osloer  Kiinstlerhauses  vom  2.  Januar  1932, 
die  man  als  die  iibliche  Riickendeckung  verwendet,  kein  einziger 
Kiinstlername   genannt. 

365 


Ein  nordischer  Appell  —  und  eine   europdische  AntwoH 

\  Unter  der  Marke  „NachimpressionismusM  hat  man  in  Berlin  fur, 
Oslo  ein  Material  zusammengestellt,  das  den  stammver  wand  ten  Ger- 
manen  dort  oben  beweisen  sollte,  wie  nordisch  wir  sind,  wie  frei  von 
jedem  gallischen  Einflufi.  Man  hat  mit  dem  Namen  Edvard  Munchs 
einen  wahren  Verbriiderungskuit  getrieben  und  hat  die  Rolle,  die 
Munch  unleugbar  einmal  ftir  unsre  expressionistische  Epoche  gespielt 
hat,  ins  Groteske  iibertrieben.  Man  glaubte,  damit  die  Herzen  der 
Nordlander  im  Sturme  zu  erobern,  unsern  westlichen  Nachbarn  aber 
krank   zu    argern. 

Und   der   Erfolg? 

Horen  wir  zunachst  Herrn  Thormahlen; 

„Wichttg  allein  ist  die  nicht  mehr  aus  der  Welt  zu  schaffende 
Tatsache,  dafi  diese  Ausstellung  die  bisher  in  Norwegen  unumstrit- 
tene  Vormachtstellung  der  pariserischen  Kunst  entscheidend  erschiit- 
tert  hat.  Das  konnte  nur  durch  riicksichtsloses  Beiseitelassen  aller 
der  deutschen  Maler  geschehen,  die  als  Schuler  und  Folger  der  Fran- 
zosen  ihren  Stil  gebildet  haben,  und  mogen  sie  in  Deutschland  noch 
so  beriihmt  und  noch  so  trefflich  organisiert  sein.  .Einseitigkeit  und 
Willkiir'  war  entschiedene  Zielsetzung,  die  zum  Erfolge  fuhrte," 
.Berliner  Tageblatt',  22.  Februar   1932. 

Horen  wir  nun  Oslo: 

„Bei  der  Eroffnung  der  deutschen  Ausstellung  wurde  wiederholt 
Edvard  Munch  genannt.  Man  sollte  deshalb  glauben,  dafi  man  auf 
der  Ausstellung  Einflusse  unsres  grofien  Landsmannes  merken  wiirde. 
D^s  ist  aber  nicht  der  FalL  Mit  Ausnahme  einer  Malerei  von  Wolf 
Hoffmann;  ,Sagewerk\  das  gewissermafien  an  Munch  erinnern  kann, 
ist  festzustellen,  dafi  sich  im  Gegenteil  ganz  andre  Einflusse  geltend 
machen,  unter  anderm  von  der  franzosischen  Kunst,  dafi  die  Entwick- 
lung  sich  aber  geformt  hat  als  ein  Bestreben.  Ausdriicke  zu  finden, 
die  von  deutschem  Geist  gepragt  sind,  ohne  besonderes  Gewicht  dar- 
auf   zu  legen,  national   betont  zu  sein."   ,Dagbladet\    11.    Januar   1932. 

„Es  ist  gesagt  worden,  dafi  die  Ausstellung  unter  anderm  die  Be- 
deutung  Munchs  fur  die  moderne  deutsche  Kunst  zeigen  sollte.  Munch 
ist  auch  deutlich  merkbar  in  einzelnen  Fallen.  Aber  -im  Grofien 
gesehen  zeigt  die  Ausstellung  in  hoherm  Mafie  das  Schwanken  der 
Nachkriegszeit  zwischen  Osten  und  Westen*  zwischen  zwei  Kulturen, 
zwei   Weltauffassungen,"      .Norges   Fremtide',  11.   Januar    1932. 

,Nationen*  vom  16.  Januar  polemisiert  gegen  Thormahlens  Be- 
hauptung,  ,,dafi  der  EinfluB  von  Cezanne  (in  Deutschland)  seine 
Grenzen  erreicht  zu  haben  scheine,  wahrend  van  Gogh  und  Munch 
noch  lange  ihre  Wirkung  behalten  werden"-  Sein  Kritiker  meint  da- 
zu:  „Es  kommt  mir  doch  etwas  einseitig  vor,  diese  beiden  so  stark 
zu  betonen.  Die  Klarheit  und  aufrichtige  artistische  Freude,  die  so 
vieles  von  dieser  Kunst  pragt,  kann  auch  auf  andre  Quellen  zu- 
riickgefuhrt  werden.  Man  sieht  ja  deutlich  sowohl  Gauguin  wie 
Matisse  als  einen  nicht  allzufernen  Ausgangspunkt/' 

Und  Munch  selbst?  „Es  gab  (kiirzlich  im  gleichen  Kiinstler- 
haus)  eine  wunderbare  Auswahl  jungerer  franzosischer  Kunst,  Man 
sah  darin  ahnliche  Bestrebungen  wie  in  der  deutschen  Kunst,  so  wie 
wohl  in  ganz  Europa.  Man  kann  fetzt  wohl  von  einer  europaischen 
Kunst    sprechen."     fDagbladet',   3.   Februar. 

Wenn  ich  einige  Urteile  iiber  einzelne  Maler  aus  den  osloer  Kri- 
tiken  anfiige,  so  identifiziere  ich  mich  selbstverstandlich  nicht  ohne 
weiteres  mit  ihnen.  Es  kommt  ja  hier  nur  darauf  an,  zu  zeigen,  wie 
der    stammverwandte  Norden   reagiert. 

.Landmaal'  (12.  Januar),  ein  Blatt  der  Bauern  und  Arbeiter, 
iiber  Franz  Marc:   „Er  ist  vielleicht  mehr  als  irgend  ein  andrer  deut- 

366  > 


scher  Maler  vom  franzasischen  Geschmack  und  von  denTheorien  der 
kubistischen  Franzosen  beeinfluBt  word  en1';  und  tiber  Kokoschka; 
„Vielleicht  der  beste  Maler,  den  die  Schau  iiberhaupt  vorstellt.  Aber 
er  steht  allein,  vielleicht  weil  slawisches  Blut  in  seinen  Adern  flieBt/' 
Vom  Ganzen  der  Ausstellung  heiBt  es  hier:  ..Deutsche  Urkraft . . . 
wir  wiinschen  jedenfalls  nicht,  daB  du  ,uber  alles'  wirst.  Es  ist  der 
Ruf   der  Cimbern." 

Einige  Urteile  iiber  Nolde:  (,Die  Freunde  Noldes  behaupten,  daB 
in  dieser  stark  seelisch  betonten  Kunst,  diesem  UnterbewuBtseins- 
Mystizismus  einer  der  wesentlichsten  Zuge  der  germanischen  Kunst 
liege,  Es  ist  wohl  moglich,  daB  sie  recht  haben,  Aber  wir  hier  oben 
in  Norwegen  haben  es  nicht  so  leicht,  Analogien  in  unsrer  eignen 
modernen  Kunst  oder  in  unsrer  Volkskunst  zu  linden,  und  dies  ist 
nicht  ohne  Interesse,  weil  Emil  Nolde  von  reiner  nordischer  Abstam- 
iriung  ist."     ,Tidens  Tegn\  8.  Januar. 

„Wir  erfuhlen  plotzlich  aus  dem  Farblichen  (Noldes)  heraus,  daB 
Deutschland  mit  seinen  Grenzen  nicht  so  gar  weit  von  RuBland  und 
Polen   liegt."   fMorgenbladet\    16.   Januar    1932. 

, ,  Noldes  Bilder  erinnern  an  Manches,  was  wir  von  den  Russen 
sahen."    ,Aftenposten',  9.  Januar. 

,Morgenbladet*  vom  11,  Januar  nennt  Nolde,  Kirchner,  Otto 
Mueller  die  drei  fuhrenden  Personlichkeiten  der  Ausstellung:  „  Grade 
sie  sind  es,  die  unserm  Gefuhl  fiir  Malerei .  „ .  am  fernsten  stehen"! 

Ich  mochte  nicht  falsch  verstanden  werden.  Die  Presse  in  Oslo 
nennt  die  Ausstellung  einen  groBen  Erfolg.  Sie  setzt  sich  uberaiis 
ernst  und  respektvoll  mit  ihr  auseinander.  Aber  ihr  Respekt  gilt  aus- 
schlieBIich  der  Leistung,  aber  nie  und  nirgends,  und  das  wollte  ich 
zeigen,  der  nordischen  Stammverwandtschaft.  Der  Appell  an  die 
Rasse   wird   europaisch   beantwortet. 

Es  steht  manches  in  den  Kritiken  aus  Oslo,  was  Thor- 
mahlen  mit  Aufmerksamkeit  lesen  sollte:  ,Jn  den  Augen  des  Aus- 
lands  wird  diese  Bedeutung  davon  abhangen,  inwieweit  man  Gewicht 
legt  darauf,  daB  Deutschlands  Kunst  sich  nicht  isoliert."  ,Morgen- 
bladet',  16.  Januar.  Vor  allem  aber  empfehle  ich  ihm,  d^en 
schonen  Satz  aus  dem  ,Dagbladef  vom  11.  Januar  nach- 
zulesen:  „Mit  der  Grtindlichkeit  und  Sachlichkeit,  die  die  Deutschen 
auszeichnet,  legten  sie  kein  Gewicht  darauf,  die  nationalen  Eigen- 
schaften  zu  kultivieren,  weil  sie  wuBten,  daB  sie  vor  ihnen  doch  nicht 
weglaufen  konnten." 

Wollen  wir  nicht  wieder  dazu  tibergehen,  im  Auslande,  im  Nor- 
den  nicht  anders  als  im  Stiden,  Westen  oder  Osten,  das  Ganze  unsrer 
Kunst  zu  zeigen,  und  ruhig  auch  die  Impressionist  en  von  Rang  als 
„deutsch"  anzuerkennen?  Und  wir  sollten  uns  auch  darin  nicht  von 
unsern  Gastgebern  beschamen  lassen,  daB  sje  einen  Kandinsky  selbst- 
verstandlich  zu  den  Unsern  rechnen,  den  Thormahlen  im  Kata- 
log-Vorwort  zu  den  Auslandern  stellt,  trotzdem  Kandinsky  seit  drei- 
Big  Jahren  in  Deutschland  arbeitet,  seine  Biicher  —  und  recht  wich- 
tige  Biicher  —  in  deutscher  Sprache  schrieb,  seit  zehn  Jahren  an 
einer  deutschen  Hochschule  lehrt  und  sogar  hier  eingebiirgert  ist. 
Oder  muB  man  eine  Justibiiste  modelliert  haben,  um  von  Thormahlen 
als  Deutscher  anerkannt  zu  werden? 


Artikel  48  auf  Kunst  anwendbar 

Gegen  die  Auswahl  fur  Oslo  und  die  Geheimmethode  haben  drei- 
zehn  Kunstlerverbande  protestiert.  Die  Presse  hat  sich  fast  ein- 
miitig  gegen  die  Kunstler  vor  Justi-Thormahlen  gestellt.  Mit  Aus- 
nahme  Adolph  Donaths  im  .Berliner  Tageblatt'  hat  die  liberal-demo- 
kratische   Presse,   die   sonst   mit   Liebermann   durch   Dick   und   Diinn 

367 


gingt  gegen  das  Unrccht  von  Oslo,  das  Liebermann  als  „Schuler  und 
Folger  der  Franzosen"  zum  alten  Eisen  wirft,  nichts  einzuwenden . . . 
und  die  Rechtspresse,  einschlieBlich  des  .Vorwarts',  erst  recht  nicht. 
Die  tNachtausgabe'  1st  entziickt,  dafi  endlich  einmal  in  einem  Aus- 
stellungskatalog  angegeben  wird,  ob  und  wie  lange  der  Kerl  im  Felde 
war.  Diese  Angaben  sind  tatsachlich  mit  peinlicher  Genauigkeit 
durchgefuhrt:  Offizier,  Krankenwarter  —  in  Flandern  oder  in  Frank- 
reich;  Kriegsgefangener  —  in  Frankreich  oder  in  England  etcetera,  Herr 
Thormahlen  hat  die  Angabe  der  Konfession  diesmal  noch  fortgelas- 
sen.  Genaue  Erkundigungen,  wcr  etwa  Jude  sei,  hatte  er  bereits  ein- 
gezogen.  Das  Dritte  Reich  war  dann  allerdings  doch  nicht  so  nahe, 
wie  er  gedacht  hatte. 

Es  wird  bei  jeder  Ausstellung  Kunstler  geben,  die  protest  ieren, 
weil  sie  nicht  vert reten  sihd  —  bald  mit  Recht,  bald  mitUnrecht  und 
ganz  unabhangig  davon,  wer  die  Ausstellung  macht,  ein  Kunsthistori- 
ker  oder  ein  Kunstler.  Sicherlich  ist  im  Protest  der  dreizehn  Ver- 
bande  gegen  Oslo  auch  viel  Unmut  dieser  Art  wirksam,  den  zu  ver- 
Ireten  ich  keinen  Anlafi  habe,  Aber  ich  sehe  in  diesem  Protest  doch 
noch  etwas  Andres  ...  und  es  kommt  ja  wohl  auch  darauf  an,  wer 
auf  der  andern  Seite  steht.  Ware  in  Oslo  ein  Wille  tatig  gewesen, 
der  die  neuere  deutsche  Kunst  als  Einheit,  als  Ganzes,  vertreten 
hatte . . .  mit  rund  zweihundert  Arbeiten  , , ,,  so  hatte  er  die  streng- 
sten  Anspruche  an  Qualitat  und  Rang  jeder  Arbeit  stellen  mtissen, 
Selbstver  standi  ich  I  Aber  damm  handelt  es  sich  in  Oslo  nicht.  Die 
Kollektion  Oslo  maBt  sich  an,  die  allein  wahre,  echte  und  reine 
deutsche  Kunst  zu  sein.  Sie  entscheidet  nicht  liber  Qualitaten,  was 
ihr  gutes  Recht  ware  und  wobei  man  ihr  nur  ein  feineres  Gefiihl 
wiinschte;  sie  urteilt  iiber  Charakter  und  weltanschauliche  Haltung; 
sie  schafft  eine  deutsche  Extraklasse  und  eine  mindere  Klasse  von 
Halbdeutschen;  sie  entscheidet  willkurltch,  wer  von  den  aufierhalb 
der  staatlichen  Grenzen  Geborenen  als  Deutscher  anzuerkennen  sei 
und  wer  nicht. 

Wenn  sich  der  Protest  dagegen  wendet,  so  ist  er  im  Recht.  Was 
auf  diesem  Wege  noch  alles  kommen  kann,  ist  unabsehbar,  am  Ende 
aber  steht   .  , .  Deutschland  als   Provinz. 

Wie  liegen   denn  die  Dinge? 

Die  Entwicklung  der  Wirtschaft  hat  sehr  gefahrliche  Konsequen- 
zen  auch  fiir  unser  geistiges  Gut.  Alles  verarmt  —  und  das  be- 
deutet:  zunehmendte,  rapid  zunehmende  Lahmung  der  Initiative  von 
Einzelnen,  Privaten,  Unabhangigen,  und  ebenso  rapid  zunehmende 
Machtfulle  der  Behorden  und  Beamten,  Wir  hatten  fruher  eine  groBe 
Zahl  zum  Teil  glanzend  arbeitender  Privatgalerien,  die  uns  ein 
reiches  und  lebendiges  Bild  der  europaischen  Kunst  entwicklung  ver- 
mittelten.  Eine  nach  der  andern  tritt  ab.  Kaum  eine  hat  noch  die 
Mittel,  eine  grofi  angelegte  Ausstellung  zu  machen.  1st  heute  noch 
so  etwas  moglich  wie  die  Manet- Ausstellung  bei  Matthiesen?  Auto- 
matisch  wachst  der  EinfluB  der  Amter  und  Beamten. .  Wer  kann  noch 
Vortragsserien  groBen  Stiles  durchfiihren?  Eigentlich  nur  Glaser  in 
der  Kunstbibliothek,  Wer  kann  noch  Ausstellungen  groBen  Stiles 
machen?  Eigentlich  nur  Justi  in  seinen  beiden  Hausern.  Glaser 
wie  Justi  haben  Ausgezeichnetes  geleistet, .  ohne  Frage.  Aber  Oslo 
zeigt  die  groBe  Gefahr,  Je  mehr  die  freie  private  Initiative  von  dem 
grausamen  Kampf  um  den  nachsten  Tag  absorbiert  wird,  um  so 
starker  wird  die  Neigung  der  obern  Kunstbeamten,  Fragen  iiber  die 
Offentlichkeit  hinweg  zu  entscheiden,  die  von  der  groBten  nationalen 
Bedeutung  sein  konnen  —  und  schliefilich  wird  die  deutsche  Kunst 
verwaltet  aul  Grund  des  Artikels  48. 

Justi  hat  sich  in  einer  eignen  Zeitschrift  ein  weiteres  Macht- 
mittel  geschaffen,  aus  deren  Mitarbeiterkreis  er  auffallenderweise 
den  Leiter  des  Museums  in  Saarbriicken,  Grevenich,  der  dort  deutsche 

368 


und  franzosische  Kunst  mit  vorbildlicher  Objektivitat  vertritt,  ge- 
strichen  hat,  obwohl  Grevenich  in  Saarbriicken  eine  fur  das  Deutsch- 
turn   aufierst  wertvolle  Kulturarbcit  leistet. 

Es  ist  nicht  Sache  der  Galeriebeamten,  die  deutsche  Kunst  der 
Gegenwart  in  eine  echt  deutsche  und  in  eine  andre  halb-deutsche 
Kunst  aufzuteilen  und  in  Fragen  des  kiinstlerischen  Gewissens  als 
Richter  aufzutreten,  ganz  abgesehen  davon,  daft  diese  Teilung  ein 
flatter  Unfug  ist,  was  sogar  die  Pressestimmen  aus  Norwegen  wis- 
sen.  Vielleicht  sieht  sich  Justi  auch  einmal  wieder  den  Katalog  der 
unvergeftlichen  Ausstellung  seines  Vorgangers  Tschudi  durch.  Fur 
Tschudi  und  seine  Mitarbeiter  an  dem  „  Jahrhundert  Deutscher  Kunst*', 
Lichtwark  und  Meyer-Grafe,  war  die  deutsche  Kunst  noch  eine  Ein- 
heit. 

Ich  sehe  in  dem  Protest  der  Kiinstler  einen  Protest  gegen  den 
Eingriff  in  wichtigste  Weltanschauungs-  und  Gewissensfragen  der 
Kiinstler,  Die  Galerie  soil  durch  ihren  Leiter  das  Beste  sammeln, 
was  bei  uns  geschaffen  wird  —  nicht  aber  Richtung  und  Wesensart 
des  Schaffens  bestimmen.  Jede  national  aufgezogene  Beckmesserei 
sollte   sie    unterlassen. 

Daft  die  Kiinstler  gegen  das  Geheim-Verfahren  noch  protestieren, 
soil  man  ihnen  danken.  Sonst  werden  sie  schlieftlich  zu  braven 
Untergebenen,  die  f  leifiig  malen,  meifieln  und  zeichnen , . ,  fiber  ihre 
Lebensfragen  aber  entscheidet  oben  ein  Geheimer  Kabinettsrat  mit 
Riickversicherung. 

Wie  weit  es  mit  der  Selbstherrlichkeit  der  Beamten  schon  gekom- 
men  ist,  zeigt  Thormahlens  Antwort  auf  den  Kiinstlerprotest  mit  pein- 
lichster  Deutlichkeit.  Mir  ist  keine  Leistung  Thormahlens  bekannt, 
die  ihn  berechtigen  konnte,  mit  einer  solchen  feldwebelhaften  Uber- 
heblichkeit  zu  Kiinstlern  zu  sprechen  und  die  fruhern  Auslands- 
Ausstellungen,  zum  Beispiel  die  von  Hans  Posse  fur  Venedig  organi- 
sierten,  als  r,KompromiB-Ausstellungen"  abzutun.  Im  iibrigen  charak- 
terisiert  es  wohl  Herrn  Thormahlen,  daft  er,  so  oft  er  in  seinem 
Katalogvorwort  die  deutschen  Impressionisten  nennt,  peinlichst  ver- 
meidet,  Liebermann  je  an  die  erste  Stelle  zu  setzen.  Freilich  ... 
Liebermann  hat,  soviel  wir  wissen,  nicht  gedient. 


SchluB:  Die  neuen  Herren 

Niemand  kann  Emil  Nolde  hoher  verehren  als  ich,  Aber  ich 
lehne  es  ab,  die  deutsche  Kunst  kiinstlich  in  zwei  Lager  zu  spalten 
und  nur  noch  als  deutsch  gelten  zu  lassen,  was  auf  der  Linie  Nolde 
liegt.  Es  ist  wahr,  daft  Nolde  lange  Zeit  unterdruckt  worden  ist, 
heute  kann  davon  gar  keine  Rede  mehr  sein.  Ich  habe  mich  fur 
Nolde  eingesetzt,  solange  ich  schreibe.  Aber  ich  habe  nicht  gehofft, 
daft  der  Spieft  einmal  umgedreht  und  daft  unterdruckt  werden  sollte, 
was  nicht  „nordisch"  ist.  Es  ware  ein  Verbrechen  an  tausend  Jah- 
ren  deutscher  Kulturgeschichte,  jetzt  plotzlich  einen  Strom,  eine 
Quelle  herauszunehmen  und  ihnen  das  Monopol  fur  Deutschtum  zu 
geben.  Deutsch  ist,  was  in  unserm  Kulturgebiet,  in  unsrer  Kultur- 
und  Schicksals-Gemeinschaft  Starkes  und  Bltihendes  geschaffen  wurde 
und  wird,  sonst  fallen  wir  hinter  das  „finsterste  Mittelalter" 
zuriick  und  werden  unrettbar  zur  Provinz.  Vor  allem  aber 
mussen  wir  es  bekampfen,  daft  der  Leiter  der  StaatHchen 
Galerie  in  solchem  Sinne  Kunstpolitik  treibt.  Schon  dem 
ersten  Versuch,  dem  ein  Aufsatz  Justis  in  der  Hugenbergschen 
,Woche'  die  Theorie  zu  liefern  beraiiht  war,  unter  der  Maske  des 
,,Nachimpressionismus"  geschickt  getarnt,  zunachst  einmal  im  stamm- 
verwandten  Norden1  vorgefiihrt,  der  deutschen  Offentlichkeit  aber 
moglichst  vorenthalten,  mussen  wir  klar  und  bestimmt  entgegentreten, 

369 


Notizen  zu  Andre  Gide  von  Kurt  miier 

fch  licbc  wenig  Autoren.  Ich  liebc  Gide.  Auf  Grund  der 
,Paludes\  dcr  ,Falschmunzer'  und  der  Autobiographic  Das 
sind  Erzahlungen,  Naturlich  kann  man  bci  Gide  die  Grenze 
zwischen  erzahlender  und  erorternder  Prosa  nicht  scharf  ziehn, 
er  ist  dafiir  ein  zu  hirnhafter  Dichter;  immerhin  konstituieren 
seine  Essaybucher  (,Pretextes\  ,Nouveaux  Pretextes\  inci- 
dences', .Divers',  veroffentlicht  zwischen  1903  und  1931)  eine 
besondere  Seite  seines  litterarischen  Charakters;  sie  waren 
mir  bisher  unbekannt,  Eine  Auswahl  daraus,  von  Gide  selbst 
getroffen,  ist  jetzt  in  deutscher  Sprache  erschienen,  unter  dem 
Titel  ,Europaische  Betrachtungen  (Deutsche  Verlags-Anstalt, 
Stuttgart  Berlin);  mit  langem,  liebendem  Vorgefiihl  ging  ich  an 
die  Lektiire,  Sie  wurde,  will  ich  schon  jetzt  verraten,  kein 
Rausch,  nur  eine  temperierte  Freude  —  woran  vielleicht  am 
meisten  der  Obersetzer  schuld  ist,  Professor  E.  R.  Curtius,  der 
die  kostbaren  Texte  ziemlich  ledern  und  nicht  recht  adaquat 
iibertragen  hat.  „Professoral*'  ware  zu  hart  geurteilt  —  obwohl 
es  einen  eleganten,  gut  rasierten,  manikurten,  modernen  Typ 
des  Professors  gibt,  der  in  seiner  weltmannischen  „Gelassen- 
heit"  zwar  gewiB  nicht  so  komisch,  aber  genau  so  feuerlos  und 
im  Grunde  geistfremd  ist  wie  jener  alte  mit  Wotansbart  und 
Regefischirm.  Curtius:  vielleicht  ein  groBer  Gelehrter;  be- 
stimmt  kein  groBer  Kunstler.  Er  iibertrug  mit  sachlicher  Sorg- 
falt;  der  Timbre  Gides,  die  Melodie  und  Farbe,  der  Hauch,  der 
Schmelz,  der  Duft  fehlt,  .  Es  gibt  Einen  Obersetzer  dieses 
Franzosen,  einen  Deutschen,  der  fur  diese  Funktion  gradezu 
geboren  ist;  Ferdinand  Hardekopf;  jammerschade,  daBmanihm 
nicht  auch  den  neuen  Band  zuwies.  Hardekopf  ist  kein  Philo- 
logf  aber  von  Herzen  logophil;  Gides  Prosa,  dcutsch,  hatte  ge- 
lebt  wie   eine  Bliite. 

Bevor  ich  an  die  Lektiire  ging  (des  wundervoll  gedruckten, 
edei  gebundenen  Buchs,  schwarz  Leinen  mit  wenig  Gold, 
Richard  Herre  schuf  den  Einband),  versuchte  ich,  mir  klar  zu 
werden,  warum  ich  Gide  denn  Hebe,     Das  Ergebnis: 

Erstens,  weil  er  verwickelt  ist.  Sein  Erleben;  innig,  doch 
un-naiv;  selbstdurchrontgt;  philosophisch.  Nicht  nur  kontrolliert 
das  Denken  dieses  Autors  die  Sensationen,  die  Affekte  dieses 
Autors,  sondern  alles  Gedankenwesen  wird  hier  umflossen  vom 
Affekt  Seele  ist  durchgeistet;  Geist  ist  beseelt.  Geist  —  wo- 
zu  auch  das  Wissen  gehort,  daB  die  Dinge  allemal  minder  ein- 
fach  sind  als  die  Schlagworter  (welche  man  -gleichwohl  nicht 
entbehren  kann).  Ein  romantischer  Zug,  librigens  Friedrich 
Schlegel-Romantik,  nicht  etwa  Eichendorff-Romantik:  Das,  wo- 
mit  ein  geistiger  Mensch  ringt,  riickt  aus  dem  kalten  Raum  der 
MBildung",  des  Neben-dem-Leben,  der  in  sich  beschlossenen 
Sachlichkeit;  die  Problematik  wird  Erlebnissubstanz,  und  so 
wird  das  Erleben  problematisch. 

Zweitens;  Doch  diese  Verwickeltheit,  diese  Reflexion,  diese 
Problematik,  diese  Romantik  ist  hier . . .  franzdsisch.  Das  heiBt: 
sie  hat  Charme,  Form,  Glanz,  Klarheit,  Klassizitat.  Noch  der 
,,graueste",  noch  der  verschwimmendste  Inhalt  zeigt  hier 
370 


azurene  Glasur.  ,,Wie  macht  man  das?M  Fragt  Gidef  Fragt 
jeden  Menschen  von  Tiefe,  der  zudem  cin  grofier  Zauberer,  cin 
groBer  Kiinstlcr  ist.  Rare  Spielart!  Aber  die  Natur  gibt  cin 
Beispiel:  Kohlc  schafft  sie  zum  Diamanten  urn  —  den  undurch- 
sichtigsten  Stoff  macht  sie  transparent,  das  Lichtloseste  ster- 
nenstrahlend.  (Nebenbei:  das  Weich-Verbrennliche  hart  fiir 
die  Ewigkeit  —  welch  ein  Symbol!)  Mit  ,Magus*  und  ,Magie* 
verbindet  sich  hierzulande,  zumindest  seit  Hamann,  die  Vor- 
stellung  des  Wolkigen;  Gide  gibt  die  Magie  der  Entwolkung. 
Nicht  Nebulositat;  Latinitat.  Lauternde  Latinitat.  Normandie 
und  Bas-Languedoc,  beide,  sind  seine  Heimat;  Innerlichkeit  des 
Nordens  wird  begliickend  durchdrungen  von  Mittelmeer-Licht. 
Gotisch-klassische  Vermahlung;  fast  Faust/Helena.  Wer  die 
Triibheit  des  normalen  deutschen  Tiefsinns,  wer  die  Flachheit 
des  franzosischen  Durchschnitts-Esprits  haBt,  der  muB  Gide 
lieben,  Gide  —  von  beidem  das  Gegenteil. 

Drittens  ist  er  ein  Exhibitiver.  Er  verdrangt  nicht;  er 
lafit  Lebenswesentliches  nicht  ausj  er  setzt  Anstofliges,  Allzu- 
menschliches  nicht  angstlich  in  Zugelassenes,  in  Metaphern  urn; 
dieses  Ich  prasentiert  sich  nackt  dem  Volke  seiner  Leser.  Ein 
keineswegs  auch  in  jedem  andern  Falle  wiinschenswertes  Be* 
ginnenl  Denn  von  manchem  Autor  bleibt  zu  sagen:  Die  An- 
standigkeit  verdient  Beifall,  mit  der  ein  Charakter  sich  ent- 
hiillt  —  es  ist  nur  leider  ein  unanstandiger  Charakter.  Hier 
begegnen  wir  einem  Ich,  das  sich  sehen  lassen  kann  in  seiner 
vornehmen  Furchtlosigkeit,  in  seiner  sozusagen  delikaten 
Zynik.  (Zynismus  und  Frivolitat  sind  nicht  Synonyme,  sondern 
Gegensatze, .  - .  ahnlich  unerkannte  wie,  etwa,  Ehrfurcht  und 
Demut,)  Es  kommt  immer  darauf  an,  wer  sich  auszieht  und 
mit  welcher  Gebarde'ers  tut.  Prachtvoll,  daB  hier  ein  zart- 
sinniger  und  scharfsinniger,  nervlich  und  hirnlich  kultivierter, 
ein  sensitiver,  tiefer,  in  vielem  abseitiger  Schriftsteller  schreibt^ 
der  nicht  liigt;  der  nicht  einmal  durch  Verschweigen  liigt! 

Viertens  findet  Gide  im  Leben  schon  und  begehrenswert, 
was  auch  ich  schon  und  begehrenswert  finde;  es  ware  albern, 
das  M4twirken  auBergeistiger  Artverwandtschaft  an  littera- 
rischen  Sympathien  zu  leugnen.  (So  sehr  auf  dem  Holzweg 
psychoanalytische  Schnuffler  waren,  die  fiir  entscheidend  hiel- 
ten,  was  nur  grade  in  vierter  Linie  mitentscheidet.) 

Es  muB  wohi  so  sejn,  daB  ich  Gide  liebe,  weil  unsre  Na- 
turen  einander  in  vielem  gleichen  und  doch  wiederum  ver- 
schieden  genug  sind,  um  den  Doppelgangerschauder  nicht  auf- 
springen  zu  lassen,  Gide  besitzt  als  Schriftsteller,  was  mir  an 
Wunschbarem  fehlt:  Mit  seiner  Lust  und  Kraft  zu  fabulieren 
zaubert  er  Asphodelenwiesen  herauf,  wo  bei  uns  „Mathe- 
matikern"  Saharen  der  Abstraktion  gebreitet  sind.  Ich  liebe 
keineswegs  Leute,  die  haben,  was  mir  gottseidank  fehlt,  ader 
denen  fehlt,  was  ich  gottseidank  habe;  doch  ich  liebe  Leute, 
die  haben,  was  mir  leider  fehlt, 

Wie  aber  steht  Gide  zur  Anderung  der  Welt?  Er  ist 
philosophisch;  ist  er  auch  politisch?  Betrachten  seine  ,Euro- 
paischen  Betrachtungen'  Europa  in  einer  unsrer  Art  verwand- 
ten  Art? 

371 


Es  stellt  sich  heraus;  in  kcincr  gegensatzlichen,  aber  auch 
nicht  eigentlich  in  eincr  verwandtcn.  Gide  ist  nicht  Rolland. 
Er  legt  Fragen  auf  seine  Wagschale1  die  auf  ihr  schwerer  wiegen, 
als  sie  auf  unsrer  wogen,  und  unsre  schwersten  Probleme  wie- 
gen am  Ende  auf  seiner  Wage  sehr  leicht.  Wenn  er,  zum 
Beispiel,  eine  Differentialdiagnose  zwischen  Baudelaire  und 
Theophile  Gautier  anstellt,  so  mutet  das  unsereinen  ein  bifichen 
alexandrinisch  an;  und  je  kostbarer  sie  ist,  desto  deutlicher  glau- 
ben  wir  die  Zinnen  eines  Elfenbeinturms  zu  sehn,  der  feme 
leuchtet  , 

Gide  erortert  nicht:  wie  beseitigen  wir  Ausbeutungt  Elend; 
nicht:  wie  schaffen  wir  den  ewigen  Volkerfrieden  —  ge- 
schweige  Teilfragen  dieser  GroBfragen.  Ober  Demokratie, 
Diktatur,  Fascismus,  Bolschewismus,  iiber  Versailles,  Genf,  die 
Kirche,  den  Paragraphen  218,  die  Krise,  die  Arbeitslosigkeit: 
keine  Silbe,  Dennoch  erst  recht  keine  )teuropaischen"  Ge- 
meinplatze;  nicht  etwa  diese  unertraglich  abgestandne,  nobel* 
preiswiirdige  Volkerverstandigungssauce,  Vielmehr,  gleichsam 
pastellhaft  hingehaucht,  sehr  tiefe  und  personliche  Apercus 
uber . ■ .  Politoides. 

Etwa  zur  nationalen  Frage:  Der  wahrhaft  europaische 
Geist  stelle  sich  der  isolierenden  Eitelkeit  des  Nationalismus 
entgegen,  aber.  nicht  weniger  jener  Entpersonlichung,  die  ein 
Nur-Internationalismus  herbeifiihren  mochte.  ,,Ich  habe  es 
schon  manchmal  und  schon  seit  langem  gesagt;  je  mehr  man 
sein  eigenes  Wesen  auspragt,  um  so  mehr  dient  man  dem  all- 
gemeinsten  Interesse;  und  das  gilt  fur  die  Lander  sowohl  wie 
fur  die  Einzelnen."  Die  Frage,  ob  die  ,hohe  Literatur'  darauf 
verzichten  kann,  national  zu  sein,  oder  ob  sie  es  nicht  kann* 
erscheint  ihm  miiBig.  ,,Wie  soil  man  sich  ein  Wort  vorstellen, 
das  nicht  der  Ausdruck  eines  Menschen  ware?  Eine  Literatur, 
die  nicht  der  Ausdruck  eines  Volkes  ware?  Ware  es  nicht 
interessanter  und  verniinftiger,  zu  fragen,  ob  man  irgendeine 
Literatur  als  ,hohe  Literatur'  bezeichnen  katon,  die  nicht  iiber 
ihren  unausweichlichen  reprasentativen  Wert  hinaus  ein  allge- 
meines,  das  heiBt  ganz  einfach  ein  menschliches  Interesse  bietet? 
.  .  -  Die  groBten  menschlichen  Werke,  die  Werke  von  dauerndem 
allgemeinen  Interesse  sind  zugleich  die  besondersten  Werke, 
diejenigen,  in  denen  sich  der  Genius  einer  Rasse  durch  den 
Genius  eines  Individuums  hindurch  am  speziellsten  offenbart. 
Was  ist  nationaler  als  Aschylos,  Dante,  Shakespeare,  Cer- 
vantes, Moliere,  Goethe,  Ibsen,  Dostojewski?  Was  ist  in  hohe- 
rem    Grade   allgemein-menschlich   und   zugleich  individueller?" 

Eine  Losung  mittels  Synthese,  —  die  obendrein  stimmt! 

Wunderbar  stimmt  auch,  was  uber  Freud,  was  uber  die 
Verdummungstendenz  des  Paulus,  was  iiber  ,Die  Weber'  (:  „ein 
begabtes  Stuck,  das  ich  bewundere";  „schlieBlich  interessieren 
mich  diese  Leute  nur,  weil  sie  Hunger  haben";  „dieses  grobe 
und  simple  Stuck")  . . .  wunderbar  stimmt,  was  iiber  Klassizis- 
mus  und  was  in  der  genialen  ,Apologie  des  Einflusses*  gesagt 
wird.  Dies  Buch  ist  ein  Baum  voll  reifer  Aphorismen;  man 
braucht  ihn  nur  zu  schiitteln;  sie  schmecken  prachtig. 

Ja,  Gide  ist  saftig  und  suB;  unsern  Durst  loscht  er  nicht. 
Etwas  vom  Nihilismus  der  ,Paludes'  lebt  immer  noch  in  seiner 
372 


Geistigkeit;  er  bleibt  ein  praaktivistischer  Typus  (—  der  rcinste 
und  feinste).  Seine  Hemmungen  gegen  Zielhaftigkeit  werden 
in  dies  em  Buche  auf  ergreifende  Weise  freigelegt.  Die  Hand- 
lung  interessiert  ihn  weniger  durch  die  Empfindung,  die  sie  in 
ihm  hervorruft,  als  durch  ihre  Folgen,  ihren  WiderhalL  Das 
ware  unsrig.  Aber  er  fahrt  fort;  „Und  wenn  sie  mich  auch 
Ieidenschaftlich  interessiert,  glaube  ich  deshalb  dochf  daB  sie 
mich  noch  mehr  interessiert,  wenn  ein  anderer  sie  begeht  Ich 
fiirchte  mich,  verstehen  Sie,  mich  damit  zu  kompromittieren. 
Damit  meine  ich,  mit  dem,  was  ich  tue,  das  zu  begrenzen,  was 
ich  tun  konnte,  Zu  denken,  daB,  weil  ich  dies  getan  habe,  ich 
jenes  nicht  mehr  werde  tun  konnen.  Das  wird  mir'  unertraglich: 
Ich  ziehe  es  vor,  andere  zum  Handeln  zu  veranlassen,  als  zu 
handeln/'  (Womit  ihr,  beilaufig,  eine  Probe  der  Curtiusschen 
Obersetzungskunst  habt.)  Gegen  den  Festgelegten,  der  die  Seinen 
nicht  verraten  darf :  „Mit  fiinlunddreiBig  Jahren  hat  man  Schulen 
gegriindet;  aber  man  schleppt  eine  Vergangenheit  mit,  die 
ihrerseits  die  Zukunft  diktieren  wird.'*  Er  straubt  sich  gegen 
„ein  Denken,  das  im  voraus  vom  Diktat  der  Partei  bestimmt 
ist",  und  ware  er  selbst  ihr  Schopfer.  „Das  Wichtige  fiir  mich 
ist,  meinen  Gedanken  freies  Spiel  zu  verstatten."  Ihn  bindet 
kein  fremdes  Dogma;  er  will,  er  kann  sich  auch  an  kein  eignes 
binden.  Wanderer  sein  —  nur  das  lockt  ihn;  nur  im  Wandern 
fiihlt  er  sich  „richtig  lebendig".  Er  nimmt  nicht  Platz,  wedet 
auf  der  roten  noch  auf  der  weiBen  Seite.  ,,Kaum  hat  man 
Platz  genommen,  so  beginnt  das  Elend.  Nach  kurzer  Zeit 
diktiert  der  Sitz  die  Meinungen,  anstatt  daB  die  Meinungen  die 
Wahl  des  Sitzes  diktieren/' 

Also  keine  Flucht  vor  der  Politik  als  Problem;  nur  eine 
vor  der  politischen  Doktrin,  der  These,  der  stabilen  Idee,  vor 
der  Totenstarre  des  Dogmas.  Auch  kein  Relativismus,  kein 
Opportunisms  —  nur  die  fanatische  Angst,  jene  Kraft  zu  ver- 
lieren,  die  man  die  innere  Freiheit,  die  Wandlungsbereitschaft, 
die  Fahigkeit  zum  Wachstum,  zur  Entwicklung  nennen  kann; 
der  Handelnde  fesselt  sich;  also  muB  der  Leidenschaftliche  der 
Freiheit  sich  des  Handelns  enthalten, 

Ich  verstehe;  o,  wie  verstehe  ich!  Aber  bei  solcher  Hal- 
tung  der  Besten  bleibt  die  Welt  auf  dem  Fleck.  Es  gibt  zwi- 
schen  Passivismus  und  Partei,  zwischen  Nichthandeln  und 
Handeln  nach  erstarrter  Norm  eine  Aktivitat  nach  lebendiger 
Norm,  einen  sozusagen  undogmatischen  Dogmatismus,  eine 
Politik  des  Geistes,  die  ihre  Kraft  grade  aus  der  nie  versiegen- 
den  Quelle  der  zutiefst  freien,  nur  dem  eignen  Gewissen  unter- 
worfenen,  neuer  Erkenntnis  geoffneten,  zu  revolutionarer  Re- 
vision stets  bereiten  Personlichkeit  schopft.  Skepsis  ist  nicht 
das  letzte  Wort  der  Philosophie,  selbst  nicht  der  politischen. 
Freiheit  und  Bindung  zeigen  sich  in  einer  Haltung  aufgehoben, 
der  nichts  Gidisches  fremd  ist,  so  ungidisch  sie  ist  (weil  sie, 
ohne  Selbstbornierung,  sich  erlost  hat  von  Aktionshemmendem, 
Aktionslahmendem).  Zu  wissen,  daB  der  logokratische  Akti- 
vismus  einen  Schritt  hinaus  liber  den  Denkstil  bedeutet,  den 
Gide  darstellt,  obwohl  Gide  der  geschmeidigere,  polymorphere, 
reichere  ist  (so,  wie  etwa  Nelson  geistesgeschichtlich  einen 
Fortschritt   gegeniiber    Simmel    bedeutet,    obwohl   Simmel   ge- 

373 


schmeidiger,  polymorpher,  reichcr  ist)  —  heiBt  nicht,  aufhoren 
Gide  zu  lieben,  Freilich  den  denkerischen  Erzahler  mehr  als 
den  systemscheuen  Denker.  Wir  fahren  mit  Gide  iibefs  Meer; 
er  ist  kein  Steuermann,  aber  er  holt  uns  das  abenteuerlichste 
Seegetier,  Schwamme,  Polypen,  Medusen,  und  die  herrlichsten 
Pe-rlen  aus  der  Tiefe. 


Der  Rundfunk  sucht  seine  Form  RudoifXnheim 

\l/er  gute  Filme  zu  machen  sucht,  wer  gegen  die  Filmindustrie 
w  und  das  pilmpublikum  fur  Kunst  und  Wahrheit  kampft,  ist 
des  Beifalls  und  des  Anteils  aller  Gutgesinnten  sicher.  Das 
warmt  und  stiitzt  ihn  und  laBt  ihn  leichter  die  entnervenden 
Diskussionen  iiberstehen,  die  jede  ungewohnliche  Bildeinst el- 
lung,  jedes  mutige  Wort  erregen.  EntsprieBt  der  Mesalliance  zwK 
schen  Filmkaufmann  und  Filmkiinsiler  eine  schwachliche  Zwit- 
tergeburt,  so  sind  tausend  freundliche  Blicke  bereit,  die  guten 
Eigenschaften  des  Kindes  zu  erkunden.  Diese  Ermutigung,  dies 
Verstandnis  der  Gleichdenkenden  fehlt  den  Pionieren  des  Rund- 
funks  noch  fast  ganzlich* 

Das  Gute  miiBte  sich  beim  Rundfunk  leichter  durchsetzen 
lassen  als  beim  Film,  Denn  wahrend  der  Filmindustrielle  Ge- 
fahr  lief  e,  sein  Geld  einzubuBen,  wenn  er  seinem  Kinopublikum 
unbequeme  Kuiturarbeit  zumuten,  statt  oberflachliche,  gefahr- 
liche  Zerstreuung  liefern  wollte,  ist  der  Rundfunk  einerseits 
kein  privates  kaufmannisches  Unternehmen  und  andrerseits 
Monopolinhaber.  Man  konnte  dem  Horer  schon  auf  eine  ziem- 
lich  unpopulare  Weise  erzieherisch  kommen,  ohne  daB  deshalb 
der  Zustrom  der  Zweimarkstiicke  am  Monatsersten  empfind- 
lich  abebbte.  Denn  der.  Horer  hat  ja  keine  Auswahl,  und  ehe 
er  gar  nichts  hort,  hort  er  lieber  Gutes.  Es  besteht  auch  fiir 
die  Leitung  des  Rundfunks  kein  AnlaB,  in  erster  Linie  auf  hohe 
Abonnentenzahl,  also  auf  moglichst  groBe  Einnahmen  hinzu- 
arbeiten.  Die  Rundfunkdirektoren  arbeiten  nicht,  wie  die 
Filmproduzenten,  in  ihre  eigne  Tasche  sondern  sind  Ange- 
stellte.  Aber  auch  aus  weniger  selbstsiichtigen  Griinden  sollte 
ihre  Marschlinie  eine  andre  sein  als  die  der  Filmindustrie. 
Ebenso  wie  die  Reichspost  nicht  primar  als  eine  Einnahme- 
quelle  fiir  den  Staat  —  etwa  wie  Tabak-  oder  Getranke- 
steuer  — ,  sondern  als  ein  gemeinntitziges  Beforderungsmittel 
zu  betrachten  ist,  das  natiirlich  seine  Kosten  einbringen  muB, 
so  sollte  auch  der  Rundfunk  als  ein  gemeinniitziges  Unterneh- 
men betrieben  werden.  Er  dient  zunachst  einmal  nicht  dem 
StaatssackeL  Sondern  wie  die  Post  Brief e  und  Pakete  befor- 
dert,  so  befordert  er  Geschmacksveredlung  und  Bildung.  Eben 
weil  er  yon  Anges  tell  ten  geleitet  wird  und  ein  Monopolunter- 
nehmen  ist,  nimmt  er  Formen  des  sozialistischen  Idealstaates 
vorweg.  Er  hatte  die  Moglichkeit,  einen  unausweichlichen 
Druck  zum  Guten  auszuiiben,  auch  gegen  den  Willen  des  Ver- 
brauchers.     Warum  tut  er  es  nicht? 

Von  alien  weltanschaulich-politischen  Dingen  sehen  wir 
hier  einmal  ab.  Denn  es  ware  kindlich,  sich  dariiber  zu  wun- 
dern,  daB  die  regierende  Gesellschaftsklasse  ein  so  wichtiges 

374 


Machtwerkzeug,  das  sie  in  ihrem  Besitz  hat,  nachdrucklich  an- 
wendet.  Dicier  MiBstand  ist,  wie  alle  ahnlichen,  nicht  vom 
Spezialgebiet  sondcrn  nur  von  der  groBen  Politik  aus  abzu- 
schaffen.  Alle  Pro  teste  konnen  da  nur  zu  schwachlichen  Ein- 
zelerfolgen  fiihren,  und  alles,  was  geschehen  kann,  ist,  wie 
beim  Film,  Aufklarungsarbeit  im  Publikum. 

Wohl  aber  darf  man  sich  dariiber  wundern,  daB  Macht 
iiber  den  Rundfunk  immer  noch  so  viele  Leute  haben,  die  we- 
der  kiinstlerisches  Gefiihl  fiir  seine  besondern  Wirkungsformen, 
noch  originelle  Einfalle,  noch  die  erforderliche  Bildung  und 
Geschmackskultur  haben.  Warum  nimmt  man  sich  fiir  die 
Abendunterhaltungen  die  durftigsten  Bockbierfeste  zum  Vor- 
hild?  Warum  verwendet  man  fiir  die  Konzerte  eine  Bums- 
musik,  die  selbst  abgehartete  Sterndampfer  zum  Kentern 
brachte?  Warum  erschreckt  man  uns  durch  oligen  Re- 
fraingesang  und  abendfullende  Opernpotpourris?  Warum 
laBt  man  neckische  Rezitatorinnen  ihren  Altweibersom- 
mer  in  den  Jugendstunden  austdben?  Oder  naselnde 
Rentiers  im  Amtsijargon  iiber  Kleinviehzucht  und  deut- 
sches  Wesen  dozieren?  Weil  dem  Publikum  das  gefallt?  Ihr 
habt  euer  Publikum  doch  in  der  Hand.     Ihr  seid  seine  Lehrer. 

Vieles  wurde  sich  bessern,  wenn  die  paar  Manner,  die 
sich  bemuhen,  die  Rundfunksendungen  zeitgemaB  und  gehalt- 
voll  zu  gestalten  und  seine  Eigenart  zu  entwickeln  und  auszu- 
nutzen,  bei  den  geistig  Anspruchsvollen  mehr  Unterstiitzung 
fanden.  Derv  Rundfunk  arbeitet  vor  groBter  Offentlichkeit  und 
dabei  unter  fast  ganzlicher  Ausschaltung  der  of fentlichen  Mei- 
nung.  Niemand  ist  da,  der  in  die  Fanfare  stoBt,  wenn  etwas 
Gutes  durchgesetzt  worden  ist;  niemand,  der  antreibende  Ge- 
wissensbisse  austeilt.  Verstreute  Fiinfzeilenreferate  sind 
wertlos.  Es  ware  die  Pflicht  der  groBen  Zeitungen,  eine 
Mode  des  Rundfunkhorens  unter  den  Geistigen  zu  entfesseln. 
Denn  die  haben  ihn  bis  jetzt  nur  als  Einnahmequelle  ent- 
deckt.  Das  Rundfunkprogramm  erscheint  ihnen,  mit  Aus- 
nahme  der  zwanzig  Minuten,  fiir  die  sie  selbst  engagiert  sind, 
des  Anhorens  und  Diskutierens  nicht  wert.  Sie  fmden,  daB  die 
Blasmusik,  die  reichlich  aus  dem  Lautsprecher  quillt,  das  letzte 
Mauerwerk  der  Volkskultur  wie  die  Walle  von  Jericho  zuFall 
bringt,  aber  sie  greifen  nicht  ein.  Das  haAgt  zum  Teil  damit 
zusammen,  daB  jede  Rundfunk  darbietung  nur  einmal  und  zu 
einer  vorgeschriebenen  Zeit  erfolgt;  denn  so  bildet  sich  ihr 
Publikum  mehr  aus  jenen,  die  abends,  um  sich  zu  zerstreuen, 
den  Empfanger  andrehen,  ohne  sich  das  Programm  allzu  kri- 
tisch  durchzulesen,  als  aus  den  Wahlerischen,  die  sich  —  wie 
bei  Buch  oder  Theaterabend  —  gern  aussuchen,  was  sie  ge- 
nieBen  und  wann  sie  genieBen,  Aber  schlieBlich  haben  ja  auch 
Tanz-  und  Vortragsabende  und  Konzerte  ihren  f esten  Termin 
und  trotzdem  ihr  Publikum.  Es  gilt,  den  Rundfunk  hoffahig, 
wichtig  zu  machen.  Er  muB  ein  Stuck  der  „allgemeinen  Bil- 
dung" werden,  die  man  besitzen  muB,  wenn  man  mitreden  will 
Und  kommt  er  unter  besseres  Publikum,  so  wird  er  sich  auch 
bessere  Manieren  angewohnen.  Bis  heute  dringt  ausder  AuBen- 
welt  in  die  schalldichten  Raume  der  Sendeleitungen  kaum  eine 

375 


andre  Stimmc  als  die  des  Schlachtermeisters  Pachulkski,  der 
ziirncnd  im  Funkhaus  anlautet,  warum  man  ihn  fur  seine  zwet 
Mark  schon  wieder  mit  der  verfluchten  Kammermusik  und 
liter  arise  hen  Vortragen  langweile.  Verstandlich,  daB  da  all- 
mahlich  die  Arbeitslust  der  Gutgesinnten  erlahmt. 

Man  muB  sich  aber  klar  dariiber  werden,  welcher  Art 
die  Verb  ess  erungen  sein  sollen,  die  man  wunscht.  Heute  lei- 
det  das  Programm  darunter,  daB  neben  knalligstem  Massen- 
schund  die  esoterischsten  Kulturgeniisse  stehen.  Entweder  man 
hort  ein  orientalisches  Stimmungsbild  „Persische  Nachte"  oder 
kjomplizierte  Klavierstiicke  von  Schonberg;  entweder  die. 
Rulps-  und  Analgerausche  des  Herrn  Manfred  Lommel  oder 
eine  feingeistige  Madchenstimme,  die  leise  klagend  iiber  die 
Gesichte  der  heiligen  Therese  berichtet.  Indem  man  dem 
Horer  Dinge  bietet,  die  er  unvorbereitet  weder  verstehen  noch 
schon  finden  kann,  erweckt  man  in  ihm  die  schiefe  Vorstel- 
lung,  als  seien  Kunst  und  Wissenschaft  ihrem  Wesen  nach 
langweilig  und  vertrackt.  Zu  fordern  ist  nicht  eine  kompro- 
miBlerische'  Mittelschicht,  sondern  Volksturhlichkeit  in  dem 
Sinne,  wie  ein  Song  von  Brecht  und  Weill,  ein  Roman  von  Jack 
London,  ein  Gedicht  von  Kastner  volkstiimlich  ist,  Der  Rund- 
funk  konnte  viel  dazu  beitragen,  den  fur  unsre  Zeit  so  bla- 
mablen  Gegensatz  zwischen  Kulturmenschen  und  Unkultur- 
menschen  zu  uiberbriicken;  Deiin  er  hebt  ja  zwangsweise  die 
sonst  iibliche  Treniiung  in  verschiedene  Publikumsschichten 
auf,  und  so  kann  er  unsre  Musiker,  Dichter  und  Redner  aller 
Art  ausgezeichnet  darin  schulen,  auf  gehaltvoile  Weise  einl 
zu  sein,  Der  notwendigen  Auflockerung  wird  aber  nicht  da- 
durch  gedient,  daB  man  beispielsweise  das  Prinzip  des  Vor- 
trags  grundsatzlich  verpont  und  alles  in  Dialoge  aufzutosen 
sucht.  Solche  schematischen  Losungen  fiihren  zu  nichts,  Viel- 
mehr  gilt  es,  immer  wieder  von  Fall  zu  Fall  zu  priifen,  was 
ansprechend  ist  und  was  nicht.  UnzweckmaBig  diirfte  es  auch 
sein,  gute  und  schlechte  Musik  durcheinanderzumengen.  Denn 
dadurch  wird  im  Gegenteil  erreicht,  daB  der  Horer  die  sub- 
stanzreiche  Musik  genau  so  oberflachlich  und  ungeschult  auf- 
nimmt  wie  die  Operettenschlager.  Es  ist  noch  nichts  damit 
gebessert,  daB  man  den  Horer  auf  Schleichwegen  dazu  kriegt, 
gute  Musik  anzuhoren,  ohne  abzustellen,  sondern  er  soil  ja  zu 
einer  gesammelteren,  ernsteren  Form  des  Horens  erzogen  wer- 
den. Vielleicht  konnte  man  es  mit  einer  Art  musikalischen 
Anatomieunterrichtes  versuchen:  ein  Musikstiick  in  seine  Teile 
zerlegen,  indem  man  die  emzelnen  Instrumente  ihren  Part  nach 
Bedarf  solo  spielen  laBt,  Damit  wiirde  zugleich  an  den  Hang 
des  Volkes  zum  Technischen  appelliert,  und  ware  der  Vor- 
tragende  einigermaBen  geschickt,  so  miiBte  es  schon  seltsam 
zugehen,  wenn  der  Basteltrieb  des  Horers  nicht  auch  vor  der 
Musik  rege  wiirde. 

Zum  SchluB  sei  noch  kurz  wenigstens  auf  einen  Versuch 
hingewiesen,  zu  spezifischen  Rundfunkformen  vorzudringen. 
Dieser  Tage  brachte  der  berliner  Sender  eine  anspruchlos  als 
bunte  Abendunterhaltung  angekundigte  Funkrevuc  von  Ka*-1 
Schnog  und  Walter  Gronostay.  Zu  solchen  in  bezug  am  cue 
Einheiten  des  Ortes,  der  Zeit  und  der  Handlung  ganz  imabhan- 
376 


gigen  Formen  drarigen  den  Rundfunk  die  Charaktereigenschaf- 
ten  seines  Darstellungsmaterials  hin.  Schauplatzwechsel  laBt 
sichf  wo  alles  Optische  fehlt.  noch  viel  leichter  bewerkstelli- 
gen  als  im  Film;  ja  man  kann,  was  es  im  Film  nur  ganz  an- 
deutungsweise  gibt,  Menschen  aus  ganz  verschiedenen  Schau- 
platzen  und  Zeiten  miteinander  verhandeln  lassen:  Goethe  mit 
Frick,  berliner  Arbeitslose  mit  argentinischen  Getreidehand- 
lern,  Denn  der  Horer  Merganzt"  ja  nicht  etwa  in  der  Phanta- 
sie  das  fehlende  Biid,  sondern  vom  Raum  ganzlich  losgeloste 
Stimmen  sprechen  zu  ihm.  Das  verweist  den  Rundfunk  aufs 
Oratorische  und  Dialektische  und  damit  aufs  Lehrhafte.  Die 
Stimmen  brauchen  nicht  in  einen  realen  Handlungszusammen- 
hang  gesetzt  zu  werden,  sondern  es  gibt  Diskussionen  iiber 
Raum  und  Zeit  hinweg:  die  begrifflichste,  abstrakteste  Dar- 
stellungsform,  die  wir  bisher  haben.  Die  genannte  Revue  —  und 
sie  steht  hier  nur  als  ein  Beispiel  fiir  viele  ahnliche  Ver- 
suche  —  hat  etwas  von  diesem  volkstiimlich  Lehrhaften,  und 
zugleich  spiirte  man  formal  deutlich  das  Bestreben,  die  Rund- 
funksendung  nicht  als  den  aus  einer  kompletten  Realsituation 
herausgelosten  akustischen  Sektor  aufzufassen  sondern  als  ein 
arteignes  Spiel  mit  abstrakten  Stimmen-  So  gab  es  etwa 
einen  melancholischen  Mannerchor:  Eine  Filmfirma  singt.  Ohne 
daB  man  sich  dabei  dicke  Direktoren  vorzustellen  hatte,  die 
rings  um  einen  Konferenztisch  sitzen.  Sondern  das  hat  ab- 
strakten Oratorienstil,  und  es  fehlt  der  beim  Konzertoratorium 
so  storende  Gegensatz  zwischen  Gehortem  und  Gesehenem: 
daB  man  namlich  etwa  die  Partie  des  Christus  von  einer  herr- 
lichen  Mannerstimme  gesungen  hort,  die  die  Rollengestalt  ganz- 
lich deckt,  und  in  krassem  Gegensatz  dazu  einen  schmer- 
bauchigen,  schwitzenden  Bassisten  vor  dem  Dirigenten  stehen 
sieht.  Sehr  einleuchtend  war  auch  die  Art,  wie  der  Musiker 
Gronostay  als  Dialogregisseur  die  sprechenden  Stimmen  rein 
als  charakteristische  Klange  gegeneinandersetzte;  wie  er  Ge- 
rausche  des  Achzens,  Stohnens  und  Seufzens  als  akustische  Ge- 
bardensprache  reichlich  verwendete;  wie  er  die  Stimmen  satze- 
weise  durcheinanderflocht,  weil,  wenn  ein  einzelner  Sprecher 
zu  lange  hintereinander  spricht,  die  iibrigen,  die  Zuhorer,  durch 
ihr  Schweigen  aus  dem  „Gehorkreis"  des  Publikums  amLaut- 
sprecher  verschwinden  und  so  die  Horsituation  gestort  wird. 
Die  kleine  Funkrevue,  die  sich  im  iibrigen  durch  eine  er- 
frischende  Frechheit  des  Inhalts  auszeichnete,  zeigte  grade  in 
der  grotesken  Oberwirklichkeit  ihres  Stils  deutlich,  wo  die 
besondern  Formeigentiimlichkeiten  des  Ruhdfunks  liegen. 


Schtlipsel  von  Peter  Panter 


rur    Rassenfrage.     Die    Blonden    sind    ganz   umgangliche    Menschen. 
**   Aber  die  Dunkeln,  die  gern  blond  sein  mochten...! 

* 
Komische  Junge  sind  viel  seltner  als  komische  Alte. 
..-■'.* 

Es  gibt  Leute,  die  wollen  lieber  einen  Stehplatz  in  der  ersten 
Klasse  als  einen  Sitzplatz  in  der  dritten.  Es  sind  keine  sympathischen 
Leute. 

* 

377 


Kolonien  nehmen  den  UberschuB  des  Mutterlandes  auf.  Irgend- 
wohin  raufl  ein  Land  doch  schieBen, 

* 

Emil  Ludwig  hats  nicht  leicht.  Er  mufite  eigentlich  ein  Rund- 
schreiben  an  seine  Kritiker  s chicken:  „Entschuldigen  Sie  bitte,  daB 
ich  so  viel  Erfolg  habe." 

* 

Man  fallt  selten  uber  seine  Fehler.  Man  fallt  meistens  iiber  seine 
Feinde, 

*■ 

Da  gab  es  neulich  in  der  .Frankfurter  Zeitung*  eine  Auseinander- 
setzung  zwischen  der  Kunsthandlung  Paul  Cassirer  und  dem  Kunst- 
maler  Kokoschka. 

Kunsthandler  sind  meist  keine  reine  Freude.  Aber  wie  dieser 
Maler  da  loslegte,  das  blamierte  doch  die  ganze  Innung.  Die  In- 
haberin  der  Firma  Cassirer,  Frau  Doktor  Ring,  hatte  klar  und  einfach 
dargelegt;  wieviel  Vorschusse  dieser  Maler  bezogen  habe,  daB  seine 
Bilder  jetzt  nicht  mehr  so  gut  gingen  wie  friiher,  alles  einleuchtende 
und  verstandliche  Dinge,  die  der  Beteiligte  nun  bestreiten  oder  kom- 
mentieren  konnte . , .  Er  habe  sich  das  Geschaitsdeutsch,  schrieb  er, 
erst  ins  Deutsche  iibersetzen  lassen  mussen  —  eine  Korrektur,  die  bei 
seinen  Biichern  bisher  leider  nicht  erfolgt  ist.  Und  schwafelte  und 
jampelte  und  schrie . . .  friiher  hat  so  etw'as  eine  Samtjacke  getragen. 

Es  ist  da  wahrend  der  guten  Konjunktur  eine  Sorte  Kunstler 
aufgewacfrsen,  die  diskreditieren  jeden  guten  wirtschaftlichen  Kampf 
ihrer  Genossen,  GroBenwahnsinnige  Schauspieler,  Maler  wie  der  da 
—  lauter  Leute,  die  nicht  begreifen  konnen,  daB  man  ihren  Kram 
weit,  weit  uberzahlt  hat.  Und  daB  es  damit  nun  aus  ist  Wenns 
weiter  nichts  warej  Kokoschka  bemuht  Franz  Hals  und  Rembrandt 
und  wen  weiB  ich  noch.  Er  troste  sich  —  so  viel  ist  er  nicht  wert. 
Im  iibrigen  mache  er  gescheite  Vertrage,  und  wenn  er  das  nicht  kann, 
nehme  er  sich  einen  Recht  sanwalt.  Mit  Kunstpflege  hat  dieses  Ge- 
schwafel  nichts  zu  tun.    Cassirer  war  tausendfach  im  Recht. 

* 

Satire  hat  eine  Grenze  nach  oben:  Buddha  entzieht  sich  ihr. 
Satire  hat  auch  eine  Grenze  nach  unten.  In  Deutschland  etwa  die 
herrschenden  fascistischen  Machte.  Es  lohnt  nicht  —  so  tief  kann 
man  nicht  schieBen. 

Merkwiirdig,  was  dieselben  zweitausend  Menschen  zu  gleicher 
Zeit  sein  konnen:  unsre  tapfern  Krieger;  Mob;  Volksgenossen;  ver- 
hetzte  Kleinbiirger.    Wie  man  eine  Masse  anspricht,  so  fuhlt  sie  sich. 

./  .   .* 

LaB  dir  von  keinem  Fachmann  imponieren,  der  dir  erzahlt:  „Lie- 
ber  Freund,  das  mache  ich  schon  seit  zwanzig  Jahren  sol"  —  Man 
kann   eine   Sache   auch  zwanzig   Jahre  lang  falsch  machen. 

* 

Die  dunkle  Stelle  der  Nasenlocher  in  einem  Gesicht  zeigt  an, 
was  fiir  eine  Luft  im  Schlafzimmer  des  Menschen  ist.  Dieser  Satz 
laBt  sich  nicht  begrunden;  er  ist  aber  wahr. 

* 

,fArzt  sein  heifit:  der  Starkere  sein",  hat  Schweninger  gesagt. 
Krankenkassen-Patient  sein  heiBt:   der  Schwachere  sein. 

v»* 

Es  gibt  in  der  Kunst  ein  unumstoBliches  Gesetz.  Was  einer  recht 
auf f allig  ins  Schaufenster  legt,  das  fiihrt  er  gar  nicht;  Brecht  keine 
Mannlichkeit,  Keyserling  keine  Weisheit  und  Spengler  keine  Ewig- 
keitsperspektiven. 

378 


Industriesanierung  durch  Inflation 

von  Bernhard  Citron 

FJic  Vereinigten  Staaten  haben  mit  groBem  Aufwand  an 
Kapital  und  VorschuBlorbeeren  die  Finance  Reconstruction 
Corporation  aufgezogen.  Ihr  ist  die  Aufgabe  gestellt  wordent 
mit  einer  halben  Milliarde  Dollar  Aktienkapital  und  1,5  Mil- 
Harden  Dollar  Obligationen  den  Bank  en  Kredit  zuzufiihren 
und  gleichzeitig  die  Industrie  zu  sanieren.  Das  ist  der  groBe 
Redeflations-,  Krediterweiterungs-  und  Ankurbelungsplan  des 
Prasidenten  Hoover.  Das  Kapital  der  deutschen  Akzept-  und 
Garantiebank  betragt  nur  etwa  ein  Fiinfzigstel  von  den  Mit- 
teln,  die  der  Finance  Reconstruction  Corporation  zur  Verfii- 
gung  stehen.  Man  macht  bei  uns  von  dem  neuen  Akzeptbank- 
Plan  auch  nicht  viel  Aufhebens,  obwohl  dieses  Institut  trotz 
den  erheblichen  Riickzahlungen  der  sanierten  Banken  noch 
immer  1  Milliarde  Mark  Wechselmaterial  im  Portefeuille  hat. 
Allerdings  haben  sich  die  Bankakzepte  in  ihrer  Qualitat  jetzt 
wesentlich  gebessert.  Da  die  Akzeptbank  nur  ein  wahrend 
der  Bankenkrise  zwischengeschaltetes  Institut  ist,  bedeutete 
dessen  Entlastung  auch  eine  Erleichterung  der  Zentralnoten- 
bank,  bei  der  die  von  der  Akzeptbank  girierten  Wechsel  dis- 
kontiert  werden  konnen.  Die  Reichsbank  hat  fiir  die  Bonitat 
ihres  Wechselmaterials  sehr  groBe  Opfer  gebracht.  Die  in 
den  letzten  Jahren  angesammelten  Oberschiisse  sind  fast  ganz 
fiir  die  Bankensanierung  herangezogen  worden.  Nun  aber 
wird  die  Akzept-  und  Garantiebank  —  kunftig  nur  Akzept- 
bank genannt,  weil  sie  keine  Garantien  mehr  ubernehmen 
soil  —  zu  neuem  Leben  erweckt.  Die  zweite  Bankengarnitur, 
die  sich  gegeniiber  der  ersten  als  verhaltnismafiig  krisenfest 
erwiesen  hat,  wird  bei  der  Akzeptbank  einen  Riickhalt  fin- 
den.  Aber  auch  die  Industrie  soil  mit  Hilfe  jenes  Instituts 
saniert  werden.  Man  hatte  eine  Zeitlang  geglaubt,  daB  es 
sich  hierbei  nur  um  die  mittlere  Industrie  handeln  wiirde, 
aber  vermutlich  iwird  jetzt  grade  an  deutsche  GroBunter- 
nehmungen  gedacht.  Mit  rechten  Dingen  kann  dies  unmoglich 
zugehen.  GewiB  kann  die  Akzeptbank  genau  so,  wie  sie  friiher 
die  Finanzwechsel  der  Danatbank  und  Dresdner  Bank  mit 
ihrem  Giro  versehen  bei  der  Reichsbank  rediskontiert  hat,  das 
Gleiche  mit  Stahlvereins-,.  AEG.-  oder  Hapag-Lloyd-Wechseln 
tun.  Nur  ist  die  Position  der  Reichsbank  heute  nicht  mehr 
dieselbe  wie  bei  Griindung  der  Akzeptbank.  Der  Plan  lauft 
also  am  Ende  darauf  hinaus,  daB  sich  der  Umlauf  von  Finanz- 
wechseln,  zum  Teil  als  Handelswechsel  frisiert,  nicht  verrin- 
gert,  wahrend  in  der  Zwischenzeit  die  Reserven  der  Reichsbank 
zusammengeschmolzen  sind.  Es  ist  dies  wie  so  oft  eine  na- 
turgetreue  Nachbildung  des  amerikanischen  Vorbildes  —  nur 
nicht  in  Marmor  sondern  in  Gips.  Einst  hatten  die  USA. 
eine  Konjunktur  auf  Gold,  wir  auf  Borg;  heute  wird  driiben 
eine  Redeflationsbewegung  bei  ausreichender  Notendeckung 
und  Ruckzahlungsbereitschaft  fiir  samtliche  Auslandskredite 
in  Gang  gebracht,  hier  unternimmt  man  das  Gleiche,  obwohl 
die  Notendeckung  nur  25  Prozent  betragt  und  auBerdem  noch 

379 


eih  sehr  erheblicher  Betrag  an  Scheidemiinzen  im  Umlauf  ist 
Von  ciner  Ruckzahlungsbereitschaft  fur  Auslandskredite  kann 
bei  uns  schon  gar  nicht  die  Rede  sein.  Es  erweist  sich  hier, 
wie  lacherlich  die  Vorwiirfe  gegen  die  deutsche  Zentralnoten- 
bank  gewesen  sind,  weil  diese  wahrend  der  Bankenkrise  die 
Institute  nieht  vorbehaltlos  gedeckt  hat.  Man  durfte  die  Re- 
serven  damals  nicht  aufs  Spiel  setzen.  DaB  dies  jetzt  zum 
Zwecke  der  Bankensanierung  geschehen  istf  wird  besonders 
von  Seiten  der  Industrie  bemangelt.  Aus  Kreisen  der  Schiff- 
fahrt,  des  Bergbaus  und  der  Elektrowirtschaft  hort  man  die 
Ansicht,  daB  es  richtiger  gewesen  ware,  erst  der  Industrie  und 
dann  den  Banken  zu  helfen.  Den  Banken  sind  vor  der  Sanie- 
rung  Mittel  zur  Verftigung  gestellt  worden,  bei  der  Industrie 
soil  dies  erst  nach  der  Sanierung  der  Fall  sein,  Namlich  nur 
diejenigen  Unternehmungen  sollen  bei  der  Akzeptbank  Wech- 
selkredit  in  Anspruch  nehmen  diirfen,  die  ihre  Bilanzen  voll- 
standig  bereinigt  haben,  Wie  vollstandig  diese  .Bereinigung 
sein  kann,  wird  sich  erst  zeigen  mussen. 

Die  hierfur  notwendigen  Vorbereitungen  scheint  jetzt  die 
Hapag-Lloyd-Union  zu  treffen,  die  am  1.  April  erhebliche 
Riickzahlun^en  —  auch  solche  an  das  Reich  —  zu  leisten 
hat.  Der  Kampf  um  die  Durchfuhrung  der  Schiffahrts-Sanie- 
rung  ist  noch  nicht  abgeschlossen.  AEG.  und  Vereinigte  Stahl- 
werke  haben  vor  kurzem  Bilanzen  vorgelegt,  deneri  man  die 
Reinigung  keineswegs  ansehen  kann.  Diese  Unternehmungen 
haben  bisher  die  Ansicht  vertretent  daB  eine  Kapitalzusam- 
menlegung  nur  dann  fiir  sie  einen  Zweck  haben  konnte,  wenn 
sie  gleichzeitig  wieder  neue  Kapitalzufuhr  erhielten.  Diese 
Aussicht  ist  auf  dem  Wege  iiber  die  Akzeptbank  viel- 
leicht  gegeben.  An  der  Borse  sprach  man  schon  von  einer 
Kapitalreduktion  des  Stahlvereins  im  Verhaltnis  8:1.  Viel- 
fach  kommen  derartige  Relationen  lediglich  durch  eine  kurs- 
maBige  Berechnung  zustande.  Vorlaufig  gibt  es  im  Stahlverein 
noch  einige  Schwierigkeiten  zu  liberwinden.  Die  Holdinggesell- 
schaften  miiBten  selbstverstandlich  auch  zu  einer  Zusammen- 
legung  schrciten,  gegen  die  infolge  der  Umtauschbedingungen 
der  Rhein-Elbe-Union-Anleihe  in  Gelsenkirchen-Aktien  ge- 
wisse   forma ljuristisc he   Bedenken  bestehen, 

Wenn  die  Akzeptbank  ihre  Tatigkeit  als  Industriefinan- 
zierungs-Institut  aufnimmt,  dann  kommt  es  nicht  so  sehr  auf 
die  Hohe  des  Eigenkapitals  als  auf  die  Rtickgriffsmoglichkeiten 
an.  Auszuschalten  sind  von  vornherein  jene  Akzepte,  zu 
deren  Diskontierung  die  Banken  infolge  ihrer  Sanierung  fahig 
und  bereit  sind.  Hierbei  hand  el  t  es  sich  aber  lediglich  um 
den  legitimen  Kreditbedarf,  der  angesichts  der  noch  immer 
tiicht  iiberwundenen  Wirtschaftsdepression  nicht  allzu  hoch 
sein  durfte.  Einen  Teil  des  iibrigen  Wechselangebots  wird 
—  so  hofft  man  wenigstens  —  die  Industrie  selbst  wieder 
aufnehmen.  Ahnlich  wie  bisher  die  Deutsche  Bank  und  die 
Commerzbank  einen  Teil  der  Danat-  und  Dresdner-Bank-Wech- 
sel  aus  den  Bestanden  der  Akzept-  und  Garantiebank  uber- 
nommen  haben,  so  werden  moglicherweise  die  L  G.  Farb en- 
Industrie,    die  Salzdetfurth   Kaliwerke,    der    Siemens-Konzern 

380 


und  die  Rheinischc  Braunkohlen-  und  Brikett-A.-G.  Wechscl 
dcr  illiquiden  Unternehmungen  ins  Portefeuille  legen.  Der 
dann  verbleibende.  erhebliche  Rest  wandert  zur  Rcichsbank 
und  muB  dort  zu  einer  Erhohung  des  Notenumlaufs  ftihren  — 
falls  nicht  noch  immer  Mittel  zur  Verfiigung  stchen,  urn  die 
Akzcptbank  so  auszustatten,  daB  sie  die  eingereichten  Wechsel 
selbst  im  Portefeuille  behalten  kann.  Woher  diese  Mittel 
stammen  sollten,  ist  nicht  ersichtlich. 

So  steht  die  deutsche  Wahrungspolitik  heute  wieder  vor 
einer  schweren  Entscheidung.  Kreditausweitung  und  Rede- 
flation  ohne  inflationistischen  Einschlag  ist  vielleicht  in  den 
USAM  gewiB  nicht  in  Deutschland  moglich.  Soil  die  Wahrung 
wie  bisher  mit  Erfolg  verteidigt  werden,  dann  muB  entweder 
die  Wirtschaft  durch  die  Wirtschaft  saniert  werden  —  oder 
das  Reich  muB  seine  kurzfristige  innere  Schuld  durch 
ZwangsmaBnahmen  zu  erhohen  suchen  und  den  notleidenden 
Teil  der  Industrie  in  eigne  Regie  nehmen.  Diese  halbsoziali- 
stischen  Gedankengange  wiirden  allerdings  auf  Wider  stand  bei 
den  heute  maBgebenden  Politikern  stoBen,  die  einer  Banken- 
verstaatlichung  keine  Schwierigkeiten  bereitet  haben.  AuBer- 
dera  wird  sich  die  Notwendigkeit,  die  innern  Schulden  zu  er- 
hohen, vielleicht  schon  nach  Vorlage  des  Reichsetats  ergeben, 
so  daB  fur  die  Sanierung  der  Industrie  keine  Mittel  raehr  zur 
Verfiigung  stehen.  Wenn  aber  alle  diese  Versuche  fruchtlos 
bleiben  und  die  Akzeptbank  mit  ihrer  Tatigkeit  den  Reichs- 
bankstatus  wesentlich  verschlechtern  wird,  dann  miissen  die 
Verteidiger  der  Goldwahrung  schlieBUch  ihre  Waffen  strecken, 
Hatten  sie  es  friiher  tun  sollen,  miiBten  sie  es  wenigstens 
jetzt  tun?  Nein:  solange  noch  Aussicht  besteht,  durch  Selbst- 
hilfe  oder  durch  einen  plotzlich  wieder  entdeckten  internatio- 
nalen  Kapitalmarkt  Hilie  zu  bringen,  darf  nicht  zum  Riickzug 
geblasen  werden.  Oder  geschieht  es  schon  —  still  und  leise, 
damit  niemand  etwas  davon  bemerkt? 

Zu  dieser  Reaktion  von  Ludwig  ssme 

P  s  wird  noch  dahin  kommen,  daB  man  in  politischen  Schriften 
*-*  sich  nur  der  Vokale  wird  bedienen  dtirfen.  A,  e,  if  o,  u  —  nichts 
allgemeineres  als  das.  Diphtonge  haben  schon  viel  Unbescheidenes, 
und  man  wird  sie  bloB  in  den  seltenen  Fallen  verstatten,  wo  es 
notwendig  ist,  das  Volk  zu  begeistern  —  so  etwa  in  Befreiungs- 
kriegen. 

Wenn  Uhrmacher  den  Zeiger  auf  eine  fruhere  Stunde.  setzen 
wellen,  dann  drehen  sie  ihn  nicht  zuriick,  sondern  sie  lassen  ihn  vor- 
warts  den  ganzen  Kreis  durchlaufen,  bis  er  auf  die  gehdrige  Stunde 
kommt.  Nun  ist  zwar  die  Menschheit  keine  Uhr;  da  es  aber  Leute 
gibt,  die  sie  daftir  ansehen,  so  sollten  sie  auch  nach  den  Regeln 
der  Mechanik  verfahren. 

Das  Licht,  das  sogenannte  offizielle  Mitteilungen  verbreitet,  ist 
oft  nichts  als  ein  Irrwisch,  der  uns  in  Sumpfe  fuhrt. 

Die  biirgerliche  Gesellschaft  ist  in  Garung,  sie  strebt,  sich  in 
ihre  Elemente  aufzulosen.  Derer  sind  zwei:  Herrschaft  und  Freiheit. 
Alle  Massen,  alle  Stoffe  ziehen  sich  nach  dieser  oder  jener  Seite. 
Der  Kampf  ware  bald  entschieden,  konnten  nur  die  Kampfer  im 
freien  Felde  aufeinandertreffen.  Aber  der  Ministerialismus  sucht 
die  Mischungen  zu   erhalten. 

381 


Bemerkungen 


in 

p\ie  Frau  Reinhold  Sorges,  dem 
*^  wir  das  schone  und  bedeu- 
tende  Drama  „Der  Bettler"  ver- 
danken  (erschienenbei  S.  Fischer) 
hat  Erinnerungen  an  ihren  im 
Kriege  getoteten  Mann  heraus- 
gegeben:  fIUnser  Weg"  von  Su- 
sanne  M.  Sorge  (erschienen  bei 
Kosel    und    Pustet    in    Miinchen), 

Sorge  ist  Protestant  gewesen 
und  ist  dann  zum  Katholizismus 
tibergetreten.  Sein  Geftihl  hat 
einen  ahnlichen  Weg  zurtick- 
gelegt  wie  etwa  der  Verstand 
des  Kardinals  Newman,  der  von 
der  anglikanischen  Kirche  nach 
Rom  gewandert  ist.  Der  Weg 
Sorges  war  schwer,  doch  fur  ihn 
selber  begliickend ;  es  mag  fur 
Glaubige  starkend  sein,  diesen 
Weg  nachzuwandern.  Das  Buch 
seiner  Frau  ist  rein,  ehrlich  und 
ergreifend,  es  enthalt  nicht  einen 
falschen  Ton,  Eine  Einzelheit  sei 
herausgegriffen, 

Sorge  wurde  im  Jahre  1915 
eingezogen.  MIn         Stock  ach," 

schreibt  Frau  Sorge,  „wurde  er 
der  Ersatzreserve  111  in  Kon- 
stanz  zugeteilt,  und  die  drei- 
fache  Eins  auf  dem  Achselstuck 
war  ihm  Symbol  des  Dreieinigen 
Gottes,  in  Seinem  Dienst  fuhlte 
er   sich  auch  hier." 

1st  so  etwas  menschenmoglich! 
Bei  Gott  ist  kein  Ding  umnoglich. 
Kein  Zweifel,  daB  dieser  Ge- 
danke,  von  einem  Atheisten  aus- 
gesprochen,  zu  einem  jener  Hexen- 
prozesse  fuhrte,  die  man  als  Got- 
teslasterungsprozesse  bezeichnet. 

Da  wird  also  einer  gezwun- 
gen,  auf  Menschen  zu  schiefien. 
Sorge  hat,  nach  den  Aufzeichnun- 
gen  der  Frau,  Totungen  offenbar 
vermeiden  konnen,  aber  er, 
der  ein  glaubig  fiihlender  Katho- 
lik  gewesen  ist,  hat  unter  diesem 
Druck  gelitten.  Doch  war  der 
Zwiespalt  zwischen  „Du  sollst 
nicht  toten!"  und  „Seid  untertan 
der  Obrigkeit!"  bei  ihm  nicht  so 
stark,  daB  es  zu  einer  Kriegs- 
diensverweigerung  gereicht  hatte; 
die  christlichen  Religionen  gehen 
ja  in  ihrer  Praxis  den  klaren 
Entscheidungen  gern  aus  dem 
382 


Wege,  und  aus  diesem  ewigen 
KompromiB  erwachst  ihre  Macht. 
Die  Bibel  ist  ein  radikales  Buch; 
die  Ausfuhrungsbestimmungen 

mildern    nachher  manches. 

Und  nun  bekommt  es  ein  glau- 
biger  Christ  fertig,  in  einer  Re- 
gimentsnummer  ein  Symbol  des 
dreieinigen  Gottes  zu  sehnl  Er 
schamt  sich  nicht!  Er  ftihlt  nicht 
die  Diskrepanz,  er  scheut  sich 
nicht,  diese  plumpe  Allegorie 
auszusprechen,  denn  es  ist  un- 
moglich,  daB  etwa  die  Frau  diese 
AuBerung  erfunden  oder  hinzu- 
gesetzt  hat.  Wenn  es  eine  Got- 
teslasterung    gibt:    dies   ist  eine. 

Kleine  Marginalie:  Karl  Muth 
hat  dem  lesenswerten  Buch  ein 
Nachwort   geschrieben. 

Der  Verlag  Fischer,  der  sich 
fur  Reinhold  Sorge  eingesetzt 
hat,  als  ihn  niemand  kannte, 
vermochte  dem  Dichter  auf  seinem 
weiteren  Wege  nicht  zu  folgen 
und  lehnte  eine  Dichtung  „Gunt- 
war"  ab.  Damals  war  Moritz  Hei- 
mann  noch  sein  Lektor.  Das  quit- 
tiert  nun  Muth  so; 

„Samuel  Fischer,  dem  das  den 
neuen  Weg  des  Dichters  of fen- 
barende  Werk  nicht  in  seine 
Richtung  paBte . ,  /'  Frau  Sorge 
schreibt  stets,  wie  wir  alle 
schreiben:  S.  Fischer.  Zu  einer 
blanken  antisemitischen  AuBe- 
rung  hat  Muths  Mut  nicht  ge- 
reicht, es  bleibt  bei  dieser  hami- 
schen  Anspielung,  Der  uble  Satz 
ist  des  schonen  Buches  nicht 
wUrdig;  Ignax  WrQbel 

Im  Schiller -Theater 

erregt  „Die  endlose  StraBe",  ein 
Stiick,  das  ohne  literarische  Zu- 
satze  und  Pointierungen  das 
Kriegserlebnis  des  Frontsoldaten 
sozusagen:  rein  gestaltet,  Nerven 
und  Gemiit  der  Zuhorer.  Leopold 
Lindtberg  hat  das  Frontstiick  (so 
nennen  es  die  Autoren  Sigmund 
Graff  und  Carl  Ernst  Hintze)  ein- 
drucksvoll  und  lebenswahr  in- 
szeniert,  im  Zusammenspiel  der 
vielen  Darsteller  wird  kein  fal- 
scher  Ton  laut,  die  Stimmung  auf 
der  Szene  stellt  sich  ein,  ohne  daB 
sie  gemacht  wiirde.       Jede  Figur 


hat  ihr  markantes  Gesicht,  und 
allc  mitsammcn  das  Gesicht  der 
Kriegs-Sklaverei,  die  den  ihr  Ver- 
fallenen  den  Willen  bricht,  sie  zu 
brechen.  Ja,  der  brave  Infanterist 
im  Spiel  kurzt  sogar  freiwillig 
seinen  Urlaub,  um  nur  rasch  wie- 
der  bei  der  Kompagnie  zu  sein, 
und  zwar  tut  er  das  nicht  aus 
ubermaBigem  Pflichtgefiihl,  aus 
kameradschaftlichen  Erwagungen 
oder  weil  es  ihn  fern  vom  Schufi 
nicht  halt,  sondern  aus  keinem 
andern  Motiv,  als  weil  er  sich  da- 
heim  nicht  mehr  zurechtfindet 
(also  ahnlich  wie  der  Gefangene, 
der  in  der  Freiheit  Heimweh  nach 
der  Zelle  hat),  obschon,  das  lehrt 
„Die  endlose  Strafie",  selbst  das 
labyrinthischste  Zuhause  dem 
klarsten  Schiitzengraben  noch  vor- 
zuziehen  sein  miiBte,  Das  Stuck 
zeigt  die  Aufgabe  des  Frontsol- 
daten:  zerrieben  zu  werden  von 
der  Maschine,  die  ihn  immer 
wieder  faCt,  bis  nichts  mehr  von 
ihm  .da  ist,  es  zeigt  verschiedene 
Methoden  und  Haltungen,  grobere 
oder  feinere,  wie  der  Frontsoldat 
sich  in  solche  Aufgabe  schickt, 
und  verschleiert  nicht  oder  nur 
sehr  dtinn  den  einzig  stichhalti- 
gen  brutalen  Urgrund,  warum  er 
so  tut;  namlich,  weiler  muB,  „Die 
endlose  Strafie"  hat  die  sonderbare 
Eigenschaf t,  sbwohl  bei  Kriegs- 
gegnern  wie  bei  Kriegsfreunden 
Zustimmung  zu  finden.  Bei  jenen 
wegen  der  Schreckbilder  korper- 
licher  und  geistiger  Not,  die  ent- 
rollt  werden,  bei  diesen  vermut- 
lich  wegen  des  heldischen  Zere- 
moniells,  nach  dem,  besonders 
vom  Leutnant  aufwarts,  geduldet 
und  gelitten  wird.  Jene  halten 
sich  an  die  abscheulicheii  Mittel 
des  Kriegs,  wie  das  Stiick  sie  un- 


verfalscht  aufzeigt,  diese  an  den 
Zweck,  der,  geisterhaft  uber  den 
blutigen  Wassern  schwebend,  die 
Mittel  heiligt,  und  an  den  in  der 
(,endlosen  StraBe"  kein  Zweifel 
ruhrt.  Auch  scheint  das  Drama 
beispielhaft  die  Meinung-  der 
Kriegsbejaher  zu  erharten,  der 
Krieg  mache  den  Mann  nicht  bose, 
sondern  gut.  Wie  vaterlich,  wenn 
auch  rauh,  sind  die  Unteroffiziere, 
wie  gtitevoll  und  herzlich  die 
Offiziere,  wie  wird  der  Schwache 
gestutzt,  der  in  Angst  Strau- 
chelnde  durch  Zuspruch  aufgerich- 
tet,  wie  wattiert  mit  Menschlich- 
keit  scheint  die  Kette  der  Diszi- 
plinl  „Die  endlose  StraBe",  die 
den  Krieg  (sagt  der  eine  Verfas- 
ser)  als  Erlebnis  ,,an  sich"  schil- 
dert,  pladiert  nicht  gegen  den 
Krieg,  obschon  sie  der  haBlichen 
Wahrheit  iiber  ihn  die  Ehre  gibt. 
Sie  zeigt  erschtitternd,  was  fur 
ein  rauhes  Handwerk  der  Krieg 
ist.  Aber  das  wird  seine  Propa- 
gandisten  nicht  von  der  Uberzeu- 
gung  abbringen,  daB  dieses  Hand- 
werk einen  sittlichen,  die  Kano- 
nenmacher  nicht  von  der  Uber- 
zeugung,  daB  es  einen  goldenen 
Baden  hat.  A/fr#rf  Polgaf 

Alimglichkeit  in  Moabit 

p^ie  Frau  ist  fiinfundvierzig 
*-*  Jahre  alt  und  tragt  einen 
Pelzmantel.  Neben  ihr  sitzt  ihr 
Sohn,  ihr  Ebenbild,  zwanzig  Jahre 
alt,  schon  und  verderbt.  Er  sieht 
aus  ,  wie  eine  blonde  Intellektuelle. 
Die  Frau  sagt,  sie  sei  arm. 
Warum  auch  nicht?  Der  Mann 
ist  Kaufmann,  langst  stellungslos 
ohne  Unterstiitzung.  Die  Frau 
hatte  nichts  gelefnt,  drei  Men- 
schen  waren  zu  ernahren.  Sie 
griindete  deshalb  ein  Bordell,  was 


Der  1.  Sammelband  von 
tr  itrt  TnmnT  CK  V  (peter  panter-theobaldtiger 

IVUtt 1    1  ULJ1UL,31V  I  fGNAZ  WROBEL .  KASPAR  HAUSER): 

MIT  5  PS 

25-Tauscnd  .  VerbilHgte  Preiser  Kartonlert  4.8O  >  Lcinenband  6.5O 

„  . . .  enthalt  eine  AuswaM  der  ungezahlten  Aufs&tze,  Krltiken,  A  n  griff e,  Satiren,  Paro- 
dien,  Bet racht unpen  und  kl einen  lyrlsdi-polemisdien  Gedlchte,  die  Wodtte  um  Wodie 
unerschdpfllch  aus  diesem  hellsten  Hlrn  und  frisdiesten  Herzen  dee  Jungen,  des  wlrklidi 
jungen  Deutschland  hervorspringen.*  (Berliner  B&rsen-Courier) 

ROWOHLT     VERLAG     BERLIN    W  50 

383 


man  in  Berlin  fein,  scheu  und 
schiichtern  „Massagesalon"  nennt. 

Sie  behandelte  die  Madchen 
gut.  Sie  bekamen  vierzig  Prozent 
der  Bruttoeinnahmen,  Die  Spe- 
sen  fiir  Reklame  und  Propaganda 
trug  sie  allein. 

Das  alles  ist  alt  wie  die  Mensch- 
heit.  Neu  aber  ist  die  Nuance, 
dafi  der  zwanzigjahrige  Sohn  ein 
zweites  Bordell  aufmachte  und 
^ebenbei  Geld  als  seltsamer  Fla- 
neur der  TauentzienstraBe  ver- 
diente. 

Sein  Warenlager  bestand  aus 
zwei  Madchen,  die  die  Mutter 
fur  ihn  durch  eine  Annonce  en- 
gagierte.  Sie  sind  sechzehn  Jahre 
alt.  ,fEs  war  sehr  nett,"  sagte  die 
Trude,  „wenn  ein  Herr  kam,  wur- 
den  wir  beide  vorgestellt.  Er  hat 
dann  eine  ausgewahlt.  Es  waren 
vier  Herren  im  Tag  durchschnitt- 
lich.  Perverse  Sachen  wurden 
nicht  verlangt.  Es  war  wohl  ein 
Kleiderschrank  in  der  Stube,  in 
dem  waren  die  Folterwerkzeuge. 
Aber  sie  wurden  nicht  benutzt. 
Wir  haben  ganz  schon  verdient. 
Jekocht  hat  der  Edmund/' 

„Wie  hats  denn  geschmeckt?" 
fragte  der  Richter.  „Och,  sehr 
gut  —  und  reichlich  wars  auch," 

Diese  beiden  von  Mutter  und 
Sohn  geleiteten  Betriebe,  in  dem 
es  die  Madchen  sehr  nett  fanden, 
waren  weitergegangen,  wie  alle 
diese  Betriebe  weitergehen,  wenn 
die  Madchen  nicht  aus  der  Fiir- 
sorge  entlaufen  gewesen  waren. 
So  wurden  sie  gesucht,  die  Polizei 
kam  auf  ihre  Spur,  sie  wurden 
abgeholt, 

Ein  sittsames  Fraulein  beglei- 
tete  sie  nun  zum  Gericht,  wo  sie 
Zeuginneh  sind,  wahrend  Mutter 
und  Sohn  wegen  Kuppelei  an- 
geklagt   waren. 

Aber  das  Gericht  konnte  es 
nicht  schwer  nehmen. 

Wir  haben  da  einen  Richter  in 
Moabit,  der  kann  solche  Sachen 
nicht  schwer  nehmen.  Er  gab  der 
Mutter  hundertachtzig  Mark 
Geldstrafe,  Edmund,  der  Ge- 
schaftsfuhrer  des  zweiten  Bor- 
dell s,  kam  mit  sechzig  Mark  da- 
von.  Dieser  Richter  hat  einmal 
gesagt;  „Irgendwo  mtissen  ja 
wohl  solche  Dinge  vor  sich  gehen." 
Gabriele   Ter&it 

384 


Spielklubs 

Pjie    Bestrebung,     durch     Zufall 

•^  materielle  Gewinne  zu  er- 
zielen,  ist  ein  uralter  Trieb  des 
Menschen;  dennoch  ist  der 
„Spieler"  geblieben,  was  er  war: 
ein  Aufienseiter,  ein  Abenteurer, 
Fitfur  btirgerlicher  Verachtung, 
ein  Mensch,  der  immer  mit  einem 
FuB    im    Gefangnis    steht. 

Aber  der  Glucksspieler,  der 
in  den  Spielklubs,  von  der  bur- 
gerlichen  Moral  als  MHdllen"  ge- 
kennzeichnet,  seine  Nachte  ver- 
brachte,  ist  seiner  romantischen 
AuBenseitererscheinung  verlustig 
gegangen.  Es  ist  nicht  mehr  so, 
daB  nur  wenige  Manner,  verwe- 
gene  Kerle,  denen  das  Leben 
nichts  ist  als  ein  unaufhorliches 
va  banque,  in  die  groBen  Mode- 
bader  fahren,  wo  die  konzessio- 
nierten  Spielplatze  stehen.  Das 
Glucksspiel  ist  zu  einer  Zeit- 
erscheinung  geworden,  die  Spiel- 
klubs zur  Selbstverstandlichkeit 
j  eder  grofieren  Stadt,  fast  exi- 
stieren  sie  mit  der  Haufigkeit 
von  Kinos.  Das  vereinzelte  Laster 
von  Abenteuern  ist  wie  eine  Epi- 
demie<in  die  Masse  geraten.  Die 
kleinen  Leute  fingen  zu  spielen 
an. 

Es  gibt  zwei  Arten  von  Spiel- 
klubs. Zunachst  .  die  konzessio- 
nierten.  Sie  sind  heute  keine 
richtigen  Spielklubs  mehr  son- 
dern  harmlose  Unterhaltungs- 
statten.  Fruher  wurden  diese 
Klubs  oft  zum  Schauplatz  poli- 
zeilicher  Razzien.  Solange  es 
die  Spieler  aushalten  konnten, 
wurde  nur  das  erlaubte  Ecart6 
gespielt,  immer  wieder  aber  ka- 
men  die  Ubertretungen,  die  Ex- 
zesse,  die  strafbaren  Hazard- 
spiele.  Sobald  die  Spieler  bei 
verbotenen  Spielen  erwischt  wur- 
den —  und  oft  fand  man  Ar- 
beitslose  in  den  Raumen,  die  ihre 
Unterstiitzungen  verloren  ' — 
wurde  der  Klub  sofort  geschlos- 
sen. 

Es  war  seltsam  mit  diesen 
Klubs,  grotesk.  Sie  waren  nicht 
totzukriegen,  Sie)  waren  wie 
Stehaufmannchen  aus  Gummi. 
Driickte  der  Finger  des  Gesetzes 
sie  nieder,  so  waren  sie  ausge- 
loscht,    sowie    er    sich    aber   wie- 


der  loste,  sprangen  sie  munter 
empor. 

Oft  uberraschte  Beobachter 
dieses  komische  Bild:  Plotzlich 
eines  Abends  sieht  man  den' Tor* 
eingang  eines  Geschaftshauses 
offen,  das  urn  diese  Zeit  immer 
geschlossen  war.  Ein  Transpa- 
rent leuchtet,  bunt,  lockend.  Auf 
dem  Hausflur  wiridet  sich  ein 
grellroter  Teppich,  der  ganz  un- 
motiviert  auf  irgendeiner  Trep- 
penstufe  aufhort,  als  sei  er  zur 
Verbilligung  abgeschnitten  wor- 
den.  Ein  Portier  stent  am  Tor 
und  ruft  die  Passanten  an  (ein 
Portier,  der  sicher  nie  ein  Por- 
tier war).  Seine  verwaschene 
Livree  verrat  die  Ausleihe  beim 
Trodler.  Da  es  keinen  Eintritt 
kostet,  geben  auBer  den  Spielern 
auch  Neugierige  hinauf.  Immer 
befinden  sich  die  Spielklubs  in 
Etagen,  in  zufallig  freien,  vor- 
laufig  nicht  zur  Vermietung  ge- 
langten  Geschaftsraumen,  Einige 
Wochen  geht  man  an  dem  neuen 
„Etablissement"  vorbei.  D&s 
Transparent  leuchtet,  der  Tep- 
pich nicht  minder,  der  Portier 
lockt  —  und  dann,  eines  Abends, 
ist  es  wieder  dunkel,  still.  Das 
Transparent  ist  erloschen,  Por- 
tier und  Teppich  sind  verschwun- 
den,  das  alte  eiserne  Gitter  ver- 
schlieBt  wieder  das  Tor.  Nicht 
lange  aber  dauert  es,  und  in  einer 
andern  Stadtgegend  taucht  alles 
wieder  auf:  Klub,  Portier,  Tep- 
pich und  Transparent.  Inter- 
mezzo, Der  Klub  wandert,  Mit 
neuen  Konzessionen  auf  andern 
Namen.  Das  Gluck  der  Glucks- 
hauser  ist  kurz,  die  Ausdauer 
der  Besitzer  ist  unbesiegbar. 

Die  Transparente  der  ge- 
schlossenen  Spielklubs  bleiben 
zur  tick .  Sie  werden  gaV  nicht 
abmontiert,  obwohl  der  Klub  auf- 
gelost  ist.  Beispiel  eines  frechen 
Optimismus.  Die  Klubgrunder 
wissen:  nur  die  Zeit  mufi  ver- 
gehen,    einige   Monate,    gar    nicht 


so  lang,  dann  Ziehen  sie  in  den 
Raum  wieder  ein,  wenn  er  noch 
immer  nicht  vermietet  ist.  So 
sparen  sie  eine  uberflussige  Ar- 
beit. 

Nun  hat  sich  in  letzter  Zeit  die 
Situation  der  Spielklubs  stark 
geandert.  Auch  das  Ecartespiel 
wurde  verboten,  uberhaupt  jedes 
Kartenspiel.  Die  Klubs  haben 
jetzt  kleine  rouletteartige  Spiele, 
wo  die  Kugeln  schon  bei  zwei 
Groschen  Einsatz  rollen.  Die 
durch  die  geringen  Einsatze  ent- 
standene  Verringerung  der  Ge- 
winnchance  erzeugte  einen  Ruck- 
gang  des  Besuchs.  Immer  weni- 
ger  Leute  kommen,  die  Klubs 
werden  langweilig.  Die  Einrich- 
tung  ist  primitiv,  denn  der  Klub 
weiB,  daB  er  in  keinem  Raum 
alt  wird.  So  ist  fur  den  Zu- 
schauer,  der  nicht  spielen  will, 
der  Reiz  gering.  Wenige  Stiihle 
sind  da,  auf  kleinen  Tischen 
stehen  Wasserkaraffen,  Alkohol 
wird  nicht  ausgeschankt,  zwei 
Lasterri  soil  nicht  zu  gleicher  Zeit 
gefront  werden.  Es  ist  harmlos 
geworden,  zum  Gahnen;  und 
wenn  heute  wieder  einmal  ein 
konzessionierter  Klub  geschlos- 
sen  wird,  so  hat  das  nicht  die 
Polizei  sondern  der  Hausbesit- 
zer  verursacht  —  der  Klub  hat 
keine  Miete  bezahlen  konnen. 

Um  so  mehr  haben  sich  die  an- 
dern Klubs  vermehrt,  die  heim- 
lichen,  unerlaubten,  die  wahren 
Quellen  familiaren  Unglucks.  Sie 
bltihen,  in  Hinterzimmern  von 
kleinen  Kaschemmen,  von  Wir- 
ten  und  Spitzeln  behutet.  Hier 
ziert  man  sich  nicht,  hier  wird 
nichts  vorgetauscht,  hier  wird 
noch  Geld  verspielt,  eignes  und 
gestohlenes.  Jedes  Spiel  unter 
17  :  4  ist  hier  lacherlich  und  kin- 
disch,  die  beruchtigten  „Tanten" 
wandern  von  Hand  zu  Hand. 
Raffiniert  verborgene  Winkel,  de- 
ren  Entdeckung  und  Zerstorung 
oft    lange    dauert.       Die     Armut 


Es  ist  kein  Wunder,  dafi  die  Enkel  „gottlosB  werden,  obgleich  die  Grofi- 
v&ter  wenigstens  noch  blofie  Zweifler  waren.  Warum  das  so  ist,  sagen 
Ihnen  die  Bilcher  von  Bd  Yin  Ra,  J.  Schneiderfranken,  deren  Kenntnis 
unabweisbar  nStig  ist,  wenn  man  sich  in  der  Frage  um.Gott  gesichert 
entscheiden  will.  Verlangen  Sie  die  Bilcher  in  einer  guten  Buchhandlung  oder 
beim  Verlag :  Kober'sche  Verlagsbucbhandlung  (gegr.  1816),  Basel-Leipzig. 


385 


und  die  wie  Hochwasser  steigende 
Not  der  Menschen  sind  esf  die 
sic  j  enen  Platzen  zutrciben,  wo 
sie  glauben,  ihr  bifichen  Geld  ver- 
mehren  zu  konnen;  ein  Zufall,  der 
nur  die  wenigsten  trifft.  Auch  hier 
spielen  Arbeitslose,  und  durch  sie 
werdeu  die  meisten  Klubs  gefafit. 
Die  Frauen,  die  vergeblich  auf 
das  Unterstiitzungsgeld  warten, 
forschen  ihren  Mannern  nach,  wo 
diese  das  Geld  verspielen,  zeigen 
die  Klubs  an,  und  so  werden  sie 
geschlossen,  Aber  es  konnen  nicht 
so  viele  geschlossen  werden  wie 
gegrtindet  werden,  Taglich  liest 
man  in  den  Zeitungen  von  ausge- 
hobenen  Spielklubs,  und  in  der 
nachsten  Nacht  setzen  sich  an- 
derswo  wieder  neue  zusammen, 
Hermann   Linden 

Strafen?  Ffirsorgeerziehung? 

P\ie  frankfurter  Polizei  hat 
t9***  einen  Schuler-Geheimbund 
auf  ge  deck  t,  der  eine  zeitlang  im 
Stadtteil  Sachsenhausen  Fahrrad- 
diebstahle  begangen  hat.  Die  An- 
gelegenheit  kam  dadurch  heraus, 
dafi  ein  jugendlicher  Fahrrad- 
dieb  beim  Stehlen  erwischt  und 
verfolgt  wurde.  Bei  der  durch 
die  Polizei  vorgenommenen  Haus- 
suchung  f and  man  dann  viele 
Fahrradteile.  Die  Ermittlungen 
fuhrten  schlieBlich  zur  Feststel- 
lung,  dafi  acht  vierzehnjahrige 
Schiiler  sich  zu  einem  Geheim- 
bund  zusammengeschlossen  hat- 
ten  und  fortgesetzt  Diebstahle 
begingen.  Zur        Unkenntlich- 

machung  der  gestohlenen  Fahr- 
rader  haben  die  jugendlichen 
Burschen  samtliche  Fahrzeuge 
ummontiert.  Die  Polizei  nimmt 
an,  dafi  die  Schiller  nicht  aus  ver- 
brecherischer  Neigung,  sondern 
eher  aus  romantischem  Geltungs- 
bediirfnis   gehandelt  haben/' 


Warum? 

f,Wie  sich  aus  den  Vernehmun- 
gen  der  Beschuldigten,  die  samt- 
lich  aus  guten  Familien  stammen, 
ergab,  sollte  der  Geheimbund  spa- 
ter  in  einen  Radf ahrerverein  urn- 
gewandelt  werden." 

Keine  Strafen.  Kerne  Ffirsorge- 
erziehung.   Gute  Familien. 

Bildung 

LJ  eiligkeit  war  ein  der  Seele  im- 
**  manenter  Zustand  des  ganzen 
Menschen,  der  aber  sein  Leben 
und  seine  stets-werdende  Inner- 
lichkeit  aus  der  bewufiten  Be- 
ziehungsverknupfung  im  transzen- 
denten  personalen  „G6ttlichen" 
schopfte;  ein  stets-fliefiendes  Er- 
lebnis-Sein  ohne  zerflieflendes 
Leistungsverl  eben,  Es  war  ein 
transzendent-Gottliches,  das  auf 
dem  individuellen  Boden  der  Ein- 
zelseele,  die  hineingestellt  war  in 
Zeit  und  Raum,  dem  individuellen 
Menschen  durch  seinen  seinshaf- 
ten  Einbruch  in  das  Nur-Ichhafte 
als  das  personale  Du,  als  das  ein- 
zig-erfullende  und  ausfullende 
und  deshalb  echt-liebende  Ganz- 
Du  zum  BewuBtsein  kam.  Und 
die  Antwort  des  Seelenich,  das 
von  diesem  Du  einmal  erfafit  war, 
muBte  diesem  Du  gegenuber  eine 
das  ganze  Menschsein  durchglu- 
tende  Liebe  sein.  Die  Beziehung 
zwischen  gottlichem  Aufruf  und 
dem  freudigen  Ja  der  ganz-lieben- 
den  Seele,  zwischen  gottlichem 
AufwartsreiBen  und  demutigem 
Hingerissenwerden,  zwischen  ewi- 
ger  Liebesbestimmung  und  zeit- 
licher  seinshafter  Liebesbestimmt- 
heit  im  Ausdruck  der  ganzen  Le- 
bensanlage  und  Lebensentfaltung, 
zwischen  gottlicher  Liebesgewalt 
und  menschlicher  Ohnmacht,  zwi- 
schen gottlichem  Gesetz  und 
menschlicher    Einordnung    in    die 


DAS  PRIVATLEBEN 

DER  SCHONEN  HELENA 

Roman  von  JOHN  ERSKINE,  erscheint  als  VOLKSAUSGABE 

Helena  vertritt  die  Frau  von  Troja  bis  heute,  hinraiBend   und  gefahrlich  In  SchOn- 
heit,  Intuition  und  Oberzeugungekraft.  Der  Lebensphilosoph  Erskine 
glbt  in  dem  heiteren  Rah  men  dieses  Buches   seine  Anslcht  Uber 
Llebe  und  Ehe,  Konvention  und  Sitte  wieder. 

TRANSMARE  VERLAG  A»GM  BERLIN  W  10 

386 


Leinen 

3.35  RM 


Hierarchie  des  geistigen  Lebens- 
gesetzes,  diese  vielgestaltige  Be- 
ziehung  ist  das  Ausdrucks- 
phanomcn,  das  das  Yerhaltnis  an- 
deutet,  das  der  religiose  Mensch 
in  seiner  Erfullung  als  Aufgabe 
des  Heiligen  sieht.  Und  nur  von 
dicser  erlebnis-fundierten,  einzel- 
und  gerade  deshalb  ganzmensch- 
lichen  metaphysischen  Situation 
aus  ist  das  Leben  des  Heiligen  zu 
erklaren  und  zu  interpretieren. 
Neue  Zuricher  Zeitung 

Immer  legal 
Og.,  schtitze  dein  Leben! 
1     Der  Schiager  1932 
Waffenscheinfreie 
schiefiende  Bleistifte 
fur  Gas-   und  Schreckschufi. 
* 

Hande   hoch! 
Prakt.  Scherz 
Zigarettenetui  in 
Browningform. 

iVotki&cher    Beobachter 

Llebe  Weltbuhne! 

V  wei  kehren  geheilt  aus  dem  Sa- 
"  natorium  heim,  ein  Herr  und 
eine  Dame.  Im  Omnibus  kamen 
sie  ins  Gesprach. 

Er  erzahlte,  man  hatte  ihm  die 
Mandeln  entfernt, 

(,Dann",  sagte  die  Tschechin, 
„is  der  Herr  in  derselben  un- 
glicklichen  Lage  wie  ich.  Mir 
ham  s1  mei  Geburweibel  genom- 
men."  Roda  Roda 


Mond  und  Maschinen 

Eine  Leichenhalle  gahnt 
Von  glanzsilbernen  Kolben  trint 
Stumpfes  Ol.    Tropfen  um  Tropfen. 
Wer  kann  die  Lucke  im  rasenden  Geschehen 
uns  stopfen? 

Wer  ktttet  den  Rifi?  .  .  . 
Maschinen  mussen  gehen, 
Stampfen,  schreienl    BUnken  mufi  ihr  Gebifll 

Durch  trube  Scheiben 
Schimmert  Mond. 

Seine  Spinnwebstrahlen  wollen  am  Stahl  hangen 
Ibleiben  — 
Das  armselige  Ltcht  thront 
Auf  den  faulenden,  eisernen  Eingeweiden. 

Da  knarrts  an  der  Deckel 

Da  i ch arris  in  der  Eckel) 

Aus  der  Holle  kommen  in  weiten, 

Faltigen  Gewandern  die  Fluche: 

Dumpfe,  in  die  Maschinen  geprefite  Fluche. 

Zu  tanzen  beginnen  Maschinen, 

Um  die  grauen  Fluche,  die  immer  unterdruckten. 

Einen  rasenden,  wilden,  verzuckten 

Triumphtanzl    Und  hobles  Grienen 

Spiegeln  die  Uchter 

Auf  das  MetaU  der  Maschinengesichter. 

Unbewuflt 

Packt  die  Lust 

Alles  in  dem  toten  Saale, 

Und  im  Gtanz 

Gieflt  der  Tanz 

Seines  Hohnes  voile  Schale 

Auf  der  Fluche  dustre  Mienen. 

Tierische  Maschinen. 

Doch  des  Mondes  weifie .  Strahlen 

Blassen.    Dunkel  breitet  samtoes  Tuch 

Um  die  Rader,  Riemen ;  und  nur  an  den  kahlen 

Wanden  huscht  noch  ein  Schattenbesuch. 

Ruhe  wird      Die  Leichenhalle  gahnt. 

Von  einem  starrenden  Kolben  trant 

Stumpfes  OL 

Meldiior  Douglas 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Deutsche  Li 2 a  far  Memchenrechte.  Montag  20.30.  Reichswirtscbaftsrat,  Belle  vue»tr.  15: 
Der  Bauer  und  der  Staat.  Es  iprechen:  Fritz  Baade,  Hans  Eder,  W.Scheuermann. 
Georg  Schulz. 

Individualpsychologische  Gruppe.  Montag  (14.)  20.00.  Klubhaus  am  Knie,  Berliner  Str.27: 
Aus  der  Praxis  einer  psychotherapeatischen  Kinderpoliklinik. 

Bucher 

Ferdinand  Bruckner:  Timon.    S.  Fischer,  Berlin. 

Joseph  Hergesheimer :  Bergblut.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Emil  Ludwig:  Schliemann.    Paul  Zsolnay,  Wien. 

Hans  Marchwitza:  Vor  Verdun  verlor  ich  Gott.     Verlag  fQr  Arbelterkultur,  Berlin. 

Victor  Margueritte :  Aristide  Briand.    S.  Fischer,  Berlin. 

Joachim  Ringelnatz:  Gedichte  dreier  Jahre.    Ernst  Rowohlt.  Berlin. 

Jakob  Wassermann:  Lukardis.    S-  Fischer,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  K6nlgswusterhausen  19.25:  Abkehr  von  der  GoldwShrung  ?  August  Muller 
und  Felix  Pinner.  —  Berlin  21.15:  Querschnitt  durch  die  Burgschaft  von  Kurt 
Weill.  —  Mittwoch.  Berlin  15.20:  Das  Asylrecht.  Kurt  GroBm*mn.  —  Muhlacker  19.05: 
Boulangers  Gluck  und  Ende,  Hermann  Wendel.  —  20.30:  Die  letzte  Nacht  des  Johann 
Heinrich  Merck,  Horsplel  von  Willy  Haas.  —  Donnerstag.  Berlin  19.30  :Goethes  Faust,— 
Munchen  21.00:  Kleine  Anzelgen,  Horfolge  von  Anton  Schaack.  —  Freltag.  Berlin 
16.40:  Albert  Daudistel  Hest.  -  KSnigsberg  20.00:  Der  eingebildete  Kranke  von 
Moliere.  —  Leipzig  21.10:  Frankfurt.  Das  Gesicht  einer  Stadt  von  Alfons  Paquet.  — 
Soon  a  bend.  Breslau  19.00:  Film  im  Funk  1931,  Pern  und  Hans  Tasiemka.  —  Konigs- 
berg  20.00:  Von  der  Utopie  zur  Technik,  Waldemar  Baumgarten  und  Ernst  W.  FreiBler. 

387 


Antworten 


Dttsseldorfer.  Sie  schreiben:  ,,AIs  Hitler  neulich  bei  uns  vor  einem 
Parkett  von  Industriellen  sein  Wirtschaftsprogramm  entwickelte,  eine 
Veranstaltung,  der  ubrigens  nicht  weniger  als  dreifiig  deutsche  Staats- 
burger  judischen  Glaubens  beiwohnten,  nahm  nachher  Fritz  Thyssen 
das  Wort,  urn  sich  als  Geschichtsphilosoph  zu  produzieren.  Fritz 
Thyssen  stellte  fest,  die  deutsche  Geschichte  weise  ,drei  Momente* 
auf,  namlich  1,  Konradins  Hinrichtung,  2,  den  Freiherrn  vom  Stein, 
3.  Adolf  Hitler.  Was  halten  Sie  davon?"  Wir  erklaren  tins  fur 
unzustandig.  Wir  sind  keine  Fachleute  fur  Mystik  wie  der  Geschafts- 
mann  Thyssen.  Hitler  ist  kein  lichter  Moment  der  Geschichte,  und 
bei  Fritz  Thyssen  werden  sie  auch  immer  seltener,  Fragen  Sie 
Spengler. 

Walter  Mehring.  Sie  senden  uns  als  Beitrag  eine  tlParodie  auf 
ein  volkisches  Feuilleton":  „Das  Judentum  in  der  Gesangskunst.  Mit 
ernstlicher  Besorgnis  wird  der  an  der  Oper  interessierte  Deutsche 
feststellen,  daB  mehr  und  mehr  judische  Sanger  und  Sangerinnen  .auf 
der  Buhne  erscheinen,  selbst  an  Theatern,  in  welchen  die  obersten 
Ftihrer  durchaus  deutsch  gesinnt  sind.  Wie  ist  das  moglich  ?  Die 
erste  Erwiderung  pflegt  zu  sein:  ,£s  kommt  bei  alien  Gesangswerken 
vornehmlich  auf  die  schone  Stimme  an  I'  Die  Behauptung  ist  grund- 
falsch,  Selbst  im  Konzertsaal  ist  es  nicht  angenehm,  wenn  man,  bei 
noch  so  wohlklingender,  gut  g'epflegter  Stimme,  den  ganzen  Abend 
den  Vertreter  einer  fremden  Rasse  vor  sich  sieht,  ganz  abgesehen 
davon,  daC  ein  Mensch,  dem  deutsches  Blut  nicht  in  den  Adern 
kreist,  niemals  die  Fahigkeit  besitzen  kann,  sich  mit  der  durchaus 
er  for  4er  lichen  Tiefe  in  ein  Kunstwerk  zu  versenken,  das  aus  deut- 
schem  Gemiite  geboren  ist . . ,  Und  jetzt  sehe  man  sich  einmal  die 
Gestalten  der  judischen  Sanger  und  Sangerinnen  .  an,  die  uns  eine 
Sieglinde,  Brunhilde,  Minneleide,  Grafin  Siegmund,  Siegnot,  Hein- 
rich,  Max  etcetera  auf  die  meistens  recht  krummen  Beine  stellen. 
Wenn  man  ihre  Gesichter  ansieht,  klappt  man  unwillkurlich  die 
Augen  zu...  Der  judische  Sanger  hat  Zukunft,  vor  allem  Profit. 
Der  deutsche  Sanger  dagegen,  wenn  er  unter  tausend  Entbehrungen 
auf  dornenvollem  Pfad  in  standigem  Kampf  gegen  die  judische  Uber- 
heblichkeit . . .  das  Ziel  der  Vollendung  erreicht  hat,  . . .  wird  bewufit 
unterdruckt,  wenn  er  sich  nicht  von  Anfang  an  unterwiirfig  der  judi- 
schen Oberherrschaft  beugt."  Wir  sind  aber  sehr  bald  hinter  Ihren 
Dreh  gekommen.  Ihre  angebliche  Parodie  ist  wortgetreu  ein  Origi- 
nal aus  dem  ,Volkischen  Beobachter*  vom  26.  Februar.  So  gut  k6n- 
nen  Sie  es   doch  nicht  I 

Leser  in  Essen  a.  d.  Ruhr.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Herrn 
Rudi  Josephs,  KaupenstraBe  6,  der  regelmafiige  Zusammenkiinfte  der 
Weltbuhnenleser  von  Essen  in  die  Wege  leiten  will. 

Dieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fur  die  Abonnenten  bei,  auf 
der  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fur  das  II.  Vierteljahr  1932 

einzuzahlen,  da  am  10.  April   1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt   und   unnotige   Kosten  verursacht. 

Manoakripte  sind  nor  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Chartottenbury,  Kantstr.  162,  zu 
ricfaUn;  es  wird  gebeten,  ihaen  Rudcporto  beizulegen,  da  somt  keine  Rucksendun;  erfolgen  kann. 
Daa  Aaff ubjrunff  srecht,  die  Verwertuny  Ton  Tlteln  u.  Text  im  Rahmen  dea  Films,  die  musik- 
■ucbanisclie  Wiederjrabe  alter  Art  und  die  Verwertuag  im  Rahmen  von  Radiovortrlgan 
bleiben  fttr  all*  in  der  Waltbtlhno  eracheinenden  BeitrSge  ausdruckUch  vorbehalten. 

Die  Weltbubne  wurde  bejrrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Oasietzky 
Water  Mitwirkuu;  von   Kurt  Tucholsky  geleitet  —  Verantwortlich:   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephoa:  C  1,  Steioplatz  7757.  —  Postschedtkontol  Berlin  11958. 
BankkonU:    Darastadter   u.    Nationalbank.      Dcpoaitenkasse    Cbarlottenburg*    Kantstr.   112. 


XXVI11.  Jahrgang  15.  Mar z  1932  Nammer  It 


Wer  hat  geSiegt?  von  Carl  v.  Ossietzky 

r\cr  Ausgang  der  Prasidentenwahl  wird  von  den  beteiligten 
*^  Parteien  schr  verschieden  ausgelegt  werden.  In  der  Tat  hat 
cr  nur  einen  Sinn:  die  iiberwaltigende  Mehrheit  des  deutschen 
Volkes  hat  dem  Fascismus  eine  Absage  erteiltl  Gewifi  ist  der 
Stimmenzuwachs,  iiber  den  Hitler  quittieren  kann,  nicht  un- 
erheblich,  und  er  wird  bei  den  bevorstehenden  PreuBenwahlen 
schwer  ins  Gewicht  fallen..  Aber  das,  worauf  es  dem  Fascis- 
mus ankam,  die  ganze  Macht  mit  einem  brutalen  Griff  zu  er- 
obern,  das  ist  vorbeigelungen.  Der  antikapitalistisch  aufge- 
zogene  Betriebsanwalt  der  Schwerindustrie,  der  rotgestempelte 
Klopffechter  der  weiBen  Reaktion  schlieBt  seine  legale  Periode 
einstweilen  mit  hohem  Defizit  ab.  Adolf  Bonaparte  muB  wei- 
ter  auf  s einen  18.  Brumaire  warten. 

Arger  noch  ist  die  Schlappe  Hugenbergs,  Es  ist  im  Augen- 
blick  noch  nicht  zu  iibersehen,  ob  noch  ein  zweiter  Wahlgang, 
erforderlich  werden  wird.  Aber  sicher  ist,  daB  Duesterbergs 
zweieinhalb  Millionen  die  letzte  Entscheidung  nicht  mehr  be- 
einflussen  konnen.  Damit  lost  sich  die  Kalkulation  Hugen- 
bergs ins  Nichts  auf. 

Hitler  hat  noch  am  Tage  vor  der  Wahl  in  einem  Interview 
erklart,  er  wiirde  ebensoviel  Stimmen  erhalten  wie  Hindenburg. 
Er  hat  sich  groblichst  getauscht.  Nicht  die  Tatsache  des 
Unterliegens  allein  bedeutet  die  Gefahr  fur  ihn  sondern  die 
Lange  der  Strecke,  urn  die  er  zuruckblieb.  Und  in  hoherm 
MaBe  noch  seine  groBmaulige  Agitation,  die  alles  auf  eine 
Karte  setzte.  Es  wird  diesmal  um  Sein  oder  Nichtsein  ge- 
j  rief  der  berliner  Tribun  pathetisch  aus.  Kein  Partei- 
fiihrer  von  gesundem  Menschenverstand  wird  sich  so  weit  ver- 
gessen,  die  mogliche  Niederlage  dem  endgultigen  Ruin  gleich- 
zusetzen.  Es  ist  behauptet  worden,  Hitler  selbst  sei  gegen 
die  eigne  Kandidatur  gewesen  und  nur  durch  seine  ehrgeizigen 
Abteilungschefs  vor  die  vollendete  Tatsache  gestellt  worden.  Em 
seltsamer  Fiihrer,  der  sich  von  den  Herren  Unterfiihrern  ans 
-*,itseil  nehmen  laBt.    Soweit  die  Geschlagenen. 

Und  nun  die  Sieger.  Da  erhebt  sich  die  Frage,  wer  denn 
eitfentlich  gesiegt  hat.  Ein  bunter  Heerhaufen  von  Westarp 
j  ist  fiir  Hindenburg  ins  Feld  gertickt.  Diese  Kandi- 
datur beruhte  einzig  auf  dem  personlichen  Vertrauen  zu  Hin- 
denburg. Sie  hatte  sonst  kein  politisches  Profil.  Sie  war 
nicht  an  Forderungen  gekntipft,  nicht  von  Garantien  abhangig. 
Die  Propaganda  war  so,  als  bemiihte  man  sich,  dem  Herrn 
Reichsprasidenten  zu  verbergen,  daB  er  diesmal  der  Mann  der 
Sozis  sei. 

Und  doch  ware  diese  Hindenburgschlacht  ohne  das 
schwere  FuBvolk  der  Sozialdemokratie,  ohne  das  Pionierkorps 
der  Gewerkschaften  von  vornjierein  verloren  gewesen.  Der 
kaiserliche  Marschall,    der  sich  einmal    zur-  DolchstoBlegende 

1  389 


bekannt  hat,  ist  von  den  nNovemberverbrechern"  gerettet 
wordctiv  Auch  diesmal  ist,  wie  in  alien  innern  politischen 
Schlachten  seit  1918,  der  unbekannte  Soldat  der  Soziaidemo- 
kratie  der  wirkliche  Held  gewesen.  Die  Sozialdemokratie  hat  mit 
einem  heroischen  Krafteinsatz  die  Reste  der  biirgerlichen  De- 
mokratie  vor  der  letzten  Demolierung  bewahrt,  Wer  von  den 
feinen  Herren  der  Hindehburg-Komitees  hat  sich  jemals  auch 
nur  zufailig  dort  auigehalten,  wo  es  gait,  die  Republik  zu  ver- 
teidigen?  Unbekarinter  Soldat  der  Sozialdemokratie,  geduldig- 
£ter  ailer  Kampfer,  wenn  du  doch  einmal  erlegen  sein  wirst  — 
keiner  der  gebugelten  Treviranen  wird  vor  deinem  Ehrengrab 
achttmgsvoll  den  Zylinder  liiften,  denn  du  wirst  niemals  eines 
erhaltenv  Der  Reichskanzler  selbst  hat  sich  im  Parlament  ge- 
riihmt,  gegen  die  Revolution  gestanden  zu  haben,  und  Minister 
Greener  hat  seine  Verbiindeten  von  der  Eisernen  Front  leicht- 
herzig  mit  den  Messermannern  von  Boxheim  verglichen. 

Die  Sozialdemokratie  hat  ihre  Schuldigkeit  getan.  Jetzt  wird 
man  sie  nicht  mehr  bemiihen.  Die  sozialistischen  Arbeiter,  die 
sich  eingebildet  haben,  fiir  das  Gesetz,  fur  die  republikanische 
Verfassung  zti  stimmen,  haben  in  Wahrheit  fiir  die  Notverord- 
jnungen  und  fiir  Herrn  Groener  gestimmt.  Der  Triumph  Hin- 
denburgs  wird  in  der  Praxis  zur  Bestatigung  des  gegenwartigen 
Reichskabinetts  und  seiner  Politik  werden, 

Wenn  die  sozialdemokratische  Fiihrerschaft  schon  zur 
Parole  fiir  Hindenburg  entschlossen  war,  so  hatte  sie  es  nicht 
ohne  feste  Zusicherurigen  tun  diirfen.  Politik  kennt  keine  Dank- 
barkeit  ,,Wir  verlangen  Ware  fiir  unser  Geld/'  Diese  For- 
mulierung  des  Herrn  Goebbels  klingt  nicht  ganz  christlich, 
aber  sie  ist  leider  richtig.  Die  Sozialdemokratie  hat  demuts- 
voll  Leib;  und  Seele  in  ein  sehr  irdisches  Geschaft  gesteckt 
und  ihm  damit  einen  wahrhaft  sakralen  Charakter  verliehen. 
Sie  hat  dem  Kaiser  gegeben,  was  Gottes  ist. 

.  Hitler  ist  geschlagen,  und  dennoch  diirfte  diese  Niederlage 
.nicht  zur  Katastrophe  ausarten.  Bruning,  der  so  oft  seine 
Bereitwilligkeit  versichert  hat,  Hitler  in  die  Regierung  aufzu- 
riehmen,  wird  dafiir  sorgen,  daB  der  Nationalsozialismus  nur 
gedampft,  nicht  zerschmettert  wird.  Wenn  Hitler  ein  geord- 
rieter  Riickzug  gelingt,  bleibt  er  noch  immer  eine  ansehnliche 
Macht,  mit  der  es  sich  zu  paktieren  lohnt,  deren  Feind- 
schaft  gefahflich  werden  kann.  Ein  Prinzip  ist  ab- 
gelehnt  worden,  der  Fascismus.  Aber  welches  hat  denn  nun  ge- 
siegt?  DaB  diese  Frage  nicht  beantwortet  werden  kann,  daB 
niemand  auf  der  Linken  daran  denkt,  sie  iiberhaupt  zu  stellen, 
bezeugt  am  best  en,  daB  sich  nicht  s  an  jener  Atmosphare  ge- 
andert  hat,  in  der  das  Hitlertum  so  uppig  gedeihen  konnte, 

Noch  immer  hat  sich  bisher  jeder  Sieg  der  Republik 
schlieBlich  ins  Gegenteil  verkehrt.  Das  wird  auch  diesmal  nicht 
anders  kommen.  Der  geschlagene  Hitler  ist  den  reaktionaren 
Exzellenzen  der  Hindenburgfront  lieber  als  die  eignen  sieg- 
reichen  Soldaten, 

Wie  lange   noch,    Catilina?   donnerte   Cicero. 

Noch  sehr  lange,  Cicero!  fliisterte  Catilina. 

390 


Bflaild  von  Hellm.ut.v.  Gerlach 

Am  10.  September  1926  stand  ich  auf  der  Galerie  der  Salle 
"*  de  Reformation  in  Genf,  urn  der  Aufnahme  Deutscblatids 
in  den  Volkerbund  beizuwohnen,  Stresemann  entwickelte  auf 
dem  Rednerpodium  den  Gedanken,  daB  sich  Nation  un^l 
Menschheit  nicht  nur  auf  geistigem  Gebiet  sondern  auch  im 
politischen  Streben  zu  verbindeh  hatten,  um  der  Menschheit 
Hochstleistungen  zu  schenken. 

Briand  saB  vor  Stresemann,  den  Kopf  vorgebeugt,  den 
Riicken  leicht  gekrummt,  unbeweglich,  ohne  eine  Notiz  zu 
machen. 

AIs  sich  der  Beifall  nach  Stresemanns  Rede  gelegt  hatte, 
schritt  Briand  langsam  auf  das  Podium- und  improvisierte  eine 
Rede,  die  nie  vergessen  wird,  wer  sie  gehort  hat,    Sie  schloB; 

„Dieser  Tag,  der  im  Zeichen  des  Friedens  zwischen  JJeutschland 
und  Frankreich  stent,  bedeutet:  daB  die  ungliickseligen  und  blutigen 
ZusammenstoBe,  die  jede  Geschichtsseite  der  Vergangenheit  beflecken, 
zu  Ende  sind;  daB  der  Krieg  zwischen  uns  aufgehort  hat;  daB  es  in 
Zukunft  keine  Trauerschleier,  keinen  Krieg,  keine  gewaltsamen und 
blutigen  Losungen  mehr  geben  wird,  um  die  Differenzen  zwischen  uns, 
die  sich  natiirlich  nicht  aus  der  Welt  schaffen  lassen,  zu  regeln.  Von 
nun  an  hat  der  Richter  Recht  zu  sprechen.  Fort  mit  den  Gewehren, 
Maschinengewehren  und  Kanonenl  Platz  der  Verstandigung,  der 
Schiedsgerichtsbarkeit,  dem  Friederil" 

Eine  Sekunde  schwieg  der  bis  auf  den  letzten  Stehf>latz 
gefullte  Saal,  benommen,  ergriffen,  erschiittert.  Dana  aber 
bfacli  ein  Jubel  los,  wie  Him  die  nuchtern-ehrwurdige:  Salle  de 
Reformation  noch  nicht  erlebt  hat 

Der  deutsche  Zeitgenosse  muBte  an  die  Worte  dehken., 
die  Goethe  nach  der  Kanonade  von  Valmy  an  seine  Begleiter 
richtete,  nachdem  er  die  Oberlegenheit  der  dernpkratischen 
Heere  der  franzosischen  Revolution  iiber  die  HeeTe  d«s  deut- 
schen  Fiirstenabsolutismus  gesehen  hatte; 

„Hier  beginnt  eine  neue  Epoche  der  Geschichte,  und  Sie,  meine 
Herren,  konnen  sagen,  daB  Sie  dabei  gewesen  sind," 

Der  10.  September  1926  war  der  groBte  Tag  im  Leberi  des 
Staatsmannes  Briand, 

Oder  sollte  ihm,  der  nicht  bloB  Staatsmann  soadern  auch 
ein  durch  und  durch  gutiger  und  empfindender  Merisch  war,  fein 
andrer  Tag  doch  noch  groBer  erschienen  sein?  Namlich  jener 
Tag,  als  er  die  Abordnung  einer  internationalen  OfganisatioTi 
von  Kriegsbeschadigten  empfing?  Unter  diesen  Kriggsopfern 
war  ein  junger  Oesterreicher,  der  von  seiner  Frau  gefiihrt 
wurde,  blind,  ohne  Arme,  mit  schleppendem  Bein.  Der  kam 
auf  Briand  los  und  sagte  ihm  mit  zitternder  Stimme; 

„Herr  Briand,  lassen  Sie  sich  von  Ihrem  Werk  nicht  abhalten. 
Wir  sind  auf  der  Welt  funf  Millionen  Kriippel,  In  ihrem  Namen 
komme  ich  zu  Ihnen,  ich,  der  Blinde  ohne  Arme,  ich,  ein  niensch- 
licher  Scherben,  der  das  Recht  zum  Reden  hat,  um  Ihneri  zu  sagen; 
Setzen  Sie  Ihr  Werk  fort!  Setzen  Sie  es  fort!  Unsre  Herzen-  sind 
mit  Ihnen," 

Solche  Worte  aus  solchem  Munde  gaben  Briand  die  Ge- 
wiBheit,   daB  er  mit  seinem  „Guerre  a   la  guerre!'*   der  Voll- 

391 


strecker  des  Sehnens  der  Menschhcit  sei.  Sie  gaben  ihm  die 
Kraft,  durch  die  Niederungen  der  Tagespolitik  unbefleckt  und 
unbekiimmert  hindurchzuschreitenf  ohne  je  sein  femes,  hohes 
Ziel  aus  dem  Auge  zu  verlieren. 

Dieser  Skeptiker  von  Grund  aus  war  namlich  ein  Glaubi- 
ger  geworden.  Das  sinnlose  Gemetzel  von  Verdun  hatte  ihm 
die  Augen  geoffnet.  Von  da  an  wuBte  er,  was  er  zu  tun  hatte. 
Und  er  glaubte,  auch  seinen  Mitmenschen  die  Augen  offnen  zu 
konnen.  Weil  er  namlich  an  die  Vernunft  der  Menschheit 
glaubte,  die  zwar  zu  Zeiten  verdiistert  werden  konnte,  aber 
der  doch  der  Endsieg  sicher  sein  muBte, 

Helene  Stocker  hat  einmal  ein  reizvolles  Biichlein  ge- 
schrieben  „Verkiinder  und  Verwirklicher". 

Das  Eigenartige,  ja  fast  Einzigartige  an  Briand  war,  daC 
er  Verkiinder  und  Verwirklicher  in  einer  Person  war, 

Er  wollte  das  Ganze,  das  ganz  GroBe,  den  ewigen  Frieden 
Immanuel  Kants.  Aber  er  wuBte,  daB,  je  stolzer  ein  Ziel,  urn  so 
langer  der  Weg  zu  ihm.  Und  wie  die  Natur  keine  Spriinge 
macht,  so  kann  es  auch  in  der  Politik  nur  Schritt  vor  Schritt 
gehen.  Darum  vermahlten  sich  in  ihm  Idealismus  und  Realis- 
mus  in  dem  Leitsatz: 

„Jeder  kleine  Schritt  in  der  Richtung  des  Friedens  bedeutet 
schon  einen  groBen  Erfolg  fur  die  Volker.  Mag  der  Schritt  auch 
noch  so  klein  sein,  wenn  man  nur  jgewillt  ist,  morgen  wieder  einen 
zu  tun  und  tibermorgen  noch  einen  und  so  fort,  jeden  Tag  seines 
Lebens!" 

Talleyrand  war  der  groBte  franzosische  Staatsmann  der 
alt  en  Schule:  Alles  mit  alien  Mitteln  fur  die  GroBe  meines 
Vaterlandes!  Alle  internationale  Politik  hat  nur  den  Zweck, 
das  Nationalinteresse  des  eignen  Landes  zu  fordern. 

Briand  war  der  groBe  Staatsmann  der  neuen  Schule:  Alles 
mit  alien  gesetzlichen  Mitteln  fur  die  Organisation  der  Welt 
und  damit  fur  die  Verhinderung  neuer  Kriege!  Das  National- 
interesse des  eignen  Volkes  kann  nur  im  Rahmen  der  Zusam- 
menarbeit  alter  Volker  gewahrt  werden. 

Der  franzosische  Kammerprasident  Bouisson  hat  in  seiner 
Gedachtnisrede  Briand  den  voilkommenen  Franzosen  genannt. 

Er  war  mehr  als  das.  Er  war  der  vollkommene  Europaer, 
also  ein  sublimierter  Franzose. 

Victor  Margueritte  hat  soeben  eine  wundervoile  Biographie 
Briands  (deutsch  im  Verlage  von  S.  Fischer)  erscheinen  lassen. 
In  der  Vorrede  hebt  er  mit  Recht  als  grundlegenden  Unter- 
schied  zwischen  Gambetta  und  Briand  hervor:  Fortschritt  vom 
nur  franzosischen  Opportunismus  zu  einem  Opportunismus, 
der  sich  zu  internationaler  Solidaritat  erhebt. 

Die  Erkenntnis  der  internationalen  Solidaritat,  jawohl,  das 
ist  das  entscheidende  Unterscheidungszeichen  zwischen  Briand 
und  alien  Staatsmannern  der  Vergangenheit.  Die  internatio- 
nale Klassensolidaritat  hatte  die  Arbeiteririternationale  langst 
erkannt.  Die  internationale  Volkersolidaritat  erkannt  zu  ha- 
ben,  war  den  drei  groBen  Staatsmannern  unsrer  Zeit  vorbehal- 
ten:  Wilson,  Stresemann  und  Briand. 

392 


Von  ihnen  war  Briand  der  bcrcdtestc  Verktinder  der  in- 
ternationalen  Solidaritat,  invPunkte  Beredsamkeit  der  echteste 
Sohn  seines  Volkes,  der  wirklich  vollkommene  Franzose,  ein 
Gipfel,  nur  vergleichbar  einem  Mirabeaii  oder  Jaures, 

Margueritte  nennt  ihn  Mein  Bindeglied  zwischen  der  Wirk- 
lichkeit, deren  er  sich  bedient,  und  dem  Traum,  dem,  er  dient". 

Er  hat  sich  der  Wirklichkeit  bedient,  urn  den  Locarnopakt 
zu  machen;  um  Deutschland  in  den  Volkerbund  zu  fuhren;  um 
die  vorzeitige  Rheinlandraumung  durchzusetzen;  um  den 
deutsch-franzosischen  Handelsvertrag  abzuschlieBen;  um  den 
Kelloggpakt  zustande  zu  bringen,  dessen  Anregung  sein  aus- 
schlieBliches  Verdienst  ist.  Erf  der  alte  Sozialist,  ist  sogar 
der  Vater  der  scheinbar  so  kapitalistischen  deutsch-franzosi- 
schen  Industriekartelle.  Auch  sie  sollten,  nach  seinem  Willen, 
nur  Patenschaft  der  Realpolitik  fiir  das  eine  ideale  Ziel  be- 
deuten:  Verquickung  der  Wirtschaftsinteressen  beider  Volker 
in  einem  MaBe,  das  den  Krieg  zwischen  ihnen  zur  Unmpglich- 
keit  werden  lieB. 

Hat  dieser  Verwirklicher  als  Verkiinder  nur  einem  Traume 
nachgejagt? 

Am  11.  September  1930  rief  Briand  in  Genf  aus:  „Solange 
ich  da  sein  werde,  wird  es  keinen  Krieg  geben." 

Er  ist  nicht  mehr  da.  Wenn  es  trotzdem  keinen  Krieg  ge- 
ben soilte,  so  dank  der  von  Briand  ausgestreuten  Saat,  die 
doch  schon  vielfaltig  gekeimt  hat. 

Wer  nur  mit  leiblichen  Augen  sieht,  sieht  falsch.  Erst 
die  Distanz  klart  den  Blick. 

In  hundert  Jahren  wird  die  Menschheit  von  alien  Namen 
der  Weltkriegszeit  nur  noch  drei  kennen:  Wilson  —  Strese- 
mann  —  Briand. 

Lenin  ist  ein  Kapitel  fiir  sich. 


Das  gefahrliche  Geschenk  von  k.  l.  oerstortf 

P)er  Reichskanzler  Bruning  hatte  in  einem  Interview  mit 
*^  einem  englischen  Redakteur  vergangenen  Herbst  die 
deutsche  Arbeitslosenziffer  auf  sieben  Million  en  geschatzt.  Die 
letzte  Zahl  lautet;  reichlich  6,1  Millionen.  Daher  scheint  die 
Wirklichkeit  etwas  hinter  den  pessimistischen  Schatzungen 
Briinings  zuriickgeblieben  zu  sein.  Aber  das  ist  nUr  in  der 
Statistik  so.  In  Wirklichkeit  betragt  die  Zahl  der  Arbeits- 
iosen  heute  sicherlich  bereits  sieben  Millionen.  Denn  iiberall 
ist  festzustellen,  daB  die  Arbeitslosen,  die  sich  nicht  mehr  re- 
gistrieren  lassen,  standig  zunehmen.  In  der  gesamten  Zusarti- 
mensetzung  ist  gegeniiber  den  Jahren  1929/30  eine  starke  Ver- 
anderung  eingetreten.  Die  WohlfahrtserWerbslosen  und  die- 
jenigen,  die  iiberhaupt  keine  Unterstiitzung  mehr  bekommen, 
wachsen  standig.  Unter  den  reichlich  sechs  Millionen,  die  re- 
gistries sind,  ist,  wie  bereits  amtlich  festgestellt  wird,  zirka 
«ine  Million,  die  keinen  Pfennig  Unterstutzurig  mehr  bezieht. 
Es  sind  das  Jugendliche,  verheiratete  Frauen  oder  Arbeitslose, 
die  den  immer  schwiefigern  Bedurftigkeitsnachweis  nicht  er- 
Jbringen  konnten. 

2  393 


Sicben  Millionen  Arbcitslosc  haben  wir  also  jetzt  im  Win- 
ter; und  es  ist  mit  allem  Nachdruck  zu  bctonen,  daB  ihre  Zahl 
durch  die  Saisonbewegung  im  Sommer  nicht  stark  abnehmen 
wird.  Derm  der  Baumarkt,  der  neben,  der  Landwirtschaft 
frtiher  eine  starke  Entlastung  gebracht  hat,  liegt  heute  volli£ 
nieder.  Und  die  wenigen  Hunderttausende,  die  im  Sommer 
von  der  Landwirtschaft  aufgenommen  werden  konnen,  sind 
mehr  als  ausgeglichen  durch  die  weitere  Schrumpfung  der  in- 
dustriellen  Produktion.  Es  ist  klar,  daB  die  Unterstiitzung  der 
Arbeitslosen  eine  immer' schwierigere  Frage  wird.  Die  Banken- 
sanierung  hat  auBerordentiiche  Summen  erfordert  —  wo  sollen 
die  Gelder  herkommenf  urn  bei  standig  rticklaufigen  Produk- 
tionszahlen  und  daher  auch  Steuereingangen  die  Arbeitslosen 
in  der  bisherigen  Weise  zu  unterstiitzen? 

Das  Monopolkapital  wird  bereits  in  nachster  Zeit  eine 
starke  Senkung  der  Arbeitslosensatze  durchzusetzen  versuchen. 
Und  man  forscht  daher  nach  Methoden,  um  die  Durchiiihrung. 
moglichst  reibungslos  zu  gestalten.  Es  ist  kein  Zufall,  daB  in 
der  ,D.A.Z/,  die  in  diesen  Dingen  oft  sehr  gut  informiert  ist, 
lange  Artikel  veroffentlicht  werden,  in  denen  propagiert  wird, 
daB  die  Gewerkschaften  zu  einem  Teil  mit  der  Durchf tinning 
der  Arbeitslosenversicherung  beauftragt  werden  sollen.  Die 
Plane,  die  Doktor  Goerdeler,  der  Preiskommissar,  vorlegte, 
gehen  in  derselben  Richtung. 

Im  Januar  1932  sind  nicht  einmal  mehr  30  Prozent  der  Ge- 
werkschaitsmitglieder  voll  beschaftigt  gewesen.  Die  Gewerk- 
schaften melden,  daB  47,6  Prozent  ihrer  Mitglieder  voll  ar- 
beitslos  sind  und  24,3  Prozent  Kurzarbeiter.  Es  ist  selbst- 
verstandlich,  daB  dabei  auch  die  Finanzen  immer  arger  in  Mit- 
leidenschaft  gezogen  werden,  daB  die  Unterstiitzungssatze  fiir 
die  arbeitslosen  Mitglieder  immer  mehr  abgebaut  werden  miis- 
sen,  daB  nur  noch  eine  Minoritat  der  Arbeitslosen  von  der 
Gewerkschaft  iiberhaupt  unterstiitzt  wird-  So  wird  das  Band 
der  Unterstiitzung  immer  mehr  gelockert,  und  da  die  Gewerk- 
schaften durch  das  Notverordnungssystem  bei  der  RegeluUg  der 
Lohne  immer  mehr  ausgeschaltet  werdenf  so  verlieren  sie  auch 
ihre  entscheidende  Funktion  immer  mehr.  Die  Plane  der 
,D.A.Z/  und  des  Herrn  Goerdeler  gehen  dahin,  den  Gewerk- 
schaften neue  Funktionen  dadurch  zu  geben,  daB  man  ihnen 
einen  EinfluB  bei  der  staatlichen  Arbeitslosenversicherung 
einraumt.  Und  die  ,D.A.Z.*  schreibt  dabei  ganz  offen,  daB  die 
Gewerkschaften  die  Bedurftigkeit  viel  genauer  pnifen  kdnnten 
als  die  staatlichen  Institutionen,  weil  sie  die  einzelnen  Arbei- 
terkategorien  besser  kennen.  Es  ist  ein  gefahrliches  Spiel,  das 
hier  getrieben  wird.  Und  der  .Vorwarts'  schreibt  dazu  in  einem 
Aufsatz  tiber  die  Plane  Goerdelers,  funfhundert  Millionen  bei 
der  Arbeitslosenversicherung  zu  sparen; 

„Wie  sollen  vor  allem  durch  ,Zusammenlegung'  der  einzelnen 
Zweige  der  Arbeitslosenbetreuung  funfhundert  Millionen  ..gespart' 
werden?  Durch  den  Abbau  der  obern  Lohnklassen  der  Arbeitslosen- 
versicherung? 

So  etwas   nennen   wir   nicht    sparen    sondern    pltindern. 

Eine  Finanzierung  der  Arbeitsbeschaffung  durch  Zerschlagung 
der    Arbeitslosenversicherung    und    Auspliinderung    der    Arbeitnehmer*, 

394 


die  jahrelang  fest  Beitrage  zahlen  dtirfen,  nun  aber  mit  eincm  Wohl- 
fahrtsalmosen  abgespeist  werden  sollen,  erscheint  uns  unzulassig,  Ar- 
beitsbeschaffung  ist  ein  Ziel,  das  erreicht  werden  muB,  aber  Arbeits- 
beschaffung  durch  Zerstdrung  des  Arbeitslosenschutzes  —  das  heifit 
den  Teufel  durch  Beelzebub  austreiben.  Arbeitsbeschaffung  als  Kulisse, 
hinter  der  mit  dem  Arbeitslosenschutz  hochst  gefahrliche  Experimente 
gemacht  werden  sollen  —  wir   danken. 

Der  Arbeitslosenschutz  geht  die  Allgemeinheit  an,  Goerdelers 
Plan  mochte  aber  die  bisherige  Erwerbslosenversicherung  den  Ge- 
werkschaften  ubertragen,  Allem  Anschein  *  nach  gingen  seine  ur- 
spriinglicben  Vorschlage  sogar  noch  weiter,  namlich  bis  zum  Bruch 
mit  dem  Sozialversicherungssystem  iiberhaupt,  Sein  Vorschlag  f iir 
die  Arbeitslosenversicherung  hat  bereits  eine  bose  Verwirrang  an- 
gerichtet,  Schon  sympathisieren  die  Freunde  einer  Aufgliederung  der 
Reichsanstalt  auf  berufsstandischer  Grundlage  mit  dem  Teil  der  Goer- 
deler-Plane. 

Die  Gewerkschaften  ihrer  heutigen  Form  ,zu  entkleiden',  so 
schreibt  die  ,Gewerkschaftszeitung't  das  Organ  des  ADGB.,  diirfte 
tatsachlich  manchem  schon  eine  Messe  wert  sein,  Zumal  dann,  wcnn 
der  Weg  vielleicht  gar  zu  einer  Diskreditierung  der  Gewerkschaften 
in  den  Massen  fuhren  konnte.  Die  Krise  des  Arbeitsmarktes  und 
damit  der  Finanzen  wird  leider  nicht  so  bald  iiberwunden  werden. 
Es  sind  Stimmen  laut  geworden,  die  mindestens  mit  einem  Stand  von 
2  bis  3  Millionen  Arbeitslosen  auf  Jahre  hinaus  rechnen.  Die  ,so- 
ziale  Belastung'  soil  abgebaut  werden,  Jede  Senkung  der  Einzel- 
unterstiitzung,  die  das  Existenzminimum  der  Millionen  Arbeitslosen 
immer  erbarmungsloser  herabdriickt,  fuhrt  zur  Kritik  des  Staates. 
Man  mache  die  Gewerkschaften  filr  den  Arbeitsmarkt  ,mitverantwort- 
Hch't  das  heiflt,  man  ubertrage  die  Verantwortlichkeit  fiir  die  Unter- 
sttitzung  der  Arbeitslosen  weitgehend  auf  die  Gewerkschaften  —  und 
siehe  da:  die  Verantwortlichkeiten  sind'  verschoben,  ein  Prugelknabe 
ist  gefunden." 

Es  ist  ganz  fraglos  cine  sehr  zweischneidige  Sache,  die 
Verwaltung  oder  einen  Teil  der  Verwaltung  der  Arbeitslosen- 
versicherung an  die  Gewerkschaften  abzugeben,  Es  ist  vor 
allem  dann  eine  zweischneidige  Sache,  wenn  gleichzeitig  eine 
Veranderung  in  den  politischen  Machtverhaltnissen  stattfihdet. 
Die  neue  Notverordnung,  die  die  Herabsetzung  der  Arbeits- 
losensatze  bringen  wird,  muB  ungefahr  in  den  gleichen  Zeit- 
raum  fallen,  wo  sich  eine  Umbildung  der  Regierungen  im  Reich 
und  in  PreuBen   ergeben  wird, 

Wie  auch  immer  die  Preuflenwahlen  ausfallen  werden,  die 
bisherige  Koalition  diirfte  kaum  wiederkommen.  Eine  Ver- 
schiebung  der  Regierung  nach  rechts  wird  eintreten,  wobei  es 
fiir  unsern  Zusammenhang  nicht  wesentlich  ist,  ob  eine  Regie- 
rung  mit  Hugenberg  oder  ein  Beamtenkabinett  oder  eine  ahn- 
liche  Kombination.  Man  wird  auch  dann  noch  von  der  So- 
zialdemokratie  weitere  ToTerierung  zu  erreichen  versuchen. 
Und  man  wird  sie  ihr  dadurch  schmackhaft  machen  wollen, 
daB  man  ihr  fiir  die  verlorenen  Machtbezirke  andre  Ein- 
HuBmoglichkeiten  als  Ersatz  zu  sichern  sucht.  Die  Sachwalter 
des  Monopolkapitalismus  haben  die  Vorstellung,  dafi  dieEin- 
fluBnahme  der  Gewerkschaften  auf  die  staatliche  Arbeitslosen- 
versicherung ein  in  dieser  Richtung,liegendes  Mittel  ist. 

Die  Gewerkschaften  sollen  die  Bediirftigkeit  der  einzel- 
nen  Arbeiter  feststellcn,  In  den  Gewerkschaften  verstarkt 
sich   jeden   Tag   die   oppositionelle   Strdmung      Es  gibt   kaum 

395 


eine  Gewerkschaft  mehr,  die  noch  zentrale  Mitgliederversamm- 
lungen  einberuft;  die  MiBstimmung  der  Arbeiterschaft  ist  zu 
groB.  Man  begniigt  sich  fast  iiberall  mit  sehr  gesiebten  Funk- 
tionarversammiungen,  Und  wenn  die  Spitzenfiihrung  des 
ADGBi  einen  aufierordentlichen  KrisenkongreB  beschlossen 
hat,  der  zur  augenblicklichen  Lage  Stellung  nehmen  soil,  so 
ist  daftir  gesorgt,  daB  dieser  KongreB  nicht  aus  Vertretern  der 
Betriebsarbeiterschaft  zusammengesetzt  wird.  Er  besteht  so 
gut  wie  ausschliefilich  aus  Gewerkschaftssekretaren.  Die  ,D.A.Z' 
war  der  Ansicht,  daB  die  Gewerkschaften  mit  ihren  eignen  re- 
bellierenden  Mitgliedern  vielleicht  am  besten  fertig  werden 
konnten,  wenn  sie  die  finanzielle  Verwaltung  der  Arbeits- 
losenversicherung  zum  groBen  Teil  in  die  Hande  bekommen  und 
so  ihre  Machtfunktionen  eine  Verstarkung  erfahren  wiirden. 
Die  Satze  aus  dem  ,Vorwarts\  die  wir  zitiert  haben,  zeigen 
sehr  deutlich,  daB  die  Gewerkschaftsfiihrung  bisher  diesen 
Plan  en  sehr  ablehnend  gegenubersteht;  sie  befiirchtet,  daB 
grade  dadurch  die  Spannung  zwischen  Mitgliedermassen  und 
Fiihrung  noch  scharfer,  noch  unertraglicher  werden  konnte. 

* 

Die  Weltproduktion  steht  bereits  unter  dem  Vorkriegs- 
niveau.  Die  deutsche  Produktion  ist  nicht  einmal  mehr  so 
groB'  wie  urn  die  Jahrhundertwende*  Immer  deutlicher  zeigt 
sich  die  marxistische  Wahrheit,  daB  der  Kapitalismus  die  Pro- 
duktionskrafte,  die  er  geschaffen  hat,  nicht  mehr  zu  beherr- 
schen  vermag;  immer  deutlicher  auch,  daB  er  seinen  Sklaven, 
die  Arbeiterschaft,  nicht  mehr  zu  ernahren  vermag. 

Die  Fronten  werden  immer  klarer,  und  die  Aufgabe  der 
Opposition  in  den  Gewerkschaften  wird  dahin  gerichtet  sein 
mussen,  zu  verhindern,  daB  sie  in  dieser  Lage  den  Priigel- 
knaben  zwischen  Monopolkapital  und  Arbeiterschaft  abgeben, 
den  Prugelknaben,  auf  den  sich  die  Erbitterung  der  hungern- 
den  Massen  lenken  soil. 


Menschllche  Kom8die  in  Genf  von  Ernst  Toiler 

In  einem  Keller  des  Volkerbundhauses  stapeln  sich,  mit  landes- 
farbigen  Bandern  eingeschniirt,  die  Akten,  Listen,  Brief e, 
Karten  von  acht  Millionen  gutglaubiger  Menschen,  die  der  Ab- 
riistungskonferenz  von  der  Sehnsucht  der  Menschheit  nach 
Frieden  und  ihrer  Verdammung  des  Krieges  Kunde  geben, 

Neben  den  ledergebundenen,  luxurios  gedruckten  Eingaben 
geldkraftiger  Verbande,  die  ihre  Friedensforderung  als  biblio- 
phile Raritat  ausstaffieren,  liegen  die  schmucklosen  Brief e  und 
Karten  von  Kriegsverletzten,  von  Frauen,  Arbeitern,  kleinen 
Beamten,  die  mit  riihrenden,  einfaltigen  und  manchmal  kliigen 
Worten  den  politisehen  Herrn  der  Erde  ihren  „Herzenswunsch" 
vortragen. 

Stimmen  aus  Deutschland, 

Ein  Lehrer  aus  OstpreuBen: 

Ich  erklare  mit  Ernst  und  Nachdruck,  daB  ich  fur  Deutschlands 
Gleichberechtigung  und  gegcn  den  Krieg  bin. 

396 


Eine  Frau  aus  dem  Rheinland: 

Wir  miissen  Abriistung  in  der  ganzen  Welt,  in  alien  Landern 
der  Erde  fordern,  damit  die  Welt  wieder  zu  Arbeit  und  B'rot'und  da- 
mit  zur  Ruhe  kommt. 

Ein  Arbeiter  aus  Schlesien: 

Im  Interesse  fur  Frieden  zwischen  den  Volkern  und  dem  wirt- 
schaftlichen  Wiederaufbau  gebe  ich  hiermit  meine  Stimme  fiir  die 
allgemeine  Abriistung  aller  Volker  ab,  um  damit  ein  friedliches  Ver- 
handeln  iiber  Wirtschaft  zu  gewahrleisten, 

Ein  Bankbeamter  aus  Berlin: 

Ich  gebe  meine  Stimme  zur  Abriistung  aller  Volker  gegen  einsei- 
tige  Abriistung  Deutschlands,  bin  iibrigens  der  festen  Oberzeugung, 
daB  sich  von  solchem  Herzenswunsch  und  solcher  Rechts-  und  Ver: 
nunftsforderung  kein  Deutscher,  auch  wenn  er  sich  nicht  zur  Erkla- 
rung   aufschwingt,   ausschlieflt. 

Eine  Frau  Kunstmaler  aus  Suddeutschland: 
P.P.  Abriistung.  An  Hand  der  schweren,  nutzlosen  Verwundung 
meines  Mannes  (ohne  Rente),  dessen  Verschlimmerung  ich  allein  ver- 
spiire,  komme  ich  doch  zu  dem  Entschlufi,  daB  ein  Krieg  nicht  kufti- 
viert,  sondern  ruiniert,  Der  Geist  baut  sich  den  Korper  selbst  zur 
Gleichberechtigung. 

In  diesem  Keller  weht  die  kalte  Luft  des  Mausoleums, 
Schicksale,  Leiden,  Entbehrungen,  Traum  und  Glauben,  ein- 
gesargt,  Makulatur,  Ruhe  sanft. 

Ob  en  aber  im  Licht  der  Welt  tagen  die  Adressaten.  Einer 
Versammlung  oiler,  ehrlicher  Borsenmakler  gleicht  die  Konfe- 
renz.  Da  wird  spekuliert,  auf  Hausse,  auf  Baisse,  da  werden 
Transaktionen  mit  dunklen  Hintergriinden  eingeleitet,  da  sagen 
Strohmanner  die  entscheidenden  Dinge,  und  die  politischen  Ge- 
waltigen  sagen  Banalitaten,  da  wird  der  Ernst  der  Sturide  mit 
pathetischer  Miene  erfaBt,  wenn  Photographen  und  Filmkurbler 
Regie  fiihren  und  die  Herrschaften  bitten,  fiir  die  Kinobesucher 
aller  Lander  einen  Moment  recht  freundlich  zu  sein. 

Lichtenberg  hat  vor  mehr  als  hundert  Jahren  gesagt;  ,,Wie 
herrlich  witrde  es  nicht  um  die  Welt  stehen,  wenn  die  groBen 
Herren  den  Frieden  wie  eine  Matresse  liebten,  sie  haben  fiir 
ihre  Person  zu  wenig  vora  Krieg  zu  fiirchten." 

Die  Herren,  die  den  Frieden  wie  eine  Matresse  lieben,  sind 
nicht  vertreten.  Die  Anwesenden  lieben  den  Frieden  eher  wie 
eine  Schwiegermutter:  sie  finden  sich  bei  Lebzeiten  mit  ihr 
ab,  es  bleibt  die  Hoffnung,  daB  man,  wenn  sie  entschlaft,  etwas 
erben  wird. 

Die  Kulisse  von  Genf  bildet  die  of i entliche  Weltmeinung, 
die  Familie  der  Kriegsberichterstatter  zur  Disposition,  Jour- 
nalisten  aus  alien  Landern,  Manner  mit  ehrlich  ehttauschten 
und  resignierenden  Gesichtern  und  solche,  die  frohlich  nach 
pikanten  Sensationen  jagen.  Will  ein  GroBstaat,  daB  gegen 
einen  andern  GroBstaat  etwas  gesagt  wird,  was'er  nicht  selbst 
sagen  mochte,  bedient  er  sich  geschmeichelter  und  sich  un- 
geheuer  wichtig  vorkommender  Journalisten  als  postilions 
d'amour  politique,  die  auf  der  Hintertreppe  die  Madchen  fiir 
alles,  die  landesgefarbten  Pressechefs,  hofieren. 

Es  geht  auch  hier  nicht  anders  zu  als  bei  Sfreitigkeiten,  die 
Schulzes  undvMiillers    ausfechten:    hinter    den    groBen  Worten 

397 


lauern  Machthunger,  Neid  und  Ressentiment.  Immer  ist  von 
Moral  und  Idealen  die  Rede,  nie  von  den  investierten  Milliar- 
denf  die -nicht  auf  ewigen  Werten  sondern  auf  dem  Pfund  Ster- 
ling, dem  Dollar,  dem  Franc  basieren, 

Und  der  Klatsch  bluht.  Man  kennt  die  Tagegelder  der 
Delegierten,  die  sich  zwischen  zwolf  und  zweihundert  Franken 
bewegen;  man  konstatiert,  daB  die  armen  Deutschen  so- 
gar  das  Ei  zum  Fruhstiick  aus  eigner  Tasche  bezahlen  miissen; 
daB  die  italienische  Abordnung  mit  sechs  funkelnageineuen 
Fiats  nebenbei  ein  biBchen  Reklame  fiir  ihre  nationale  Auto- 
produktion  treibt;  daB  die  Japaner  am  zahlreichsten  erschie- 
nen  sind,  im  luxuriosesten  Hotel  wohnen  und  einen  Stab  von 
Sekretarinnen  mitgebracht  haben,  vor  deren  Gehaltern  die 
Presseleute  erblassen.  Man  erzahlt  sich  die  Tageswitze,  die  in 
Radioschnelle  die  Korridore  durchfliegen,  DaB  die  Abrustungs- 
debatte  mit  der  Rede  des  Vertreters  von  Panama  beschlossen 
wurde,  der,  als  er  an  die  Reihe  kommen  sollte,  erst  gesucht 
werden  mufite,  wird  als  der  Panamaskandal  der  Konferenz  be- 
zeichnet;  daB  Radek  die  schweizer  geheimen  Herren  mit  der 
Melone  durch  freundlichc  GriiBe  in  Verlegenhcit  bringt,  wird 
auf  alien  Teegesellschaften  milde  belachelt. 

Die  Borsenstifte  sind  die  militarischen  Sachverstandigen, 
gutgenahrte  markig  aussehende  Herren,  die  jeden  militarischen 
Landesfeind  sozusagen  lieben  und  die  eignen  landfremden 
Pazifisten  verachten. 

Als  Tribunenzuschauer  fungieren  reiche  Amerikanerinnen, 
die  endlich  eine  neue  Form  gefunden  haben,  ihre  Zeit  totzu- 
schlagen,  aufdringliche  Salongrafinnen,  die  sich  interessant  vor- 
komraen,  Spione  und  arme  Toren,  die  in  groBen  Ziigen  die 
welthistorische  Luft  einsaugen.  Auch  IfBeobachter"  sind  an- 
wesend.  Bisher  war  es  das  Privileg  der  Weltmacht  Amerika, 
Beobachter  zu  entsenden,  jetzt  hat  der  Staat  im  Staate  Hitler 
dieses  Privileg  ubernommen  und  eine  Delegation,  an  deren 
Spitze  der  General  Epp  steht,  entsandt,  die  ihrerseits  wiederum 
durch  einen  Beobachter  des  Herrn  Rohm  iiberwacht  wird. 

Nur  in  einem  Punkte  sind  sich  alle,  Schieber  und  Geschc 
bene,  einig,  Sie  finden  diese  Monate  sich  hinziehende  Konfe- 
renz langweilig,  und  sie  meinen,  daB  die  Konferenz  besser 
an  einem  Ort  hatte  tagen  sollen,  der  mehr  Zerstreuung  und 
Vergniigungen  als  das  puritanische  Genf  bietet.  An  den  sitt- 
lichen  Ernst  der  Konferenztage  glaubt  nur  die  genfer  Polizei- 
behorde,  die  eine  verstandnisvolle  offentliche  pariser  Dame  mit- 
samt  ihren  heimlichen  weiblichen  Schiitzlingen  nach  einer 
Woche  auswies  und  damit  die  Friedensbereitschaft  sichtlich 
herabdriickte. 

Nicht  einmal  der  schone  Schein  bleibt  gewahrt,  die  riih- 
renden  Friedensreden  werden  von  japanischen  Batterieschus- 
sen,  die  nach  einem  Wort  unsres  Jubilars  Goethe  einsilbiger 
sind  als  die  deutsche  Sprache,  unfeierlich  unterbrochen,  Und 
ein  andres  beteiligtes  Land  schickt  im  Zeichen  der  Ab- 
riistungskonferenz  Manner,  die  kapitalistisches  Kriegs-  und 
Soldatenhandwerk  als  das  bezeichnen,  was  es  ist:  Mordhand- 
werk  —  bitte  Herr  Groener,  fiir  diesen  Satz  trage  ich  die 
Verantwortung  —  auf  die  Anklagebank, 
398 


Man  muB  nur  diese  Konferenz  ein  paar  Tage  beobachten. 
Glaubt  jemand  crnstlich:  faier  wird  der  Krieg  „verhindert"? 
DaB  die  Konferenz  auffliegen  wird,  ist  unwahrscheinlich.  Kein 
Teilnehmer  wird  diesen  Schritt  wagen,  aber  was  wird  heraus- 
Tcommcn  ? 

Es  gibt  bornierte  Kaufleute  und  einsichtige.  Die  bornier- 
ien  ruinieren  sich  im  Kampf  mit  einer  iibermachtigen  Konkur- 
renz,  die  einsichtigen  verstandigen  sich  und  teilen  den  Profit. 
In  Genf  sitzen  kluge  Kaufleute  beisammen,  die  nach  Wegen 
suchen,  wie  man  den  Krieg  billig  vorbereiten  kann.  Ohne 
unniitze  Spesen  (Waffen,  die  morgen  durch  neue  Erfindung  des 
Gegners  nutzlos  werden),  ohne  Prestige-Risiko,  das  die  ware 
verteuert, 

Der  einzige  s  inn  voile  Vorschlag,  den  die  Russen  unter- 
breiteten,  namlich  allseitige  und  vollkommene  Abriistung,  ist 
abgelehnt  Man  wird  sich  auf  20  bis  25  Prozent  Kostenver- 
minderung   einigen,  eine   Sache,   die   den  Steuerzahler  angeht. 

Ober  1fSicherungen"  wie  eine  internationale  Polizeitruppe 
weiB  niemand  Klares  und  Verniinftiges  zu  sagen,  Sie  soil  ge- 
gen  den  angreifenden  Teil  verwandt  werden,  aber  wer  be- 
stimmt  den  Angreifer?  Sagen  nicht  auch  die  Japaner,  daB  sie 
die  Angegriffenen  sind?  wer  soil  die  strategischen  Plane,  die 
doch  von  einem  internationalen  Generalstab  fur  den  Eventual- 
fall  gegen  alle  Teilnehmer  des  Volkerbunds  vorbereitet  werden 
nuissen,  auf stellen  ?  Wer  fiir  ihre  Geheimhaltung  biirgen  ? 
Glaubt  man  etwa,  ein  franzosischer  Polizeitruppenchef  werde 
die  Truppen  gegen  sein  franzosisches  Heimatland  ftihren,  oder 
«in  deutscher  gegen  sein  deutsches? 

Solange  nicht  kapitalistisches  Macht-  und  Profitstreben, 
solange  nicht  imperialistische  Unterdriickungstendenzen  ais 
entscheidende  politische  Antriebe  iiberwunden  sind,  ist  der 
Volkerbund  ein  Traum,  und  der  von  Genf,  der  die  weltpoli- 
iische  Situation  von  Versailles  1919  fiir  alle  Zeiten  stabilisieren 
mochte,  gewiB  kein  schoner. 

Vor  dem  Restaurant  ,,Ivrou"  in  Genf  hangt  ein  groBes 
buntes  Plakat.     Darauf  stehen  die  Worte: 

„Desarmer,  c'est  bien,  mais  bien  manger,  c'est  mieux." 

Abrusten  ist  gut,  aber  gut  essen,  ist  besser. 
Ein  zynisches  Wort,  aber  ein  tiefes,  wenn  man  es  recht  deutet. 

Staaten,  die  unfahig  sind,  zwanzig  Millionen  arbeitsloser 
Menschen  Brot  und  Arbeit  zu  verschaffen,  werden  nie  und 
arimmer  fahig  sein,   auf  das  Mittel  des  Krieges  zu  verzichten. 

In  Genf  sind  die  Frontsoldaten  der  falschen  Fronten  ver- 
sammelt.  Wie  sollten  sie  das  einzige  Erlebnis,  auf  das  sie  stolz 
sind,  diffamieren  und  einer  kommenden  Jugend  vorenthalten? 

Litwinow  hat  in  einer  kleinen  Geschichte  die  Abriistungs- 
konferenz  charakterisiert  Ein  Mann  zog  aus,  die  Kannibalen 
zu  iiberzeugen,  daB  Menschenfressen  eine  unsittliche  Beschafti- 
gung  sei,  Nach  einem  Jahr  kam  er  wieder.  Neugierige  Freunde 
fragten  ihn,  was  er  erreicht  habe.  Er  zuckte  traurig  die  Ach- 
seln:  „Leider  fressen  die  Kannibalen  immer  noch  Menschen, 
.aber  etwas  habe  ich  in  diesem  Jahr  doch  erreicht,  sie  fressen 
;sie  jetzt  mit  Messer  und  Gabel." 

399 


MOSkail  1932  von  E.  J.  Gumbel 


Jahrelang  wurde  uns  taglich  erzahlt,  die  Bolschewisten  konn* 
ten  sich  nur  noch  yicr  Wochen  halten.  Beinahe  ebenso 
lange  niarschierte  bei  uns  die  Sozialisierung,  Beide  Rufe  sind 
verstummt.  Der  demokratisch-parlamentarische  Weg  zum  So- 
zialismus  hat  in  eine  Sackgasse  gefiihrt.  Die  Arbeiterschaft 
ist  gespalten,  ihre  Mehrheit  konservativ.  Die  Bourgeoisie 
scheint  sich  unter  der  roten  Fahne  des  Hakenkreuzes  zu  eini- 
gen,  ihr  entschlossener  Fliigel  ist  revolutionary  Unser  Leben 
ist  erfiillt  mit  UngewiBheit  fiir  die  nachste  Zukunft. 

Von  diesem  Hintergrund  hebt  sich  RuBland  hell  ab,  Denn 
dieses  Land  beherrscht  der  frohe  Glaube  an  eine  gesicherte, 
bessere  Zukunft. 

Aber  andre  berichten  genau  das  Gegenteil.  Dieser  Wider- 
spruch  in  den  Nachrichten  liegt  an  objektiven  und  subjektiven 
Faktoren.  Zunachst  variieren  manche  auBerlich  auffallenden 
Zustande,  wie  die  Nahrungsmittelversorgung  zeitlich.  Ferner 
existieren  groBe  ortliche  Unterschiede.  Der  allgemeine  Bestand 
an  Tatsachenwissen  iiber  RuBland  ist  gering.  Dann  ist,  starker 
als  irgendwo  anders,  jede  Betrachtung  hier  gefiihlsbetont.  Das 
Gros  der  RuBlandreisenden  berichtet  nicht  iiber  das,  was  sie 
gesehen  haben,  sondern  iiber  ihre  politischen  Wunschbilder, 
,,weil  nicht  sein  kann,  was  nicht  sein-  darf",  oder  sein  muB, 
was  sein  soil.  Weil  die  Bolschewisten  sich  nicht  an  die  be- 
wahrten  Regeln  der  parlamentarischen  Demokratie  gehalten 
haben,  seufzt  das  Volk  unter  der  Tyrannei  und  erwartet  den 
Tag  der  Freiheit,  So  die  einen.  Die  andern  verkunden  un& 
bereits  im  Dezember  1931  die  fertigen  Produktionsstatistiken 
fiir  das  ganze  Jahrf  setzen  Plan  fiir  Wirklichkeit  und  erzahlen 
uns  daher,  daB  in  Moskau  keine  Wohnungsnot  existiere.  Beide 
Auffassungen  ersetzen  die  Realitat  durch  die  Willenstendenz. 

Nun  ist  niemand  tendenzlos.  Jeder  gefiihlsbetonte  Ein- 
druck  trifft  auf  bereits  vorhandene  Vorstellungen,  von  denen 
niemand  abstrahieren  kann.  So  kann  auch  ich  nur  versprechen, 
mir  Miihe  zu  geben,  iiber  das  zu  berichten,  was  ich  selbst  wah- 
rend  drei  Wochen  in  Moskau  gesehen  habe.  Da  ich  vor  sechs 
Jahren  mehrere  Monate  dort  war,  glaube  ich  einen  Vergleichs- 
maBstab  zii  besitzen, 

Wer  an  RuBland  vom  biirgerlichen  Standpunkt  herantritt, 
dort  diejenigen  Formen  der  europaischen  Kultur  sucht,  an  der 
die  Mehrheit  der  Bevolkerung  auch  hier  nur  einen  relativ  ge- 
ringen  Anteil  hat,  wer  nur  nach  aesthetischen  Prinzipien  ur- 
teilt  und  fur  Kulturwerte  nur  das  halt,  was  innerhalb  der  biir- 
gerlichen Gesellschah  verwirklicht  werden  kann,  mufi  dieses 
Land  verdammen.  Und  mit  Recht,  denn  all  dies  existiert  dort 
nicht  und  soil  gar  nicht  existieren.  Es  ist  das  Evangelium  der 
Armut  und  der  Arbeit,  das  hier  verkiindet  wird.  wie  die  ka- 
tholische  so  verlangt  auch  die  kommunistische  Lehre  Entsa- 
gung  und  Gehorsam.  Da  dieses  Land  ein  Staat  der  Arbeiter 
sein  will,  dart  es  nur  von  diesem  Standpunkt  aus  betrachtet 
werden. 

400 


Jeder  auch  nur  einigermaBen  gunstige  Bericht  aus  RuB- 
land  begegnet  dem  Einwand;  „Sie  haben  sich  das  eben  zeigen 
lassen".  Demgcgeniiber  mochte  ich  betonen,  daB  ich  die 
Sprache  verstehe,  daB  mir  nichts,  gar  nichts  „gezeigt"  wurde, 
daB  ich  als  niemandes  Gast  von  der  erstcn  Minute  an  mein 
freier  Herr  war,  Moskau  durchstreifte  und  mit  alten  Bekannten 
sprach.  Ich  sah  nur,  was  jedermann  sehen  konnfe,  habe  an 
keiner  Schau  teilgenommen  und  bin  weder  zu  Lob  noch  zu 
beredtem   Schweigen   verpflichtet. 

Das  Bild  der  Stadt  hat  sich  wesentlich  gebessert.  Vor 
sechs  Jahren  Arbeitslosigkeit,  in  ihrem  Gefolge  die  gewohnten 
zerlumpten  Bettler  vor  den  Kirchen  und  an  den  StraBenecken, 
die  der  Stadt  ein  orientalisches  Geprage  gaben.  Heute  ist  die 
Zahl  der  Bettler  geringer  als  in  Berlin  wahrend  der  besten  Zeit. 
Die  StraBen  sind  sauberer,  besser  gepflastert;  die  Zahl  der  Be- 
trunkenen  hat  abgenommen.  Die  StraBenhandler  mit  den  Bauch- 
laden  sind  seltener  geworden.  Heizung  und  Beieuchtung  in 
den  Hausern  funktionieren  tadellos.  Die  StraBen  sind  nachts 
hell  beleuchtet.  Vor  Jahren  die  drangende  Frage  der  verwahr- 
losten  Kinder,  von  denen  noch  heute  in  Europa  eine  ganze 
Literatur  lebt.  Von  diesen  Haufen  ist  nichts  mehr  zu  sehen, 
Gegenfiber  den  gradezu  infamen  Verdachtigungen,  die  man  iiber 
das  Verbleiben  dieser  Kinder  in  Europa  ausstreut,  mochte  ich 
keinen  Zweifel  dariiber  lassen,  dafi  sie  als  Personen  heute  noch 
leben,  aber  als  Schicht  von  der  Industrie  aufgesogen  wor- 
den  sind. 

Vor  Jahren  beherrschte  die  private  Pferdedroschke  die 
StraBe,  Heute  sausen  zahlreiche  Dienstautomobile,  daneben 
machtige  Lastautos,  zum  Teil  bereits  im  Land  montiert,  durch 
Moskau;  Autobusse  und  Taxis,  deren  Zahl  allerdings  noch  viel 
zu  gering  ist,  geben  der  Stadt  ein  europaisches  Aussehen.  Die 
Pferdedroschke,  mit  der  man  wie  im  Orient  zunachst  iiber  den 
Preis  verhandeln  muB,  stellt  den  karglichen  Rest  einer  freien 
Wirtschaft  dar.  Die  Verkehrsregelung  ist  gut,  der  Polizist  auf 
der  StraBe  korrekt.  Geblieben  ist  die  fiirchterliche  Oberlastung 
der  Trambahn  in  den  Hauptverkehrszeiten,  Ein  Europaer  wird 
sie  normalerweise  tiberhaupt  nicht  benutzen.  Auch  das  Aus- 
sehen  der  Menschen  hat  sich  gehoben;  mehr  Hemden,  mehr 
Kragen,  bessere  Stiefel.  Man  sieht  Leute  auf  der  StraBe  lachen. 

SchKmmer  geworden  ist  die  Wohnungsnot  Moskau  hat 
heute  an  die  drei  Millionen  Einwohner.  Es  wird  gebaut,  neue 
Viertel  sind  entstanden.  Gegeniiber  vom  Kreml  steht  der  erste 
Wolkenkratzer  mit  fiinfzehn  Stockwerken,  das  f,Haus  der  Re- 
gierung",  mit  alien  technischen  Schikanen  der  Neuzeit  aus- 
gestattet.  Aber  die  Menschen  vermehren  sich  weit  rascher 
als  die  Hauser,  vor  allem  durch  Zuzug  vom  Land,  Noch 
rascher  wachsen  die  Bureauraume,  Als  Normalfall  gilt  ein 
Zimmer  pro  Familie.  Auch  die  neugebauten  Wohnungen  sind 
fur  unsre  Begriffe  bereits  iiberlastet.  Die  Mieten  sind  niedrig, 
nach  dem  Einkommen  und  dem  Stand  abgestuf t,  so  daB  der  Ar- 
beiter  weniger  zahlt  als  der  Angestellte. 

Zentral  fur  die  Betrachtung  RuBlands  ist  die  Tatsache,  daB 
es  so   gut   wie   keinen   privaten  Unternehmer   und   keine   be- 

8  401 


sitzende  Klasse  mehr  gibt.  Die  Produktionsmittel  sind  im  Be- 
sitz  der  Allgemeinheit.  Man  sieht  in  Moskau  fast  kcine  pri- 
vaten  Laden,  keine  privaten  Betriebe.  Dieser  Beweis,  daB 
eine  Produktion  ohne  den  Motor  des  Privatprofits  moglich  ist, 
ist  eine  ungeheure  Leistung.  Der  Reichtum  ist  verschwunden. 
Wohl  gibt  es  groBe  Einkommensunterschiede;  aber  groBes  Ein- 
kommen  gibt  keine  Macht.  Es  diskreditiert  den  Glticklichen. 
Auch  der  Unterschied  von  oben  und  unten  ist  geblieben,  doch 
haben  seine  Trager  gewechselt.  Die  herrschende  Schicht  ist 
personlich  arm,  aber  mit  unerhorter  Machtfiille  ausgestattet. 
Diese  Macht  kann  miBbraucht  werden,  auch  zum  personlichen 
Wohlleben,  aber  diese  Falle  sind  nicht  haufig. 

Die  Frage:  wie  hoch  stehen  die  Lohne,  laBt  sich  nicht  ein- 
deutig  beantworten.  Zunachst  weisen  die  Lohne  in  verschie- 
denen  Stellungen  groBe  Unterschiede  auf.  Diese  Differenzie- 
rung  verscharft  sich.  Die  Forderung  der  Egalisierung  gilt  als 
kleinbiirgerlich. 

Dann  existiert  unser  Begriff  des  einheitlichen  Preises  nicht. 
An  seine  Stelle  treten  mindestens  fiinferlei  Preise.  Die  Mehr- 
zahl  der  zur  baren  Lebenshaltung  benotigten  Waren  ist  ratio- 
niert.  Sie  werden  in  bestimmten  Laden  nur  auf  Karten  zu  re- 
lativ  billigen  Preisen  abgegeben.  Dem  Kaufer  ist  ein  be- 
stimmter  Laden  vorgeschrieben  (sogenannte  geschlossene  Ver- 
teilung).  Innerhalb  dieser  Laden,  die  im  Besitz  verschiedener 
Konsumvereine  sind,  existieren  wieder  Qualitats-,  Quantitats- 
und  damit  Preisunterschiede,  Die  Mehrzahl  aller  Laden  gehort 
zu  diesem  geschlossenen  Typus. 

Einen  Spezialfall  der  geschlossenen  Verteilung  stellen  die 
beiden  in  Moskau  fur  auslandische  Arbeiter  und  Spezialisten 
reservierten  Laden  dar.  Hier  finden  sich  weit  bessere  Quali- 
taten  und  viel  groBere  Auswahl  als  in  den  fur  die  Einheimischen 
bestimmten  Laden.  Die  groBern  Mengen,  die  zur  Verfiigung 
stehen,  bewirken,  daB  es  hier  keine  MSchlangen"  gibt.  Nor- 
malerweise  wird  der  Auslander  nicht  einmal  die  rationierten 
Mengen  aufbrauchen. 

Neben  diesen  beiden  geschlossenen  Arten  existieren  die 
ebenfalls  staatlichen  Betrieben  gehorigen,  sogenannten  kom- 
merziellen,  offenen  Laden,  in  denen  zu  hohern  Preisen  in  bes- 
serer  Qualiiat  und  ohne  Marken  verkauit  wird. 

Die  drei  genannten  Kategorien  stellen  verschiedene  Ab- 
stufungen  in  der  Kaufkraft  des  Rubels  dar.  Von  ihnen  heben 
sich  sehr  deutlich  zwei  weitere  dadurch  ab,  daB  sie  den  Gold- 
rubel  als  Standard  erheben.  Es  sind  dies  die  Valutaladen  und 
der  freie  Markt.  In  den  Valutaladen  (in  Moskau  existieren 
mehrere)  sind  die  Preise  in  Rubeln  festgesetzt,  miissen  jedoch 
in  auslandischer  Wahrung  oder  in  Gold  bezahlt  werden.  Sie 
entsprechen  annahernd  dem  europaischen  Niveau,  Durch  diese 
Laden  will  die  Regierung  die  im  Lande  vorhandene  auslan- 
dische Valuta,  die  dringend  benotigt  wird  und  deren  Besitz 
nicht  ganz  legal  ist,  erfassen.  Endlich  gibt  es  einige  Markt- 
platze  mit  sehr  hohen  Preisen. 

Die  Vergleichbarkeit  der  Preise  zwischen  diesen  funf  ver- 
schiedenen    Markten    ist    dadurch    erschwert,    daB    in    jedem 

402 


andre  Waren  verkauff  wcrden.  Eine  Zigarettensorte  aus  der 
„geschlossenen  Verteilung"  existiert  im  kommerziellen  Magazin 
nicht,  und  der  Goldladen  fiihrt  wieder  andre  Sorten.  Der 
Auslander  kann  gegen  Valuta  Waren  kaufen,  die  dem  Russen 
unerreichbar  sind.  Fortsetzvng  folpt 

Depression  in  U.S.A.  von  Rudolf  Hildebrand 

Duluth  in  Minnesota  (VSA.)t  Februar  1932 

l^ein  braver  Mann  wundert  sich(  wenn  ein  junger  Mensch, 
*^  der  Zigaretten  raucht,  in  der  Welt  nicht  vorankomnvt 
Kein  braver  Mann  wundert  sich,  wenn  ein  Trinker  oder  ein 
Gliicksspieler  in  Not  gerat.  Kein  braver  Mann  wundert  sich 
tiber  das  Unheil,  das  einen  Lotterbuben  befallt,  der  das  Weib 
nicht  achtet. 

Aber  nun  ist  der  brave  Mann  perplex.  Denn  er  sieht 
abnorme  Vorgange,  sieht  widernatiirliche,  unverstandliche  Vor- 
gange, Es  ereignen  sich  Dinge,  wovon  man  in  der  Schule  ge- 
lernt  hat,  dafi  sie  sich  gar  nicht  ereignen  diirfen  und  folglich 
nicht  ereignen  konnen.  Das  nach  orthodoxer  Lehre  Unmog- 
liche  geschieht;  MiBgeschick  befallt  nicht  mehr  ausschliefilich 
Sunder,  Polygamisten,  die  kein  Englisch  verstehen,  die  keine 
Schulbildung  haben,  ignorant  sind,  falsche  Ansichten  haben. 
Nein;  MiBgeschick  befallt  auch  die  Gerechten,  die  nicht  trin- 
ken,  richtige  Ansichten  haben,  das  Weib  verehren. 

Die  orthodoxen  lustigen  Aufmunterungsspriiche,  „Pfeffer- 
spriiche'*,  an  den  Wanden  der  Bureaus  und  Sprechzimmer 
(Keep  smiling,  Don't  cry,  Never  say  die)  verkriechen  sich  ver- 
schamt  in  dunkle  Winkel,  ja  verschwinden  ganzlich.  Erst- 
klassige  Zahnarzte  vergessen  sich  so  weitt  von  Mietesorgen  zu 
sprechen.  Gutbezahlte  Prediger  wagen  so  unziemliche  Mei- 
nungen,  wie  zum  Beispiel,  daB  auch  moralisch  einwandfreie 
Christen,  Nichttrinker,  Nichtraucher,  Nichtspieler,  durch  eine 
unerforschliche  Vorsehung  in  Not  und  Armut  geraten  konnten. 
Henry  Ford  gesteht  offen  ein,  daB  er  keine  Fortschritte  an  Ein- 
kiinften  mehr  macht,  vielmehr  mit  betrachtlichem  Verlust 
arbeitet.  Henry  Ford  hat  ein  gutes  Herz.  Wenn  er  ein  ge- 
winnsiichtiger  und  fuhlloser  Mensch  ware,  so  wiirde  die  Nickel- 
bettlergilde  ein  paar  tausend  mehr  Mitglieder  zahlen,  „Haben 
Sie  einen  Nickel  iibrig  fur  eine  Tasse  Kaffee?" 

Die  amerikanische  Weltanschauung  fangt  an  zu  wackeln, 
Schon  mehrere  der  allerheiligsten  Glaubenssatze  des  Amerika- 
nismus  werden  yon  der  Wirklichkeit  so  anschaulich,  so  hand- 
greiflich,  so  fiihlbar  widerlegt,  daB  zuweilen  sogar  schon  Lehre- 
rinnen  —  also  Priesterinnen  des  Amerikanismus  —  ein  wenig 
dariiber  spotteln. 

Die  sogenannte  Depression  ist  hierzulande  in  wirtschaft- 
licher  Beziehung  bei  weitem  nicht  so  schlimm  wie  in  Deutsch- 
land  oder  in  England,  Aber  sie  ist  —  falls  ich  nicht  betracht- 
lich  dummer  bin,  als  ich  mir  zu  sein  schmeichle  —  psycho- 
logisch  viel  bedeutsamer.  Europaer  sind  Kummer  gewohnt,  be- 
trachten  ein  gutes, Quantum  Not  als  naturliche  Beigabe  zu  den 
Freuden  des  Lebens.    Unser  Volk  aber  lernt  in  der  Schule,  dafi 

403 


alles  Unheil  nur  die  strafweise  Folge  des  unamerikanischen  Le- 
bcns  sein  darf:  falscher  ^Meinungen,  undemokratischer  Einrich- 
tungen,  moralischcr  Unsauberkeit.  Dem  rechtglaubigen  ameri- 
kanischen  Gemiite  sind  Prosperitai  und  Moralitat  gradezu  eins. 
Auf  dieser  Einhcit  beruht  die  ganze  Ethik  des  Amerikanismus. 
Und  die  solcher  Ethik  zugrunde  liegende  Metaphysik  ist  ein 
simpler  und  simpelhafter  Optimismus;  kurzsichtiger,  flachsich- 
tiger,  unkritischer,  leichtglaubiger  Optimismus.  Etwa  der  na- 
turliche  Optimismus  normaler,  gesunder,  einigermaBen  geistig 
beschrankter  junger  Madchen,  denen  es  in  dieser  Welt  gut 
geht.  Grundsatz:  die  Dinge  sind,  was  sie  scheinen,  halten,  was 
sie  versprechen.  Die  Welt  ist  so,  wie  sie  sich  abmalt  im  Kopf- 
chen  des  siebzehnjahrigen  Dinges,  das  seinen  devoten  Kavalier 
htibsch  am  Gangelbande  halt  und  Apfelkuchen  mit  Schlagsahne 
die  Fiille  hat  und  dazu  eine  gute  Verdauung.  Also  die  Welt- 
anschauung der  amerikanischen  Lehrerin,  der  offiziell  bestell- 
ten,  geweihten  geistigen  Ftihrerin,  Erzieherin  des  siiBen  aus- 
erwahlten  Volkes,  das  wiederum  zur  Fiihrung,  Erleuchtung, 
sittlichen  Hebung.der  Menschheit  gottlich  berufen  ist, 

Der  Amerikanismus  ist  gar  nicht  so  schwer  zu  verstehen. 
Denn  wir  sind  alle  geborene  Amerikanisten  —  sonst  waren  wir 
ja  nicht  geboren;  sind  in  dieser  Hinsicht  alle  ,,frei  und  gleich 
erschaifen":  alle  Esel,  alle  Gotter,  alle  Menschen.  Esel  sind  zu 
dumm,  Gotter  sind  zu  selig.    Beim  Menschen  geht  gewohnlich 

—  wenn  er  nicht  zu  eselhaft  und  nicht  zu  gotterhaft  ist  —  jene 
angeborene  Weltanschauung  in  die  Briiche  unter  der  prak- 
tischen  Belehrung  des  Lebens. 

In  Amerika  konnte  die  groBe  Naivitat  zur  Nationalreligion 
werden,  weil  sie  von  der  physischen  Geographie  so  auBer- 
ordentlich  begiinstigt  wurde.  Was  fiir  weite  Felder  barg  der 
noch  verschlossene  Wilde  Westen  in  seinem  SchpBe!  Weizen- 
f elder,  Goldf elder  und  noch  realere  Felder:  Traumgefilde.  Und 
noch  jetzt  sind  wir  begunstigt  vor  alien  Volkern  der  Erdet  wie 
schon  ein  Blick  auf  die  Erdkarte  zeigt. 

Wir  haben  geglaubt,  unsre  Bahn  fiihre  in  unendlichem  Auf- 
stieg  zu  immer  seligern  Paradiesen.  Jetzt  sind  wir  im  Be- 
grifie  zu  entdecken,  dafi  wir  einen  Berg  erklommen  haben,  der 
einen  Abhang  nach  der  andern  Seite  hat.  Darin,  in  dieser 
dammernden  Einsicht,  iiegt  die  groBe  moralische  Bedeutung  der 
wirtschaftlichen  Depression  dieser  dreiBiger  Jahre.  Amerika 
hat  mehrere  Wirtschaftskrisen  durchgemacht,  die  schlimmer 
gewesen  sind.  Aber  das  waren  nur  Mulden  ader  Trichter  im 
Wege.  Die  anderten  nichts  an  der  aufsteigenden  Tendenz  des 
ganzen  Marsches.  Die  gegenwartige  Krise  jedoch  bedeutet  den 
Anf  ang  des  groBen  Bergab-  Der  Abstie^,  der  nun  kommt,  wird 
durch  kleine  Lokalhiigel  unterbroch en  werden.  Aber  die  wer- 
den nichts  andern  an  der  absteigenden  Tendenz  des  ganzen 
Marsches. 

Friiher  konnte  man  immer  voraussageii,  daB  —  und  warum 

—  eine  daniederliegende  Industrie  sich  bald  wieder  erholen 
und  reichliche  Verdienstmoglichkeit  fiir  die  zeitweilig  Arbeits- 
losen  gewahren  werde.  Nun  ist  das  ganz  anders.  Wie  soil 
etwa  die  Automobilindustrie  sich  wieder  ,,erholenM?    Sie  liegt 

404 


ja  gar  nicht  danieder.  Im  Gegenteil,  sic  bluht,  wachst,  gedeiht 
—  allzu  sehr  und  allzu  schnelL  Sic  verkauft  vicl  mchr  fcrtige 
Produktc  als  je  zuvor.  Das  Unheil  kommt  aus  dem  MiBver- 
haltnis  dessen,  was  man  produzicrcn  kann  —  und  zwar  mit 
immer  weniger  menschlichen  Arbeitskraften  —  und  dessen, 
was  man  verkaufen  kann.  Wcnn  es  so  weitergeht,  werdcn 
schlicBlich  zehn  Lcute  in  zchn  Stundcn  mchr  Automobile 
mac  hen,  als  zehn  Millionen  in  zehn  Jahren  kaufen  konnten  ■-- 
wenn  dann  noch  soviel  Kaufkraft  moglich  ware. 

* 

Dieses  Jahr  ist  PrasidehtenwahL  Die  in  den  letzten  vier 
Jahren  oft  wiederholten  regierungsseitigen  Verheifiungen  von 
einer  baldigen  Besserung  der  Lage  haben  sich  nicht  erfiillt, 
Dennoch  kommt  unser  gegenwartiger  Prasident  ganz  crnstlich 
zur  Wiederwahl  in  Betracht.  Das  ist  sehr  bedeutsam,  ein 
Novum.  Orthodoxerweise  stiinde  die  Wiederwahl  eines  okono- 
mischen  und  finanzpolitischen  Mifierfolges  auBer  Frage.  Denn 
nach  der  Reinen  Lehre  ist  ja  alles  Unheil,  das  uns  befallen 
kann,  politisch-administrativer  Natur.  In  diesem  Falle  wird 
also  —  zum  erstenmal  seit  1776  —  eine  wirtschaftliche  Kala- 
mitat  nicht  wesentlich  der  politischen  Verwaltung  zur  Last  ge- 
legt.  Mit  Freuden  stelle  ich  fest,  daB  das  Volk  etwas  gelernt 
hat.  Selbst  der  gemeine  Mann  ist  der  Belehrung  fahig.,  wenn 
sie  nur  recht  anschaulich,  handgreiflich,  fuhlbar  ist.  Selbst  der 
gemeine  Mann  ist  solcher  pnmaren  Abstraktion  fahig,  etwa  zu 
urteilen:  ,,Mir  ist  kalt";  „Mir  ist  warm";  „Prugel  tun  weh". 
Es  liegt  in  den  meisten  Fallen  so  klar  zutage,  daB  der  Verlust 
einer  Arbeitsstelle  gar  nichts  damit  zu  tun  hat,  wcr  Prasident 
ist  oder  was  im  Senat  geredet  wird.  Und  die  Intelligenteren  be- 
zweifeln  sogar  das  grundlegehdere  Dogma,  daB  maschinen- 
technischer  Fortschritt  eo  ipso  Fortschritt  zur  menschlichen 
Gliickseligkeit  sei. 

Glaubenszweifel  aber  besagt  Mindcrung  der  priesterlichen 
Autoritat.  In  der  Tat  steht  denn  auch  die  Autoritat  der  Lehre- 
rin  nicht  mehr  so  unbezweifelt  fest  wie  noch  vor  zehn  Jahren. 
Die  geheiligten  Spriiche  der  Revolution  werden  nicht  mehr  so 
kritiklos  verschluckt,  nur  weil  sie  jeden  Morgen  bei  der 
Flaggenparade  von  der  Lehrerin  andachtig  vorgebetet,  von 
den  Kindern  nachgebetet  werden.  Mir  sind  mehrere  Falle 
bekannt,  daB  altere  Schulknaben  offentlich  in  der  Schul- 
klasse  zur  hilf  losen  Konsternation  der  Lehrerin  sakro- 
sankte  Lehren  bezweifelt  haben,  disputiert  haben;  wie 
zum  Beispiel  die  Gleichheit  der  Intelligenz  aller  neuge- 
borenen  Babys,  wie  auch  die  angeborene  moralische  Vortreff- 
lichkeit  aller  Menschen  weifier  Rasse,  oder  die  Wahrheits- 
ermittelung  durch  Mehrheitsabstimmung. 

In  solchen  Fallen  nehme  ich  natiirlich  offiziell,  und  zum 
Teil  auch  herzlich,  die  Partei  der  Lehrerin.  Denn  die  Jungens 
werden  zu  frech,  wenn  sie  schon  einmal  anfangen,  mit  der 
Lehrerin  zu  disputieren.  Sie  nehmen  alles  von  der  person- 
lichen  Seite,  zeigen  personliche  Animositat.  Das  liegt  wahr- 
scheinlich  daran,  daB  sie  ausschlieBiich  von  Weibern  erzogen 
werden. 

405 


Wenn  ich  mich  nicht  sehr  irre,  hangt  mit  dicscm  Nieder- 
gang  der  Schulautoritat  cine  gewisse  Abnahme  der  Autoritat 
des  Wcibcs  tiberhaupt  zusammen  Das  Wcib  als  Weib  wird 
nicht  mehr  mit  so  unbedingter  und  blinder  Unterwiirfigkeit 
verehrt  und  bedient.  Einige  Ziige,  die  ich  in  meiner  Abhand- 
lung  liber  den  Feminismus  in  der  .Neuen  Schweizer  Rundschau' 
(Januar  oder  Februar  1928)  mitgeteilt  habe,  werden  schon  kul- 
turhistorisch.  Das  geht  manchmal  schnell,  Und  erst  vor  zehn 
Jahren!  Wie  war  mir  das  doch  widerlich:  waren  die  Manner 
unter  sich,  lieBen  sie  sich  salopp,  riipelhaft  gehen;  und  dann 
diese  plotzliche  bedientenhafte  Art,  sich  zusammenzureiBen, 
dieses  devote  Lakaientum,  sobald  eine  sogenannte  Lady  auf- 
tauchte.  Jedes  Weib  ist  eine  Dame,  versteht  sich.  Es  ist  drollig, 
wenn  meine  Kinder  meinen  Bilderkatalbg  vom  berliner  Zoo  be- 
sehen:  jedes  weibliche  Tier  ist  eine  ,,Dame":  die  Lowenlady,  die 
Kanguruhlady.  Andrerseits  gewinnt  das  Wort  woman.  Eine 
vornehme  und  gebildete  Frau  wird  nun  mit  Vorliebe  als  eine 
woman  bezeichnet,  Ladengehilfinnen  als  Ladies.  Einem  beob- 
achtungsfahigen  Europaer,  der  uns  vor  zehn  Jahren  besucht 
hatte  und  jetzt  wieder  besuchte,  wiirde  jene  —  vielleicht 
schwer  definierbare,  doch  merkliche  —  Anderung  auffallen. 
Die  Manner  haben  an  Selbstachtung  gewonnen,  erniedrigen 
sich  nicht  mehr  so  absolut  sklavenmaBig  vor  jedem  Weibe.  Icfi 
weifi,  wie  so  manchem  jungen  Madchen  der  geistige  Masochis- 
mus  ihrer  Knabenfreunde  zu  widerlich  wurde.  Damit  zugleich 
wird  unser  Weib  wieder  weiblicher.  Gott  sei  Lob  und  Dank.  Die 
Matronen  in  Kniehosen  nahmen  sich  ganz  abscheulich  aus  mit 
ihren  kurzen  Beinen.  Die  biistenlosen  Knaben  weiblichen  Ge- 
schlechts  mit  ihren  Schnapsflaschen  und  Zigaretten  sind  fast 
ganz  verschwunden.  Auch  den  vor  zehn  Jahren  allgegenwar- 
tigen  dreiviertelnackten  Flapper  vermisse  ich.  Wies  scheint, 
wirkt  der  Exhibitionismus  nicht  mehr,  wiirde  eher  abstoBend 
wirken. 

In  solchen  kleinen  Erscheinungen  erblicke  ich  eine  erfreu- 
liche  Ruckkehr  zur  Wirklichkeit  des  Lebens.  Das  aber  heiBt: 
Abkehr  vom  Amerikanismus.  Ich  Eiirchte  schon  nicht  mehr, 
was  noch  einige  intelligente  Amerikaner  furchten,  wahrend 
andre  —  auch  H,  L.  Mencken  —  die  Zukunft  in  hoffnungsvolle- 
rem  Lichte  sehen,  Ich  fiirchte  nicht  mehr.  daB  unser  Volk 
rettungslos  der  geistigen  Verblodung  veirf alien  ist.  Im  ganzen 
geht  meine  Prognose  dahin,  daB  der  wirtschaftliche  Daseins- 
kampf  fiir  unsern  iieben  kleinen  Nachwuchs  harter  ausfallen 
wird,  daB  die  Anspruche  ans  Leben  in  materieller  Hinsicht  be- 
trachtlich  herabgeschraubt  werden  miissen;  daB  aber  trotzdem 
—  oder  vielmehr  grade  darum  —  das  Leben  im  ganzen  befrie- 
digender  und  heiterer  sein  wird.  Sicherlich  ist  GKick  in  der 
geistigen  Verblodung.  Das  Kuhieben  ist  wohl  meistens  gliick- 
licher  als  das  Menschenleben,  Aber  wer  woilte  mit  einer  Kuh 
tauschen?  Und  wer,  der  nicht  verblodet  ist,  woilte  das  Heil 
der  Menschheit  von  einer  ins  Unendliche  fortschreitenden 
Komplizierung,  Steigerung,  Vermehrung  und  —  versteht  sich  — 
Befriedigung  unsref  physiologischen  Bediirinisse  erwarten? 

Gottseidank,  daB  die  Depression  uns  ein  Halt  zugerufen 
hat.  Ein  Halt,  eine  Besinnung,  ist  uns  notwendiger  als  Brot 
406 


und  Benzin,  In  diescm  Sinne  derm:  Es  lebe  die  Depression! 
Auch  diese  kleine  Gerntitsdepression,  diese  possierliche  Per- 
plexitat,  dieser  unamerikanische  Skeptizismus.  Ein  bissel  De- 
pression ist  untrennbar  von  einer  Bekehrung. 

Die  Schuldfrage  der  Rationalisierung 

von  Erik  Reger 

TJnter  dem  Zwang  der  Ereignisse  ist  auch  von  der  Industrie 
stillschweigend  anerkannt  worden,  daB  die  Art  der  deut- 
schen  Rationalisierung  ein  schwerer  Fehler  war-  Nicht,  daB 
man  die  Fehler  dort  eingesehen  hatte;  nicht,  daB  man  uber  die 
Griinde  im  klaren  ware;  nicht,  daB  man  hinter  den  wirtschaft- 
lichen  Irrtiimern  den  geistigen  Zustand  durchschaute,  der  sie 
verursacht  hat.  Aber  man  glaubt,  an  einer  taktischen  Wen- 
dung  nicht  vorbeizukommen,  und  rollt  die  Schuldfrage  auf  — 
freilich  nicht  vom  Grundsatzlichen  sondern  vom  Zufalligen  her, 
nicht  aus  der  Anschauung  des  Gesamtkomplexes  sondern  aus 
der  Begrenzung  auf  eine  Einzelerscheinung,  nicht  aus  der  Kritik 
der  Gesinnung  sondern  aus  der  Kritik  der  Dokumente,  Es  ist 
ein  Wegf  der  scheinbar  die  Tatsachen  ordnet  und  tatsachlich 
ihre  Ordnung  verwirrt,  bis  vor  lauter  Details  kein  Tatbestand, 
vor  lauter  Aufzahlungen  kein  Zusammenhang,  vor  lauter  chro- 
nistischem  Material  kein  Hiritergrund  mehr  zu  entdecken  ist, 
Diese  Untersuchungsmethode  muB  schlieBlich  wieder  zu 
dem  Standpunkt  zuruckfiihren,  der  maBgebend  war,  bevor  man 
sich  —  nicht  aus  innerer  Oberzeugung  sondern  durch  auBere 
Einwirkung  —  zu  einer  Untersuchung  genotigt  sah.  Der  Streit, 
der  darum  entbrennt,  gleicht  in  der  Verschiebung  der  Perspek- 
tiven  ganz  den  Erorterungen  iiber  die  Kriegsschuld.  Schon  tro- 
stet  man  sich  damit,  daB,  wie  im  neuesten  Halbjahresbericht 
der  Reichskreditgesellschaft  zu  lesen  ist,  (,Fehler  und  Obertrei- 
bungen,  die  im  vergangenen  Jahrfiinft  gemacht  worden  sind, 
durch  die  unterdurchschnittliche  Investitionstatigkeit  der  beiden 
letzten  Jahre  zu  einem  Teil  berichtigt  werden".  Kein  Wort  von 
jener  sinnlosen  Aufblahung  des  Produktionskorpers,  dessen  Ka- 
pazitat  selbst  im  Fall  einer  guten  Konjunktur  nicht  mehr  voll 
ausgenutzt  werden  kann;  kein  Gedanke  an  den  Verlust  der  Ka- 
pitalien,  die  in  Unternehmungen  festliegen,  welche  niemals 
mehr  rentabel  werden  konnen  —  nur  ein  vertrauensvoller  Blick 
auf  die  paar  Betriebe,  wo  eine  traditionelle  Vorsicht  dafiir  ge- 
sorgt  hat,  daB  sich  die  Rationalisierung  in  einer  Vorwegnahme 
kiinftig  notwendiger  Dimensionen  erschopfte. 

In  diesen  Tagen  hat  sich  an  der  Ruhr  —  aus  guten  Grun- 
den  in  aller  Stille  —  etwas  ereignet,  was  fiir  den  starrkopfigen 
Wahn  der  legendaren,  von  der  Hausbiographentradition  gehei- 
ligten  Wirtschaf tsfiihrer  ebenso  bezeichnend  ist  wie  fiir  die  gei- 
stigen Grundlagen  der  Rationalisierungspsychose.  Die  Vereinig- 
ten  Stahlwerke  haben  in  dem  essener  Vorort  Katernberg  die 
neue  Zentralschachtanlage  der  Zeche  Zollverein  in  Betrieb  ge- 
nommen.  Damit  werden  vier  andre  Schachtanlagen  und  1200 
Arbeiter  uberfliissig.  Die  modernen  Einrichtungen  des  neuen 
Schachts  gestatten  es,  die  Hauerleistung  auf  25  bis  30  Wagen 

407 


pro  Mann  und  Schicht,  also  urn  25  bis  50  Prozent  zu  steigern 
und  mit  stark  verminderter  Belegschaft  eine  Rekordforderlei- 
stung  von  drei  Millionen  Tonnen  auf  einem  einzigen  Schacht  zu 
vcreinigen  —  rund  zehntausend  Tonnen  an  jedem  Arbeitstag, 
Wenn  solche  Zahlcn  ausgesprochen  werden,  fragt  man  sich  na- 
ttirlich  zuerst,  welches  AusmaB  auf  den  Halden  dieser  Zeche  das 
schwarze  Gebirge  unabsetzbarer  Kohle  erreichen  wifd.  Nun, 
sagen  sich  die  Industriellen,  wenn  zu  nichts  anderm,  so  wird  es 
zum  Lohndruck  tauglich  sein;  so  ein  trostloser  Klotz  ist  ja  nicht 
wegzudisputieren ;  man  kaiin  ihn  photographieren  und  in 
Denkschriften  verwenden;  die  Pressechefs  konnen  reiBerische 
Titel  dazu  erfinden;  die  Regierung  tind  die  Schlichter,  denen 
wir  aus  Anhanglichkeit  wenigstens  ihren  Namen  lassen  wollen, 
werden  erschreckt  und  ergriffen,  wie  heifit  es  doch  gleich  in 
dieser  schonen  Sprache,  f,tie!  beeindruckt"  davor  stehen;  es 
ist  ein  unheimlich  totes  Material,  das  unter  der  Einwirkung 
unsrer  agitatorischen  KniHe  unheimlich  lebendig  wird, 

Aber  man  muB  noch  andre  Fragen  stellen.  Was  hat  die 
Schachtanlage  gekostet?  50  Millionen,  Was  erspart  sie  an 
Lohnen  und  Gehaltern?  2K  Millionen.  Was  erfordert  sie  an 
Zinsendienst?  Fast  das  anderthalbfache.  Was  setzt  sie  auf 
das  Abschreibungskonto  ?  Mindestens  iiinf  Millionen,  wahr- 
scheinlich  aber  doppelt  soviel.  Wenn  man  soweit  ist,  .  bleibt 
nur  noch  eine  Frage,  dann  weiB  man  alles.  Diese  letzte  Frage 
betrifft  den  Zeitpunkt  des  Baubeginns.  Es  war  das  Jahr  1929. 
Es  war  das  Jahr,  wo  die  ersten  Zweifel  an  der  Wirtschaftlich- 
keit  der  iiberspannten  Methoden  auftauchten.  Trotzdem  wurde 
gebaut  Die  Krise  brach  herein,  selbst  der  Optimismus  der 
Unentwegten  wagte  sich  nicht  mehr  hervor.  Trotzdem  wurde 
gebaut.  Denn  das,  was  diesen  Plan  in  Wahrheit  geschmiedet 
hatte,  behielt  ja  seine  Suggestionskraft.  Es  war  das  deutsche 
Verhangnis,  es  war  der  Rausch  des  Gigantischen. 

,,In  demselben  MaBe,  in  dem  die  Erzeugung  starker  wachst 
als  die  Zahl  der  Menschen,  erleichtert  sich  die  soziale  Lage." 
Diese  Feststellung  Albert  Voglers  stimmt  durchaus,  falls  die 
Menschen  so  viel  verdienen,  daB  die  Erzeugung  abgesetzt  wer- 
den kann;  denn  nur  auf  eine  Zeit  planvoller  und  abwagender 
Mobilisierung  der  mechanischen  Krafte  folgt  eine  Zeit  leichte- 
rer  und  bilRgerer  Lebenshaltung.  Wo  diese  Voraussetzun- 
gen  fehlen,  wird  die  soziale  Lage  erschwert;  aber  es  ist  nicht 
die  Maschine,  die  die  Menschen  brotlos  macht,  sondern  die  Zu- 
riickgebliebenheit  des  Geistes,  der  sich  an  (iberkommene  Wahr- 
heiten  halt,  obwohl  diese  sich  langst  unter  dem  EinfluB  der  Tech- 
nik  in  Unwahrheiten  verwandelt  haben;  es  ist  nicht  die  Mecha- 
nisierung,  die  den  Rtickschlag  bedingt,  sondern  ihr  falscher 
Einsatz  und  ihr  iibersturztes  Tempo.  Dieses  Tempo  stand  in 
Deutschland  einerseits  im  engsten  Zusammenhang  mit  den  Quo- 
tenkampfen  und  Konzernierungsbestrebungen,  mit  den  Macht- 
verschiebungen  und  Interessenverlagerungen  der  Industriedyna- 
stien,  die  sich  mit  der  Rationalisierung  eine  Waffe  zur  Austra- 
gung  personlicher  Rivalitaten  zu  Schmieden  gedachtenj  andrer- 
seits  war  es  eine  Folge  der  allgemeinen  Geistesverfassung,  die 
den  Krieg  nach  der  militarischen  Niederlage  durch  die  Erobe- 

408 


rung  von  Superlativen  wie  „das  groBte  tcchnischc  Wunder", 
„das  modcrnste  Hiittenwerk",  ,,die  groBte  Kokcrci  Europas" 
noch  moralisch  zu  gcwinncn  trachtete. 

Weil  es  so  war,  wcil  diesc  superlativistische  Rationalisie- 
rung  nicht  von  wirtschaftlichcn  Einsichten  bcstimmt  wurde, 
sondern  ein  „Akt  der  Notwehr"  in  einem  privaten  Machtkampf 
und  eine  bewuBte  Rckonstruktion  der  wilhelminischen  Fassade 
auf  einem  neuen,  aktuellen  Gelande  war  —  darum  trifft  eine 
einseitig  okonomische  Beurteilung  niemals  ihr  eigentliches  We- 
sen.  Bei  jedem  Ereignis  unterscheidet  man  eine  Ursache  und 
eine  Veranlassung.  Die  okonomische  Beurteilung  beschaf- 
tigt  sich  nur  mit  der  Veranlassung.  Sie  formuliert  die  Schuld- 
frage  dahin,  ob  es  die  Gewerkschaften  waren,  die  zur  Eile 
spornten,  um  hohere  Lohne  herauszuschlagen,  oder  ob  es  die 
Unternehmer  waren,  die  sich  beeilten,  die  Hohe  der  Lohne  und 
sozialen  Beitrage  zu  kompensieren.  Sie  greift  in  die  gegensei- 
tigen  Bezichtigungen  ein  und  liefert  sich  dem  Spiel  und  Gegen- 
spiel  der  Interessenten  aus,  ohne  je  die  Aussicht  zu  haben,  zu 
einer  bindenden  Entscheidung  zu  gelangen,  Diese  Aussicht  be- 
stiinde  nur  dann,  wenn  die  Notwendigkeit  einer  Rationalisie- 
rung  iiberhaupt  bestritten  wurde;  aber  grade  dies  ist  das  ein- 
zige,  was  unbestritten  ist,  und  selbst  wenn  man  beweisen  kann, 
daB  die  Lohnpolitik  der  Gewerkschaften  nicht  immer  gut  und 
niitzlich  gewesen  ist,  so  kommt  man  nicht  an  der  Pflicht  ihrer 
Fiihrer  vorbei,  den  Arbeitern  einen  Anteil  an  den  Friichten  der 
Rationalisierung  zu  sichern,  die  alle  Welt,  von  den  Wirtschafts- 
fuhrern  bis  zu  den  meisten  Wirtschaftskritikern,  damals  hoff- 
nungsfroh  reifen  sah.  Da  es  nicht  in  Form  einer  Senkung  der 
Preise  geschehen  konnte,  muBte  es  in  Form  einer  Erhohung  der 
Lohne  geschehen:  eine  zwangslaufige  Entwicklung,  die  zu- 
nachst  mit  der  Kaufkrafttheorie  und  dergleichen  wissenschaft- 
lichen  Erlauterungen  nicht  das  mindeste  zu  tun  hat. 

So  bleibt,  wer  in  der  Periode  der  Rationalisierung  nichts 
andres  erkennt  als  eine  Periode  der  MiBverstandnisse  iiber  Ka- 
pitalanlagen  und  Lohntheorien,  in  den  Reihen  derer,  die  jetzt 
klug  vom  Rathaus  herunterkommen  und  sich  nur  noch  dariiber 
streiten,  wer  nun  eigentlich  der  Diimmste  gewesen  ist,  Wer 
aber  die  Dinge  unter  groBera  Aspekten  betrachtet,  wer  sich 
damit  beschaftigt,  die  geistigen  Wurzeln  menschlicher  Hand- 
lungen  und  Einrichtungen  blofizulegen,  dem  konnte  die  durch- 
laufende  Linie  der  Verherrlichung  des  schonen  Scheins  vom 
romantischen  Machtwahn  der  Kaiserzeit  bis  zum  technisch- 
industriellen  Gotzendienst  der  republikanischen  Zeit  nicht  ver- 
borgen  bleiben.  Von  welcher  Seite  der  Taumel  der  Maschi- 
nenanbetung  am  meisten  genahrt  wurde,  wird  unter  diesen  Ura- 
standen  belanglos,  und  daB  auf  die  Zeit  der  Maschinenanbetung 
die  Zeit  der  Maschinenverfluchung  folgt,  ist  kein  auBerordent- 
liches  Phanomen,  sondern  das  unerbittliche  Lebensgesetz  eines 
Volkes,  das  selbst  aus  Erkenntnissen  keine  Konsequenzen  zieht, 
ewig  zwischen  Rausch  und  Erniichterung  schwebt  und  mit  der 
Grausamkeit  einer  Logik,  die  seine  einzige  ist,  auf  1914  sein 
1918,  auf  1927  sein  1931  erlebt 

Aber  die  Maschinenverfluchung  ist  kein  Einwand  gegen 
die   Technik,  denn  die  Technik   kann  nicht  darum  angreifbar 

409 


werden,  weil  sie  falsch  angewandt  wird  und  weil  die  Menschen 
versaumen,  ihren  Neuerungen  durch  cine  Erneuerung  der  wirt- 
schaftlichen  Dogmcn  gerecht  zu  werdcn  und  auf  diese  Wcisc 
ihre  wertschaffende  Arbeit  zum  Nutzen  der  Allgemeinheit  pro- 
duktiv  zu  machen.  Wenn  jetzt  die  Grenzen  zwischen  den  rich- 
tigen  Bedingungen  der  Technik  und  ihrer  fehlerhaften  Verwer- 
tung  zuweilen  verwischt  erscheinen,  so  riihrt  es  daher,  daB  die 
Wirtschaft  unentwegt  den  Anschein  «rweckt  hat, .  als  seien 
ihre  Methoden  identisch  mit  den  Methoden  der  Technik  —  ein 
Verfahren,  das  kiirzlich  Oskar  von  Miller,  der  President  des 
Deutschen  Museums  der  Technik  in  Miinchen,  vor  einem 
Auditorium  rheinisch-westfalischer  Industrieller  energisch  zu- 
riickgewiesen  hat.  Danach  wirkt  die  Entriistung  nicht  mehr 
echt,  womit  ein  Publizist  des  Vereins  fur  die  bergbaulichen  In- 
teressen  zur  Verteidigung  der  Technik  aufsteht;  „Kurzsichtig, 
wie  die  Gewerkschaften  die  uberstiirzte  Rationalisierung  ge- 
fordert  und  erzwungen  haben,  sind  sie  neuerdings  im  Begriff,  in 
die  boseste  Wirtschaftsreaktion  zu  geraten . , .  Damit  waren 
wir  also  in  die  dreifliger  Jahre  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
zuriickgekehrt,  die  wahrend.  der  Chartistenbewegung  die  Zer- 
triimmerung  der  ersten  mechanischen  Webstiihle  durch  die 
englischen  Handwerker  sahen/' 

Es  kommt  im  Augenblick  mehr  auf  die  Zitierung  gewisser 
Charaktereigenschaften  als  auf  den  Nachweis  historischer  Un- 
richtigkeiten  an,  sonst  mtiBte  man  betonen,  daB  die  ersten  me- 
chanischen Webstiihle  in  England  schon  urn  1810  in  Betrieb  wa- 
ren und  daB  die  Chartistenbewegung  urspriinglich  nicht  vom 
Ressentiment  gegen  die  Maschine  ausging  sondern  politische 
Forderungen  im  Sinne  einer  fortschrittlich-sozialen  Partei  er- 
hob.  Was  aber  die  Vergewaltigung  der  Industrie  durch  die  Ge- 
werkschaften betrifft,  so  halte  ich  es  nicht  fur  ausgeschlossen, 
daB  es  Leute  gibt,  die  sogar  bei  dieser  Vorstellung  ernst  blei- 
ben  konnen.  Anton  Erkelenz  hat  sich  deshalb  der  Muhe  unter- 
zogen,  ihnen  ernsthaft  zu  antworten:  „Wenn  wir  unser  Mog- 
lichstes  getan  haben,  urn  die  Rationalisierung  grundsatzlich  zu 
fordern,  so  war  es  weder  die  Aufgabe  des  Politikers  noch  des 
Gewerkschaftsfuhrers,  den  Untemehmern  im  einzelnen  zu  sa- 
ge n,  wie  weit  sie  mit  der  Rationalisierung  gehen  diirfen , . . 
Der  Unternehmer  ist  bis  heute  allein  verantwortlich  fur  seine 
MaBnahmen."  Mir  scheint,  daB  es  nicht  einmal  eine  Sympathie- 
kundgebung  fur  die  Gewerkschaften  sondern  nur  eine  Ver- 
pflichtung  auf  klare  Verhaltnisse  ist,  wenn  man  dieser  Mei- 
nung  des  Herrn  Erkelenz  beitritt,  Der  Reichsverband  der 
Deutschen  Industrie  hat  erst  in  seiner  Neujahrsbotschaft  wieder 
behauptet,  daB  „die  ganze  staatliche,  wirtschaftliche  und  kul- 
turelle  Zukunft  Deutschlands  auf  dem  freiheitlichen  Grundsatz 
der  von  den  schopferischen  Kraften  der  Einzelpersonlichkeit 
getragenen  Privatwirtschaft  beruht"  So  bleibt  keine  andre 
Wahl,  als  diese  schopferischen  Krafte  entweder  zur  Verant- 
wortung  zu  ziehen  oder  sie  in  einen  geistigen  Rahmen  einzu- 
ordnen,  innerhalb  dessen  auch  sie  nur  ein  Symptom  darstellen 
und  zu  einer  teils  im  Wesen  verankerten,  teils  als  Trickformel 
benutzten  Phrase  zusammenschrumpfen- 

410 


Kleine  Nachridlten  von  Kaspar  Hauser 

*r\ie  Sow j  et-Regierung  hat  sich  entschlossen,  nach  Finnland  einen 
*^  ausrangierten  Kommunistcn  zu  schicken,  damit  die  Lappo-Be- 
wegung  endlich  einen  Feind  hat, 

* 

Dem  Eierhandler  Awrumele  Gansekries  aus  Bialy stock  (dem  Ge- 
burtsort  von  Jehuda  Joissip  Gobbeles)  ist  ein  Gesuch  urn  Naturali- 
sation abschlagig  beschieden  worden.  Gansekries  wohnt  bereits  acht- 
zehneinhalb  Jahre  in  Deutschland  und  hat  noch  keinen  Hochverrats- 
versuch  uriternommen.  Fiir  eine  Einbtirgerung  ist  er  demnach  nicht 
geeignet. 

Der  Erfinder  Gustav  Papenstrumpf  aus  Niederschoneweide  hat 
einen  Apparat  erfunden,  der  die  gesamte  Tatigkeit  des  IV.  Reichs- 
gerichts-Senats  automatisch  verrichtet.  Von  seiner  Einfuhrung  ist  je- 
doch  abgesehen  worden;  der  IV.  Senat  raacht  das  genau  so  gut  wie 
ein  Automat. 

* 

Das  Gerucht,  die  SPD  werde  im  Falle  eines  Verzichts  Hinden- 
burgs  fur  Ludendorff  als  Reichsprasidenten  stimmen,  entspricht  noch 
nicht  den  Tatsachen. 

* 

Ein  berliner  Schauspieler  hat  sich  mit  sich  selbst  zusammenge- 
schlossen,  um  als  Kollektiv  aufzutreten.  Um  Tantiemen  zu  sparen 
und  die  ohnehin  tiberflussigen  Autoren  abzuschaffen,  wird  er  den  Text 
vom  Souffleur  beziehn. 

* 

Eine  Abordnung  arbeitsloser  Nationalsozialisten  hat  gestern  ihrem 
Oberhaupt  vor  dem  Hotel  Hitlerhof  einen  Fackelzug  dargebracht. 
Hitler,  der  bis  vor  kurzem  selbst  arbeitslos  war,  versprach  jedem  der 
Fackeltrager  eine  Stellung  bei  der  ostpreufiischen  Gesandtschaft  in 
Braunschweig.  Die  herbeigeeilten  amerikanischen  Journalisten  ver- 
lieCen  unter  dem  Ruf  „S6  bluel"  die  Gaststatte. 

* 

Der  Reichsinnenminister  hat  einen  ErlaB  herausgelassen,  in  dem 
er  Beschimpfungen  politischer  Gegner  verbietet.  Als  erste  Kund- 
machung  verfiel  ein  ErlaB  des  Reichswehrministers  dem  Verbot, 

* 

Die  Bildstreifenausschtisse  zur  Priifung  kulturbildender  Bild- 
streifen  haben  Richtlinien  herausgegeben.  Danach  diirfen  in  Filmen, 
die  auf  das  Pradikat  „kulturfordernd"  Anspruch  haben  wollen,  nicht 
mehr  vorkommen: 

Madchen  iiber  19  Jahren  —  Madchen  unter  19  Jahren  —  unver- 
heiratete  Manner  (an  Mannern  iiberhaupt  pro  Film  nicht  mehr  als 
zwei)  —  Totengraber  —  Lebedamen  —  Arbeitslose  —  Frauenarzte  — 
Embryos  —  offentliche  Platze  bzw.  Hauser  —  GroCaufnahmen  von 
Gliedmafien  aller  Art  —  Kusse  (nur  Elternkiisse)  —  Betrunkene  — 
Hungrige  —  Bplschewisten  —  Prostituierte  —  Richter. 

Insbesondere  ist  das  Auftreten  politisch  Andersdenkender  grund- 
satzlich  verboten. 

Der   noch   in  Freiheit   befindliche   deutsche  Wirtschaftsfuhrer   hat 

bei    der   Reichsregierung  angeregt,    die  Veroffentlichung  von   Herstel- 

lungspreisen   der   I.   G.   Farben   als   Landesverrat   zu   bestrafen.      Mit 

Recht. 

* 

Der  Papst  hat  in  einer  Rundfunkrede  als  Grundubel  der  Gegen- 
wart  drei  Dinge  genannt:  den  Stolz,  die  Geldgier  und  die  Fleisches- 

411 


lust.  Wie  wir  horen,  haben  die  Reichswehroffiziere,  die  auf  deut- 
schen  Giitern  angestellten  polnischen  Arbeiter  und  der  Reichsverband 
Deutscher  Fleischermeister  dagegen  protestiert. 

Das  Rabbinat  von  Bialy stock  (dem  Geburtsort  von  Awrumele 
Gansekries)  hat  Jehuda  Joissip  Gobbeles  angeboten,  dessert  Tochter 
und  Sonne  gratis  zu  beschneiden. 

* 

Chaplin  hat  Hitler  um  leihweise  Hergabe  seines  Schnurrbarts  ge- 
beten.    Die  Verhandlungen  dauern  an, 

* 

Japan  ist  Mitglied   des  Volkerbundes. 

* 

Das  Reichskartell  des  nationalen  Mittelstandes  hat  einen  Licht- 
streik  proklamiert.  Das  Einatmen  von  Leuchtgas  zur  Losung  der  Ar- 
beitslosenf rage  ist  ausdriicklich  ausgenommen.  Armut  ist  ein  grofler 
Glanz  von  innen. 

* 

Die  Herren  Noske  und  GeBler  weilen  zur  Zeit  in  Berlin,  um  bei 
Herrn  Groener  Nachhilfeunterricht  zu  nehmen. 

Die  SPD  ist  eine  Arbeiterpartei. 


Donatl-Pian  von  Bernhard  Citron 

r\  er  Plan  des  franzosischen  Ministerprasidenten  Andre  Tar- 
dieu  hat  in  fast  alien  Landern  eine  schlechte  Presse  ge- 
funden.  Man  wittert  hinter  dem  Projekt  eine  politische  Absicht 
des  Quai  d'Orsay  und  zweifelt  daher  an  der  Ehrlichkeit  der 
franzosischen  Hiifsbereitschaft,  Teilweise  wird  sogar  eine  ge- 
wisse  Entriistung  zur  Schau  getragen,  als  hatte  Frankreich  die 
Welt  und  vor  allem  Deutschland  uberrumpelt.  Dieser  Vor- 
wurf  ist  vollig  unbegriindet.  Nach  dem  Scheitern  der  deutsch^ 
osterreichischen  Zollunion  sind  die  verschiedensten  Plane  auf- 
getaucht,  von  denen  ein  Teil  seit  Ende  vorigen  Jahres  schon 
feste  Form  angenommen  hat.  So  auBerte  vor  zwei  Monaten 
der  tschechoslowakische  AuBenminister  Doktor  Benesch  be- 
reits  seine  Gedanken  iiber  die  Bildung  von  vier  europaischen 
Wirtschaftsblocks.  Benesch  sprach  damals  von  einem  Balkan- 
Donau-Europa,  von  einem  Ostsee-Europa,  von  einem  Block 
der  lateinischen  Machte  (Frankreich,  ltalien,  Spanien)  und  von 
einer  britischen  Gruppe.  Aber  auch  von  franzosischer  Seite 
sind  bereits  vor  langerer  Zeit  Plane  zur  Bildung  einer  Donau- 
foderation  entwickelt  worden,  als  deren  Vater  Berthelot,  der 
Staatssekretar  am  Quai  d'Orsay,  anzusehen  ist.  Allerdings  er- 
hoben  sich  damals  nicht  nur  in  Deutschland  und  ltalien  son; 
dern  auch  in  Siidslawien  und  Rumanien  erhebliche  Wider- 
spriiche.  Diese  beiden  Staaten  hatten  bereits  auf  der  Konfe- 
renz  von  Sinaia  eine  andre  handelspolitische  Kombination  er- 
sonnen.  Die  drei  Agrarstaaten  Jugoslawien,  Rumanien  und 
Ungarn  fanden  sich  dort  in  einer  gemeinsamen  Front  zusam- 
men,  Immerhin  ist  es  bemerkenswert,  daB  dieser  alteste 
Donau-Balkan-Plan  durchaus  die  Billigung  des  Volkerbundes 
und  der  in  Genf  vertretenen  GroBmachte  fand.  Anscheinend 
412 


nahm  man  jenen  Agrarblock  Sudost-Europas  nicht  so  ernst  wie 
cine  Wirtschaftsfoderatlon,  dcr  die  hoch  entwickelte  Tschecho- 
slowakei  angehort  und  hinter  der  Frankreich  steht. 

Aber  hatte  nicht  Oestcrreich  selbst  den  Wunsch  ciner 
engern  Zusammenarbeit  der  ehemaligen  habsburgischen  Kron- 
lander  geauBert?  Der  osterreichische  Ministerprasident  Bu- 
resch  hat  sich  kurz  vor  der  Umbildung  seines  Kabinetts  dahin 
geauBert: 

Wir  haben  in  Genf  den  Volkerbund  ersucht,  uns  groBere  okono- 
mische  Bewegungsfreiheit  zu  gewahren,  damit  wir  mit  alien  Nachbar- 
staaten  —  ich  sage  mit  alien  Nachbarstaaten,  ohne  Ausnahme,  und 
ohne  an  politische  Bindungen  zu  denken  —  wirtschaftliche  Abkom- 
men  treffen  konnen,  Wir  wollen  nie  auBer  acht  lassen,  daB  Oester- 
reich  ein  deutscher  Staat  ist,  und  wir  werden  diese  Linie  halten. 

Vor-  und  Nachsatz  stehen  in  einem  gewissen  Widerspruch. 
Unter  Betonung  des  deutschen  Charakters  wird  von  Verein- 
barungen  mit  alien  Staaten,  aber  nicht  mehr  von  einer  deutsch- 
osterreichischen  Losung  gesprochen.  Und  nun  hat  Frankreich 
den  Versuch  unternommen,  die  vielfaltigen  Wunsche  der  Do- 
naulander  zusammenzufassen.  DaB  diese  Aktion  nicht  allein 
aus  dem  Gefiihl  der  Hilfsbereitschaft  entsprungen  ist,  versteht 
sich  von  selbst.  Aber  konnten  sich  nicht  in  diesem  Punkte  die 
wohlverstandenen  Interessen  Frankreichs  und  Mitteleuropas 
begegnen? 

Was  Frankreich  beabsichtigt,  das  hat  Tardieu  bei  der 
Beratung  des  Budgets  ftir  auswartige  Angelegenheiten  in  der 
Kammer  gesagt;  ,,Die  Herstellung  des  Gleichgewichts  der 
Dinge  und  der  Geister  in  Mitteleuropa  ist  wichtig  genug,  urn 
jeden  zu  einem  Opfer  seiner  personlichen  Wunsche  zu  ver- 
anlassen.  Das  zu  erreichende  Ziel  ist  hoch  genug,  um  die  Zu- 
stimmung  der  ganzen  Welt  zu  finden."  Die  Beruhigung  Mittel- 
europas, ftir  die  Frankreich  Opfer  zu  bringen  bereit  ist,  liegt 
auf  wirtschaftlichem  Gebiete,  denn  auch  die  politische  Unruhe 
hat  ihren  Ausgang  von  der  Wirtschaftsnot  genommen.  Wenn 
Tardieu  von  Mitteleuropa  sprach,  so  muB  er  zweitellos  auch 
Deutschland  gemeint  haben.  Mit  ihrer  Wahrungspolitik  befin- 
den  sich  die  mitteleuropaischen  Staaten  in  ganz  ahnlicher  Lage, 
wobei  allerdings  Gradunterschiede  zwischen  dem  vollig  aus- 
gebhiteten  Oesterreich  und  der  innerlich  noch  gesunden 
Tschechoslowakei  zu  machen  sind.  Frankreich  erblickt  in  der 
Moglichkeit,  daB  die  mitteleuropaischen  Staaten  vom  Gold- 
standard  abgehen  konnten,  eine  gewaltige  Geiahr,  die  das 
Gleichgewicht  der  wirtschaftlichen  Machte  zuungunsten  Frank- 
reichs und  vielleicht  zugunsten  Englands  verschieben  wurde, 
Daher  miissen  nach  franzosischer  Anschauung  jene  Lander,  die 
selbst  nicht  in  der  Lage  sind,  die  Goldwahrung  auf  die  Dauer 
zu  verteidigen,  unterstiitzt  werden.  Zu  ihnen  gehort  selbst- 
verstandlich  auch  Deutschland.  Nur  das  Mifitrauen,  das  man 
bisher  gegeniiber  der  innenpolitischen  Entwicklung  Deutsch- 
lands  gezeigt  hat,  halt  Frankreich  von  enger  wirtschaftlicher 
Zusammenarbeit  mit  Deutschland  noch  zunick.  Das  im  An- 
schluB  an  den  berliner  Besuch  des  damaligen  Minister- 
prasidenten     Laval     gegriindete     Deutsch-franzosische     Wirt- 

413 


schafts-Komitee  war  bisher  nicht  in  der  Lage,  wirkliche 
Briicken  zwischcn  Deutschland  und  Frankreich  zu  schlagen. 
Man  kann.  bestenfalls  als  negativen  Erfolg  die  verhaltnismaBig 
leichte  Verstandigung  zwischcn  den  beiden  Landern  iiber  die 
franzosische  Einfuhr-Kontingentierung  buchen.  Verhandlungen 
iiber  einzelne  Positionen  wurden  nicht  von  Regierung  zu  Re- 
gierung sondern  von  Industrie  zu  Industrie  gepflogen. 

Man  verkennt  die  Ziele  der  franzosischen  Wirtschafts- 
politik,  wenn  man  annimmt,  daB  der  Donauplan  Andre  Tar- 
dieus  auf  eine  handelspolitische  Vormachtstellung  Frankreichs 
innerhalb  des  alten  habsburger  Territoriums  hinzielt.  Die  Wirt- 
schaftsbeziehungen  zwischen  Frankreich  und  der  Tschecho- 
slowakei  sind  so  eng  begrenzt,  dafl  auch  in  einem  Wirtschafts- 
block,  dessen  Vorort  Prag  ist,  und  hinter  dem  Frankreich  und 
Deutschland  stehen,  dem  deutschen  Handel  die  weitaus  groBere 
Bedeutung  zukommen  wiirde.  Frankreich  mochte  sich  fur 
einen  bestimmten  Zweck  des  gegenseitigen  Anlehnungsbediirf- 
nisses  der  Donaustaaten  bedienen;  seine  Gedanken  kreisen 
immer  wieder  um  das  Gold,  den  Angelpunkt  der  bisherigen 
wirtschaftlichen  Vormachtstellung  in  Europai  Der  aus  wah- 
rungs-  und  wirtschaftspolitischen  Motiven  entstandene  bri- 
tische  Block,  dem  auch  die  skandinavischen  Staaten  ange- 
horen,  steht  im  Begriff,  das  Kapitalzentrum  Europas  zu  werden. 

England  spielt  augenblicklich  eine  ahnliche  Rolle  wie 
Frankreich  kurz  nach  der  Stabilisierung  des  Franken.  Ein  von 
der  Regierung  selbst  ausgehender  Druck  auf  den  Sterlingkurs 
zieht  Devisen  nach  London,  (Jberdie's  hat  sich  der  Goldzu- 
strom  aus  Indien  seit  Jahresbeginn  auBerordentlich  verstarkt. 
So  muB  heute  Frankreich,  dessen  Wirtschaft  sich  mitten  in 
jenem  Depressionszustande  befindet,  den  England  bereits  iiber- 
wunden  zu  haben  scheint,  seine  PositionHui  der  Weltwirtschaft 
verteidigen.  Dies  ist  nur  moglich  durch  die  Starkung  der 
Autoritat  des  Goldes  und  damit  auch  durch  die  Konsplidierung 
der  dem  Golde  treu  gebliebenen  Lander.  In  diesem  Sinne  war 
die  Anleihe  von  sechshundert  Millionen  Francs,  die  unter  Ga- 
rantie  des  franzosischen  Staates  der  Tschechoslowakischen  Re- 
publik  gewahrt  worden  ist,  zu  verstehen.  Unter  diesem  Ge- 
sichtspunkt  sucht  Frankreich  auch  die  wirtschaf tlich  schwachen 
Donaustaaten  zu  einigen  und  zu  festigen  und  wird  schlieBlich, 
wenn  hierfur  gewisse  Garantien  gegeben  sindf  auch  die 
deutsche  Finanzlage  zu  bessern  suchen.  Fiir  Deutschland  ware 
eine  solche  Annaherung  gewiB  von  groBerm  Vorteil  als  die 
Annahme  vager  Inflationsprojekte,  von  denen  man  sich  augen- 
blicklich eine  Ankurbelung  der  Wirtschaft  verspricht.  Eine 
politische  Abhangigkeit  von  Frankreich  ergabe  sich  aus  einer 
derartigen  Kombination  keinesfalls,  da  die  franzosische  Re- 
gierung im  Hinblick  auf  die  politischen  Stromungen  in  Deutsch- 
land solche  Ambitionen  kaum  hegen  diirfte.  Am  Ende  hangt 
das  Gelingen  des  Donauplans  doch  nur  von  dem  Preis  ab,  den 
Frankreich  zahlt,  Auch  Deutschland  konnte  Kredite  gebrau- 
chen,  aber  nicht  nur  der  Anleihenehmer  sondern  auch  der 
Anleihegeber  fragt  sich,  ob  der  Partner  vertrauenswiirdig  ist. 
Diese  Frage  ist  aber  noch  unentschieden. 

414 


Wie  manS  macht  ...  von  Theobald  Tiger 

a)  Trost  fur  den  Ehemann 

T  Tnd  wenn  sie  dich-  so  recht  gelangweilt  hat, 
*^   dann  wandern  die  Gedanken  in  die  Stadt  * . . 
Du  stellst  dir  vor,  wie  eine  dir, 
und  wie  du  ihr,  das  denkst  du  dir 
Aber  so  schon  ist  es  ja  gar  nicht! 

Mensch,  in  den  Bars,  da  gahnt  die  Langeweile. 

Die  Margot,  die  bezog  von  Rudolf  Keile 

Was  flustert  nachher  deine  Bajadere? 

Sie  quatscht  von  einer  Filmkarriere, 

und  von  dem  Lunapark  und  Feuerwerk, 

und  dafi  sie  Reinhardt  kennt  und  Pallenberg . .  . 

Und  eine  Frau  mit  Seele?    Merk  dies  wichtige: 

die  klebt  ja  noch  viel  fester  als  die  richtige. 

Du  traumst  von  Orgien  und  von  Liebesfesten. 
Ach,  Mensch,  und  immer  diese  selben  Gesten, 
derselbe  Zimt,  dieselben  Schweinerein  — 
was  kann  denn  da  schon  auf  die  Dauer  seinf 
Und  hinterher,  dann  trittst  du  an 
mit  einem  positives  Wassermann, 
so  schon  ist  das   ja  gar  nicht. 

Sei  klug.     Verfluch  nicht  deine  Frau,  nicht  deine  Klause. 
Bleib  wo  du  bist. 

Bleib  ruhig  zu  Hause. 

b)  Trost  fur  den  Junggesellen 

Du  hast  es  satt.     Wer  will,  der  kann. 

Du  gehst  jetzt  haufiger  zu  Hohnemann. 

Der  hat  mit  Gott  zwei  Nichten.     Zart  wie  Rehe. 

Da  gehst  du  ran.     Du  lauerst  auf  die  Ehe. 

Bild  dir  nichts  ein.    Du  schuttelst  mit  dem  Kopf? 
Ach,  alle  Tage  Huhn  im  Topf 
und  Gans  im  Bett  —  man  kriegt  es  satt, 
man  kennt   den  kleinen  Fleck   am  linken  Schulterblatt , . . 
So  schon  ist  es  ja  gar  nicht! 

Sie  zahlt  die  Laken.     Sagt,  wann  man  groflreinemachen  soil. 

Du  weiBt  es  alles,  und  du  hast  die  Nase  voll. 

Erst  warst  du  auf  die  Heirat  wie  versessen; 

daB  deine  Frau  auch  Frau  ist,  hast  du  bald  vergessen, 

Sei  klug.     Verfluch  nicht  deine  Freiheit,   deine  Klause. 
Bleib  wo  du  bist. 

Bleib  ruhig  zu  Hause. 

c)  Moral 

Lebst  du  mit  ihr  gemeinsam  —  dann  fiihlst  du  dich  recht  einsam 

Bist  du  aber  alleine  —  dann  f rieren  dir  die  Beine. 

Lebst  du  zu  zweit?    Lebst  du  allein? 

Der  Mittelweg  wird  wohl  das  richtige  sein. 

415 


Bemerkungen 


Ich  zeige  an! 

Eingabe  an  das  Reichswehnninisterium 
betr.  ErlaB  vom  29.  Januar  1932 

Hcrr  Minister! 

Obwohl  Sic  durch  Ihre  Buile 
iibcr  die  „WehrfreudigkeitM 
nicht  nur  der  Majoritat  der  na- 
tionalgesinnten  Deutschen,  son- 
dern  sogar  alter  Erdbewohner  aus 
der  Seele  gesprochen  haben,  gibt 
es  doch  nocb  imtner  einige  Intel  - 
lektuelle  (Pazifisten,  Militaristen 
etcetera) ,  die  fortf ahren,  durch 
Schrift  und  Bild  der  „Pflege  na- 
tionaler  Ideen" ,  Abbruch  zu  tun. 
Wird  solche  Propaganda  von  le- 
benden  Autoren  ausgeiibt,  so  ist 
es  ein  Leichtes,  sie  durch  exem- 
plarische  Bestrafung  binnem  Kur- 
zem  vollig  auszurotten.  Gefahr- 
licher  ist  der  EinfluB  verstorbe- 
ner  Autoren,  deren  Werke  vor- 
laufig  weiter  in  offentlichen  und 
Privatbibliotheken  einer  kritik- 
losen  Jugend  zuganglich  sind.  So- 
weit  es  sich  um  Auslander  (wie 
Swift,  Voltaire,  Tolstoi),  Juden 
(wie  Heine,  Borne),  notorische 
ffKulturbolschewisten"  (wie  Schu- 
bart,  Lichtenberg,  Freiligrath) 
handelt,  bedarf  man  keines  be- 
sondern  Hinweises.  Leider  findet 
sich  auch  in  den  Schrift-Erzeug- 
nissen  solcher  Leute,  die  bisher 
unumschranktes  Asylrecht  in  der 
Literatur  genossen  haben,  cine 
Reihe  von  Satzen,  auf  die  die  Auf- 
merksamkeit  eines  verehrlichen 
Reichswehrministerium  hinzulen- 
ken  ich  mich  verpflichtet  fiihle. 

„Mitglieder  solcher  Organisatio- 
nen,    die    im    Grunde    wehr- 
feindlich      eingesteltt      sind" 
(Groener -ErlaB) 
„Gestatten    Sie   mir,    Ihnen    zu 
entgegnen,  dafi  unsre  heutigen  Re- 
ligionen    der  Religion   Christi     so 
wenig  gleichen  wie   der   der   Iro- 
kesen.    Jesus  war  ein   Jude,   und 
wir  verbrennen  die   Juden;   Jesus 
predigte  Duldung,  und  wir  verfol- 
gen;  Jesus  predigte  eine  gute  Mo- 
ral, und  wir  iiben  sie  nicht  . . .  Je- 
sus war  eigentlich  ein  Essener;  cr 
war  durchtrankt  mit  der   Esseni- 
schen  Moral . . ."    (Lexikon:   Esse- 
ner, Name  einer  asketischen  Ge- 

416 


nossenschaft  —  verwarfen  den 
Eid,  den  Krieg  und  alle  auf  Krieg 
abzielenden    Beschaftigungen.) 

Brief  an  d'Alembert,  18.  Oktober  1770 

„Ofhnkundiger  MiBbrauch  turn 
Zwecke  entnervender  Kriegs- 
propaganda*  f.Vblkischer  Be* 
obachter) 
„Ich  bin  iiberzeugt,  dafi,  wenn 
Monarchen  ein  wahres  Bild  von 
all  dem  Elend  sahen,  das  eine 
einzige  Kriegserklarung  liber  die 
Nation  bringt,  sie  davon  geriihrt 
sein  wiirden.  Ihre  Einbildungs- 
kraft  ist  nur  nicht  lebhaft  genugi 
um  ihnen  die  Leiden,  die  sie 
nicht  kennen  und  vor  denen  sie 
ihr  Stand  schiitzt,  nach  der  Na- 
tur  zu  schildern,  Wie  so  lien  sie 
etwas  von  den  Steuern  empfinden, 
welche  das  Volk  driicken,  von 
dem  Fehlen  der  Jugend  imLande, 
die  zu  den  Waffen  geht,  von  den 
Seuchen,  welche  die  Heere  zu- 
grunde  richten,  von  den  Greueln 
der  Schlachten  und  mancher  noch 
morderischerer  Belagerungen,  von 
der  Verzweiflung  der  Verwunde- 
ten,  welche  das  feindliche  Schwert 
einiger  Gliedmafien  beraubt  hat, 
der  einzigen  Werkzeuge  ihres  Ge- 
werbefleiBes  und  ihrer  Ernahrung, 
von  dem  Kummer  der  Waisen,  die 
durch  den  Tod  ihres  Vaters  die 
einzige  Stutze  ihrer  Schwachheit 
verlieren  und  von  dem  Verluste 
so  vieler,  dem  Staate  niitzlicher 
Menschen,  welche  der  Tod  vor  der 
Zeit  hinweggerafft  hat?" 

Antimacchiavell  Kapitel  26 

tfUnser  Feldzug  ist  beendet  und 
hat  auf  keiner  Seite  ein  andres 
Ergebnis  als  den  Verlust  sehr  vie- 
ler ehrenwerter  Lcute,  das  Un- 
gliick  sehr  vieler  armer  Soldaten, 
die  fur  immer  verstummelt  sind, 
den  Ruin  einiger  Provinzen,  Be- 
raubung,  Pliinderung  und  Brand 
einiger  bliihender  Stadte.  Darin, 
mein  lieber  Mylord,  besteben  die 
Heldentaten,  welche  der  Mensch- 
heit  Schauder  einflofien,  die  trau- 
rigen  Folgen  der  Bosheit  und  des 
Ehrgeizcs  einiger  Machthaber, 
welche  alles  ihren  ziigellosen  Lei- 
denschaften  opfern." 

An  den  Lord-marschall  von  Schottland. 
23.  Oktober  1921 


Verfasser  der  angefuhrten  Satze 
war  Mitglied  des  Hauses  Hohen- 
zollern  und  hat  im  preuBischen 
Hccrc  eine  hohe  Position  beklei- 
det.  In  Filmen,  die  auch  von  An- 
gehorigen  der  Reichswehr  besucht 
werdeh,  spielt  er  als  Fridericus 
Rex  eine  Rolle, 

Verachtlichmachung  des  Solda- 
tenstandes 

MEs  schaudert  mich  die  Haut 
vom  Wirbel  bis  zur  Zehe,  wenn 
ich  an  den  preuBischen  Despotis- 
mus  und  den  Schinder  der  Volker 
denke,  welcher  das  von  der  Na- 
tur  selbst  vermaledeite  und  mit 
lybischem  Sand  bedeckte  Land 
zum  Abscheu  der  Menschen 
machen  und  mit  ewigem  Fluche 
belegen  wird.  Lieber  ein  be- 
schnittener  Tiirke,  als  ein  PreuBe." 

An  Usteii,   15.  Januar  1763 

Schreiber:  Johann  Jochim 
Winckelmann,  Archaologe,  Kon- 
rektor  in  Seehausen,  Mitarbeiter 
an  der  „deutschen  Kaiser-  und 
Reichsgeschichte", 

Nationate  Wurdelosigkeit 
„Ja,  gesetzt,  es  wird  iiber  kurz 
oder  lang  Friede;  gesetzt,  die  itzt 
so  feindselig  gegen  einander  ge- 
sinnten  Machte  sohnen  sich  aus: 
was  meinen  Sie,  dafi  alsdann  die 
kaltern  Leser,  und  vielleicht  der 
Grenadier  selbst,  zu  so  mancher 
Ubertreibung  sagen  werden,  die 
sie  itzt  in  der  Hitze  des  Affects 
fur  ungezweifelte  Wahrheit  hal- 
ten?  Der  Patriot  uberschreyet  den 
Dichter  zu  sehr,  und  noch  dazu 
so  ein  soldatischer  Patriot,  der 
sich  auf  Beschuldigungen  stutzt, 
die  nichts  weniger  als  erwiesen 
sind!  Vielleicht  zwar  ist  auch  der 
Patriot  bey  mir  nicht  ganz  er- 
stickt,  obgleich  das  Lob  eines  eif- 
rigen  Patrioten,  nach  meiner  Den- 
kungsart,  das  allerletzte  ist,  wo- 
nach  ich  geitzen  wtirde;  des  Pa* 


trioten  nehmlich,  der  mich  verges- 
sen  lehrte,  daB  ich  ein  Weltburger 
seyn  sollte/' 

An  Gleim,  16.  Dezember  1758 

Bibliothekar  an  der  Herzog- 
lichen  Bibliothek  Braunschweig. 
Die  Werke  dieses  Mannes,  eines 
gewissen  Gotthold  Ephraim  Les- 
sing,  sind  in  den  Lehrplan  aller 
preuBischen  Lehranstalten  auf- 
genommen, 

Beschimpfung  des  kriegerischen 
Geistes 

„Denn  die  Deutschen  wissen  von 
nichts  Anderm,  als  wenn  sie  kei- 
nen  fremden  Feind  zu  bekampfen 
und  zu  verderben  haben,  so  thun 
sie  einander  den  Gefallen  selber." 

Erzahlungen,  II.  Abtheiiung. 

Verfasser:  Johann  Peter  Hebelf 
Subdiakonus  am  Gymnasium  zu 
Karlsruhe,  Kir  chenr  a  t,  Mi  tglie  d 
der  evangelischen  Kirchenkommis- 
sion.  Sein  Biograph  Wendt  sagt 
ausdrticklich  von  ihm:  „ftir  die 
Erhebung  des  deutschen  Volkes 
hat  er  kein  einziges  warmes. 
Wort." 

Mangel  an  itsittlicher  Reife  fiir 
die  Aufnahme  in  die  Wehr- 
macht" 

Sind  nur  darum  Europas  Staaten». 

DaB  die  Soldaten  grunen  und^ 
bltth'n? 

Mussen  fur  drei  Millionen  Sol- 
daten 

Unsre  zweihundert  Millionen  sichi 
muh*n? 

Freilich,  das  ist  das  Gliick,  das 
moderne, 

Das  uns  gelehrt  hat  Soldateir 
erzieh'n: 

Ganz  Europa  ist  eine  Kaserne, 

Alles  Dressur  und  Disziplin!" 

..Unpoiitische  Lieder" 

Verfasser  war  ordentlicher  Pro- 
fessor fur  Deutschkunde  an  der 
Universitat  Breslau.  Aber  obwohl 
er  sich  durch  die  zitierten  Verse 


KEIN   ZWEIFEL,   DASS  W.I  R   ES 

mit  eine  m   erregend   schdnen   Buch  zu  tun  haben  I 
schrieb  Kurt  Reinhoid  im  „TagebuchH  uber  Georg  Kaisera 

ERSTE  N.ROMAN  „ES  1ST  GENUGr 

417 


>als  „im  Grande  wehrfcindlich  ein- 
gestellt"  zeigt,  wird  eines  seiner 
Lieder  (Deutschland,  Deutschland 
fiber  Alles)  auch  in  den  von  Mit- 
gliedern  der  Wehrmacht  und  der 
Ministerien  offiziell  besuchten 
Veranstaltungen  zum  Vortrag  ge- 
bracht! 

In  der  Hoffnung,  durch  den  Hin- 
weis  auf  solche  MiBstande  im 
Sinne  des  Erlasses  vom  29.  1,  32 
gehandelt  zu  haben, 

verbleibe  ich  in  sicherer  Er- 
wartung  auf  baldige  Abhilfe 
als 

Ihr  sehr  ergebener 

Walter   Me  firing 

Whitechapel  in  China 

Tn  der  letzten  ,Weltbuhne'  hat 
*  W.  Colepepper  die  Hinter- 
griinde  der  Zusammenarbeit 
zwischen  Hitler  und  Frankreich 
ausgezeichnet  geschildert.  Nicht 
nur  die  deutsch-franzosische  Poli- 
tik  hat  ihren  Herrn  Hoschiller 
aus  Lemberg,  Auch  im  Fernen 
Osten  „tut  sich  was".  ,  .Daily 
Mail*  berichtet  unter  dem  Titel 
^,Die  Macht  hinter  China"  von 
dem  phantastischen  Lebenslauf 
eines  chinesischen  Kriegsherrn 
und  groBen  Diplomaten.  Der  kom- 
mandierende  General  der  chinesi- 
schen 19,  Armee,  der  zur  Zeit  an 
der  Schanghaifront  stent  und  den 
seine  Eltern  und  Geschwister  in 
England  als  den  wahren  Prasi- 
denten  Chinas  bezeichnen,  startete 
vor  vierzig  Jahren  im  londoner 
East  End,  Sein  Bruder,  heute  ein 
groBer  Kaufmann  in  Manchester, 
stent  in  dauernder  Korrespondenz 
rait  ihm.  In  diesen  Briefen  teilt 
Seine  Exzellenz,  der  Herr  Gene- 
ral, mitf  daB  er  hoffe,  in  dem  ge- 
einigten  China  recht  bald  west- 
europaische  Regierungsformen 

einzufiihren. 

Der  Herr  General  behauptet, 
sein  Heimatland  einzig  aus  einem 
tinstillbaren  Drang  nach  Aben- 
teuern  und  einer  unendlichen 
Vorliebe  fur  ostliche  Volker  ver- 
lassen  zu  haben,  Immerhin  wan- 
derte  er  nicht  etwa  nach  Ostasien 
aus  sondern  nach  Kanada,  wo  er 
«ich  als  Grundstiicksmakler  be- 
tatigte  und  auf  diese  Weise  mit 
chinesischen     Auswanderern     be- 

418 


kannt  wurde.  Bei  Kriegsausbruch 
soil  er  ein  chinesisches  Arbeits- 
bataillon  zusammengestellt  haben, 
das  an  der  franzosischen  Front 
Dienst  tat,  Hierdurch  lernte  er 
nun  offizielle  chinesische  Person- 
lichkeiten  kennen,  so  daB  man 
ihn  nach  KriegsschluB  zum  Mit- 
glied  einer  machtigen  chinesischen 
Geheimorganisation  machte. 

Durch  seine  organisatorischen 
und  vor  alien  Dingen  finanziellen 
Geschicklichkeiten  wurde  er  ein 
Machtfaktor  in  der  Nationalisti- 
schen  Partei  Chinas, 

So  verhalf  er  Sun  Yat  Sen  beim 
Sturz  der  Nationalistischen  Regie- 
rung  zur  Flucht  nach  Kanada  und 
fuhlt  sich  jetzt  als  dessen  poli- 
tischer  Testamentsvollstrecker, 
Heute  werden  seine  Befehle  in 
der  chinesischen  Nationalbewe- 
gung  befolgt* 

Als  Handelsbotschafter  zwischen 
China  und  dem  Westen  hat  er 
GroBbritannien  schatzenswerte 
Dienste  durch  Erteilung  von  be- 
trachtlichen  Warenauftragen  ge- 
leistet,  Er  war  der  vertrauliche 
Ratgeber  von  San  Fo,  Sun  Yat 
Sens  Sohn,  der  1928  die  chi- 
nesische Wirtschaftskommission 
nach  England  brachte, 

Der  Bruder  des  ,f chinesischen  } 
Prasidenten"  erklarte  einem  Re- 
porter von  ,Daily  Mail',  er  habe 
grade  einen  ausfuhrlichen  Brief 
von  Seiner  Exzellenz  erhalten,  es 
stunden  sehr  wichtige,  aber  hoch- 
vertrauliche  Dinge  darin,  uber  die 
er  1  eider  nicht  reden  diirfe! 

Obrigens  hort  Chinas  heimlicher 
Prasident,  Kriegsherr  und  Wirt- 
schaftsfuhrer  auf  den  echt  chinesi- 
schen Namen  Moritz  Abraham 
Cohen,  Und  das  ist  keine  Erfin- 
dung  von  Hitler. 

Johannes  Buckler 

Kolossal  beruhmt 

Auf  der  sprachlichen  Niederjagd 
'**  gefangen:  „beruhmt  ge- 
worden", 

Irgend  ein  Esel  mag  das  einmal 
geschrieben  haben,  um  sich  wich- 
tig  zu  machen;  ,,die  beruhmt  ge- 
wordene  Rede  des  Kanzlers  . . ." 
Und  nun  schreiben  es  ihm  alle, 
alle  nach:  die  beruhmt  gewordene  • 
Szene,     das    beruhmt     gewordene 


Chanson,  die  beruhmt  gewordene 
Wendung,     Gemeint  ist:  bekannt. 

Homer  ist  beruhmt.  Chaplin  ist 
^ur  Zeit  beruhmt.  Der  Ruhm  Na- 
poleons, das  kann  man  sagen.  Es 
ist  aber  ein  Irrtum,  zu  glauben, 
dafl  beruhmt  sei,  was  zweimal  in 
der  Schlagzeile  einer  Mittagszei- 
tung  gestanden  hat,  denn  da  stent 
vieles,  was  fruher,  Borgis,  ohne 
DurchschuB,  im  lokalen  Teil  zu 
stehen  pflegte.  Es  ist  da  eine 
jammer  voile  Verengung  des  Ge- 
sichtskreises  eingetreten,  die  Vor- 
dergrund-Figuren  erscheinen  ganz 
:gro8t  und  die  gesamte  Welt  ver- 
schwimmt  zu  einem  grauen  Fond, 
Geistige  Autarkie. 

Sprache  ist  stets  Ausdruck 
-einer  Gesinnung.  Diese  bier  ist 
beklagenswert.  Jeder  dieser  klei- 
nen  Kreise  halt  sich  fur  das  Cen- 
trum der  Erde,  und  man  muB  ein- 
mal  erlebt  haben,  was  geschieht, 
wenn  sich  diese  Leute  im  Ausland 
mit  Fremden  unterhalten:  wie  da 
beide  Teile  aneinander  vorbei- 
reden,  wie  der  Deutsche  auch 
nicht  einen  Augenblick  auf  den 
Gedanken  kommt,  seine  Begriffe 
und  MaBstabe  konnten  vielleicht 
dort  nicht  gelten,  mehr,  tiber- 
haupt  nicht  bekannt  sein  . . .  seine 
Seele  kreist  um  den  Potsdamer 
Platz  oder  um  drei  Zeitschriften 
oder  um  Hitler  oder  um  sonst 
eine  LokalgroBe  und  ist  nicht  da- 
von  Loszubekommen.  Und  dann 
sind  alle  Beteiligten  erstaunt, 
well  es  zu  keiner  Einigung 
kommt.  Wenn  zwei  Kaufleute 
miteinander  abschlieBen  wollen, 
und  der  eine  meint,  es  handle 
sich  um  Kauf,  und  der  andre 
meint,   es   handle   sich  um   Miete, 


so  kommt  auch  bei  einer  schein- 
baren  Einigung  kein  Vertrag  zu- 
stande  —  Dissens  nennt  es  der 
Jurist,  So  ungefahr  verlaufen 
die  meisten  inter nationalen  Dis- 
kussionen.  Es  ist  ein  Jammer, 
daB  dabei  nicht  Latein  gesprochen 
wird. 

Man  blattere,  was  viel  zu  we- 
nig  getan  wird,  in  den  Zeitungen 
ein  Jahr  zurtick,  und  man  wird 
sehen,  was  das  tlberuhmt  ge- 
wordene Stuck"  heute  ist:  Ge- 
raschel  eines  welken  Kranzes. 
Und  zwei  Flugstunden  weiter, 
grade  um  die  Ecke,  haben  sie  von 
dem  statuierten  Ruhm  iiberbaupt 
nichts  gewuBt.  Es  ist  ein  Ruhm, 
dessen  Reichweite  mit  den  Gren- 
zen  eines  postalischen  Bestell- 
bezirks  zusammenfallt  und  der 
vierzehn  Tage  dauert,  gut  gerech- 
net.  Diese  Zeit  spricht  noch 
nicht  ihre  Sprache,  oder :  ihre 
Sprache  ist  die  der  Zeit  von 
gestern,  Sie  pappt  groBe  Worter, 
die  beinah  ihren  Sinn  verloren 
haben,  auf  die  kleinen  Begriffe 
des  Alltags,  ihr  Kleid  ist  vier 
Nummern  zu  weit,  und  wenn 
alles  schief  geht,  so  sieht  sie  sich 
doch  ununterbrochen  im  Spiegel 
eines  imaginaren  Konversations- 
lexikons  und  kommt  sich  sehr  be- 
ruhmt  geworden  vor. 

Peter \  Panter 

Die  BibHophllen 
\/or  einigen  Wochen  fand  im 
v  Haus  der  Deutschen  Presse 
zwischen  Mitgliedern  des  PEN- 
Clubs  und  Mitgliedern  bibliophiler 
Vereinigungen  eine  Aussprache 
iiber  die  Entfremdung  statt,  die 
zwischen   diesen   beiden   Gruppen 


Metro- Goldwyn-Mayer  zeigen 

CECIL  B.  DE  MILE'S 


19 


MADAM  SATAN 


li 


TKOLICH  7  und  9.15  OHR 
SONNABENO  UNO  SONN- 
TAG   5f  7    und  9.15   UHR 


mit  Kay  Johnson,  Reginald  Denny, 
Lillian   Roth   und   Roland   Young 

Ein  Metro-Goldwyn-Mayer-Tonfllm  In  Originaffassung 


ATRIUM 


Kai8erallee  Ecke 
Berliner  StraBe 

419 


besteht,  also  zwiscnen  Biicher- 
schreibern  und  Biichersammlern. 
Wie  gewohnlich  fuhrte  die  Dis- 
kussion  zunachst  zu  einer  allge- 
meinen  Verwirrung  der  Tat- 
bestande.  Erst  der  Beifall,  den 
einzelne  Redner  mit  der  Versiche- 
rung  fanden,  sie  seien  Bibliophile, 
und  die  Not  der  Schriftsteller 
ginge  sie  daher  so  wenig  an.  wie 
die  Not  von  Richtern,  Rechts- 
anwalten  und  Mitgliedern  andrer 
Berufe,  fuhrte  zumindest  dazu, 
daB  der  Gegensatz  zwischen 
Schaffen  und  Sammeln  zwar  nicht 
behoben,  aber  in  seiner  krassesten 
Form  wenigstens  festgestellt 
wurde.  So  sprachen,  so  denken 
also  wirklich  Menschen,  die  Geld 
fur  besonders  kostbar  gepflegte 
Biicher  ausgeben,  offenbar  ohne 
jeden  innern  Zusammenhang  zwi- 
schen einer  aufiern  Kulturform 
und  dem  Wesen,  dem  sie  dient. 
Nur  die  Anwesenheit  von  Biblio- 
philen mit  wirklich  geistiger  Kul- 
tur  und  von  Schriftstellern,  die 
doch  ein  Verstandnis  fiir  das  Son- 
derrecht  der  Buchform  hatten,  er- 
moglichte  es,  die  Aussprache  zu 
dem  Ergebnis  zu  fuhren,  daB  die 
bibliophilen  Vereinigungen  neue 
Wege  suchen  sollen,  ihre  Produk- 
tion  mit  der  der  Zeit  geistig  aus- 
zugleichen. 

Die  groBe  Offentlichkeit  ist  in 
einer  Krise,  die  nur  Not  und  Ent- 
sagung  kennt,  gewiB  nicht  an  der 
Sondernot  des  Dichters  interes- 
siert,  Wohl  aber  ist  die  Tatsache 
von  allgemeiner  Bedeutung,  daB 
eine,  wenn  audi  kleine,  so  doch 
finanziell  beachtenswerte  Zahl 
von  Menschen  eine  solche  Diskre- 
panz  zwischen  Form  und  Inhalt, 
Zweck  und  Mittelni,  Buch  und 
Buchschopfung  seit  langem  er- 
tragt,  ohne  sich  mit  ihr  ausein- 
anderzusetzen.  Die  naive  Meinung 
des  Laien,  daB  ein  Buch  zum  Le- 
sen  bestimmt  ist,  trifft  gewiB  nicht 
auf  jedes  bibliophile  Buch  zu. 
Was  es  auf  alien  Gebieten  gibt, 
namlich  die  Verselbstandigung 
von  etwas,  was  im  Wesen  nur 
Mittel  ist,  besteht  beim  Buch  seit 
langem.  Das  Buch  ist  auBer,  daB 
es  zum  Lesen  bestimmt  ist,  ein 
Schauobjekt,  in  vielen  Fallen  ein 
Bildwerk,   oft   eine   Reliquie   und, 

420 


wenn  es  bibliophil  pro<Juzieri: 
wird,  Kunstgewerbe.  Trotzdemist. 
aber  grade  die  deutsche  Biblio- 
philie zu  einer  Inzucht  geworden, 
ohne  Zusammenhang  mit  den  gei- 
stigen  Stromungen  der  Zeit,  eine 
Liebhaberei  von  Sonderlingen, 
eben  weil  sie  seit  Jahrzehnten . 
viel  zu  sehr  vergessen  hat,  daB 
auch  die  Pflege  der  Buchkunst  als 
eines  Mittel s  sinnlos  wird,  wenn 
sie  nicht  ununterbrochen  aus  dem 
Bediirfnis  des  wirklicheh  Lesers 
neu  entsteht. 

„Le  livre  est  avant  tout  un 
texte."  Mit  dieser  Erklarung  hat 
die  franzosische  Bibliophilie  ein 
fiir  allemal  festgestellt,  daB  sie  im 
Dienste  des  Wortes,  des  Dichters 
steht,  Nur  eine  solche  Verbin- 
dung  fuhrt  zwangslaufig  zu  einer 
bibliophilen  Produktion  moderner 
Dichtung.  Auch  hier  zeigt  sich 
wieder,  daB  der  Franzose  eher  so 
ist,  wie  der  Deutsche  sich  selbst 
sieht.  Die  deutsche  Bibliophilie 
ist  voll  von  Spielereien,  Nichtig- 
keiten  und  unsachlich.  Die  fran- 
zosische Bibliophilie  ist  mit  dem 
dichterischen  Schaffen  unlosbar 
verbunden,  Buoherschreiber  und 
Biichersammler  sind  keine  Ge- 
gensatze  sondern  identisch.  Nur 
wenn  die  Bibliophilie  ein  Teil  der 
Geistesgeschichte  des  Landes  und 
seines  Schrifttums  ist,  hat  sie 
Existenzberechtigung.  Die  unver- 
gefiliche  Ausstellung  franzosischer 
Bibliophilie  hat  uns  das  vbr  zwei 
Jahren  gezeigt.  Sie  war  fast  nur 
der  typographische  oder  illustra- 
tive Ausdruck  des  dichterischen 
Schaffens,  Wiirde  die  deutsche 
Bibliophilie  eine  ahnliche  Aus- 
stellung veranstalten,  so  ware  das 
Ergebnis  deprimierend.  Von  der 
deutschen  Dichtung  der  letzten 
dreifiig  Jahre  sind  noch  nicht 
funfzehn  Namen  in  der  Biblio- 
philie vertreten. 

Einige  Wochen  nach  diesem 
Diskussionsabend  hat  die  Gesell- 
schaft  der  Freunde  der  Deutschen 
Biicherei  ein  Verzeichnis  aller 
Veroffentlichungen  der  „Deut- 
schen  Bibliophilie  in  3  Jahrzehn- 
ten" ihren  Mitgliedern  vorgelegt 
Das  Buch,  einem  der  noblen  Gei- 
ster     der    deutschen   Bibliophilie,. 


nainlich  Fedor  von  Zobeltitz,  ge- 
v/idmet,  ist  Seitc  fur  Seite  ein 
Beleg  bibliophiler  Inzucht  und 
einer  gradezu  unverstandlichen 
Angst  vor  der  Beriihrung  mit  den 
Lebenden.  Es  ist  ja  kein  Geheim- 
nis,  daB  bibliophile  Publikatio- 
nen  zum  Haben  und  nicht  zum 
Lesen  bestimmt  sind,  aber  so 
lange  die  Bibliophilie  sich  grade- 
zu darauf  versteift,  Texte  zu 
drucken,  die  niemand  mehr  lesen 
will,  ist  es  verstandlich,  daB  sie 
sich  als  Gesamtheit  aufierhalb 
der  Nation  stellt,  Nation  im 
Sinne  von  Kultur-  und  Schicksals- 
gemeinschaft.  Gewifl  ist  eine  ge- 
waltige  Arbeit  an  typographischer 
und  bildnerischer  Kultur  in  die- 
sen  zweitausend  Publikationen  ge- 
lcistet  worden.  Es  spricht  aber 
nicht  grade  fiir  unsre  Dichter,  dafi 
erst  heute  die  Not  sie  dazu  treibt, 
sich  an  die  bibliophile  Produk- 
tion  zu  wenden,  sozusagen  urn 
sich  ein  neues  Absatzgebiet  zu  er- 
obern.  Es  ware  langst  die  Pflicht 
deutscher  Dichter  gewesen,  den 
"bisherigen  Zustand  der  Bibliophi- 
lie  unertraglich  zu  linden  t  und 
auf  eine  Anderung  zu  dringen. 
Auch  auf  diesem  Gebiet  wird  es 
so  sein  wie  tiberall  sonst  in 
Deutschland;  der  Geistige  wird 
nicht  gerufen,  er  bekommt  nur 
das,  was  er  sich  selbst  holt.  Wenn 
die  deutschen  Dichter  darauf  drin- 
gen werden,  dafi  die  deutsche 
Bibliophilie  endlich  zu  einem  Aus- 
druck  geistigen  Wollens  wird, 
dann  wird  es  auch  geschehen. 
Wenn  nicht,  werden  die  biblio- 
philen  Vereinigungen  weiter  wie 
bisher  (mit  erfreulichen  Ausnah- 
men    der   Verbande   in   Chemnitz, 


Hamburg,  Frankfurt)  nGoethes 
Taufanzeige  rait  dem  Druckfehler 
des  Originals"  und  Wilhelm 
Abraham  Tellers  „Trauerrede  fiir 
Herrn  von  Itzenplitz  und  Frau- 
lein  von  Friedland",  1792,  ihren 
Mitgliedern  vorlegen  statt  Dich- 
tung  von  gestern,  heute  und  mor- 

Felix  Stossinger 

Die  Damen  wollen  auch  dabei  sein 

pjem  ArbeitsausschuB  fiir  die 
*-^  Deutsche  Kundgebung  zur 
Abrustungskonferenz  ist  es  jetzt 
endgiiltig  gegluckt,  die  Idee  einer 
groBen  deutschen  Frauenaktion 
fiir  den  Frieden  noch  nachtraglich 
zu  diskreditieren.  Schon  die  Vor- 
bereitungen  waren  beschamend: 
die  Internationale  Frauenliga 
hatte  auf  der  letzten  Tagung  in 
Belgrad  eine  Friedensresolution 
angenommen,  die  von  den  Frauen- 
verbanden  aller  angeschlossenen 
Lander  fiir  die  Abrustungskonfe- 
renz unterzeichnet  werden  sollte, 
Diese  einheitliche  internationale 
Kampffront  wurde  vom  Bund 
Deutscher  Frauenvereine  durch- 
brochen.  Auf  der  leipziger  Ta- 
gung im  Herbst  vorigen  Jahres 
beschloB  der  Bund,  die  internatio- 
nale Aufforderung  zur  Unter- 
schriftensammlung  nur  mit  einem 
„Deutschen  Vorbehalt"  in  Umlauf 
zu  setzen.  Der  Bund  protestierte 
gegen  den  Konventionsentwurf 
und  forderte  im  deutschen  Inter- 
esse  „unbedingte  Rechtsgleichheit 
zwischen  den  bereits  abgeriiste- 
ten  und  den  andern  Nationen" , 
strikte  Erf  iillung  der  Ver- 
sprechungen  des  Versailler  Ver- 
trages.    So  werden  die  deutschen 


...Diese  Lebensbelchte  elnes  Deutschen*;)  aus  der  Unter- 
welt  Chicagos  unci  New  Yorks  1st  vielleicht  die  wlchtlgste  Er- 
ganzung  zu  den  Tatsachenbuchern  Ober  U.  S.  A.  Die  flnstere 
Realltat  jenes  unbekannten  Amerlka,  In  dem  nicht  Hoover 
Oder  Morgan,  sondem  Al  Oapone  herrscht,  erschelnt  als 
eine  VVelt  von  satanischer  Gesetzllphkeit  und  zuglelch  tlefem 
soztatem  Sinn.  Hler  triumphiert  die  elnfache  Spannung  des 
Lebens  Ober  jede  schriftstellerlsche  Kunst.  Man  llest  keine. 
Geschichte,  sondern  starrt  einem  Brande  zu,"     Frank  ThieS 

'■*}  Es  handelt  sich  um: 

Ja<h  Bilbo  IBnMensdi  wirfl  Verbredier 


<& 


Broschlert  M  3.- 


in  Lelnen  M  4.80 
421 


Frauen  mil  saurem  Gesicht  neben 
eine  Weltbewegung  gestellt, 

Der  deutsche  Staasbiirgerinnen- 
verband  setzte  sich  fur  die  Pro- 
paganda dieser  Fassung  ein 
und  lieB  durch  den  Arbeitsaus- 
schuB  die  f1blaue  Liste"  kursieren. 
Bei  den  offiziellen  Gelegenbeiten 
wurde  geschickt  der  Eindruck  er- 
weckt,  als  hatte  man  in  absoluter 
tlbereinstimmung  mit  den  auslan- 
dischen  Organisationen  gehandelt. 
Gleicbzeitig  kursierte  die  wirklich 
pazifistische  weifie  Liste  der  In- 
ternational Frauenliga  fiir  Frie- 
den  und  Freiheit,  auf  der  in  alien 
Landern  gleichmaBig  die  allge- 
meine  und  totale  Abrtistung  ge- 
fordert  wurde.  Der  Arbeitsaus- 
schuB  hatte  sich  beim  Auswarti- 
gen  Amt  dafiir  eingesetzt,  daB  die 
deutsche  Delegation  ein  weib- 
liches  Mitglied  nach  Genf  mit- 
nehmen  sollte,  In  diesen  Ver- 
handlungen  wurde  naturlich  der 
Anschein  erweckt,  als  waren  die 
Mitglieder  des  Staatsbtirgerinnen- 
verbandes  die  legitimierten  Ver- 
treterinnen  aller  politisch  inter- 
essierten  deutschen  Frauen. 
Trotzdem  blieb  das  Auswartige 
Amt  taub  und  weigerte  sich,  eine 
weibliche  Delegierte  aufzufor- 
dern.  Begriindung:  „Wir  haben 
nur  Fach-Delegierte,  wir  sind 
eine  Sachverstandigen-Delegation 
mit  Fachleuten  fur  Land-,  See- 
und  Luftriistung,  wir  konnen  Euch 
nicht  gebrauchen."  Der  Arbeits- 
ausschuB  muBte  fiir  eigne  Rech- 
nung  und  Gefahr  in  Genf  auf- 
treten.  Mit  der  feierlichen  Ober- 
gabe  der  Listen  in  Genf  wurde 
Frau  Ministerialrat  Helene  Weber 
betraut,  Reichstagsabgeordnete 
des  Zentrums,  untersttitzt  von 
Frau  Doktor  Ltiders. 

Vor  einigen  Tagen  hat  nun  Frau 
Doktor  Weber  von  ihren  genfer 
Erlebnissen  berichtet  und  gleich- 
zeitig  Abrechnung  mit  dem  Aus- 
wartigenAmt  gehalten.  Man  kann 
ihr  wohl  glauben,  dafi  es  nicht 
schon  istt  als  Privatvertreterin 
der  deutschen  Frauen  aufzutreten, 
wahrend  andre  Lander  den  Frauen 
in  ihren  Delegationen  einen  Platz 
eingeraumt  haben.  In  ihrer  un- 
endlich  geschickten  und  iiberzeu- 
genden   Art   schilderte  Frau  We- 

422 


ber  den  Kampf  der  freien  Abord* 
nungen  von  Arbeitern,  Studentenr 
Jugendlichen, <  Frauen  und  den 
Kirchenverbanden  mit  der  V6lker- 
bundsbureaukratie.  Sie  klagte  die 
Heimat  an,  daft  nicht  mehr  als 
930  000  Unterschriften  fur  die 
blauen  Listen  gewonnen  worden 
sind,  von  dem  groBen  Erfolg  der 
weiBen  Listen  mit  deri  Millionen 
Stimmen  aus  alien  Landern 
sprach  sie  lieber  nicht.  Das  weib- 
liche Auditorium  schwamm  in  un~ 
verbindlicher  Friedensbegeiste- 
rung.  Wer  denkt  noch  an  Rii- 
stungsf ragen  ?  Wer  weiB  noch, 
daB  von  jeher  der  Kampf  gegen 
den  Krieg,  gegen  die  Rustungen 
Freiheit,  Ehre  und  Leben  ge- 
kostet  hat?  Die  glanzende  Red- 
nerin  aus  der  guten  Schule  einer 
machtigen  Partei  und  Kirche  trifft 
den  richtigen  Ton,  um  die  Ge- 
mtiter  zu  vernebeln.  Sie  hat  eine 
starkere  Resonanz  als  die  bekann- 
ten  demokratischen  Fuhrerinnent 
die  ohne  eine  Massenpartei  hin- 
ter  sich  nur  noch  mit  verwelkten 
personlichen  Lorbeern  prunken 
konnen.  Ihr  glaubt  man  beinahe, 
daB  sie  etwas  riskiert  fur  die 
Friedensidee,  sie  hat  auch  einen 
schonen  Erfolg  zu  verzeichnen; 
Das  Auswartige  Amt  hatte  die 
Damen  abgelehnt,  aber  ihr  Kanz- 
ler  und  Parteigenosse  hat  in  sei- 
ner offiziellen  Rede  in  Genf  die 
Frauenaktion  erwahnt.  Auf  die- 
ser Basis  wurde  der  Trumpf  aus- 
gespielt,  der  dem  ganzen  Humbug 
von  angeblicher  Solidaritat  aller 
Frauen  und  Mutter  der  Welt 
die  Krone  aufsetzt:  der  an- 
wesende  Vertreter  des  Auswarti- 
gen  Amts  soil  zuhause  bestelien, 
daB  die  Damen  unbedingt  solange 
kampfen  wurden,  bis  sie  bei  der 
nachsten  Konferenz  einen  Sitz  in 
der  deutschen  Delegation  be- 
kamen.  Sie  boten  auch  was  da- 
fiir, man  solle  nicht  denken,  daB 
sie  die  Ehre  nicht  zu  achten  wuB- 
ten:  sie  boten  die  Versicherung, 
daB  nichts  gesagt  werden  wurde, 
was  der  Regierung  auf  die  Nerren 
fallen  konnte. 

Nun  wissen  wir  endlich,  was 
gespielt  wird.  Da  haben  sich  die 
echten  Kriegsgegner  aller  Lander 
bemuht,    da    gibt    es    Aufklarun£ 


und  Kampf  gegen  die  internatio- 
nalc  Riistungsfront.  Das  glor- 
reichc  deutsche  Rcsultat  haben 
wir  nun  gesehn:  Ein  ganz  kleiner 
Kreis  von  arrivierten  Fraucn  be- 
machtigt  sich  der  Massenbewe- 
gung  im  kritischsten  Augenblick, 
um  sic  hoffnungslos  zu  verfal- 
schen,  Wenn  die  Bonzinnen  der 
biirgerlichen  Frauenbewegung  Sitz 
und  Stimme  bekommen,  kann  je- 
der  Wehrminister  rubig  schlafen 
gehn.  Sie  werden  ihm  sicber 
nicbt  in  die  Parade  fabren;  sie 
werden  ihr  Amt  nur  zum  Jasa- 
gen  benutzen.  Hilde  Walter 

Der  Soldate,  der  Soldate  .  * . 
Tn  der  letzten  illustrierten  Sonn- 
*  tagsbeilage  der  fVofi\  den  Zeit- 
bildernf  war  eine  Seite  den  Pho- 
tos der  verschiedenen  Prasident- 
scbaftskandidaten  gewidmet.  In 
der  Mitte  prangte,  wie  sich  das 
gehort,  der  GeneralfeldmarschalL 
Unter  ihm  in  fescher  Uniform  — 
so  wie  er  wahrscheinlich  vor 
funfzehn  Jahren  aussah  —  Herr 
Oberstleutnant  Duesterberg.  Wenn 
viele  Madchen  und  teutsche 
Frauen  dies  Bild  gesehen'  haben, 
muB  ihr  Herz  hoher  schlagen. 
Links  von  Duesterberg  Regierungs- 
rat  Hitler,  an  beidenSeiten  flan- 
kiert  von  uniformierten  Braun- 
hemden,  und  rechts  vom  Oberst- 
leutnant marschiert,  in  gleichem 
Schritt  und  Tritt  mit  einer  Kom- 
pagnie  Rotfront,  der  Kommunisten- 
kandidat  Thalmann, 

Ein  Leutnant  muB  es  sein. 

Das  deutsche  Volk,  einig  in  sei- 
nen  Stammen,  singt  begeistert 
vierstimmig: 

Der  Soldate,  der  Soldate,  ist 
der  schonste  Mann  im  ganzen 
Staate. 


Goethe  und  ... 

Das       .Weinblatt,       Allgemeine 
Deutsche  Weinfachzeitung': 

„Das  Jahr  1932  ist  ganz  dem* 
Gedenken  Goethes  gewidmet. 

In  Frankfurt  wie  in  Weimar 
wird  der  100.  Todestag  unseres 
grofiten  deutschen  Dichters  fest- 
lich  begangen  und  In-  und  Aus- 
land  in  den  Bann  dieser  .Feier 
im  Geiste*  gezogen. 

Unser  .Weinblatt'  will  die  Be- 
ziehungen  zwischen  Goethe  und 
dem  Wein  besonders  hervorheben 
und  beleuchten,  Goethe,  ein 
groBer  Weinverehrer,  hat  dem 
deutschen  Wein  unvergefiliche 
Lieder  gesungen.  Diese  Zusam- 
menhange  wollen  wir  in  einer 
illustrierten  Ausgabe: 

Goethe  und  der  Wein 
festhalten.     Das  Sonderheft    wird? 
auf  jeden  Leser  Eindruck  machen 
und   geeignet   sein,   ihn  zugunsten. 
des  Weinkonsums  zu  beeinf lussen. 

Goethe  driickt  im  Goethe  jahr 
unserer  Zeit  seinen  Stempel  auf,. 
—  das  Geistesleben  tragt  sein- 
Geprage.  Damit  es  auch  in  die 
Lebenshaltung  vieler  Deutscher 
kommt,  wollen  wir  die  Ausgabe 
.Goethe  und  der  Wein'  in  kunst* 
lerisch  hervorragender  Auf- . 
machung  und  inhaltsreich  heraus- 
bringen.  Eine  wurdige  Reprasen- 
tationsreklame  auch  ftir  Sie  ist 
hier  gegeben.  Haben  Sie  Inter- 
esse,  in  diesem  in  sich  gerundeten 
Werkchen,  das  sorgfaltig  aufbe- 
wahrt  und  immer  wieder  durch- 
blattert  wird,  mit  Ihren  Ange- 
boten  vertreten  sein?  Zu  Propa- 
gandazwecken  wird  diese  Arbeit 
zahlreich  benutzt  werden. 

Dtirfen  wir  Ihnen  einen  Raum 
reservieren?" 


Der  Weg  meiner  Schuler 

nennt  sich  das  noch  vor  Ostern  erBcbeinende,  von  Unzahligen  sehnlichst 
erwartete  neue  Buch  von  Bo  Yin  Ra,  J.  Schneiderfranken.  Es  bedeutet 
den  S<  hliissel  zur  praktischen  Verwertung  der  Ratschlage  und  Mitteilungen, 
die  dieser  Antor  aus  einer  einzigartigen  Erfahrongsgewifiheit  in  seinenu 
vielgestaltigen  Gesamtwerk  dargeboten  hat.  Mit  sachlic-h  nitchterner 
Offenheit  gibt  er  hier  Anskunft  iiber  das  Wesen  seiner  Bekundungen. 
Jedes  Wort  besonderer  Anpreisung  wurde  uns  eine  Entwurdignng  schemes. 
Das  Bach  kann  dnrch  jede  gut  geleitete'Buchhandlung  bezogen  werden. 
Preis  gebunden  RM.  6.—.  Der  Verlag:  Kober'scbe  Verlagsbuchhandhrag 
(gegr.  1816),  Basel-Leipzig. 

423> 


Der  volkische  Raum  ist  immer 
«in  Anzeigenraum  gewesen.  Einc 
Profanation  Gocthes  ■ — ?  Das  we- 
niger,  Aber  eine  Frage:  Wer  sol) 
den  Wein  eigeritlich  kaufen  —  ? 

Die  von  den  Kartellen  ausge- 
powerten  Deutschen  konnen  es 
nicht, 

Wat  ein  richtiger  Essai  is  — 

in  demmufi  folgendes  vorkommen: 
Situation  der  Jugend  —  tak- 
tische  Position  —  geschichtsphilo- 
sophisch  —  musik-historisch  — 
staatspolitisch  —   handelspolitisch 

—  theaterpolitisch  —  rationales 
Element   —   eklektische   Strategic 

Wirtschaftsraum  —  volkischer 

Raum  —  Handelsraum  —  Kriegs- 
raum —  seelischer  Raum  — 
Waschraum  —  psychdlogische 
Grundlagen  —  psychophysische 
Grundlagen  —  subjektive  und  ob- 
jektive  Bedingungen  —  Elastizitat 
-der  Nachfrage  —  soziologische 
Strukturbilder  —  der  Raum  des 
Angebots  — i  der  Seinsgrund  — 
zwangslaufig  -^  menschlich  —  er 
als  Guterverfrachtungsstellenvor- 
steher  :  und  Mensch  —  rein 
menschlich  gesehn  —  mensch- 
■lich     reingesehn     —     diaiektisch 

—  wirtschaitliche  Struktur  — 
wirtscbaftsgeographischer  Gedan- 
kengang     —     GroBraumwirtschaft 

—  geistig,  intellektuell,  kulturell 
>und  rein  menschlich  —  rein 
stadtebautechnisch  ~_  forstwissen- 


schaftlich  gesprochen  —  rein 
theaterwissenschaftlich  betrachtet 
■■—  soziophysisch  —  bevolkerungs- 
politischer  Raum  —  es  geht  um 
—  das  Wissen  um  — : 
ad  nauseam  usque. 

Fragment 

/^melette:  die  Form,  in  der  die 
^-^  Huhner  Geburtenkontrolle 
treiben,  Roda  Roda 

Liebe  Weltbuhne! 

Cin  reizendes  Vorkommnis  wird 
*-*    erst  jetzt  bekannt. 

Der  Reicbswehrminister  Groe- 
ner  ging  neulich  durch  die  Bend- 
lerstrafie,  als  vor  ihm  eine  Schar 
soldatenspielender  Knaben  stramm 
stramm  stand.  Der  Minister 
nickte  freundlich,  wie  das  so 
seine  Art  ist,  und  sagte: 

t,Na,  das  ist  hiibsch,  dafi  ihr 
Soldaten  spielt."  Und,  zu  einem 
Knaben  gewandt:  „ Was  bist  du 
denn?"  —  „Ich  bin  General,  Herr 
Minister!"  antwortete  der  Knabe. 
„Und  du?"  fragte  Herr  Groener 
einen  zweiten  Knaben.  „Ich  bin 
auch  General!"  antwortete  dieser. 
Ein  dritter  Knabe  antwortete 
ebenso;  ein  vierter  auch.  HIhr 
seid  ja  alle  Generale!"  sagte  Herr 
Groener.  „Wer  maeht  euch  denn 
dazu?"  —  ,»Wir  ernennen  uns  ge- 
genseitig!"  riefen   die  Knaben. 

Kopfschuttelnd  ;  und  lachelnd 
entfernte  sich  der  Minister. 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Jndtvidualpsychologische  Gruppe.  Montatf  (21.).  Klubhaus  am  Knie,  Berliner  Sir.  27,  20.00: 
Praktische  Anwenduog  der  Individualpgychologie,  dargestellt  an  einer  Kind*- 
behandlung;  Sidonie  Reis. 

Hamburg 

Weltbahnenleser.    Freitag  20.00.    Timpe,  Grindelallee  10:  Kolonialpolitik. 

Bucher 

H.  H.  Houben:  Der  polizeiwidrige  Goethe.    Grote-Verlaa,  Berlin. 
H.R.Knickerbocker    Deutschland  so  oder  so  ?     Ernst  Rowohlt,  Berlin. 
Custav  Stresemann:  Vermachtnis,  Band  I.    Ullstein  A.-G.,  Berlin. 

Rundlunk 
fHenstagr.  MGhlacker  19.05 :  Der  polizeiwidrige  Goethe,  H  H.  Houben.  —  Frankfurt  19.05 : 
Zur  wiesbadener  Auffiihruojj  der  Burgschaft,  Paul  Bekker,  Kaspar  Neher  und  Kurt 
Weill.  —  Berlin  2030:  Wilhelm  Furtwangler  dirigiert.  —  Mi'twoch  Leipzig  19  30: 
Peter  Scheer  liest  —  Bertip  19.  ^t  Der  Aufstand  der  Nationalitaten  gegen  Napoleon, 
Valeriu  Marcu,  —  20,30:  GroBe  Aufschneider,  Ernst  Bringolf  und  Edlef  Koppen.  — 
Hamburg  20.30:  Walther  v.  Hollander  liest.  —  MUhlacker  2 LOO:  Erwin  uod  Elmire 
von  Goethe.  —  Berlin  22.30:  Was  wtrd  aus  der  Mindschurei?  Z«itbericht  von 
Actualis.  Donnersta?-  Berlin  15  20:  Kampf  gegen  die  Langeweile,  Hellmuth  Falken- 
feld  —  Muhlacker  18  40  MiQtrauen,  Ludwig  Marcuse.  —  F--itajr  Leipzig  17.30: 
Empire  von  gestern  und  morgen,  Felix  Stojsinger.  -r  Berlin  17.55  Ernst  busch  singt 
Moritaten  und  hochtragische  Balladen.  —  20.15:  Goethe  als  Reprasentant  des 
bUrgerlichen  Zeitalters,  Thomas  Mann.  —  Sonnabend.  Breslau  18.05:  Wer  ist 
Traven?     Erich  Knauf. 

124 


Antworten 


Regierungsrat  Hitler.  In  einem  ProzeB,  bei  dem  es  um  Ihre  Ta- 
tigkeit  an  der  Front  ging,  wurde  eine  eidesstattliche  Versicherung  ab- 
gegeben,  die  iiber  die  Griinde  der  Verleihung  des  Eisernen  Kreuzes 
erster  Klasse  an  Sie  Klarheit  schaffen  sollte.  Nach  dem  ,Angriff  vom 
7,  Marz  hat  sich  das  so  abgespielt:  „ Adolf  Hitler  war  als  Regiments- 
ordonnanz  auf  dem  Wege  zum  Bataillonsstab  ins  Sperrfeuer  gekom- 
men,  vermutete  hinter  einem  Hiigel  das  Bataillon,  sprang  iiber  diese 
Boschung  und  geriet  in  einen  von  Englandern  besetzten  Trichter,  die 
ihn  sofort  aufforderten,  sich  zu  ergeben.  Hitler1  zog  seine  Pistole 
als  ednzige  Waffe,  die  er  hatte,  hielt  damit  nicht  nur  die  Englander 
in  Schach,  sondern  nahm  sie  gefangen  und  fiihrte  sie  seinem  Regi- 
mentsstab  zu.  Einen  Offizier,  einen  Sergeanten  und  dreizehn  Mann." 
Da  sieht  man  doch  wieder,  was  die  Deutschen  fur  Kerle  sind.  Ein 
einziger  Mann  entwaffnet  funfzehn  bewaffnete  Englander  und  nimml 
sie  gefangen.  Miinchhausen  hat  einen  wtirdigen  Nachfolger  gefunden. 
Verschamt  verschweigt  der  ,Angriff',  wer  diese  famose  eidesstattliche 
Versicherung  abgegeben  hat.  Vielleicht  Sie  selber?  Oder  gar  einer 
der  feigen  Englander?  Was  andres  gibts  ja  nicht.  Wer  so  etwas 
unter  seinem  Eid  erklart,  muB  dabei  gewesen  sein.  1st  es  aber  ein 
Kriegskamerad  gewesen,  dann  waren  Sie  doch  nicht  allein  bei  der 
Ausubung  diese r  Heldentat.  Eine  vertrackte  Sache  mit  diesen  natio- 
nalsozialistischen  Eiden,  Aber  wie  dem  auch  sei:  Ihre  Schafchen  wer- 
dens  schon  glauben;  und  das  ist  die  Hauptsache. 

Schriftsteller.  Der  Hauptvorstand  Ihres  Schutzverbandes  ver- 
schickt  an  die  Mitglieder  der  berliner  Ortsgruppe  ein  Rundschreiben, 
in  dem  er  sich  bitter  iiber  den  berliner  Vorstand  beklagt.  Aus  alle- 
dem  geht  hervor:  es  will  den  Machtigen  Ihres  Verbandes  nicht  in 
den  Kopf,  daB  sich  die  Oppositionellen  die  berliner  Ortsgruppe  er- 
obert  haben  und  nun  gewerkschaftliche  Arbeit,  wie  sie  sie  verstehen, 
leisten  wollen.  Die  Machthajber  sabotieren  die  Tatigkeit  der  Berliner 
und  holen  jetzt  zum  entscheidenden  Schlage  aus,  indem  sie  ein  ein- 
seitig  gefarbtes  Bild  des  Konfliktes  entwerfen  und  die  Mitglieder  vor 
die  Alternative  stellen,  entweder  das  so  dargestellte  Vorgehen  ihrer 
Ortsgruppenleitung  zu  billigen  und  sich  damit  aufierhalb  des  Verban- 
des zu  stellen  oder  zu  Kreuze  zu  kriechen  und  sich  der  inzwischen 
eroffneten  zweiten  berliner  Gruppe,  genannt  Ortsgruppe  Berlin-Bran- 
denburgt  anzuschlieBen.  Hoffentlich  geben  Sie  den  Herren  die  richtige 
Antwort  und  verlangen,  daB  Ihnen  in  genau  der  gleichen  Breite  eine 
Darstellung  von  seiten  der  Beschuldigten  zugeleitet  wird,  ehe  Sie  sich 
zu  einer  Stellungnahme  entschlieBen.  Kleine  Anfrage  an  die  Oppo- 
sitionellen: Nachdem  ihr  es  erlebt  habt,  daB  der  von  euch  gewahlte 
Jakob  Schaffner  euch,  sagen  wirf  untreu  geworden  istt  muBtet  ihr  da 
ausgerechnet  mit  eurer  Zustimmung  Herrn  Walter  Bloem  zum  Vor- 
sitzenden  des  Gesamtverbandes  machen  lassen?  HieB  das  nicht,  zum 
zweiten  Mai  einen  Bock  zum  Gartner  zu  machen? 

Schupo.  Ein  preufiisches  Amtsgericht  hatte  vor  kurzem  dariiber 
zu  entscheiden,  ob  ein  Polizeibeamter,  dem  78,30  Mark  im  Monat  zur 
Bestreitung  seiner  Lebenshaltungskosten  iibrigbleiben,  monatlich  zebn 
Mark  an  seinen  arbeitslosen  Vater  zu  zahlen  imstande  sei.  Das  Urteil 
sah  so  aus:'  „Die  vom  Klager  aufgestellte  Berechnung  seiner  Unter- 
haltskosten  geht  iiber  die  Anforderung  seines  Standes  hinaus.  Zum 
standesgemaBen  Auftreten  eines  jungen  Wachtmeisters  gehort  kein 
Zivilanzug,  Deshalb  mufite  auch  die  Ratenzahlung  von  12,50  Mark 
monatlich  unberucksichtigt  bleiben.  Weiter  war  die  Rate  von  10  Mark 
fur  die  Beamtenbank  unberucksichtigt  zu  lassen.  Ferner  sind  die 
Ausgaben  fiir  Reinigung  und  Ausbesserung  der  Wasche  zu  hoch  be- 
rechnet,  Stopfen  der  Striimpfe  und  sonstige  Ausbesserungen  der 
AVasche  kann  der  Klager  selbst  vornehmen.     Was  friiher  vom  Militar 

425 


verlangt  worden  ist,  wird  der  Klager  auch  noch  leisten  konnen.  Das 
Rasieren  braucht  nicht  durch  den  Friseur  zu  erfolgen.  Der  Kl&ger 
mag  sich  ein  Messer  oder  Apparat  anschaffen,  dessen  Anschaffungs- 
kosten  auf  langere  Zeit  umzulegen  sind.  Fur  Schuhcreme,  Hautcreme 
und  Zahnpasta  ist  monatlich  nur  1  Mark  anzuerkennen.  Der  Preis 
fiir  Butter  ist  vom  Klager  ebenfalls  zu  hoch  angesetzt  worden . , .  Der 
Klager  kann  auBerdem  ab  und  zu  Margarine  essen,  Aus  welchem 
Grunde  der  Klager  Bohnenkaffee  trinken  mu6f  ist  nicht  ersichtlich. 
Bohnenkaffee  ist  teuer  und  zudem  gesundheitsschadlich,  Fiir  ein 
Abendessen  darf  der  Klager  nicht  1,20  Mark  berechnen,  Es  ist  nicht 
erforderlich,  daB  der  Klager  jeden  Abend  warm  iftt.  Es  geniigt,  wenn 
er  zu  dem  schon  berechneten  Brot  und  zur  Butter  noch  K  Pfund 
Aufschnitt  zum  Preise  von  40  Pfennig  taglich  hinzukauft  und  zwischen- 
durch  einmal  warm  zu  Abend  iBt,"  Der  Beamte  wurde  also  ver- 
urteilt,  die  zehn  Mark  zu  blechen,  Wie  ware  es  denn,  wenn  der 
betreffende  Richter  sich  einmal  derselben  Prozedur  unterzoge, 
fleiBig  Margarine  zu  essen,  keinen  Bohnenkaffee  zu  trinken,  sich  die 
Striimpfe  selber  zu  stopfen  und  itberhaupt  auf  jeden  Lebenskomfort 
zu  verzichten?  Denn  dafi  der  Beamte  mal  ins  Kino  oder  ins  Theater 
gehen  mochte,  wird  der  fiir  Askese  (der  Arrdern)  schwarmende  Herr 
sicher  als  straflichen  Luxus  ansehn, 

Ivo  Puhonny,  Baden-Baden.  Sie  schreiben  an  Peter  Panter: 
„Vielleicht  interessiert  es  Sie,  etwas  uber  Reutter  aus  jener  Zeit  zu 
erfahren,  als  er  erstmals  das  Podium  bestieg.  Ich  kam  1896  als 
Kunstschtiler  nach  Karlsruhe.  Reutter  trat  damals  in  kleinen  Knei- 
pen  im  sogenannten  .Dorfle'  auf.  Ich  und  meine  Kollegen  hielten 
ihh  fiir  einen  waschechten  karlsruher  ,Dorflesbrigant'-Pachulken.  DaB 
er  aus  der  Mark  stammt,  erfuhr  ich  jetzt  erst,  Im  karlsruher  Colos- 
seum- Variete  wird  er  bei  Maxstadt  seine  ersten  Anregurigen  geholt 
haben,  UnvergeBtich  ist  mir  Reutters  Debut  als  Kanzler  Leist  in  der 
Wirtschaft  ,Zum  Elefanten1  auf  der  KaiserstraBe.  Er  hatte  sich  seinen 
schabigen  Frack  und  einen  Zweispitz  mit  armseligen  Silberlitzen  be- 
naht  und  tobte  mit  Reitpeitsche  und  Schleppsabel  auf*  dem  kleinen 
Podium  der  diisteren,  schwach  besuchten  Kneipe.  Was  er  vortrug, 
uberraschte  mich  durch  die  knappe  Form,  war  meist  recht  bitter,  und 
er  wirkte  in  seiner  Lebhaftigkeit,  mit  hochstehender  Tolle  und  stechen- 
dem  Blick  gar  nicht  so  gemutlich,  wie  es  damals  die  Komiker  taten. 
Als  ich  ihn  in  tadellosem  Frack  als  Star  wiedersah.  war  er  sehr  ver- 
andert.  Er  hatte  seinen  Stil  gefunden,  war  ,vornehm'  und  in  der  Be- 
schrankung  Meister  geworden."    Schonen  Dank! 

Doktor  Alfred  ApfeL  Es  ist  nicht  wahr,  daB  die  Redakteure  das 
Wichtigste  bei  einer  kampfenden  Zeitschrift  sind.  Das  Wichtigste  ist 
heute  der  Rechtsbeistand.  O  Eitelkeit  der  Schreibenden  —  wie  ver- 
sinkst  du  in  dieser  Epoche  der  politischen  Prozesse!  Diese  Erkennt- 
nis,  lieber  Herr  Doktor,  lege  ich  zu  Ihrem  iiinfzigsten  Geburtstag  auf 
Ihren  schon  geschmiickten  Tisch, 


Dieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fiir  die  Abonnenten  bei,  auf 
der  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fiir  das  II.  Vierteljahr  1932 

einzuzahlen,  da  am  10.  April  1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt  und   unnotige  Kosten  verursacht.    

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne.  Charlottenburg.  Kantstr.  152,  ku 
richten;  es  wird  gcbeten,  ihnen  Ruckporto  beirulegen,  da  sonst  keine  Rudcsendung  erfolgen  kann. 
Das  Auf  f  ilhrungsrecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  iin  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  allei  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  RadiovortrSgen 
bleiben   fiir    alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitrsge  ausdrucklich  vorbehatten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  y.  Ossielzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  TuchoUky  geleitet.  -    Verantwortlich :   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telepnon:  C  1,  Stcinplatz  7757.   —   Postscheckkonto:  Berlin  11958. 
Bankkonto:     Darmstadter    u.    Nationalbank.       Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.   112* 


XXVdl.  Jatirsatig  22.Mirzt«32  {tanner  12 

Gang  ZWei  von  Carl  v.  Ossietzky 

r\cr  erste  Gang  hat  mit  dem  Sieg  Hindenburgs  geendet.  Die 
*^  Sozialdemokratie  hat  dem  ajten  MarschaJl  einen  gewalti- 
gen  Vorsprung  gesichert,  Duesterberg  und  Hugenberg,  die  sich 
zwischeii  den  Fronten  einen  kleinen  Sonderprofit  sichern  woll- 
ten,  kehren  als  gueules  cassees  aus  der  Wahlschlacht  zuriick. 
In  PreuBen  hat  Otto  Braun  soeben  mit  einem  kraftigen  Trom- 
petenstoB  den  Wahlkampf   eingeleitet.    Die  PreuBenwahl,  das 

.  ist  der  dritte  Gang,  der  wichtigste,  in  dem  Due  11  zwischen  Re- 
publik  und  Fascismus.  Aber  Gang  zwei  am  10.  April  wird  auch 
fur  das  Ringen  um  PreuBen  entscheidend  werden. 

Wir  haben  hier  vor  einer  Woche  am  Ende  der  Wahlnacht 
die  Frage  aufgeworfen;  Wer  hat  gesiegt?  Darauf  hat  es  in- 
zwischen  -  noch  keine  Antwort  gegeben.  Die  Hindenburger 
feiern  und  haben  keine  Lust,  sich  von  Skeptikern  den  Ausblick 
in  eine  wolkenlose  Zukunit  vermiesen  zu  lassen,  Und  am 
lautesten  jubilieren  wieder  die  Etappenschweine  der  poli- 
tischen  Linkent  die  sich  seit  September  DreiBig  still  v^rhielten 
und  sich  in  ihren  freundlichen  Winterquartieren  schon  eine  neue 
Fahne  nahen  lieBen,  um  sie  beim  Herannahen  der  fascistischen 
Truppen  aufzuziehen.  Heute  tun  sie  so(  als  hatten  sie  alles  allein 
gemacht  Es  ist  gewiB  hart,  diesen  vieleh  gliicklichen  Men- 
schen  jetzt  eine  Denkaufgabe  zumuten  zu  miissen,  aber  wir 
kommen  nicht  drum  herum.  Die  verschiedenen  Teilnehmer  des 
Hindenburgblocks  miissen  Jetzt  endlich  erklareB,  was  sie  eigent- 
lich  wollen* 

In  der  Tat,  gesiegt  hat  keine  politische  These,  kein  Pro- 
gramm.  Gesiegt  hat  nur  ein  sehr  benihmter  alter  Mann,  Gesiegt 
hat  Hindenburg,  ear  Stuck  Legenide,  ein  h«roischer  Rahmen,  in 
den  ein  jeder  nach  Belieben  ein  buntes  Geilecht  von  Iilusionen 
spannen  kann.  Gesiegt  hat  ein  historischer  Name,  der,  real- 
politisch  betrachtet,  jedoch  nur  ein  Zero  darstellt,  vor  das  erst 
eine  konkrete  GroBe  zu  setzen  ist.  Wer  diese  Zahl  setzen 
darf,  der  wird  am  Ende  der  wirkliche  Sieger  sein. 

Was  werden  soil,  ist  am  13.  Marz  nicht  entschiedea  wor- 
den.  Nur  eine  Ablehnung  ist,  wenn  auch  mit  erschutternder 
Starke,  zum  Ausdruck  gekommen,  Abgelehnt  worden  ist  der 
fascist ische  Casaropapismus,  die  Vereiniguag  von  aller  Macht 
iiber  Geister  und  Leiber  in  der  Hand  ernes  „Fuhrers",  Dar^ 
iiber  herrscht  Obereinstinimung,  sonst  findet  man  in  Hinden- 
burgs  Mehrheit  bei  bestem  Bemiihen  kein  weiteres  einheitliches 
Motiv.  Die  Sozialdemokraten  haben  fiir  Hindenburg  gestimmt, 
weil  die  Partei  es  so  befahl.  Die  Mehrzahl  der  burgerlichen 
Indifferenten,  weil  sie  in  Hitler  nur  einen  Unruhefaktor  sehen 
und  ihnen  wohl  auch  die  Form  der  von  den  Fascisten  gefiihrten 
Agitation  unappetitlich  erschien.  Die  politisch  Interessier- 
ten  von  rechts  dagegen  hatten  viel  lieber  einBiindnis  Hinden- 
burg-Hitler  gewiinscht  als  die  beiden  in  Front  gegeneinander, 
Es  laBt  sich  nicht  annahernd  schatzen,  wie  viele  solcher  Hin- 

.  denburgwahler  darauf  brennen,  am  24.  April  mit  ihrem  Stimm- 
zettel  die  Hrote  Wirtschaft"  in  PreuBen  zu  beseitigen. 

1  427 


Das  Fazit;  nach  dem  10.  April  gibt  es  keinen  Hindenburg- 
block  mchr,  und  wenn  die  Soziaidemokraten,  die  neben  dem 
Zentrum  zwischen  lauter  zersplitterten  und  vers  ink  enden  Mit- 
telparteien  die  kompakte  Masse  darstellen,  ihren  Anteil  am 
Triumph  fordern  sollten,  dann  wird  ihnen  kalt  bedeutet  wer- 
den,  daB  sie,  indem  sie  Hindenburg  wahlten,  nur  ihre  ver- 
dammte  vaterlandische  Pflicht  und  Scbuldigkeit  getan  hatten. 
Dann  wird  weiter  notverordnet  werden,  dann  kann  der  Sturm 
auf  die  Sozialpolitik,  aui  die  Arbeitslosenversicherung  von 
neuem  losgehen.  Die  Sozialdemokratie  aber  wird  das  Nach- 
sehen  haben,  weil  sie  iiber  kein  einziges  Druckmittel  mehr  ver- 
ftigt,  weil  sie  mit  ihrer  Entscheidung  nicht  nur  Hindenburg  son- 
dem  auch  Briining  und  Groener  neu  bestatigt  hat. 

Der  ,Vorwarts'  schweigt  sich  iiber  diese  unangenehmen 
Aspekte  einstweilen  aus.  Dafiir  finden  aber  einige  jener  biir- 
gerlichen  Republikaner,  die  sich  ganz  besonders  fiir  die  Kandi- 
datur  Hindenburg  eingesetzt  haben,  die  Sprache  der  Politik 
langsam  wieder.  Das  ist  gewiB  loblich,  aber  es  ware  mit 
groBerm  Nutzen  vor  dem  13.  Marz  geschehen.  Nach  neune  is 
alles  aus.  Nach  der  Wahl  kann  man  keine  Forderungen  mehr 
anmelden.  Es  gibt  in  der  Politik  nichts  iiberfliissigeres  als  den 
Wahier,  der  eben  seinen  Zettel  in  die  Urne  geworfen  hat. 

DaB  ein  so  kluger  Mann  wie  Georg  Bern  hard  das  nicht 
weiB!  Er  bemerkt  im  ,8  Uhr  Abend-Blatt'  mit  Recht,  daB  jene 
agrarischen  und  industriellen  Schichten,  die  von  der  Regierung 
Briining  auf  Kosten  des  gesamten  Volkes  gepappelt  worden 
sind,  sich  zu  Hitler  und  Duesterberg  geschlagen  haben,  wah- 
rend  die  Leute  von  links  die  Republik  hoher  stellten  als  das 
Eigeninteresse.  ,,Will  die  Regierung  der  Republik",  so  fragt 
Bernhard,  ,,nun  nicht  endlich  die  Konsequenz  aus  diesem  offen- 
baren  Ergebnis  der  Prasidentenwahl  ziehen?"  Da  mufl  man 
mit  dem  Dichter  sagen:  ,,Der  Rabe  krachzt:  Es  ist  zu  spat!" 

Lieber  Herr  Bernhard,  Sie  haben  uns  neulich  hart  geriiffelt 
wegen  unsrer  Parole  fiir  Thalmann.  Und  doch  war  das  die  ein- 
zige  Mogiichkeit,  urn  herauszukommen  aus  dem  fatalen  Wech- 
selspiel  von  intellektuellem  Opfer  und  Enttauschung,  das  sich 
republikanische  Politik  nennt.  Wir  haben  die  Situation 
vorausgesehen,  wo  die  sozialistischen  und  republikanischen 
Kindenburgwahler  mit  leeren  Handen  dastehen  wiirden.  Wir 
haben  uns  rechtzeitig  und  freiwillig  ausgekreist,  denn  wir  hatten 
von  vornherein  keine  Neigung,  die  Schar  der  Leidtragenden 
bei  dem  Begrabnis  der  Iliusionen  zu  vergroBern.  Herr  von  Hin- 
denburg hat  voile  Handlungsfreiheit,  und  ihn  kann  auch  kein 
Vorwurf  treffen,  Er  hat  nichts  versprochen,  denn  die  Sozia- 
listen  und  Republikaner  haben  ihm  kein  Versprechen  abver- 
langt.  Wahrend  Goebbels  „Ware  fiir  sein  Geld"  verlangte,  war 
fiir  euch  die  Kandidatur  Hindenburgs  eine  Sache  des  Glaubens 
und  Gemtites. 

Heute  gibt  es  nichts  zu  f ord'ern.  „  Allzulange  ist  die  Poli- 
tik derer  betrieben  worden,  die,  wie  sich  gezeigt  hat,  doch 
Hitler  wahlea.  Jetzt  verlangen  die  Hindenburg-Wahler  ihr 
Recht,"  so  schreibt  Bernhard,  und  gewiB  stimmen  dem  viele 
Hunderttausende  zu.     Einen  Dreck  wird  man  euch  gebert.    Ge- 

428 


arbeitct  habt  ihr  pour  le  roi  de  Prusse,  pour  le  president  du 
Reich.     Es  kommt  auf  eins  heraus. 

Zu  spat! 

Was  die  republikanischen  Hindenburgwahler  nach  dem 
11.  April  zu  erwarten  haben,  da  von  gibt  eine  kleine  Kostprobe 
schon  das  Verhalten  des  Herm  Ministers  Groener  zu  dem 
preuBischen  Vorgehen  gegen  die  nationalsozialistische  Ver- 
schworung.  Was  Herr  Groener  unternimmt,  wird  praktisch  zu 
einem  Hilfsdienst  fiir  die  Bedrangten,  mag  er  gewiB  auch 
nach  einer  fiir  uns  nicht  durchschaubaren  Theorie  seine  Hand- 
lungsweise  hochst  korrekt  linden. 

Als  Severing  in  einem  langern  Bulletin  darlegte,  daB  fiir 
die  Nacht  vom  13.  auf  den  14.  Marz  der  Biirgerkrregsapparat 
der  N.S.D.A.P.  schlagbereit  war,  lieB  Hitler  sogleich  entgegnen, 
dies  alles  sei  durchaus  legal  gewesen,  denn  Stabschef  Rohm 
habe  davon  ja  im  Reichsinnenministerium  Meldung  erstattet. 
Das  war,  im  Gegensatz  zu  den  meisten  andern  Verlautbarun- 
gen  des  Osaf,  ganz  phrasenlos,  ganz  scharf  und  dezidiert.  Dar- 
auf  konnte  es  mir  heiBen:  alles  gelogen  oder  alles  wahr!  Die 
Erklarung  Groeners  ist  eine  Bestatigung. 

Es  tref I e  zu,  so  wird  darin  ausgef iihrt,  daB  Rohm  einige  Tage 
vor  derWahl  dem  Minister  habe  melden  lassen,  er.beabsichtige1 
fiir  den  Wahltag  die  S.A.  in  ihren  Unterkunftsraumen  zusam- 
menzuhalten,  um  alien  ZusammenstoBen  auf  der  StraBe  vorzu- 
beugen.  Gegen  diese  MaBnahme  habe  beim  Reichsmimsterium 
des  Innern  kein  Bedenken  bestanden,  vor  allem  deshalb,  weil 
dadurch  die  Verahtwortung  der  obersten  S.A.-Leitung  fiir  all!e 
Vorkommnisse  klar  festgestellt  worden  sei.  Der  ruhige  Ver- 
lauf  des  Wahltages  habe  dieser  Auffassung  Recht  gegeben. 
Was  die  in  der  Pfesse  verbreiteten  Nachrichten  iiber  Mo- 
bilmachung  der  S.A.  und  Putschabsichten  betreffef  so  handle 
es  sich  dabei  zum  Teil  um  alte  bekannte  Nachrichten.  Soweit 
es  sich  um  neue  Nachrichten  handle,  wiirden  sie  unverziiglich 
scharf  nachgepriift. 

Groener  fiihlt  sich  glanzend  gerechtfiertigt:  es  ist  ja  nicht 
zum  Losschlagen  gekommen!  Das  ist  aber  nicht  das  Verdienst 
des  Herrn  Ministers  sondern  das  der  Wahler.  5twa  drei  Tage 
vor  der  ^ahl  wurde  bereits  davon  gesprochen,  Hitler  ziehe  seine 
S-A.  zusammen,  um  im  Falle  des  Sieges  sofort  mit  .dem  Mittel 
des  Staatsstreichs  aufs  Ganze  zu  gehen;  aber  auch  bei  einem 
Unterliegen  mit  auBerordentlich  hoher  Stimmenziffer  werde  er 
das  Gliick  durch  einen  Putsch  korrigieren,  die  kleine  Differenz 
mit  dem  Boxheimer  Messer  aus  der  Welt  schaffen.  Es  ist  anders 
gekommen,  Hitler  ist  beim  Wettlauf  stark  zuriickgeblieben,  und 
wenn  auch  die  30  Prozent,  die  er  gewinnen  konnte,  schreck- 
lich  genug  sind,  so  geniigen  sie  doch  nicht,  um  den  Biirgerkrieg 
aussichtsreich  zu  eroffnen.  Jedenfalls  ist  es  am  13.  Marz 
offenkundig  geworden,  daB  auch  Hitlers  Macht  Grenzen  fin- 
det.  Er  hat  etwas,  wofiir  die  gesamte  kampferische  Potenz 
seiner  Organisation  mobilisiert  war,  nicht  erreicht.  In  diesem 
Augenblick  muBte  etwas  geschehen,  um  nach  abgeschlagenem 
Sturm  zum  Gegenangriff  iiberzugehen.  In  diesem  Augenblick 
aber  geschtehtdas  Ab«nteuerliche:  der  Minister  der  Armee 

429 


und  Polizei,  der  Chef  der  gesamten  Exckutive  <les  Reichs  er- 
klart  die  Veroffentlichungen  der  preufiischen  Regierung  fur  olle 
Kamellen  und  foestatigt,  daB  die  Massierung  der  S.A.  an  be- 
stimmten  Punkten   mit  seinem  Wissen  vorgenommen  worden   sei. 

Es  ist  nicht  einfach,  diese  Gedankengange  des  Ministers 
zum  Schutze  unsrer  Sicherheit  mit  den  Mitteln  der  Logik  abzu- 
leuchten.  Groener  behauptet,  es  batten,  keine  Bedenken  be- 
standen,  (,weil  dadurch  die  Verant  working  der  obersten  S.A.- 
Leitung  fiir  alle  Vorkommnisse  klar  festgestellt  worden  sei." 
Der  Herr  Minister  vergiBt,  daB  die  „Vorkommnisse",  die  er 
mit  Recbt  befiirchtete,  erheblich  erleichtert  wurden,  indem 
man  den  Burger  kriegsgarden  die  Sammlung  gestattete.  Und 
was  ware  wohl  passiert,  wenn,  was  durchaus  moglich  sein 
koruite,  in  einzelne  der  S.A.-Kasernen  erne  falsche  Parole  ge- 
langt  ware?  Dann  hatte  es  BlutvergieBen  gegeben,  und  ob 
der  Brand  hatte  lokaiisiert  werderi  konnen,  ob  nicht  der  aus- 
gezeichnete  Presseapparat  der  Rechten  sofort  einen  „roten 
Auf stand"  daraus  gemacht  hatte,  das  bleibt  eine  offene  Frage. 

Zwei  Rechtsputsche  hat  die  Deutsche  Republik  bisher  er- 
lebt.  Im  Marz  1920  marschierte  Ehrhardt  von  Doberitz  auf 
Berlin,  Ende  September  1923  wollte  die  Schwarze  Reichs wehr 
von  Kiistrin  aus  vorstoBen.  In  beiden  Fallen  begann  die 
Meuterei  unter  den  Augen  von  Ministern,  die  sahen  und  nicht 
glauben  wollten.  Noske  hat  bis  zuletzt  auf  Liittwitz  und  Ehr- 
hardt gescbworen,  und  GeBler  muBte  seinem  vaterlandischen 
Herzen  viel  Gewalt  antunf  ehe  er  endlich  in  dem  beriihmten 
ErlaB  vom  1.  Oktober  seine  Schopfung,  die  heimliche  Armee, 
in  einen  (,national-bolschewistischen  Haufen"  verwandelte. 
Groener  bat  von  dem  MiBgeschick  seiner  Vorganiger  nichts  ge- 
lernt.    Nicht  sein  Verdienst  ist  es,  wenn  alles  gut  gegangen  ist. 

Es  gibt  noch  immer  genug  Sozialisten  und  Demokraten, 
die  in  Groener  den  starken  Mann  der  Republik  sehen,  wenn 
sie  auch  in  Einzelheiten  mit  Kritik  nicht  zuriickhalten.  Wir 
teilen  diese  Meinung  nicbtf  wir  haben  oft  genug  klar  heraus- 
gesagt,  daB  wir  iltn  fiir  einen  Gegner  hallen  und  daB  er  deshalb 
als  solcher  zu  behanidebi  ist.  Ein  wie  schwerer  Gegner  Herr 
Groener  ist,  das  haben  grade  wir  erfahren,  und  wir  tragen  allzu 
deutlich  die  Spuren  einer  fruhern  Auseinandersetzung  mit  ihm. 
Aber  hier  sind  klare  Verhaltnisse,  wir  stehen  Front  gegen 
Front;  wir  wissen,  woran  wir  sind.  Fiir  seine  Verbiindeten  ist 
Herr  Groener  viel  gefahrlicher,  denn  sie  wissen  es  nicht.  Und 
seinen  Verbiindeten  hat  erf  seit  er  im  Innenministerium  re- 
giert,   einen  RippenstoB  nach  dem  andern  versetzt. 

Von  Wohlunterrichteten  wird  immer  wieder  versichert, 
im  Reichs wehrministerium  wirtschaftete  ein  militarisches  Ba- 
nausentum,  das,  unberuhrt  von  den  Prinzipien  biirgerlicher 
Politik,  in  der  Privatarmee  Hitlers  nicht  etwa  die  Bedrohung 
des  republikaniscben  Staates  sieht,  sondern  eine  gut  gedrillte 
Truppe,  die  fiir  den  Fall  des  Falles  scbon  verwendbar  ist.  Viel- 
leicht  gestatten  uns  Die  in  Geni  doch  einmal  eine  Aufriistung, 
und  dann  haben  wir  da  gleicb  diese  prachtigen  braunen  Kerle. 
Das  mag  uns  schlichte  Zivilisten  aberwitzig  anmuten,  d^nnoch 
kann  man  von  Offizieren  immer  wieder  solche  Meinung  en 
h6ren,     Soil  die  Deutsche  Republik  einer  unkontrollierbaren 

430 


Monomanie  geopfert  werden?  Sollen  die  Militars  sich  mit  den 
Feinden  der  Rcpublik  aus  falsch  verstanidencm  Ressortinter- 
esse  zu  rangieren  yersuchen,  wahrend  Republikaner  entschlos- 
sen  sind,  bis  zum  letzten  zu  kampfen? 

Natiirlich  wird  auch  in  der  Bendler-StraBe  nicht  der  hun- 
dertprozentige  Fascismus  gewiinscht,  das  miiBte  ja  das  Ende 
fur  eine  Reihe  glanzvoll  begonnener  Karrieren  bedeuten.  Aber 
sein  militarisches  Exterieur  sticht  in  die  kundigen  Generals- 
augen,  man  mochte  ihn  einordnen,  ihn  verwenden  —  den  Preis 
des  Paktes  mag  die  Republik  bezahlen.  Es  ist  kein  Zufall,  daB 
es  grade  Herren  aus  dem  Wehrministerium  waren,  die  An- 
strengungen  machten,  Hitler  mit  Briining  zu  versohnen.  Und 
es  ist  ebenso  wenig  ein  Zufall,  daB  sich  jetzt  der  Reichswehr- 
minister  personlich  bemuht,  Hitlers  Schlappe  nicht  in  eine 
Katastrophe  aus  art  en  zu  lass  en.  Herrn  Groener,  der  ein  so  un- 
gewohnlich  entwickeltes  Gefuhl  fiir  die  auBere  Sicherheit  des 
Staates  besitzt  und  der  jeden  harmlosen  Zeitungsartikel  mit 
dem  Schleppsabel  verfolgt,  fehlt  der  Sinn  fiir  die  innere  Sicher- 
heit des  Staates.  Mag  man  ihm  subjektiv  den  besten  Glauben 
zubiiligen,  objektiv  tragi  sein  Verhalten  die  ewigen  Merkmale 
des  Verrats. 

,,GroBmutter"  ist  nicht  gestorben,  wie  Hitler  dachte.  Aber 
solaage  Groener  den  Arzt  spielt,  wird  das  Befinden  der  alten 
Dame  weiter  zu  wiinschen  iibrig  lassen. 

Vormarsch  der  Westkalmiicken 

von  Hanns-Erich  Kaminski 

Cchleswig-Holstein  und  Pommern  seien  als  mustergiiltig 
ft  hervorgehoben,    sie     haben    alle     geschlagen,"    schreibt 

Alfred  Rosenberg  im  ,Volkischen  Beobachter*.  Der  ziemlich 
spat  zum  Deutschtum  erwachte  Balte  stellt  damit  eins  der 
wichtigsten  Ergebnisse  der  Prasidentenwahl  fest.  Der  Natio- 
nalsozialismus  hat  in  der  Tat  seinen  Standort  verandert,  und 
es  ist  unausbleiblich,  daB  sich  dadurch  allmahlich  sein  ganzer 
Charakter  verwandelt. 

Die  Reichstagswahlen  vom  14.  September  1930  zeigten 
noch  ein  vollig  einheitliches  Ergebnis.  Schon  die  ersten  Zah- 
len,  die  damals  am  Abend  des  Wahltages  bekannt  wurden, 
waren  typisch  fiir  das  ganze  Land,  und  zwischen  der  Stimmung 
in  den. Stadten  und  Dorfern,  in  den  agrarischen  und  den  indu- 
striellen  Teilen  des  Reichs  bestand  kaum  ein  Unterschied. 
Oberall  hatten  die  Nazis  und  in  geringerm  Umfang  die  Kom- 
munisten  gewonnen,  wahrend  die  Mittelparteien  aller  Schattie- 
rungen  verloren  hatten,  Selbst  das  Zentrum  war  an  einigen 
Orten  von  der  allgemeinen  Stromung  unterspiilt  worden. 

Diesmal  sieht  die  Karte  der  einzelnen  Wahlergebnisse  sehr 
verschieden  aus.  Sie  kennzeichnet  einerseits  den  MiBerfolg 
der  Nazis  im  Siiden  und  Westen,  andrerseits  ihr  Vordringen 
in  den  Norden  und  Osten  des  Reichs,  Wahrend  sie  in  den 
alten  demokratischen,  katholischen  und  industriellen  Teilen 
Deutschlands  ihr  en  Hohepunkt  iiberschritten  haben,  hat  sich 
ihnen  in  den  agrarischen  Provinzen  PreuBens  ein  neues  Krajt- 
feld  eroffnet. 

2  431 


Und  zwar  das  ihncn  gemaBe  Kraftfeld.  Denn  nun  hat  die 
Rcaktion  endlich  ihrcn  richtigen  Platz  gefunden,  namlich  dortt 
wo  sie  seit  jeher  in  Deutschland  zu  Hause  war.  Damit  bcginnt 
einc  Entwickhmg,  die  vielleicht  bald  die  politische  Situation 
klaren,  die  Dinge  auf  ihr  richtiges  MaB  zuriickfuhren  und  die 
historische  Struktur  Deutschlands  wiederherstellen  wird. 

Der  Nationalsozialismus  ist  in  Miinchen  entstanden.  Unter 
welchen  Bedingungen,  das  hat  Lion  Feuehtwanger  in  seincm 
,,Erfolg"  unvergleichlich  geschildert.  In  diesem  wunderbaren 
Buch  kann  man  lesen,  wie  die  ersten  Erfolge  Hitlers  ein  Pro- 
dukt  der  Inflation  waren,  wie  sie  sich  aber  auch  aufbauten  auf 
den  Eigenschaf ten  der  subalpinen  Bayern,  ihren  primitiven  Res- 
sentiments,  ihrer  Freude  an  Raufereien,  ihrem  komodienhaften 
Hang  zu  jeder  Art  Hatz  und  zu  pomphaften  Aufzugen.  So  ist 
der  Nationalsozialismus  bis  auf  den  heutigen  Tag  geblieben, 

Diese  Bewegung,  die  die  germanische  Rasse  der  deutschen 
Nation  gleichsetzt,  entstammt  also  einem  Land,  das  ganz  und 
gar  dem  lateinisch-katholischen  Kulturkreis  angehort.  Grade 
die  nationalistischen  und  reaktionaren  Propheten,  die  die  Na- 
zis als  ihre  Vorlaufer  fiir  sich  in  Anspruch  nehmen,  haben 
Bayern  immer  als  Mwelsch",  als  einen  Vorposten  Roms  in 
Deutschland  angesehen.  Alle  diese  Gelehrten  sind  sich  darin 
einig,  daB  das  groBte  Erlebnis  des  deutschen  Volkes  die  Re- 
formation ist  und  daB  erst  durch  sie  sich  die  staatenbildende 
Kraft  PreuBens  auswirken  konnte,  um  aus  den  Triimmern  des 
Heiligen  Romischen  Reichs  einen  neuen  Staat  zu  zimmern, 
Bayern  aber  hat  die  Reformation  nicht  mitgemacht,  es  gait 
immer  als  „reichsfeindlich",  als  ,,r6misch",  und  bayrisch,  ro- 
misch  und  katholisch  ist  auch  das  ganze  Gehabe  des  National- 
sozialismus, DaB  er  sich  gegen  diese  Einsicht  straubt,  ist  kein 
Gegenbeweis.  Der  Nationalsozialismus  ist  in  keiner  Weise  er 
selbst,  er  tritt  unter  lauter  falschen  Flaggen  auf. 

Vor  kurzem  ist  eine  Schrift  von  Ernst  Niekisch  erschienent 
die  den  katholisch-lateinischen  Charakter  des  Nationalsozialis- 
mus deutlich  ins  Licht  nickt,  (Sie  heiBt  MHitler  —  ein  deutsches 
Verhangnis",  und  der  Verlag,  es  ist  der  Widerstands-Verlag, 
legt  Wert  auf  die  Feststellung,  daB  sie  nur  80  Pfennig  kostet.) 
Ober  den  Verfasser,  der  auf  seiner  Reise  durch  die  deutschen 
Parteien  nun  gliicklich  in  der  Nahe  Ludendorffs  angelangt  ist, 
braucht  hier  nichts  weiter  gesagt  zu  werden.  Sein  preuBisch- 
protestantischer  Standpunkt,  der  den  Staat  als  ,,sittliche  Lei- 
stung"  auffaBt  und  als  Ideale  MNuchternheit,  Kiihle,  Strenge, 
Haltung  und  Zucht"  predigt,  ist  einfach  der  Kitsch,  den  die 
hohern  Lehranstalten  in  PreuBen  friiher  ihren  Schiilern  als 
Moralkodex  mitgaben.  Immerhin,  dieser  Niekisch  mit  dem  um- 
gelogenen  Kant  im  Tornister  sieht  den  Nationalsozialismus  mit 
den  hellsichtigen  Augen  eines  feindlichen  Bruders: 

„Nationalsozialistische  Politik  ist  Entscheidung  fiir  die  rechte 
Lehrc  und  den  rechten  Heiland.  Das  Dritte  Reich  beginnt  mit  dem 
Gerichtstag;  die  Schafe  werden  von  den  Bocken  getrennt.  Wer  nicht 
den  rechten  Glauben  hat,  wird  im  Dritten  Reich  verdammt  sein.  Das 
Dritte  Reich  ist  weniger  eine  politische  Moglichkeit  als  vielmehr  eine 
religiose  Hoffnung:  es  ist  kein  irdischer  Staat,  sondern  eine  Art  Reich 
Gottes  auf  Erden,    Wenn  es  zu  uns  kommen  soil,  ist  es  no  tig,  daB  ein 

432 


nationaler  Messias  es  bringe.  Der  Nationalsozialismus  ist  eine  Form 
von  nationalem  Messianismus ;  der  Messias  ist  Hitler,  Nationaler 
Messianismus  ist  jiidischen  Ursprungs . . .  Er  ist  ein  Gewachs  des  Mit- 
telmeergestades;  wo  er  Wurzel  fafit,  senkt  er  zugleich  den  Geist  der 
Mittelmeerkultur  in  das  Erdreich.  Fur  deutsche  Menschen  ist  er 
Gift . . .  Der  nationale  Messias,  der  sein  Gottesreich  auf  irdische  Be- 
diirfnisse  einrichtet,  wird  zum  Casar , , .  Casarismus  ist  immer  romisch 
. . .  Der  Papst  hat  die  Kraft,  fur  das  himmlische  Reich  zu  losen  oder 
zu  binden;  der  fascistische  Fuhrer  hat  die  Entscheidung  daruber,  wer 
des  Dritten  Reiches  wurdig,  wer  seiner  unwiirdig  ist.  Es  gibt  keinen 
Zugang  zu  Gott,  es  sei  denn  durch  das  hohepriesterliche  Mittleramt. 
Es  gibt  keinen  Zugang  in  das  Dritte  Reich,  es  sei  denn  durch  den 
fascistischen  Fuhrer,  der  auch  ein  Mittler  ist,  Der  Fascismus  ist  in 
jedem  seiner  Ziige  katholisch.  Es  ist  nicht  Zufall,  daB  Hitler  Katholik 
ist  Es  ist  ebenso  wenig  zufallig,  dafl  alle  mafigeblichen  nationalsozia- 
listischen  Fuhrer  Katholiken  sind , , ,  Man  spiirt  die  katholische 
Atmosphare,  sobald  man  eine  nationalsozialistische  Massenversamm- 
lung  betritt .  . ,  Allein  der  Fuhrer  weifi  iiber  das  Geheimnis  des  Drit- 
ten Reiches  Bescheid;  er  zelebriert  das  deutsche  Befreiungs-  und  Er- 
losungswunder.  An  der  "Versammlung  teilzunehmen,  stiftet  allein  schon 
den  Zusammenhang  mit  dem  Dritten  Reich  —  ahnlich  wie  die  An- 
wesenheit  bei  der  Messe  ein  Vorgefuhl  der  mystischen  Vereinigung 
mit  dem  gegenwartig  Gottlichen  erweckt." 

Und  an  andrer  Stelle: 

,,Nach  1923  wurde  Miinchen  fiir  Hitler  zur  Heimat;  es  hatte  ihn 
besiegt,  und  er  beugte  sich  der  Entscheidung.  Diese  Unterwerfung 
fiel  ihm  nicht  schwer;  sie  war  am  Ende  doch  nur  Heimkehr  zu  seinem 
eignen  Selbst.  Er  ist  romanisierter  Deutscher;  gegenreformatorische 
Instinkte  halb  wittelsbacher,  halb  habsburger  Farbung  tragt  er  in  sei- 
nem Blute . . .  Wer  sich  in  Miinchen  politisch  zu  Hause  fuhlt,  ist 
unter  deutschen  Gesichtspunkten  stets  verdachtig.  Von  Miinchen  her 
kann  man  die  deutschen  Dinge  immer  nur  so  sehen,  wie  sie  sich  vom 
romanischen  Raume  her  ausnehmen," 

,,Wie  siideuropaische  Besatzungstruppen  stehen  seitd'em 
seine  Scharen  auf  deutscher  Erde",  meint  Niekisch,  urn  sich 
schlieBlich  zu  dem  Satz  zu  versteigen:  „Indem  Hitler  im  Zeichen 
des  romischen  GruBes  und  der  fascistischen  Geisteshaltung 
gegen  den  deutschen  Norden  vordrang,  nagte  er  das  protestan- 
tische  Erbe  Luthers  an  und  nahm  er  an  der  preuBischen  Hin- 
terlassenschaft  Bismarcks  eine  lang  verhaltene  Rache  fiir  Ko- 
niggratz," 

Ich  habe  schon  mehr  als  genug  zitiert,  Denn  Niekisch  sieht 
zwar  richtig,  aber  er  erklart  falsch;  und  wenn  er  es  fiir  Hitlers 
Aufgabe  halt,  Protestantentum  und  PreuBentum  „seelisch  zu 
entwaffnen  und  beide  dem  romanischen  Schicksal  zu  iiberlais- 
sen",  so  gehort  das  —  leider!  —  in  das  Kapitel  des  im.  Luden- 
dorffschen  Kreis  herrschenden  Verfolgungswahnsinns, 

Nein,  der  Nationalsozialismus  ist  nicht  die  Vorstufe  zum 
Katholizismus,  er  ist  nur  auf  einem  Boden  entstanden,  der 
vom  Katholizismus  und  noch  friiher  vom  Imperium  Romanum 
gediingt  ist.  Trotz  seiner  Geistesverwandtschaft  mit  dem  ita- 
lienischen  Fascismus  gehort  er  nicht  dem  romischen  Kultur- 
kreis  an,  den  Niekisch  verachtlich  als  einen  Teil  des  Abend- 
landes  bezeichnet.  Er  hat  von  ihm  nur  die  Formen  entlehnt, 
mit  denen  er  seine  Ungeistigkeit  ausstaffiert  hat.  Sein  Inhalt 
ist  die  nackte  Barbarei,  ist  der  vollige  Mangel  aller  Bildung 
uad  Gesittung,  die  den  deutschen  Siiden  kennzeichnet. 

433 


Die  katholischen  Provinzen  Deutschlands,  also  nicht  nur 
der  Siiden  sondern  auch  der  Wcstcn  des  Rcichs,  gehorten  al- 
lerdings  schon  —  darin  hat  Niekisch  Recht  —  zu  Europa,  als 
der  Norden  und  Osten  Deutschlands  noch  nicht  einmal  ent- 
deckt,  geschweige  denn  kolonisicrt  waren,  Der  Siiden  und 
Westen  hatfe  schon  eine  tausendjahrige  Kultur,  als  die  alten 
Pruzzen  noch  Missionare  totschlugen  und  zu  ihren  drei  Gottern 
Perkunos,  Pikollos  und  Potrimpos  beteten,  Es  war  darum  ein 
historischer  Widerspruch,  wenn  in  den  letzten  Jahren  die  Zen- 
tren  der  deutschen  Reaktion  sich  in  Suddeutschland  befanden. 
Am  Rhein  und  an  der  Donau  war  man  oft  reichsfeindlich,  auto- 
nomistisch,  separatistisch;  reaktionar  war  man,  von  kurzen  An- 
fallen  abgesehen,  nie.  Die  Heimat  jeder  Reaktion  in  Deutsch- 
land  liegt  jenseits  der  Elbe,  mindestens  seit  hundert  Jahren 
findet  deshalb  jeder  deutsche  Reaktionar  seine  Basis  in  den 
preuBischen  Agrargebieten. 

Wenn  jetzt  der  fVolkische  Beobachter'  stolz  auf  Schleswig- 
Holstein  und  Pommern  hinweist,  die  sich,,mustergultig"  geschla- 
gen  haben,  so  sind  die  Braunhemden  keine  Kreuzfahrer,  die 
diese  Provinzen  noch  nachtraglich  der  pax  romana  unterwor- 
fen  haben,  sie  sind  vielmehr  Soldner,  die  endlich  heimgefunden 
haben.  Der  Main  und  dariiber  hinaus  die  Elbe  werden  so 
wieder  zu  Grenzen,  das  Braune  Haus  wird  sich  bald  in  Berlin 
befinden^  seine  Saulen  aber  werden  im  Erdreich  der  preuBi- 
schen Junker  stehen. 

Sicher  wird  der  Gegensatz  zwischen  dem  suddeutsch-latei- 
nischen  Gehabe  der  Nazis  und  dem  PreuBentum  ihrer  neuen 
Kerntruppen  noch  zu  mancherlei  Auseinandersetzungen  fiih- 
ren;  ihr  Ausgang  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  Hitler  und  die 
Seinen  bestehen  ja  nur  aus  AuBerlichkeiten,  die  alteingesessene 
preuBische  Reaktion  jedoch  hat  ein  Programm  und  versteht  zu 
herrschen.  Ihr  Ideal  ist  begrenzt,  aber  klar;  es  ist  der  alte 
preuBische  Klassenstaat,  zu  dem  die  Junker  das  Reich  grade 
noch  als  Anhangsel  in  Kauf  nehmen. 

Die  Verschiebung  der  nationalsozialistischen  Basis  bedingt 
aber  nicht  nur  eine  politische  sondern  auch  eine  soziale  Um- 
schichtung  der  ParteL  Bis  jetzt  bestand  sie  im  wesentlichen 
noch  aus  kleinburgeriichen,  also  stadtischen  Elementen,  Nun- 
mehr  haben  die  Ostelbier  sie  am  Finger  ergriffen  und  werden 
sie  bald  ganz  verschlingen.  Der  Traum,  in  die  „marxistische 
Front"  einzubrechen,  ist  damit  endgiiltig  ausgetraumt,  und  fur 
die  groBstadtischen  Agitatoren  wird  bald  kein  Raum  mehr  in 
der  Partei  sein.  Otto  StraBer  und  Stennes  werden  andre  Dis- 
sidenten  folgen,  und  an  ihre  Stelle  werden  Leute  treten,  die 
weniger  den  Industriellen  als  den  Agrariern  zinsen.  Die  preu- 
Bischen Junker  haben  sich  noch  nie  geniert,  sich  zu  demaskie- 
ren  und  ihren  Egoismus  offen  zur  Schau  zu  tragen. 

Das  Ergebnis  der  Prasidentenwahl,  das  diese  Entwicklung 
zum  ersten  Mai  aufzeigt,  fiihrt  so  zuriick  zu  der  politischen 
Struktur  des  Kaiserreichs.  Mehr  und  mehr  werden  die  Sol- 
daten  des  Dritten  Reichs  nun  zu  Preisfechtern  jener  Kultur- 
trager  werden,  die  Ferdinand  Freiligrath  „die  preuBischen 
Westkalmiicken"   nannte. 

434 


Ivar  KreUger  von  Alfred  Kolmar 

Jvar  Kreuger  hat  sich  crschossen.  Fur  den  internationalen 
Kapitalismus  ist  das  ein  schwererer  Schlag,  als  wenn  Thal- 
mann  zum  Prasidenten  des  Deutschen  Reiches  gewahlt  wor- 
den  ware. 

Die  Bedeutung,  die  der  Freitod  Kreugers  hat,  liegt  ja  nicht 
nur  in  der  Selbstvernichtung  irgend  eines  GroBkapitalisten.  Sie 
besteht  vieltnehr  darin,  dafi  die  letzte  bisher  noch  stark  ge- 
bliebene  Position  des  internationalen  Kapitalismus  hierdurch 
ihren  eigentlichen  Trager  verliert.  Denn  soviel  ist  sicher,  dafi 
das  ganze  Riesengebaude,  das  die  Firma  Kreuger  &  Toll  urn- 
faBt,  auf  den  Schultern  Ivar  Kreugers  geruht  hat, 

Kreuger  war  ein  begabter  und  ein  belasteter  Mensch, 
Seine  wirtschaftliche  Tatigkeit  wies  unbestreitbar  geniale  Ziige 
auf.  Sie  wurde  nur  mehr  und  mehr  durch  Menschenscheu 
iiberschattet  und  erschwert.  Hieraus  entstand  der  innere  Kon- 
flikt,  der  Kreuger  in  einer  unbeherrschten  Stunde  schlieBlich 
in  den  Tod  trieb.  Es  war  fiir  ihn  auf  die  Dauer  eben  unmog- 
lich,  seine  Person  immer  mehr  abzuschlieBen,  seine  private 
Sphare  mit  einer  immer  hohern  Mauer  zu  umgeben  und  gleich- 
zeitig  der  Finanzier  vieler  Kulturstaaten  zu  sein,  damit  aber 
mitten  im  Brennpunkt  des  weltwirtschaftlichen  Geschehens 
stehen  zu  mussen.  An  diesem  privaten  Konflikt  ist  Kreu- 
ger zerbrochen.  Aber  mit  ihm  zerbricht  wahrscheinlich 
nicht  nur  ein  materielles  Gebaude  sondern  auch  ein  solches 
ideeller  Natur;  mit  einem  Ideen-Gehalt,  der  grundlegend  fiir 
den  Kapitalismus  in  seiner  modernsten  Form  geworden  ist  — 
in  der  Form,  die  die  Gleichberechtigung  wirtschaftlicher  Ge- 
bilde  gegeniiber  dem  'politischen  Staat  als  endgiiltig  vollzogen 
erkennen  lieB. 

Denn  in  dieser  Idee  und  ihrer  Durchfuhrung  lag  die  Eigen- 
art  der  Schopfung  Kreugers.  Das  Auftreten  von  wirtschaft- 
lichen  Unternehmungen  riesenhaften  Umfanges  in  einem  Ver- 
haltnis  zum  Staat,  das  man  nicht  anders  bezeichnea  kann 
denn  als  vollig  gleichberechtigt,  hat  er  als  erster  realisiert. 
War  das  einzelne  zum  Zwecke  der  Gewinnerzielung  wirtschaf- 
tende  Unternehmen  in  den  bisher  abgelaufenen  Phasen  der 
kapitalistischen  Entwicklung  zwar  oft  genug  dazu  imstande, 
den  Rahmen  staatlicher  Fiirsorge,  oder  wenn  man  so  will  Be- 
vormundung  und  Beherrschung  zu  sprengen,  so  hat  es  sich 
hierbei  bisher  doch  nur  um  ein  Gegeneinander'gehandelt,  das 
sich  grundsatzlich  nicht  auf  der  Ebene  der  Gleichberechtigung 
abspielte.  Es  war,  prinzipiell  betrachtet,  ein  Ausnahmefall, 
wenn  wirtschaftliche  Gebilde  die  Moglichkeit  hatten,  mit  Er- 
folg  gegen  staatliche  MaBnahmen  anzugehen;  es  war  in  gleicher 
Weise  ein  Ausnahmefall,  daB  der  Staat  uberhaupt  in  die  Not- 
wendigkeit  versetzt  wurde,  mit  privatwirtschaftlichen  Unter- 
nehmungen seines  oder  eines  andern  Landes  zu  kampfen.  Tat 
er  dies,  so  geschah  das  stets  unter  Anwendung  von  Macht- 
mitteln,  die  ihm  auf  Grund  seiner  Souveranitat  zu  Gebote  stan- 
deii.  Es  handelte  sich  hier  also  schlieBlich  stets  um  die  Stel- 
lung  des  Staates    zu    einem    inlandischen    oder  auslandischen 

435 


Staatsbiirger,  mochte  dieser  nun  einc  physischc  oder  cine  juri- 
stische  Person  sein;  es  handelte  sich  dem  Grundsatz  nach  nicht 
urn  cin  Verhaltnis  von  Macht  zu  Macht,  inncrhalb  desscn  ne- 
bcn  den  Staat  eine  neue  Kategorie  von  Machtinhabern  tritt, 
die  ihm  prinzipiell  gleichgeordnet  und  nicht  mehr  untergeordnet 
ist.  Diese  Kategorie  hat  Kreuger  geschaffen.  Seine  Schop- 
fung  war  auf  der  hochsten  Stufe  sozialer  Form  —  auf  der  des 
Staates  —  „btindnisfahig"  geworden.  Das  ist  etwas  ganz  andres 
als  etwa  die  Plazierung  von  Staatsanleihen  durch  Banken,  wie 
sie  die  Weltwirtschaft  seit  langem  kennt  Diese  waren  doch 
iramer  nur  ausfiihrende  Organe  eines  Staates,  mag  es  sich  hier- 
bei  auch  um  noch  so  rentable  Geschafte  gehandelt  haben.  Es 
fehlte  eben  zwischen  den  Kontrahenten  derartiger  Abmachun- 
gen  an  der  grundsatzlichen  Gleichberechtigung  des  Gebenden 
und  Nehmenden,  wie  sie  erst  Ivar  Kreuger  fur  seine  Gruppe 
den  Staaten  gegemiber  herausgebildet  hat,  Seine  Abkommen 
mit  diesen  waren  echte  MStaatsvertrage"  und  nicht  Abmachun- 
gen  von  Staaten  mit  irgend  welchen  andern  ihnen  nicht  gleich- 
geordnet en  Erscheinungsformen,  Darin  lag  das  Neue,  das 
Kreuger  in  die  kapitalistische  Entwicklung  hineingebracht  hat. 
Er  hat  sie  damit  zweifellos  zu  einem  neuen  Hohepunkt  gefiihrt. 
Sein  jaher  personlicher  Absturz  ins  Nichts  wirkt  unter  diesen 
Umstanden  als  ein  groBes  Symbol. 

Es  ist  gar  keine  Frage,  daB  Kreuger  bei  seinen  Geschaf- 
ten  nicht  nur  wirtschaftlich  sondern  auch  politisch  gedacht 
hat,  Man  sehe  sich  doch  einmal  die  Position  an,  die  er  sich 
den  Russen  gegenuber  geschaffen  hat.  Man  muB  sich  dann  zu- 
nachst  vergegenwartigen,  daB  Kreuger  nicht  nur  der  Konkur- 
rent  der  Russen  im  internationalen  Ziindholzgeschaft  war,  son- 
dern daB  er  auch  direkter  Anleiheglaubiger  samtlicher  Staa- 
ten wurde,  die  die  Westgrenze  RuBlands  bilden  (mit  der  allei- 
nigen  Ausnahme  Finnlands).  Man  brauchte  die  Bedeutung  die- 
ser Tatsache  zu  Kreugers  Lebzeiten  in  ihren  politischen  Mog- 
lichkeiten  gewiB  nicht  zu  iiberschatzen  und  etwa  an  einen 
nZiindholzkreuzzug"  Kreugers  gegen  RuBland  zu  glauben.  Aber 
daB  in  dieser  Konstellation  ein  starker  politischer  Explosivstoff 
aufgehauft  wurde,  und  zwar  offenbar  ganz  bewuBt,  das  steht 
auBer  Zweifel,  und  es  ist  immer  noch  leicht  moglich,  daB  er 
friiher  oder  spater  einmal  zur  Explosion  kommt.  Wie  weit  die 
zerstorende  Kraft  einer  solchen  reichen  kann,  dariiber  Vermu- 
tungen  anzustellen,  ware  heute  allerdings  miiBig,  Wir  miissen 
uns  aber  doch  immer  wie  der  ins  Gedachtnis  zuriickrufen,  daB 
Kreuger  &  Toll  von  den  Staaten,  die  im  Westen  an  RuBland 
grenzen,  also  von  Estland,  Lettland,  Litauen,  Polen  und  Ru- 
manien  zusammen  einen  Betrag  von  rund  Vierhundert  Millio- 
nen  Schwedenkronen  zu  fordern  haben  —  den  Zinsendienst 
nicht  gerechnet;  Das  sind  Summen,  die  das  Interesse  Kreugers 
an  der  politischen  und  wirtschaftlichen  Integritat  der  Rand- 
staaten  sehr  weit  iiber  das  Handelsinteresse  eines  durch- 
schnittlichen  Kaufmanns  oder  „Wirtschaftsfuhrers11  hinaus- 
gehen  lassen,  Wenn  namlich  derartige  Summen  einmal  auf 
dem  Spiel  stehen,  so  wachst  der  Charakter  eines  wirtschaft- 
lichen Interesses-  bereits  in  das  Gebiet  der  hohen  Politik  hin- 
ein.     Dies  war  aber  im  vorliegendem  Falle  um  so  eher  denk- 

436 


bar,  als  auch  diejenigen  Staaten,  die  hintcf  dem  Randstaaten- 
giirtel  iiegen  —  Deutschland,  Ungarn,  GriechenJand  —  mit  der 
Zeit  direkte  Schuldner  von  Kreuger  &  Toll  geworden  sind. 

Es  kann  an  dieser  Stelle  nur  darauf  hingewiesen  werden, 
daB  das  System  von  Nichtangriffspakten  zwischcn  den  einzel- 
nen  Rands taa ten  und  RuBland  sich  im  engsten  Zusammenhang 
mit  der  Tatigkeit  Ivar  Kreugers  in  diesen  Staaten  entwickelte, 
Er  muBie  groBten  Wert  darauf  legen,  daB  die  Fortexistenz  seiner 
Schuldnerlander  in  der  Nachbarschaft  RuBlands  durch  der- 
artige  vertragliche  Abmachungen  nach  menschlichem  Ermessen 
gesichert  bleibe,  denn  hiervon  hing  auch  die  Fortexistenz  sei- 
ner Gruppe  ab, 

Man  sieht  also:  An  Perspektiven  hat  es  diesem  Manne 
nicht  gefehlt-  Er  war  die  starkste  Kraft  des  Kapitalismus  der 
Nachkriegsjahre.  Er  war  dies  in  einem  ganz  andern  Sinne  und 
auch  in  einem  viel  hoherm  Grade  als  diejenigen  Typen,  die 
man  bei  uns  und  anderswo  als  Kriegs-  und  Inflationsgewinnler 
kannte.  Deren  Starke  erwies  sich  sehr  bald  als  Schwache  —  in 
dem  Augenblick  namlich,  wo  es  nicht  mehr  moglich  war,  an  der 
Borse  MGeld"  zu  verdienen  durch  wahlloses  Zusammenkaufen 
von  Aktienpaketen  oder  Industriekonig  zu  werden  durch 
ebenso  wahllosen  Ramsch  von  irgendwelchen  Werken.  Kreuger 
hatte  eine  Idee:  Er  wollte  der  Finanzier  samtlicher  europai- 
scher  und  eines  guten  Teiles  auBereuropaischer  Staaten  sein 
und  bleiben.  Er  wollte  dies  aber  nicht  nur  —  wie,  friiher  ein- 
mal  die  Rothschilds  in  einer  viel  primitiveren  internationalen 
Wirtschaftsform  —  durch  die  Aufbringung  und  Hergabe  von 
Anleihen  gesichert  sehen,  was  allein  niemals  eine  Sicherung 
vor  der  Moglichkeit,  entbehrlich  zu  werden,  bedeuten  kann, 
sondern  ihm  lag  daran,  diese  Position  durch  die  Obernahme 
von  Produktipnsstatten  in  bestimmten  Industriezweigen  noch 
weiterhin  zu  sichern.  In  dieser  Hinsicht  hatte  er  einen  sehr 
glticklichen  Ausgangspunkt:  Die  Ziindholzindustrie.  Das  Ziind- 
holz  ist  ein  konjunkturloser  ArtikeL  Sein  Verbrauch  ist  der 
Menge  nach  von  Konjunkturschwankungen  nicht  abhangig. 
Auch  in  der  Krise  der  letzten  Jahre  hat  es  sich  erwiesen,  daB 
die  Hohe  des  Ziindholzverbrauches  in  den  Lahdern,  deren  Be- 
volkerung  einmal  eine  bestimmte  Zivilisationsstufe  erreicht 
hat,  nicht  von  der  Wirtschaftslage  abhangt  sondern  iediglich 
eine  Funktion  der  Bevolkerungsziffer  bildet.  Von  diesem 
Punkt  aus  hat  Kreuger  seine  Anleihegeschaf te  mit  den  Staa- 
ten gemacht,  denen  er  fur  die  Hergabe  von  Krediten  ihre  Ziind- 
holzindustrie in  der  Weise  abzunehmen  pflegte,  daB  er  gemein- 
sam  mit  dem  betreffenden  Staate  eine  Monopolgesetlschaft 
griindete,  aus  deren  Ertragnissen  er  zunachst  einmal  sei- 
nen  Zinsendienst  sicherte.  Das  ist  eine  viel  starkere  Position 
als  sie  ein  Bankier  im  allgemeinen  dem  Staat  gegeniiber  zu 
gewinnen  vermochte.  Sie  hatte  aber  auch  eine  verzweifelte 
Ahnlichkeit  mit  dem  Verhaltnis,  in  dem  die  europaischen 
Machte  friiher  zur  Tiirkei  oder  zu  China  gestanden  habent  als 
sie  sich  die  Zolle  dieser  Lander  als  Pfand  fiir  die  gewahrten 
Kredite  zu  sichern  pflegten.  Kreuger  reprasentierte  die 
„Dette  Publique"  Europas  und  Siidamerikas,  Man  sieht  aus 
diesem  Vergleich  wohl  am  besten,  wie  weit  die  europaischen 

437 


Staaten  in  ihrem  Verhaltnis  gegeniiber  ihren  Gcldgcbern  be- 
rcits  gesunken  waren. 

Das  scheint  jetzt  allcs  mit  dem  Tode  Kreugers  voriiber  zu 
sein.  Er  war  dcr  einzige  Exponent  einer  Entwicklung,  die  den 
modernen  Kapitalismus  sozusagen  einen  neuen  Ring,  wahr- 
scheinlich  seinen  letzten,  ansetzen  lieB.  Er  war  ein  einsamer 
Mensch  und  hat  als  solcher  wohl  auch  kaum  Schule  gemacht. 
Sein  Tod  wird  auf  dem  internationalen  Kapitalmarkt,  soweit 
von  einem  solchen  heute  iiberhaupt  noch  die  Rede  sein  kannr 
wahrscheinlich  eine  ungeheure  Verwiistung  anrichten.  Die 
ganze  Konstruktion  dieses  Marktes  kann  hierdurch  ihren  letz- 
ten StoB  erhalten. 

Freilich  ist  die  erste  Besturzung  iiber  den  Tod  Kreugers 
sehr  bald  einer  scheinbar  ruhigen  Beurteilung  der  Situation 
durch  die  Weltborsen  und  die  beteiligten  Kreise  von  Politik 
und  Wirtschaft  —  was  eben  hier  durchaus  nicht  mehr  ausein- 
ander  zu  halten  ist  —  gewichen.  Aber  man  lasse  sich  durch 
diese  Ruhe  nicht  tauschen.  GewiB  ist  in  den  letzten  Tagen 
alles  aufgeboten  worden,  urn  den  radikalen  Zusammenbruch 
der  Konstruktion  Kreugers  2u  verhindem,  wobei  erst  spater 
zu  entscheiden  sein  wird,  welche  Rolle  die  Regierungen  einzel- 
ner  Lander,  insbesondere  die  Frankreichs  und  der  Vereinigten 
Staaten,  hierbei  gespielt  haben;  es  geht  ja  auch  um  das  ganze 
System.  Aber  die  wirklichen  Folgen  der  Vorgange,  fur  die  der 
Tod  Ivar  Kreugers  nur  ein  Symptom  darstellt,  werden  erst  im 
Laufe  der  nachsten  Monate  offenbar  werden<  Nach  mensch- 
licher  Voraussicht  werden  wir  dann  wahrscheinlich  sehen,  daft 
mit  dem  ,,Schwedentrust"  Veranderungen  vorgenommen  wer- 
den mussen,  die  auch  das  ganze  Bild  der  Weltwirtschaft  und 
Weltpolitik  umgestalten  werden. 

Die  mandschurische  Republik 

von  Richard  Huelsenbeck 

T^ie  Eroberung  der  Mandschurei  durch  die  Japaner  datiert 
nicht  von  gestern,  und  atiBer  den  Herren  im  Volkerbund 
weiB  jeder,  der  sich  nur  ein  wenig  mit  ostasiatischen  Verhalt- 
nissen  beschaftigt  hat,  daB  die  Ausrufung  der  mandschurischen 
Republik  der  SchiuBstein  eines  nach  genauen  Flanen  angeleg- 
ten  Baues  ist. 

Zweierlei  Tatsachen  sind  es,  die  einer  wirklichen  Kenntnis 
der  Ereignisse  im  Fernen  Osten  hemmend  entgegenstehen. 
Das  Vorgehen  der  Japaner  ist  ein  so  typisch  kapitaiistisch- 
imperialistisches,  daB  das  kapitalistische  Europa  —  von 
Amerika  nicht  zu  reden  : —  darin  seinen  eignen  Herzschlag  er- 
kennt  und  sich  nicht  eingestehen  will,  welch  ungeheuerliche 
Perfidien  hier  begangen  werden.  Das  ist  der  Hauptgrund. 
Der  andre  besteht  in  der  Unfahigkeit  der  politischen  Fuhrer,, 
sich  mit  der  Materie  zu  beschaftigen,  auf  die  es  ankommt.  In 
die  Hohlheit  der  genfer  Politikerkopfe  geht  vielleicht  noch  ein 
wenig  statistisches  Material  hinein  —  wie  aber  sollte  man  von 
ihnen  verlangen,  daB  sie  sich  mit  asiatischer  Gesinnungsart 
vertraut  machen? 

438  y 


Ohne  Kenntnis  der  kapitalistischen  Voraussetzungen  und 
ohnc  Wisscn  von  der  Wesensart  dcr  Japaner  ist  man  unfahig 
zu  begreifen,  urn  was  gewiirfelt  wird.  Dieser  imperialistische 
Erobcrungskricg  wird  von  cincm  Volk  inszeniert,  bci  dem  die 
Seele  Dschingis  Khans  hart  neben  den  Idealen  des  PreuBen- 
turns  liegt.  Wie  Spreu  vor  dem  Wind  verfliegen  dem  Japaner 
alle  Versprechungen  der  Washington-Konferenz,  der  Volker- 
bundsakie,  des  Keiiogpaktes,  wenn  es  sich  darum  handeit,  den 
besten  Augenblick  zum  Vorteil  des  eignen  Landes  zu  nutzen, 

Gezwungen  von  kapitalistischer  Not  haben  die  Japaner 
nach  ihrem  unerwarteten  Sieg  iiber  die  Russen  im  Jahre  1905 
die  Eroberung  der  Mandschurei  begonnen,  und  sie  werden  sie 
schon  deshalb  nicht  aufgeben,  weil  sie,  wie  der  Asiate  sagt,  in 
diesem  Fall  ihr  Gesicht  wahren  miissen.  Diese  morderische 
Angelegenheit  ist  zu  einer  Prestigefrage  geworden,  und  eher 
wiirde  ganz  Japan  sich  im  Harakiri  den  Bauch  aufschlitzen  als 
die  Hande  von  der  Mandschurei  fortnehmen. 

Das  ist  die  harte  Wahrheit,  die  man  begreilen  mufi.  Die 
Tatsache,  daB  den.  Japanern  der  Frack  gut  steht,  besagt  nicht, 
sie  seien  der  europaischen  Wesensart  ahnlich. 

Genau  wie  England,  Deutschland  und  Amerika  (imperia- 
listische Koloniallander,  auf  die  man  sich  heute  in  Tokio  mit 
einem  gewissen  Recht  beruft)  haben  sie  eine  Eisenbahn  zum 
Rfickhalt  ihrer  Eroberung  gemacht.  Deutschland  hat  in  Schan- 
tung  seinerzeit,  als  ihm  noch  die  Machtmittel  des  Kaisertums 
zur  Verftigung  standen,  nicht  anders  begonnen,  nur  anders  ge- 
endet.  Schon  die  Vertrage,  die  zur  Durchfiihrung  und  Betrieb- 
haltung  der  Bahn  bis  Tschangtschun  mit  den  Chinesen  ge- 
schlossen  wurden,  sind  Schulbeispiele  imperialistischen  Erobe- 
rungswillens.  Den  wirklichen  Machtverhaltnissen  nach  sollte 
nur  Dalny  eine  japanische  Stadt  sein;  die  Japaner  haben  sich 
aber  immer  so  aufgefiihrt,  als  gehore  ihnen  auch  Mttkdenf  die 
mandschurische  Hauptstadt. 

Seit  dem  russisch-japanischen  Krieg  sind  die  chinesischen 
Herrscher  der  Mandschurei  japanische  Strohmanner  gewesen. 
Tschangtsolin,  der  gewiegle  Rauberhauptmann,  der  zu  iiber- 
raschender  Legalitat  aufsteigen  konnte,  wurde  in  die  Luft  ge- 
sprengt,  als  er  Lust  zeigte,  chinesischer  Patriot  zu  werden. 
Sein  Sohn  Tschangshueliang,  ein  milder  und  gerissener  Knabe, 
hatte  in  dem  Augenblick  zu  gehen,  als  den  Japanern  die  Zeit 
gekommen  schien.  Heute  wird  er  sich  freuen,  daB  er  mit  dem 
nackten  Leben  davongekommen  ist. 

Die  Konferenz  von  Washington  im  Jahre  1922  hatte  den 
Japanern  das  fast  eroberte  China  wieder  fortgenommen.  Herr 
Morgan  in  New  York  hatte  ein  energisches  Wort  gesprochen, 
weil  er  nicht  einsah,  warum  die  Staaten  nicht  ebensogut  das 
chinesische  Geschaft  machen  konnten.  Mit  bewundernswerter 
Disziplin  steckten  die  Japaner  die  Konferenzniederlage  ein 
und  wartelen  auf  den  geeigneten  Moment. 

Der  Augenblick  ist  jetzt  gekommein.  Man  hat  es  nun  nicht 
mehr  notig,  in  miihsam  friedlichem  Wettbewerb  mit  den  chi- 
nesischen Bahnunternehmungen  der  Mandschurei  zu  kon- 
kurrieren.  Es  ist  jetzt  kein  Krieg  der  Bahnen  und  Sojabohnen 
mehr   sondern  ein  Krieg  der  Maschinengewehre  und  Fiammen- 

8"  439 


werfer.  Die  japanische  Generality  hat  den  gordischen  Knoten 
der  Weltwirtschaftskrise,  die  Japan  besonders  peinigte,  durch- 
hauen,  Nie  war  die  Slunde  so  gtinstig.  England  durch  die 
Pfundkrise  auBer  Gef echt  gesetzt,  RuBland  durch  den  Fiinf- 
jahresplan  auBenpolitisch  gelahmt.  Mit  Frankreich  und  seiner 
Riistungsindustrie  innigst  befreundet.  Gegen  Amerikas  Eifer- 
sucht  —  alle  Zeichen  sprechen  dafur  —  durch  einen  geheimen 
Vertrag  uber  die  Beuteverteilung  geschiitzt. 

So  kommen  die  japanischen  Siege  in  der  Mandschurei  und 
so  die  mandschurische  Republik  von  Japans  Gnaden  zu- 
stande.  Nach  der  endgiiltigen  Beseitigung  Tschangshueliangs 
geht  man  auf  die  Suche  nach  einem  willigeren  Strohmann  und 
findet  den  Knabenkaiser  Henry  Puji,  der  bisher  in  der  ja- 
panischen Konzession  in  Tientsin  seine  Tage  mit  viel  Liebe 
und  wenig  Vorlesungsbesuch  hingebracht  hatte.  Die  Tatsache 
seiner  Herkunft*  von  den  Mandschus  sicherte  den  Auftrag- 
gebern  in  Tokio  das  Geftihl,  man  habe  es  hier  mit  einem  ab- 
solut  revolutionsfeindlichen  Menschen  zu  tun.  Die  Tatsache, 
daB  diesem  Herrn  Henry  einst,  als  Fengjiisiang  ihm  die  Gurgel 
abschneiden  wollte,  Japaner  in  Peking  das  Leben  gerettet 
haben,  seine  Erziehung  und  Aufpappelung  unter  dem  Bilde  des 
Mikado,  des  angebeteten  Vorbildes  feudaler  Macht,  geben  den 
Griindern  der  mandschurischen  Republik  die  Garantie  der 
Loyalitat.  Der  HaB  gegen  alles,  was  Revolution  heifit,  wird 
ihnf  so  hofft  man,  atich  verwendbar  machen,  wenn  die  mand- 
schurische  Republik  das  sein  wird,  als  was  sie  eigentlich  ge- 
dacht  ist,  nicht  Rohstoffland,  nicht  nur  Sojabohnenplantage 
sondern  ein  Aufmarschgebiet  gegetn  das  verhaBte  SowjetruBland, 

Hier  liegt  der  Sinn  dieser  Konstruktion,  Sozusagen  die 
Pointe.  Japans  Feind  ist  nicht  nur  China  sondern  vor  allem 
auch  SowjetruBland.  Die  Idee  des  Boykotts,  die  Japan  an  den 
Rand  des  wirtschaftlichen  Verderbens  und  reif  zu  seinen 
kriegerischen  Entschliissen  machte,  stammt  von  Borodin  und 
den  Russen.  Die  Russen  haben  damals  in  Kanton  den  ersten 
Boykott  gegen  die  imperialistischen  Ausbeuter  organisiert,  und 
durch  die  Russen  haben  die  Chinesen  erst  begriffen,  was  fiir 
eine  entscheidende  Waffe  ihnen  damit  gegen  Japan  zur  Ver- 
fiigung  stent, 

Kein  Feind  auf  der  Welt  hat  die  Japaner  so  in  Unruhe 
versetzt  wie  der  Marxismus.  Nichts  hat  ihrer  feudalen  Bus- 
hidovorstellung  einen  solchen  StoB  versetzt  wie  die  Verwirk- 
lichiing  des  sozialistischen  Staates  in  RuBland.  Auf  Asien 
tibertragen  wiirde  das  bedeuten,  daB  die  Kulis,  jene  armste 
Klasse  der  Menschen,  auf  deren  Riicken  die  von  deutschen  und 
auslandischen  Astheten  bewunderten  Kulturen  aufgebaut  wor- 
den  sind,  daB  diese  ungliicklichsten  aller  Ungliicklichen,  der 
Sockel,  auf  den  die  japanischen  Feudalherren  ihre  FiiBe  zu  setzen 
gewohnt  '  sind,  das  Recht  bekamen,  ein  menschenwiirdiges 
Leben  zu  fiihren,  wahrend  sie  doch  bisher  nur  das  Recht 
batten,  sich  fiir  ihre  Auftraggeber  zu  opfern.  Diese  wahre  Um- 
drehung  aller  Verhaltnisse,  die  fiir  den  Japaner  die  Wirklich- 
keit  bedeuten,  ist  es,  was  ihn  so  erbost  gegen  SowjetruBland 
macht.  Die  immer  machtiger  sich  bemerkbar  machenden  wirt- 
schaftlichen Folgen  des  russischen  Fortschritts  tun  das  ihrige. 

440 


Asiaten  sind  zahe.  Nicht  umsonst  haben  die  Japaner  da- 
mals  die  fernostliche  Republik  gegriindet.  Sie  waren  die  wirk- 
lichen  Antreiber,  nicht  die  Amerikaner,  die  Tschechen  und  die 
Franzosen.  Den  Japanern  hat  es  damals  schon  auf  den  Finger- 
nagelh  gebrannt,  die  russische  Revolution  zu  beseitigen,  sie 
sind  heute  in  derselben  Lage.  Noch  mehr  als  das.  Sie  sind 
darauf  angewiesen,  sich  mit  einer  Weltanschauung  zu  messen, 
die  der  Todfeind  des  miiiiarischen  FeudaSismus  ist,  weii  die 
sowjetrussischen  Ideen  in  ihrem  eignen  Lande  eine  sich  standig 
vergrofiernde  Anhangerzahl  gefunden  haben. 

Man  kann  die  revolutionare  Situation  in  Japan  nicht  nach 
der  Zahl  der  sozialistischen  Abgeordneten  beurteilen.  Die  ja- 
panische  Militarkaste  unterdriickt  jede  Meinung,  und  nur 
wenige  haben  den  Mut,  sich  wegen  ihrer  Ideen  den  volligen 
moralischen  und  wirtschaftlichen  Boykott  gefallen  zu  lassen. 
DieLage  derArbeiter  und  derBauern  in  Japan  ist  verzweifelt, 
und  alle  Zeichen  sprechen  dafur,  daB  der  von  ihnen  ausgehende 
unterirdische  Druck  einer  der  Hauptgriinde  gewesen  ist,  der 
die  Militarclique  veranlaBt  hat,  diesen  Entlastungskrieg  grade 
jetzt  in  Szene  zu  setzen. 

Sehr  wichtig  ist  die  Meldungt  daB  Vertreter  der  Mongolei, 
eines  deutlich  unter  russischem  EinfluB  stehenden  Landes  der 
grotesken  Inthronisierung  des  Mister  Henry  beigewohnt  haben. 
Das  zeigt  die  Absicht  der  Japaner  deutlich  auf.  Sie  wollen 
den  EinfluB  Sowjetrufilands  vorlaufig  durch  eine  Reihe  von 
Pufferstaaten  verkleinern,  die  willenlos  unter  ihrem  EinfluB 
stehen.  Die  mandschurische  Republik,  die  Mongolei  und  dann, 
wenn  moglich,  noch  einmal  eine  fernostliche  Republik  mit  der 
Hauptstadt  Wladiwostok. 

Die  Zahigkeit  der  Japaner,  keinen  ihrer  aiten  Plane  auf- 
zugebenf  wird  unterstiitzt  und  iiberboten  von  den  weiBrussi- 
schen  Emigranten,  dieser  Horde  verkommener  Aristokraten 
und  zaristischer  Offiziere,  die  bisher  ihr  Leben  dadurch  ge- 
fristet  haben,  daB  sie  den  von  Kidnappern  bedrohten  chinesi- 
schen  Compradoren  Leibwachendienste  leisteten.  Schon  haben 
sich  der  im  zaristischen  Hofzeremoniell  ergraute  General 
Kusmi  und  jener  Semcnow,  dem  die  Internationale  der  Kolo- 
nialausbeuter  in  Schanghai  die  Bildung  einer  weiBrussischen 
TrUppe  gestattete  (mit  der  alten  Zarenfahne)  nach  Charbin 
begeben.  Diese  Wolfe  riechen  Blut.  Sie  haben  nichts  zu  ver* 
lieren  und  eine  Welt  zu  gewinnen.  Sie  werden  also  mit  dem 
Geld  der  Japaner  marschieren,  wenn  es  gewiinscht  wird. 

Noch  ist  es  nicht  heraus,  ob  die  ungeheure  Verachtung 
gegen  die  weiBe  Rasse,  die  die  Japaner  in  ihren  Verhandlun- 
gen  mit  dem  Volkerbund  deutlich  gezeigt  haben,  sie  diesmal 
schon  gegen  die  Sowjetgrenzen  treiben  wird.  Das  wiirde  wahr- 
scheinlich  das  Signal  fur  die  europaischen  Kapitalisten  sein, 
dje  Einkreisung  RuBlands  zu  voilenden.  Der  neue  Weltkrieg 
ware  da  und  damit  ein  letzter  Versuch,  sich  durch  die  Kon- 
>unktur  der  Gfanatfabrikation  vor  dem  endgiiltigen  Untergang 
zu  retten.  Ob  dies  kommen  wird  oder  nicht,  hangt  von  keiner 
Zufalligkeit  ab  sondern  von  der  innern  Faule  der  kapitalisti- 
schen  Ordnung.  Es  fragt  sich,  ob  sie  muB,  Wenn  sie  'mufi, 
wird  sie  miissen. 

441 


Riviera-Pteite  von  Frledricb  Hinteracker 

Dieser  Aufsatz,  fiir  einc  grofie  berliner  Tageszeitung  ge- 
schrieben,  wanderte  von  Redaktion  zu  Redaktion.  Er  wurde 
nicht  gedruckt,  weil  das  Inserat  machtiger  ist  als  die  Wahrheit 
Die  Riviera  stirbt,  aber  sie  inseriert  noch, 

|ch  kaxa  in  Nizza  an,  das  ich  einige  Jahre  nicht  g«sehen  hatte, 
Der  Rahnhof  hatte  sich  erneuert,  cin  ungeheures  Glasdach 
wolbte  sich  iiber  zwanzig  Gleisen,  neuc  Wartesale  dehntcn 
sich  neb  en  dem  eigentlichen  Stationsgebaude  ausf  fiinfzig  oder 
sechzig  Trager,  Hotelportiers  und  Fremdenfiihrer  warteten  auf 
uns  Ankommende.  Ich  sah  mich  urn  and.  stellte  fest,  daB  mit 
unserm  Morgenzug,  der  aus  Paris  kam,  etwa  funfzehn  Fremde 
cingetroffen  waren.  Das  kleinc  Hauflein  marschierte  zum  Aus- 
gang.  Dort  empfing  uns  ein  Spalier  von  Droschkenchauffeuren, 
gut  hundert  Limousincn  warteten  auf  die  wenigen  Gaste,  die 
wirklich  einstiegen.  Ich  fuhr  in  die  Stadt,  Nizza  ist  mit  seinen 
hundert fiinfzigtaus end  Einwohnern  die  viertgroBte  Stadt  Frank- 
reichs.  Ein  idealer  Rivieratag  erwartete  uns,  biauester  Him- 
mel,  goldigster  Sonnenschein,  die  mildesten  Liifte.  Wir  fuh- 
reni  durch  die  vier  Stock  hohen  StraBen.  Aus  der  Entfernung 
horte  man  ein  dumpies  Larmen.  Well  ens  chlag  vom  Meere  Her 
konnte  es  nicht  sein,  der  Tag  war  windfrei.  War  es  das 
Schreien  der  Massen,  die  den  Faschingszug  begriiBten?  Wir 
naherten  uns  der  groBen  LuxusstraBe  an  der  Kiiste,  der  „ Pro- 
menade des  anglais".  Komisch,  daB  hier  Franzosen  ihre  schonste 
StraBe  dem  Spaziergang  der  Englander  widmeten.  Das  Volks- 
geschrei  kam  naher.  Plotzlich  bog  der  Chauffeur  in  eine  Sei- 
tenstraBe,  er  wollte  den  Massen  ausweichen,  die  uns  entgegen- 
stromten.  Kein  Zweifel,  was  wir  da  horten,  war  kein  Karne- 
valsjauchzen,  das  war  ein  vielhundertstimmiger,  nein,  vieltau- 
sendstimmiger  Schrei  . . .  nach  Arbeit.  Es  war  eine  Demon- 
stration der  Erwerbslosen,  die  den  Magistrat  von  Nizza  bewe- 
gen  wollten,  schleunigst  stadtische  Arbeiten  an  sie  zu  vergeben. 
Der  Chauffeur  drehte  sich  um,  zwinkerte  mir  zu  und  sagte  halb 
entschuldigend:  „Ach,  die  Leute  meinens  nicht  so  schlimm". 
Ich  beruhigte  ihn:  „Natiirlich,  das  kann  mal  vorkommen."  Nur 
an  der  Riviera,  im  Paradies  der  Rentner,  an  dieser  marchen- 
blauen  Kiiste,  wo  sonst  Arbeiter  und  Arbeit  in  den  Hinter- 
trakten  der  Gebaude  versteckt  wur den,  nur  hier  war  diese 
Erwerbslosendemonstration  ein  unerwarteter  Empfang.  Wir 
kamen  in  der  Promenade  des  anglais  an.  Ich  gab  mein  Gepack 
in  einem  kleinen  Hotel  in  einer  Seitenstrafie  ab  und  wollte 
schnell  zum  Hafeu.  Hier  lagen  in  den  fetten  Jakren  der  Ri- 
viera Dutzende  von  Luxusjachten,  eine  eleganter  aufgetakelt 
als  die  andre.  Jetzt  waren  keine  zehn  Privatjachten  zu  zah- 
len,  Ich  dachte:  Die  Promenade  ist  geblieben,  aber  die  Eng- 
lander sind  verschwunden.  In  fnihern  Jahren  wanderten  an 
solchen  sonnigen'  Vormittagen  Tausende  den  Quai  entlang. 
Die  Frauen  zeigten  ihre  hellen  Lanvin^Kleider,  die  Manner 
stand  en  an  das  Gelander  gelehnt,  mit  dem  Riicken  zum  Meer, 
und  lieBen  die  mehr  oder  minder  jung  geschmihkten  Damen 
wie  Mannequins  vorbeimarschieren.  Heute  wimmelte  es  nicht. 
Das  Gedrange  war  sehr  gelichtet.     Der  Einzelne  war  acht  bis 

442 


zehn  Schritt  vom  nachsten  Spazierganger  entfernt.  Nicht  ein- 
mal  an  der  Kapelle,  die  vor  dem  Casino  spielte,  warcn  schr 
vie!  Leute  versammelt,  und  dabei  zahlten  wir  den  25.  Januar, 
einen  Tag,  an  dem  die  Hochsaison  von  Nizza  brand-en  sollte. 
Gegen  Mittag  konnte  ich  mich  nicht  entbloden,  ich  muBte  in 
eins  der  riesigen  Hotels  hinemgucken  und  mir  den  Anblick  der 
weiten  Speisesale  gonnen,  dieser  Riesenhallen,  die  sonst  funf- 
huadert  plaudernde,  lachende,  plappernde  Gasie  beherbergten, 
und  die  sich  jetzt  mit  einem  Dutzend  besetzter  Tische  begnti- 
gen  muBten,  einem  Dutzend,  durch  das  die  Leere  des  unbesetzt 
gebliebenen  Raumes  erst  recht  unterstrichen  wurde.  Ich  habe 
mir  sagen  lassen,  daB  die  groBen  Hoteliers  ihren  Stammgasten 
Briefe  schfeiben,  in  denen  sie  ihnen  die  Fixierung  des  Pen- 
sionspreises  uberlassen,  Vergebens.  Die  Englander  haben  voll- 
kommen  die  Disziplin  gewahrt  und  sind  nach  dem  Pfundsturz 
nicht  mehr  an  die  cote  d'azur  gegangen.  Den  skandinavischen 
Volkern  liegt  der  Niedergang  der  Krone  in  den  Nerven,  und 
selbst  diejenigen,  die  ihren  Besuch  angemeldet  habeh,  sind  nicht 
gekommen.  Es  ist  auch  Geschwatz,  wenn  erzahlt  wird,  daB 
man  auf  der  Promenade  des  anglais  am  meisten  deutsch 
sprechen  hore,  Niemals  ist  in  Nizza  so  ausschlieBlich  franzo- 
sisch  geredet  worden  wie  in  diesem  Winter  —  zur  Verzweif- 
lung  der  Franzosen.  Es  gibt  in  Nizza  eine  iibrigens  sehr  natio- 
nalistische  Zeitung,  den  .Eclaireur  de  Nice1,  deren  Hauptstolz 
ehedem  die  Fremdenliste  war,  die  sie  taglich  veroffentlichte. 
Wie  stolz  war  der  .Eclaireur'  auf  all  die  Lords,  Herzoge,  Mis- 
sis, mit  deren  schwer  aussprechbaren  Namen  er  sich  taglich 
aufputzte.  In  diesem  Jahr  muB  er  sich  mit  einer  kleinen  fran- 
zosischen  Fremdenliste  behelfen,  und  er  muB  sich  so  weit  er- 
niedrigen,  auch  die  Namen  ganz  gewohnlicher  Burger,  Leder- 
handler  oder  Tapetenfabrikanten  aus  Lyon  oder  Nantes  auf- 
zunehmen,  die  von  den,  billigen  Preisen  angelockt  werden.  Das 
gibt  der  Riviera  jetzt  ein  familiar-kleinburgerliches  Gesicht. 
Weit  und  breit  keine  elegante  Kokotte  wie  einst  im  Mai,  da- 
gegen   altliche   Dampen  mit   altertiimlichen  Regens^hirmen. 

Von  Nizza  aus  fahrt  man  in  einer  Stunde  in  den  elegan- 
tes ten  Ort  der  Riviera,  nach  Cannes.  Grade  Cannes  hat  in 
den  letzten  Jahren  die  heftigsten  Anstrengungen  gemacht,  der 
erste  Ort  der  blauen  Kuste  zu  werden.  Hier  ist  ein  sechs- 
stockiger  Hotelkasten  neben  dem  andern  jahlings  empor- 
geschossen,  Alle  diese  funkelnagelneuen  Fremdenverkehrs- 
fabriken  machen  einen  unheimlich  abgestorbenen  Eindruck. 
Auf!  den  Balkons  rekelten  sich  sonst  die  sonnengierigen  Gaste. 
Es  gab  ein  Hinauf-  und  Hinunterblicken,  die  hohen  Fenster- 
tiiren  waren  weit  geoffnet,  um  Strome  der  linden  Luit  in  die 
Zimmer  hereinzulassen.  Wenn  man  jetzt  aufwarts  blickt, 
liegen  ganze  Stockwerke,  militarisch  geordnet,  die  Ttiren 
gleichformig  verschlossen,  in  Reihen  unbewohnt  da.  Niemand 
winkt  hinauf,  niemand  lacht  herunter.  In  den  oden  Fenster- 
hohlen  wohnt  das  Grauen.  Abends  unternahm  ich  einen 
Sprung  ins  Casino.  Dort  saB  man  im  vorigen  Jahrhundert,  will 
sagen  voriges  Jahr,  von  neun  Uhr  bis  Mitternacht,  in  dem 
groBen,  glasernen  Pavilion,  der  ins  Meer  hinausgebaut  ist.  Die 
Amerikaner   pflegten   am  friihen   Morgen   durch   ihren   Diener 

443 


einen  Tisch  zu  bestellen,  wenn  sie  am  Abend  hier  Platz  Hnden 
wollten,  und  es  war  der  Ehrgeiz  der  Millionare,  ihrcn  Tisch  mit 
so  viel  Rosen,  Nelken  und  Mimosen  zu  schmticken,  daft  man 
schon  an  der  Oppigkeit  der  Blumienverschwendung  die  Schwere 
des  bestellenden  Geldsacks  ermessen  konnte.  Vor  einigen 
Jahren  hat  hier  ein  osterreichischer  Neureicher,  der  heute 
wahrscfoeinlich  schon  wieder  in  einem  kleinen  Vorortkammer- 
chen  haust,  einen  Tisch  fur  seine  Freunde  und  Damen  bestellt, 
der  einem  Blumenboot  gleichen  sollte.  Als  der  frischfrohliche 
Parvenu  in  den  strahlenden  Saal  eintrat  und  der  Kellner  ihn 
und  seine  Gesellschaft  zu  dem  girlandengeschmiickt'en  Tisch 
fiihren  wollte,  entdeckte  der  erziirnte  Besteller,  dafi  neben  ihm 
der  Herzog  von  Connaught  einen  funfmal  so  groBen  Tisch  mit 
noch  viel  uppigerem  Blumenschmuck  sich  hatte  reservieren 
lassen.  Dieses  Nebeneinander  verdroB  den  in  den  Hintergrund 
gedrangten  wiener  Millionar  so  sehr,  daB  er  sich  mit  seiner 
Gesellschaft  auf  der  Stelle  wegdrehte,  abfuhr  und  in  einen 
Hotelsaal  tibersiedeite,  in  dem  nur  er  die  erste  Geige  spielen 
konnte.  Solche  Duelle  der  Protzerei  sind  vorbei.  GewiB  ver- 
sucht  Cannes  noch  zu  tun  als  ob,  Sein  schonstes  Schauspiel 
ist  nicht  abgesagt;  Wenn  um  zehn  Uhr  abends  der  Glassaal 
halbwegs  gefullt  ist,  werden  die  Lichter  plotzlich  abgedreht, 
well  drauBen  auf  dem  Meere  ein  marchenhafter  Feuerzauber 
ersteht.  Silberne  und  goldene  Lichtgarben  schieBen  zur  Hohe, 
erne  Flut  Von  Leuchtkugeln  breitet  sich  iiber  den  dunkelblauen 
Horizont  aus,  und  immer  wieder  zerteilt  jede  Sonne  sich  in 
zehntausend  glitzernde  Sterne.  Jahlings  verlischt  das  Feuer- 
werk.  Im  selben  Augenblick  brennen  wieder  alle  Lampen  im 
Glassaal,  das  Abendessen  wird  fortgesetzt.  Nur  der  kleine 
Unterschied  gegen  friiher  besteht,  daB  das  herrlich  inszenierte 
Schauspiel  heute  vor  ganz  wenigen  Zuschauern  stattfmdet. 
Nach  dem  Abendessen  wanderte  man  in  den  Spielsaal.  Der 
fordert  in  Cannes  ein  Eintrittsgeld  von  300  Francs.  Der  Kas- 
sierer,  der  Einem  das  legitimierende  Billett  einhandigte,  hatte 
eine  Kartothek  nebea  sich.  Nur  wenn  der  Name  des  Ein- 
tretenden  kein  bedenkliches  Kreuz  aufwies,  wurde  er  in  die 
Bakkaratsale  eingelassen.  Es  gab  ehedem  jeden  Abend  einige 
Zuriickgewiesene,  die  in  Frack  und  weiBer  Kravatte  vor  der 
groBen  Glastur  auf  und  ab  wandelten  in  der  Hoffnung,  durch 
einen  Protektor  doch  noch  den  Eintritt  ins  gelobte  Land  des 
Bakkarats  zu  finden.  Zuriickgewiesene  schien  cs  jetzt  nicht 
mehr  zu  geben.  Aber  auch  die  Zahl  der  Einlaflheischenden 
hatte  sich  sichtlich  reduziert.  Vor  ailem  fehlten  hier  die  fiirst- 
lich  herausgeputzten  Schau-  und  Liebesspielerinnen,  die  hier 
ehedem  mit  der  geduldigsten  Beharrlichkeit  nach  ihren  weiB- 
haarigen  englischen  Karpfen  angeiten.  Nicht  einmal  die  Dolly- 
Sisters  aus  Debreczin  sind  da.  Mit  dem  Fortbleiben  der  ameri- 
kanischen  und  englischen  Verschwender  haben  auch  diese 
Gliicksbringerinuen  den  Bo  den  unter  den  Fiifien  verloren,  diese 
liebenswiirdig  parasitaren  Geschopfe,  die  sich  im  Spielsaal 
hinter  dem  jeweiligen  Gewinner  aufzustellen  pflegten  und  ihm, 
wenn  er  in  einer  Gliicksstrahne  war,  unvermutet  ins  Ohr 
fliisterten:  „Seheu  Sie;  ich  bringe  Ihnen  Gliick."  Im  Casino 
fehlten  auch  jene  aitlichen  Damen  aus  Budapest,  die  sich  gern 

444 


einen  diinnen  Anstrich  biirgerlicher  Reputation  geben  wollten 
und  von  denen  doch  jedermann  wiifite,  daB  sic  sich  ausschlieB- 
lich  mit  dcr  Anbahnung  und  Vermittlung  voriibergehender  Bc- 
kanntschaften  befafiten.  Sie  versicherten  immer,  einige  junge 
Amerikanerinnen  an  der  Hand  zu  haben,  in  der  Nahe  warcn 
sie  aus  Czernowitz.  Das  Schmarotzertum  ist  fort,  weil  es  nichts 
mehr  zu  schmarotzen  gibt.  Die  Franzosen,  die  jetzt  an  der 
Riviera  so  ziemlich  unter  sich  sind,  haben  ihre  Tradition  der 
Sparsamkeit  mitgebracht  und  ihren  Instinkt,  auch  im  Casino 
nicht  zu  verschwenden,  sie  schlieBen  im  Bedarfsfalle  die  Zwi- 
schenhandlerinnen  aus  und  wenden  sich  direkt  an  die  Produ- 
zenten,  urn  (ibrigens  auch  dort  noch  zu  feilscheh,  oft  nur  aus 
Freude  am  Feilschen;  da  ist  fur  Frau  Warren  keine  Verdi  ens  t- 
chance  iibrig.  Da  die  Amerikanerinnen  fehlen,  fehlt  auch  jene 
graBliche  Sorte  von  dekadenten  ungarischen  und  osterreichi- 
schen  Aristokraten,  die  sich  ihren  pomposen  Adelsnamen  mit 
schweren  Mitgiften  bezahlen  lieBen.  Der  Polo-Platz  in  Mande- 
lieu  bei  Cannes  ist  verodet.  Wer  kann  es  sich  noch  leisten, 
mit  fiinf  oder  sechs  Pferden  auf  Reisen  zu  gehen? 

Ist  Cannes  still  geworden,  weil  es  der  teuerste  Ort  der 
Riviera  gewesen  ist?  Ich  dachte  in  Monte  Carlo,  das  schon  seit 
Jahren  ein  mehr  burgerliches  als  plutokratisches  Bild  bot,  viel- 
leicht  mehr  Betrieb  zu  finden.  Aber  hier  war  es  erschreckend 
traurig.  VerhaltnismaBig  am  lautesten  ging  es  in  dem  Vorsaal 
des  Casinos  zu,  in  fenem  steinernen  Wartesaal,  den  man  ohne 
Entree  zu  zahlen  betreten  darf.  Eine  groteskere  Geseilschaft 
habe  ich  kaum  Jemals  beisammen  gesehen,  Uber  verarmte 
Menschen  wird  niemand  spotten  wollen.  Wenn  aber  die  Armut 
sich  mit  den  schabigen  Resten  eines  aus  der  Mode  gekomme- 
nen  Reichtums  von  vor  vierzig  Jahren  schmiickt,  dann  kann 
man  sich  eines  Lachens  kaum  erwehren.  Hier  schienen  lauter 
Adele  Sandrocks  herumzusitzen,  und  sie  trugen  mit  einem 
hochst  drolligen  SelbstbewuBtsein  die  Riesenstrohhiite  und  die 
Schnurkleider  von  1900  zur  Schau.  Der  Mode  von  heute  hatten 
sie  sich  nur  insofern  angepaBt,  als  sie  sich  mit  ungeheuren 
farbigen  Glasstiicken,  die  sie  in  Ketten  urn  den  Hals  gelegt 
hatten,  zu  zieren  versuchten.  Und  neb  en  ihnen  der  Typus  Hans 
Junkermann  in  etwas  spiegelnden  Salonrocken,  aus  deren 
Innentasche  sie  von  Zeit  zu  Zeit  abgeschabte  Notizbucher  her- 
vorholten,  in  denen  sie  offenbar  ihr  System  eingezeichnet 
hatten.  Dies  alles  Wartesaal-Erscheinungen,  Leute,  die  offen- 
bar auf  den  Partner  harrten,  der  das  Entree  bezahlen  sollte. 
In  den  Spielsaleri  selber  war,  das  muB  ich  sagen,  voller  Betrieb. 
Allerdings  hat  die  Spielsaal-Leitung  die  Einsatze  bis  auf  einen 
Franc  herabgesetzt,  das  heiBt,  man  konnte  schon,  wenn  man 
18  Pfennig  hinwarf,  als  Beteiligter  das  Schicksal  der  rollenden 
Kugel  verfolgen.  Der  Spielsaal  von  Monte  Carlo  ist  wahrhaftig 
keine  aristokratische  Institution  mehr,  wenn  er  es  je;  gewesen 
ist.  Blickte  man  die  Gestalten,  die  urn  den  griinen  Tisch 
saBen,  Gesicht  fxir  Gesicht  an,  so  sah  man  fast  auf  alien  Mienen 
eine  Verbissenheit,  die  offenbar  der  Ausdruck  einer  letzten 
Chance  war.  Eine  Menge  Spieler  hatten  Tabellen  vor  sich/  in 
die  sie  nach  jedem  Spiel  ihre  Bleistifteintragungen  machten. 
Offenbar   fuhrten   sie    eine    Art   Wahrscheinlichkeitsrechnung, 

445 


mit  der  sie  zu  siegen  giaubten.  Man  hatte  den  Eindruck,  daB 
die  Halfte  der  Spieler  nach  einem  System  seizte,  ungemein  vor- 
sichtig,  nachdem  sie  miihsam  ausgerechnet  batten,  welche 
Gliicksziffer  eine  Chance  bot,  und  indem  sie  sich  nur  zogernd 
und  mit  klammen  Fingern  von  ihren  Geldstiicken  trennten. 
Atifrichtig  gesagt,  diese  schwunglose,  spintisierende  Art  zu 
spielen  war  mir  zu  langweilig.  Ich  verliefi  das  Casino.  Drei 
Hauser  weiter  lag  das  Pfandhaus.  Es  war  leer,  als  ich  eintrat 
und  den  Pfandleihbesitzer  urn  ein  kleines  Interview  bat.  Der 
gute  Mann,  der  nichts  Besseres  zu  tun  hatte,  antwortete  mir 
wiliig  auf  jede  Frage.  Er  hatte  am  liebsten  sein  Leihhaus  ge- 
schlossen.  ,,Ich  bitte  Sie,  was  kommt  denn  zu  mir?  Alte  Leute 
mit  noch  alterm  Schmuck.  Aber  Sie  wissen  ja,  wie  es  jetzt  mit 
Schmuck  stent  und  gar  mit  diesem  Talmischmuck,  der  einem 
me  is  tens  angeboten  wird,  Halbedelsteine,  Granate,  die  aus  der 
Mode1  skid,  Tiirkise,  die  niemand  mehr  tragt.  Wenn  ich  den 
Herrschaften  den  wahren  Wert  nenne,  sind  sie  emport  Aber 
selbst  bei  vorsichtigen  Schatzungen  habe  ich  nachtraglich 
draufzahlen  miissen,  weil  die  Pfander  ja  hier  fast  niemals  aus- 
gelost  werden  und  weil  bei  den  Feilbietungen  niemand  nach 
dies  en  veralteten  Schmuckstucken  fragt.'*  Wenn  selbst  der 
Pfandleiher  an  Monte  Carlo  zweifelt . . . 

Ich  fuhr  noch  am  Nachmittag  von  Monte  Carlo  weg-  Ein 
paar  Stationen  weiter  stieg  ich  in  der  stillen  Bucht  von  Beau- 
lieu  aus,  Das  ist  immer  so  ziemlich  der  ruhigste  und  feinste 
Ort  der  Riviera  gewesen.  Hier  lebt  man  auf  den  Sonnenbalkons 
und  im  SpeisesaaL  Es  gibt  nicht  einmal  ein  Casino  in  Beau- 
lieu.  Aber  es  hat  als  einziger  Platz  einen  wunderschonen,  am 
Meer  gelegenen  Park,  der  dem  Hotel  Bristol  gehort  und  aus 
dem  man  nicht  vertrieben  wird,  auch  wenn  man  nur  in  einem 
bescheidenen  kleinen  Gasthof  abgestiegen  ist.  Leider  hatte 
ich  mich  in  Beaulieu  nicht  niederlassen  konnen,  denn  die 
Hotels,  die  ich  kannte,  waren  geschlossen,  offenbar  aus  Gaste- 
mangel.  Der  reizende  kleine  Ort  schien  zu  schlafen.  Sogar 
das  groBe  Hotel  Bristol  schien  mir  nur  halb  geoffnet.  Ein  gan- 
zer  Trakt  lag  mit  geschlossenen  Aug  en,  will  sagen  mit  herab- 
gelassenen  Holzjalousien  da.  Auch  das  bekannteste  FreBlokal, 
die  „Reserve",  machte  einen  gespenstisch  ausgestorbenen 
Eindruck. 

Die  Frage  ist,  ob  die  Riviera  aus  dieser  verhangnisvollen 
Pleiteperiode  je  wieder  auf  erst  ehen  wird.  Seien  wir  ehrlich, 
die  Riviera  war  eigentlich  immer  mehr  eine  gesellschaftliche 
als  eine  Naturangelegenheit.  Dieser  diinne  Streifen  Land,  hinter 
dem  sofort  das  Gebirge  jah  in  die  Hohe  steigt,  gestattete  kaum 
einen  groBern  Spaziergang,  und  der  Betrieb  zerriB  jede  Still e. 
Hier  gab  es  k einen  Tag,  denn  er  wurde  meist  verschlafen,  hier 
gab  es  keine  Nacht,  denn  sie  wurde  verspielt. 


Still  geworden,  ist  die  Riviera  nicht  mehr  die  Riviera.  Ich 
fiirchte  oder  glaube,  das  groBe  Sonnengeschaft  ist  nicht  nur 
voriibergehend  geschlossen . . . 

446        J 


Film  alS  KlMSt  von  A.  Kraszna  Rransz 

I  iebe  macht  blind-  Die  Massen  haben  sich  am  Film  blind- 
"  gesehen.  Es  ist  bequem,  blind1  zu  sein.  Blinden  die  Augen 
offnen  zu  wollen,  bleibt  ein  qualender  und  undankbarer  Ver- 
such- 

Es  bedeutet  einen  eitlen  und  verzweifelten  Kampf,  liber 
Fxixxie  zu  schreiu-en.  i_,inen  n.ampf  nut  oCiiatteii,  ueren  Besitzer 
Versteck  und  Verwechseln  spiel  en.  Produzenten  und  Kunst- 
ler  ducken  sich  hinter  den  breiten  Riicken  des  Publikums,  und 
wenn  es  sich  mal  abwendet,  gelangweilt  aus  den  Kinos  weg- 
zubleiben  beginnt  —  dann  springt  wieder  die  Technik  ein.  Als 
der  stumme  Film  endgiiltig  abgewirtschaftet  schien,  verhalf  der 
Ton  zu  neuem  Geschaft.  Bevor  der  Tonfilmi  ausgelitten  haben 
wird,  diirfte  die  Farbe  rechtzeitig  drankommen.  Oder  das 
neue  Bildformat.  Vielleicht  auch  die  fehlende  Dimension  der 
Plastik.  Dann  das  Fernkino,  etcetera.  Es  ist  die  Tragodie  der 
Filmtheorie,  daB  sie  im  gleichen  Augenblick,  wo  sie  grade 
ihr  Recht  bewiesen  zu  haben  glaubt,  von  neuen  Erfindungen 
zertrampelt  wird. 

Sie  konnte  widerstandsfahiger  gebaut  sein,  die  Filmtheorie, 
wenn  nicht  die  meisten  Betrachtungen  iiber  Aufgaben,  Gesetze 
und  Wirkungen  des  Films  ebenso  isoliert  voneinander  da- 
stCinden,  wie  von  einer  geniigend  breiten  Leserschaft 
entfernt.  Es  gibt  mindestens  ein  gules  Dutzend  geschei- 
ter  Filmbucher.  Man  kennt  sie  nicht.  Auch  die  Leute 
nichtt  die  sie  gerne  kennen  lernen  wiirden.  Auch  jene 
nicht,  die  sie  kennen  muBten.  Fast  jeder  Kritiker  des 
Films  macht  so,  als  ob  er  der  erste  ware  in  dieser  Ge- 
gend.  Er  baut  sich  einen  eignen  Standpunkt,  und  wehe  den 
Dingen,  die  er  von  diesem  Standpunkt  aus  nicht  sehen  kann, 

Rudolf  Arnheim  *  versteht  als  Erster,  zu  erkennen,  abzu- 
wiegen  und  auszuniitzen,  was  bereits  Andre  gesagt  haben. 
Sein  Buch  1.)Film  als  Kunst"  (Ernst  Rowohlt-Verlag)  ist  seinen 
samtlichen  Vorlaufern  iiberlegen,  schon  weil  es  Arnheim  ge- 
lingt,  sie  zu  werten  und  einzuordnen.  Er  tut  das  mit  den  ruhi- 
gen  und  sachlichen  Mitteln  einer  physikalisch,  psychologisch 
und  asthetisch  gleichmaBig  geschulten  Beweisfiihrung  und  der 
saubern  Gesinnung  eines  jungen  Menschen,  der  sich  von  kei- 
ner  gestempelten  Meinung  dieser  Zeit  an  die  Leine  nehmen 
lafit.  Er  wird  dadurch  wieder  den  andern  iiberlegen,  die  alles 
an  Hand  einer  Formel,  einer  Sentenz,  eines  Schlagwortes  be- 
greifen  und  begreiflich  machen  mochten. 

Bela  Balazs,  der  vor  Arnheim  das  wichtigste  theoretische 
Buch  dieses  Gebietes  schrieb,  wurde  noch  von  der  Erschei- 
nung,  Moglichkeit  und  Schwierigkeit  „FiLm"  wie  von  einer 
Sensation  betroffen,  begeistert,  aufgeregt.  Dem  jungern  und 
spatern  Arnheim  erscheint  die  Materie  schon  weniger  iiber- 
raschend.  Er  umdichtet  den  Film  nicht  sondern  seziert  ihn. 
Ruhig  besieht  er  sich  die  Dinge,  die  dabei  zum  Vorschein  kom- 
men,  iiberlegt  ihre  Bedeutung  und  erklart  ihre  ZweckmaBig- 
keit,  Er  tut  das  in  einer  einfachen  Sprache,  die  aus  dem  un- 
gezwungenen  Sprachgebrauch  des  Alltags  die  anschaulichsten 
Wendungen  herholt  und  von  einem  moussierenden  Humor  er- 

447 


ftillt  ist.  Es  ist  die  Sprache  eines  guten  Lehrers,  eines  jungen 
Lehrers,  der  an  seinen  laut  ausgesprochenen  Gedanken  auch 
selbst  weiterlernen  will. 

Rudolf  Anaheim  hat  ein  Lehrbuch  des  filmgemaBen  Sehens 
geschrieben.  Ein  Lehrbuch  fur  Leute,  die  gern  und  nicht  gleich- 
gtiltig  ins  Kino  gehen.  Noch  mehr  aber  fur  jene,  die  Filme  zu 
machen  haben. 

Zunachst  begriihdet  er,  warum  man  im  Filmbild  nicht  ein 
Abbild  der  Natur  sehen  darf  sondern  es  als  Ergebnis  gestalten- 
der  Menschenarbeit  zu  betrachten  hat.  Das  schopferische  Mi- 
nus in  der  Kinematographie,  ihre  Begrenztheit  auf  bestimmte 
Ausdrucksmittel,  dient  als  Grundlage  von  Arnheims  Betrach- 
tungen.  Er  stellt  Korperhaftigkeit  und  Flachenwirkung  ein- 
ander  gegeniiber;  die  Verringerung  der  raumlichen  Tiefe  er- 
scheint  ebenso  als  kompositorischer  Faktor,  wie  der  Wegfall 
der  Farben  und  das  Hinzukommen  der  absichtlichen  Beleuch- 
tung;  der  Begrenzung  des  Bildfeldes  und  dem  veranderlichen 
Abstand  vom  Objekt  wird  ihre  Bedeutung  zugewiesen,  schlieB- 
lich  auch  der  Formbarkeit  des  raumzeitlichen  Ablaufs  und  dem 
Fehlen  der  nicht-optischen  Sinneswelt. 

Der  nachste  Abschnitt  des  -Buches  bringt  nach  Klarung 
asthetischer  Grundbegriffe  Erlauterungen  und  Beispiele  fiir  die 
kunstlerische  Ausnutzung  dieser  einschrankenden  Momente, 
die  das  Filmbild  charakterisieren. 

Nachdem  so  klargelegt  worden  ist,  wie  gefilmt  werden 
sollte,  erzahlt  Arnheim,  was  gefilmt  wird.  An  der  Spitze 
dieses  Abschnitts  steht  eine  prinzipielle  Auseinandersetzung 
mit  der  uralten  Frage  der  Beziehungen  zwischen  Inhalt  und 
Form.  Er  sagt:  1fDas  Operieren  mit  diesem  Begriff  ist  gefahr- 
lich,  weil  man  sich  selten  klar  macht,  daB  Form  und  Inhalt 
nicht  etwa  qualitative-  sondern  nur  quantitative  Unterschiede 
darstelLeii,  daB  sie  Punkte  innerhalb  derselben  Skala  sind,  und 
zwar  willkiirlich  angesetzte,  relative  Punkte."  Der  filmischen 
Exposition,  der  Darstellungsmoglichkeit  seelischer  Vorgange 
sind  die  nachsten  Kapitel  gewidmet,  die  zu  Betrachtungen  liber 
die  schematisierende  Stoffwahl  und!  die  Psychologie  des  herr- 
schenden  Konfektionsfilms  uberleiten.  Die  SchluBkapitel  dieses 
Abschnitts  stellen  die  Pole  MGehalt  und  Einfall",  „Manuskript 
und  Regie**  einander  gegeniiber. 

Die  vielseitige,  kritische  und  objektive  Tiefe,  mit  der  Arn- 
heim diese  grundlegenden  Fragen  betrachtet,  fiihrt  ihn  zu  For- 
mulierungen,  die  erstaumlich  liickenlos  und  treffsicher  sind.  Die 
best  en  Theoretiker  des  Films  diirfen  neidvoll  mitansehen,  wie 
hier  ein  andrer  ihre  subtilsten  Gedanken,  wenn  nicht  vor 
ihnen,  so  doch  eindeutiger  als  sie  ausspricht. 

Geteilter  wird  die  Aufnahme  sein,  die  der  letzte  Abschnitt 
des  Buches,  der  iiber  den  Tonfilm,  finden  kann.  Arnheim  geht 
von  einer  richtigen  Bewertung  der  Begriffe  Licht  und  Schall 
aus  („Licht  gibt  uns  das  ,Sein*  des  Dinges,  wahrend  Schall  uns 
zumeist  nur  gelegentiiches  Tun  mitteilt*')  und  gelangt  auch  zu 
der  eimzig  moglichen  Erkenntnis,  daB  der  hinzukommende  Ton 
eine  Bereicherung  und  Umlagerung  der  filmischen.  Mittel,  nicht 
aber  den  Umsturz  der  filmischen  Gesetze  bringen  konne.  Er 
weist  auch  den  optischen  und  akustischen  Elementen  ihre 
448 


Grundaufgaben  richtig  zu,  wenn  er  sagt:  (,Dem  Prinzip  des 
Tonfilms  entspricht  es,  daB  nicht  Bild  und  Ton  gleichzeitig 
dieseibe  Aufgabe  exfullen,  sondern  daB  sie  sich  in  die  Arbeit 
teilen",  Seine  Folgerungen,  die  er  von  solchen  Erkenntnissen 
auf  bestimmte  Falle  ableitet,  erscheinen  aber  oft  unvermittelt 
eigenwillig.  Inmitten  dieses  blutjungen  Werdens  .jTonfilm", 
das  erst  so  wenige  Resuitate  und  kaum  Entscheidungeji  zeigt, 
wirkt  Arnheims  Stimme  plotzlich  auch  nicht  mehr  aU  Kichter- 
spruch  sondern  nur  ais  Zeugenaussage ;  nicht  mehr  als  wissen- 
schaftliche  Einsicht  sondern  als  parteiischer  Geschmack,  Wenn 
auch  ein  sehr  guter  Geschmack. 

Auf  seinen  letzten  Seiten  wird  Rudolf  Arnheims  objektives 
Buch  uber  den  MFilm  als  Kunst"  von  Kapitel  zu  Kapitel  immer 
subjektiver,  in  dem  Ma  Be  wie  es  den  Umkreis  der  Gegenwart 
und'  den  Weg  in  die  Zukunft  nach  dem  Film  naheliegenden 
Formen  absucht.  Arnheim  ahnt  nicht  nur,  er  weiB  es  genau 
—  wenn  er  es  auch  nicht  wahrhaben  will  — ,  daB  der  Film  ein 
Ausdrucksmittel  ist,  das  sich,  in  einem  fur  die  Kunst  unge- 
wohnten  Tempo,  nach  einer  kiinftigen  Formung  unterwegs  be- 
findet.  Mit  einer  fiihlbaren  Vorsicht  halt  er  nach  den  Schat- 
ten  Ausschau,  die  verfilmtes  Theater,  Horspiel,  das  far  big  und 
piastisch  und  ungerahmt  bewegte  Bild,  der  Rundfunik-Film  von 
ubermorgen  schon  heute  werfen.  Fast  unbewufit  bezieht  er 
eine  Abwehrstellung,  Zukunftsmoglichkeiten  gegeniiber,  die 
auch  seine  Film  the  or  ie  gefahrden  konnten.  Diese  abgeklarteste, 
weiteste  und  beste,  die  ich  kenne. 

Der  ZerStreilte  von  Theobald  Tiger 

TUfein  Blinddarm,   der  ruht  in   Palmnicken; 
*"*  ein  Backenzahn  und  iiberdies 
ein  Milchzahn '  liegen   in   Saarbriicken. 
Die  Mandeln  ruhen  in  Paris. 

So  streu  ich  mich  trotz  hohen  Zollen 
weit  durch  Europa  hin  durchs  Land. 
Auch  hat  die  Klinik  in  Neukolln 
noch  etwas  Nasenscheidewand. 

Ein  guter  Arzt  will  operieren. 
Es  freut  ihn,  und  es  bringt  auch  Geld, 
Viel  ist  nicht  mehr  zu  amputieren. 
Ich  bin  zu  gut  fur  diese  Welt. 

Was  soil  ich  armes  Luder  machen, 
wenn  die  Posaune  blasen  mag? 
Wie  tret  ich  an  mit  meinen  siebetr  Sachen 
am  heiligen  Auferstehungstag? 

Der  liebe  Gott  macht  nicht  viel  Federlesen. 
„Herr  Tiger!"  ruft  er.    „Komm  hervor! 
Wie  siehst  du  aus,  ladiertes  Wesen? 
Und  wo  —  wo  hast   du  den  Humor?" 

„Ich  las"  —  sag  ich  dann  ohne  Bangen  — 
„emst  den  Etat  der  deutschen  Generalitat. 
Da  ist  mir  der  Humor  vergangen." 
Und  Gott  versteht. 

Und  Gott  versteht. 

449 


MoritZ  Rosenthal  von  Gabriele  Tergit 

Oosenthal  hat  ein  AuBeres,  geeignet  vor  Gott  und  Menschen 

unangenehm  zu  machen.  Er  ist  mittelgroB  und  stark,  blond 
und  blauaugig,  das  verfettete  Gesicht  mit  der  gebogenen  Nase, 
die  fast  auf  den  Lippen  aufliegt,  den  kleinen  blauein  ironischen 
Augen,  den  abstehenden  Ohreii,  macht  ihn  zum  Typus  des 
Geldmenschen,  wie  er  vom  Bankier  L.  Cacilius  Jucundus  aus 
Pompeji  bis  zu  Moritz  Rosenthal  eben  aussieht.  Sein  eines 
Auge,  kleiner  als  das  andre,  gibt  dem  Gesicht  einen  zwinkern- 
den  Ausdruck,  den  der  immer  sehr  fein  und  ironisch  Iachelnde 
Mund  verstarkt 

Rosenthal  kennt  die  Antipathie,  die  er  einfloBt,  er  sagt: 
1tMan  sagt  mir  sehr  viel  Schlechtes  nach,  aber  cins  kann  man 
mir  nicht  nachsagen,  daB  ich  unordentlich  bin." 

Zum  erstenmal  kommt  in  den  Verhandlungssaal  ein  Hauch 
von  Format,  als  Rosenthal  vernommen  wird.  Denn  das  ist  ja 
das  Erschreckende  des  Sklarekprozesses:  er  ist  ein  ProzeB 
von  kleinen  Leuten,  gut  verdientenden,  bestechlichen,  bestoche- 
nen,  aber  kleinen  Leuten.  Diese  ganze  Sklarekatmosphare, 
in  der  man  fiir  einen  Bettvorleger  die  Stadt  urn  Tansende  scha- 
digte,  ist  nicht  die  Atmosphare  eines  Panama.  Wo  Korruption 
im  alien  Regime  war,  war  die  Form  besser  und  es  ging  urn 
Millionen.  Der  Brodem  einer  Bierkneipe  taucht  auf,  trotz  Ka- 
viar  und  Sekt,  wo  alle  Briiderschaft  trinken,  sich  auf  die  Schul- 
ter  schlagen  und  Geschafte  machen,  von  denen  sie  nichts  ver- 
stehen,  Einkommen  haben  aus  Schulden,  und  reiche  Leute  sind 
an  geborgtem  Geld,  wo  die  Sklareks  gerissene  Naive  sind,  die 
Beamten  plumpe  Naive,  die  Stadtrate  torichte  Naive.  Alle 
aber  sind  ohne  jedes  Format,  ohne  Klugheit,  ohne  Kaufmanns- 
wissen,  ohne  Redlichkeit  und  ohne  Ehrbarkeit.  Rosenthal 
aber  ist  ungemein  klug,  ein  wenig  olig,  geschmeidig,  iiberaus 
hoflich.  Der  Vorsitzende  verbessert  ihn;  „Ich  bin  dem  Herrn 
Vorsitzenden1',  antwortet  er,  t,dankbart  daB  er  mich  auf  meinen 
Denkfehler  aufmerksam  gemacht  hat." 

Aus  alien  Berichten  iiber  Rosenthals  Aus  sage  kiingt,  daB 
man  ihn  fur  gerissen  halt.  Das  ist  ein  Vorurteil.  Wenn  man 
nicht  wiiBte,  konnte  man  nur  sagen,  es  war  die  Aussage  eines 
gescheiten  Menschen.  Dieser  gescheite  Mcnsch  ist  Kaufmann, 
Besitzer  von  vier  Waschefabriken,  aber  er  spielt  auch  die  Rolle 
„k6nLglicher  Kaufmann",  er  war  nicht  mit  von  der  Partie,  er 
wurde  selbst  getauscht.  Er  ist  emport  wie  der  Vorsitzende, 
der  fragt:  ,,Wenn  Sie  von  den  Postscheckmanipulationen  dei* 
Sklareks  gehort  hatten? ..." 

„Dann  ware  ich  doch  hoch  gegangen/1 

,,Wenn  Sie  gehort  hatten,  daB  Bestellzettel  nicht  in  Ord- 
nung  waren?" 

„Das  hatte  natiirlich  vollkommen  gcniigt,  urn  zuzugreifen." 

Er  hat  von  alledem  nichts  gehort. 

Er  hat  keine  Ahinung  vom  Kreislauf  der  Dinge.  Sklarek 
war  Kunde  von  Rosenthal,  Rosenthal  Mitglred  des  Kreditaus- 
schusses  der  Stadtbank,  Rosenthal  mit  Max  Sklarek  befreundet 
—  und  keine  Ahnung* 

450 


Der  Vorsitzende  sagt  „RuBland".  „Wenn  ich  das  Wort  nur 
hore",  sagt  Rosenthal,  „das  ist  ein  Land,  das  ich  hasse,"  und 
wehrt  mit  beiden  Hairden  ab.  Der  Vorsitzende  sagt:  „Die 
Sklareks  haben  Geschafte  mit  den  Sowjets  gemacht,  sie  haben 
dafiir  Wechsel  bekommen."  ,,Ich  weiB,''  sagt  Rosenthal  und 
winkt  wieder  ab:  ,,Sow  jet  wechsel,  ich  halt  nichts  davon.  Ich 
hab  eine  Voreingenommenheit  gegen  Akzepte  und  so  Sachen. 
Nein,  nein.  Ich  bin  ein  Kaufmann  der  alien  Schule/'  Er  ver- 
achtet  die  Sklareks  heute  tief,  er  sagt:  „Was  hatten  die  Leute 
notig,  unkorrekte  Sachen  zu  machen,  mit  einem  solchen  Ver- 
trag,  wie  dem  Monopolvertrag  in  der  Hand?"  Und  es  klingt 
daraus  die  ganze  Verachtung  des  Tiichtigen,  der  den  Untuch- 
tigen  nicht  deshalb  verachtet,  weil  er  unredlich  ist,  sondern 
weil  er  zu  dumm  ist,  um  eine  groBe  Chance  auszuniitzen.  Ro- 
senthal kennt  Biicher,  Geschafte,  Bank  en.  Die  Weisheit  aus 
Soil  und  Haben  HieBt  aus  seinem  Munde,  die  Weisheit  der 
uBriefe  ernes  Kaufmanns  an  seinen  Sohn."  „Waren  sind  keine 
Sicherheit,  Waren  soil  man  nicht  beleihen",  —  oder  „das 
deutsche  Konkursrecht  ist  das  Beste  der  Welt,  Herr  Vorsitzen- 
der,  alle  Lander  haben  von  unserm  Konkursrecht  gelernt,  aber 
der  Konkurs  ist  der  groBte  Vernichter  aller  Werte.  Ich  war 
gegen  den  Konkurs  der  Sklareks/'  Das  ist  wirtschaftlich  ge- 
dacht,  ob  es  auBerdem  unredlich  gedacht  ist,  bleibt  offen,  weiB 
niemand. 

Der  Vorsitzende  fragt  ihn:  „Was  dachten  Sie  s ich,  als  Sie 
horten,  die  Leute  hatten  80  bis  Si  Miilionen  Warenumsatz?" 
„Ich  dachte,  es  ware  Bankumsatz  gewesen,  demnach  dreiBig 
Miilionen  Warenumsatz/*  Der  Vorsitzende  fragt  noch  einmal: 
,,Also  was  dachten  Sie,  als  Ihnen  Hoffmann  von  den  80  bis 
81  Miilionen  sprach?"  Und  Rosenthal  antwortet:  „Ich  bekam 
Respekt."  Er  hielt  iiberhaupt  was  von  den  Sklareks.  Es  waren 
fiir  ihn  die  Leute,  die  ..piinktlich  regulierten".  Ganz  Kauf- 
mann  alter  Schule,  will  er  damit  zum  Ausdruck  bringen:  Leute, 
die  piinktlich  regulieren,  sind  gute  Kaufleute,  angesehene  Men- 
schen;  von  Leuten,  die  piinktlich  regulieren,  nimmt  man,  iibri- 
gens  mit  Recht,  an,  daB  sie  keine  Wechsel  falschen. 

Es  wird  ihm  vieles  vorgeworfen.  Er  soil  einem  Angestell- 
ten  der  Sklareks,  einem  Herrn  Fischer,  ein  Geschaft  gegrtin- 
det  haben,  hinter  dem  die  Frauen  der  Sklareks  stehen  und  das 
nun  wieder  sein  Kunde  ist.  ,,GewiB,  Herr  Vorsitzender,  ich 
habe  dem  Herrn  Fischer  eine  Existenz  gegrundet.  Er  war  ein 
besonders  tiichtiger  Mann.  Ich  habe  vielen  Menschen  eine 
Existenz  verschafft."  „Wissen  Sie  etwas  davon,  daB  die 
Frauen  der  Sklareks  an  dem  Geschaft  beteiligt  sein  solleh?" 
„Nein."  So  redet  der  tiichtige  Kaufmann  der  vorigen  Gene- 
ration, dem  Wohltatigkeit  eine  Verpflichtung  des  Reich- 
turns  ist. 

Es  wird  ihm  vieles  vorgeworfen.  Er  war  im  KreditausschuB 
und  nahm  selbst  Kredit,  war  Ver waiter  und  Nehmer  offent- 
licher  Gelder  in  einer  Person.  Er  hatte  keine  Bedenken  da- 
gegen.  „Dem  Reinen  ist  alles  rein",  sagt  er  im  andern  Zusam- 
menhang. 

Weiter.  Die  Sklareks  waren  seine  Kunden.  Ist  ein  Kauf- 
mann dem  Kunden  gegemiber  unvoreingenommen?    ,,Ja,"  sagt 

451 


Rosenthal.  Es  waren  nur  siebcn  bis  acht  Prozent  seines  Um- 
satzes,  die  er  an  sie  lieferte,  Trotzdem  hat  er  mit  ihnen  einen 
Jahresumsatz  von  460  000  Mark  erzielt.  Im  iibrigen  hielt  er 
den  Kredit  an  die  Sklareks  fur  einen  Kredit  an  die  Stadt.  Auf 
Grund  der  sichersten  Grundlage,  der  Bevorschussung  namlich 
von  Forderungen,  ,,Ich  habe  angenommen,  daB  die  Original- 
fakturen  der  Stadt  eingereicht  wurden," 

Weiter.  Es  wird  ihm  vorgeworfen,  er  habe  den  Stadtbank- 
direktor  Hoffmann  beeinfluBt,  den  Sklareks  einen  Sonderkredit 
von  einer  Million  zu  gewahren,  er  habe  Hoffmann  von  der  Kre- 
ditwurdigkeit  der  Sklareks  gesprochen,  sei  extra  deshalb  noch- 
mals  in  die  Stadtbank  gekommen.  Hoffmann  erzahlt  Einzel- 
heiten.  Rosenthal  weiB  nichts  davon.  Ein  Notizbuch  wird 
beigebracht,  ein  Besuch  Rosenthals  bei  Hoffmann  ist  darin  ver- 
zeichnet.  Rosenthal  zuckt  die  Achseln:  „Hirngespinste  von 
Hoffmann/' 

Weiter,  Hoffmann  erklart,  Rosenthal  habe  die  Nachfor- 
schung  bei  den  Bezirksamtern  verhindert.  Rosenthal  bestreitet 
das  entschieden.  Alle  diese  Vorwiirfe  entkraftet  er  nur  durch 
ein  f,Nein'\ 

Gegen  andre  Vorwiirfe  hat  er  Beweise.  Es  existiert  ein 
Protokoll,  das  Schroder  angelegt  hat  und  in  dem  steht;  , Rosen- 
thal war  (unter  Andern)  fiir  eine  Erhohung  des  Kredits,  dieser- 
halb  bei  ihm  nachgefragt."  Tatsachlich  war  aber  Rosenthal 
gar  nicht  in  Berlin  zu  dieser  Zeit.   Das  Protokoll  ist  falsch, 

Weiter/  Rosenthal  wird  verdachtigt,  daB  er  den  Sklareks 
ein  stadtisches  Grundstiick,  ein  Stiick  KommandantenstraBe 
hat  zuschanzen  wollen.  Tatsache  ist,  daB  ein  Brief  der  Skla- 
reks existiert,  daB  Sklareks  mit  Schneider  und  Rosenthal  iiber 
die  Sache  sprechen  wollten.  Rosenthal  erklart,  dafi  die  Skla- 
reks nicht  mit  ihm  gesprochen  haben  und  in  der  betreffenden 
Sitzung,  der  Rosenthal  beiwohnte,  wurde  der  Antrag  einstim- 
mig  abgelehnt. 

Nein,  es  ist  ihm  nichts  nachzuweisen.  Er  hat  auch  ver- 
gessen,  daB  er  drei  Tage  vor  der  Verhaftung  der  Sklareks  bei 
dem  Stadtverordneten  Kimbel  mit  den  jetzt  Angeklagten  Deg- 
ner,  Sklareks  und  Schneider  eingeladen  war.  Er  weiB  nichts 
mehr  davon,  Er  weiB  auch  nichts  davon,  daB  die  Sklareks  bei 
ihm  Waren  mit  eingepragtem  stadtischen  Stempel  kauften,  ob- 
^wohl  das  nicht  erlaubt  war,  urn  die  Restbestande  der  KVG., 
die  sie  ubernommen  batten,  aufzufiillen. 

Es  ist  viel,  was  ihm  vorgeworfen  wird,  aber  nichts  ist  zu 
beweisen.  In  diesem  ProzeB,  in  dem  so  vielen  viel  zu  bewei- 
sen  ist,  in  dem  so  vieles  so  grob  auf  der  Hand  liegt,  so  leicht 
einzuordnen  unter  Strafparagraphen,  ist  Rosenthal  nichts  zu 
beweisen,  Er  stellt  dar,  in  Rede  und  Auftreten,  nichts  weiter 
als  einen  ungewohnlich  gescheiten,  iibertrieben  zuvorkommen- 
den  Kaufmann.  Aber  der  Staatsanwalt  beantragt,  ihn  nicht  zu 
vereidigen,  weil  er  Kredite  gewahrte  an  die  eignen  Kunden 
und  weil  er  Nachforschungen  bei  den  Sklareks  verhinderte,  wie 
Hoffmann  erklart.  Das  Gericht  folgt  ihm.  Die  Aussage  Hoff- 
manns sei  nach  Oberzeugung  des  Gerichts  nicht  falsch,  Aber 
wenn  sie  nicht  falsch  ist,  was  wuBte  Rosenthal  und  wo  horte 
Rosenthals  Redlichkeit  auft 
452 


Colloquium  in  UterO  von  Kaspar  Hauser 

Ein  trtiber  Herbsttag  im  Mutterleib.     Zwei  Stuck  Zwillinge,  Erna 
und  Max^  legen  sich  bequem  und  sprechen  leise  miteinander. 

—  „Mahlzeit!" 

—  „Mahlzeit!    Na,  gut  geschlafen  . .  .?" 

—  ,,Soweit  man  bei  diesem  Rummel  schlafen  kann  —  es 
sind  bewegte  Zeiten.     leli  traume  daun  iffimer  so  schlechi/' 

—  fIWas  hast  du  bloB?" 

—  „Du  bist  gut!  Was  ich  habe!  Hier,  hast  du  das  gclcsen, 
im  Reichsverbandsblatt  Deutscher  Leibesfriichtchen?" 

—  „Nein.   Was  steht  da?" 

—  ,,Da  steht:  Warnung  vor  dem  juristischen  Studi-um. 
Fiinfzigtausend  Primaner  legen  die  Reifepriifung  ab-  Hundert- 
unddreiBigtausend  stellenlose  Akademiker,  es  kann  auch  eine 
Null  mehr  sein,  ich  kann  das  bei  der  Beleuchtung  nicht  so  ge- 
nau  unterscheiden.  Warnung  vor  dem  Veterinar-Studium. 
Warnung  vor  Beschreitung  der  Oberforster-Laufbahn.  War- 
nung .  . .  und  so  geht  das  weiter." 

—  „Na  und?" 

—  ,,Na  und  . . .  du  dummes  Keimblaschen!  Willst  du  mir 
vielleicht  sagen,  was  man  denn  eigentlich  noch  drauBen  soil? 

'Nun  fehlt  nur  noch  die  Warnung  vor  einem  Beruf!" 

—  ,,Vor  welchem?" 

—  ,,Vor  dem  eines  Deutschen.  Aber,  wenn  das  so  weiter 
geht:  ich  bleibe  hier/' 

—  ,,Ich  gehe  raus." 

—  „Warum?" 

—  MWeil  es  unsre  Pflicht  ist.  Weil  wir  heraus  miissen. 
Weil  im  Kirchenblatt  fur  den  Sprengel  Rottenburg  und  Urn- 
gegend  steht:  Das  Leben  im  Mutterleibe  ist  heilig.  Lieber  zehn 
Kinder  auf  dem  Kissen  als  eines  auf  dem  Gewissen,  steht  da. 
Und  die  Praservativ-Automaten  sind  auch  aufgehoben,  Wir 
stehen,  mein  Lieber,  unter  dem  Schutz  der  Staatsanwaitschaft 
und  der  Kirche!" 

—  „DrauBen?" 

—  I(N6,  drauBen  nicht.    BloB  drin." 

—  „Na,  da  bleib  doch  hier!" 

—  „Wir  haben  nur  fur  neun  Monate  gemietet,  das  weifit 
du  doch!" 

—  ,,Es  istt  um  sich  an  dem  eignen  Nabelstrang  aufzuhan- 
gen!   Ich  fur  mein  Teil  bleibe  drin!" 

—  „Du  bleibst  nicht  drin,  Sei  froh,  daB  wir  nicht  dreie 
sind,  oder  vier,  oder  funf,  oder  sechs  . . ." 

—  „Halt!  Halt!    Wir"  sind  doch  nicht  bei  Karnickels!" 

—  „Es  ist  alles  schon  mal  dagewesen,Deutschlandkan(n  keine 
Kinder  ernahren,  nur  Kartelle.  Deutschland  braucht  Arbeitslose!" 

—  MIch  bleibe  drin." 

—  ,,Ich  geh  raus!" 

—  „Du  gehst  nicht  raus!    Streikbrecher!" 

—  „Pergamentfrucht!" 

—  nDottersackf" 
(G-estrampel) 

'  Die  Mutter:  „Was  er  nur  hat  — ?" 

453 


Krisen-Querschnitt  von  k.  l.  oerstorff 

W7ie  lange  wird  man  noch  lavieren  konnen?  Das  hangt  von 
der  okonomischen  Entwicklung  ab.  Sie  muB  niichtern  ge- 
priift  werden.  Keine  agitatorische  Ubertreibung  ware  hier  am 
Platze.  Es  handelt  sich  nicht  mehr  da  rum,  die  Tendenzen  her- 
auszuarbeiten;  die  sind  bekannt  Es  handelt  sich  darum,  An- 
satzpunkte  fur  das  Tempo  zu  gewinnen,  in  dem  sich  diese  Ten- 
denzen auswirken.  Denn  davon  wird  das  Tempo  der  politi- 
schen  Weiterentwicklung  bestimmt. 

Wir  halten  uns  im  weitern  an  den  letzten  Vierteljahres- 
bericht  des  Institutes  fiir  Konjunkturforschung.  In  diesem  Be- 
richt,  der  einen  halboffiziellen  Charakter  tragt,  ist  die  Sprache 
eine  sehr  deutliche.     Es  heiBt  dort  iiber  die  Weltwirtschaft: 

Die  Abkapselung  deir  Volkswirtschaften  im  Kampf  urn  ihre  Wah- 
rung  und  ihren  Binnenmarkt  hat  das  Geflecht  internationaler  Han- 
dels-  und  Verkehrsbeziehungen  in  den  letzten  Monaten  in  starkem 
Umfange  zerstort,  Der  Welthandelsumsatz  ist  erneut  stark  zuriick- 
gegangen.  Der  internationale  Fremdenverkehr  und  die  Wanderbewe- 
gung  kommen  mehr  und  mehr  zum  Erliegen.  Der  Weltkreditverkehr 
ist  nahezu  vollig  erstarrt  ....  fiir  die  Weltwirtschaft  als  Ganzes  kann 
bei  der  Ungelostheit  der  schwebenden  politischen  Probleme  in  den 
nachsten  Wochen  und  Monaten  ein  entscheidender  Tendenzumschwung 
noch   kaum  erwartet  werden. 

Die  Vertiefung  der  Krise  bewirkt  auch  einen  immer  wei- 
tern Riickgang  der  Produktion: 

Der  Index  der  industriellen  Weltproduktion  fiel  von  84,3  im  Juli 
auf  80,2  im  Dezember.  Seit  dem  Hochststand  von  1929  hat  sich  das 
Produktionsvolumen  der  Welt  um  30  v.  H.  verringert.  Schaltet  man 
hierbei  die  unter  Sonderverhaltnissen  stehende  Industrieproduktion 
der  UdSSR  aus,  die  inzwischen  nach  der  Grofic  ihres  Anteils  an  die 
zweite  Stelle  unter  den  Industrielandern  aufgeriickt  ist,  so  liegt  in- 
folge  eines  Riickgangs  von  38  v.  H.  die  Weltproduktion  jetzt  sogar 
unter  dem  Stand  von  1913. 

Mit  Recht  wird  hier  die  Produktionsentwicklung  SowjetruB- 
lands  der  Entwicklung  der  kapitalistischen  Staaten  entgegenge- 
setzt.  SowjetruBland  hat  in  der  Kohlenproduktion  bereits  Frank- 
reich  iiberholt,  in  der  Eisen-  und  Stahlproduktion  in  den  letzten 
Monaten  nicht  nur  England  sondern  auch  Deutschland.  Um  ein 
Bild  vom  wirklichen  Riickgang  der  kapitalistischen  Produk- 
tion zu  gewinnen,  muB  man  sie  getrennt  von  der  Entwicklung 
der  Sowjet-Wirtschaft  behandeln.  Dann  ergibt  sich,  daB  die 
Weltproduktion  bereits  unter  jener  der  letzten  Vorkriegsjahre 
liegt,  und  dies  bei  einer  Produktivitat  der  menschlichen  Arbeit, 
die  mehr  als  das  Doppelte  der  Vorkriegszeit  betragt. 

Die  Weltwirtschaftskrise  hat  in  den  Vereinigten  Staaten 
begonnen.  Wie  sieht  es  dort  heute  aus?  Nun,  die  Arbeits- 
losigkeit  ist  verhaltnismaBig  so  groB  wie  in  Deutschland,  das. 
heiBt  circa  12  Millionen.  Der  Lohnabbau  in  der  Krise  ist  rie- 
senhaft.  Wenn  die  gesamten  Arbeitslohne  1929  mit  100  an- 
gesetzt  werden,  so  sind  sie  im  Dezember  1931  bereits  auf  50 
zuriickgegangen,  und  das  halt  weiter  an.  Die  amerikanische 
Ausfuhr  hat  so  ge  lit  ten,  daB  sie  in  manchen  Monaten  bereits 
unter  der  deutschen  lag.  Der  amerikanische  Kapitalexport 
wie     iiberhaupt    die     Kapitalemissionen      der    kapitalistischen. 

454 


Glaubigerlander  sind  buchstablich  auf  den  Nullpunkt  herunter- 
gekommen,  Wenn  die  gesamten  Kapitalemissionen  im  crsten 
Vierteljahr  1931  noch  1  MilHarde  163  Millionen  betragen  ha- 
ben,  so  betrugen  sie  im  vierten  Viertcljahr  1931  —  das  ist 
kein  Druckfehler  —  2  Millionen  Mark.  Und  so  scheut  sich  der 
Vierteljahresbericht  nicht,   zu  schreiben: 

Wahrend  sonst  der  Riickgang  der  Wirtsehaftstatigkeit  durch  die 
mit  ihm  verbundene  Auflockerung  der  Kreditmarkte  die  Voraus- 
setzungen  eines  neuen  Aufschwungs  zu  schaffen  pflegte,  vernichtet 
er  im  gegenwartigen  Stadium  des  Preisverfalls  immer  mehr  die  Krafte 
des  Wiederanstiegs  und  treibt  damit  statt  zu  einer  heilsamen  Liqui- 
dation zur  Katastrophe, 

Das  ist  deutlich  genug.  In  den  Vereinigten  Staaten  glaubt 
man,  von  der  Kreditseite  her  der  immer  starkern  Produktions- 
einschrankung  entgegenzutreten.  Der  Bericht  ist  diesen  Pla- 
nen  gegeniiber  sehr,  skeptisch. 

In  den  vergangenen  Monaten  sind  dem  Kredit-  und  Wirtschafts- 
organismus  freilich  so  schwere  Schaden  zugefiigt  worden,  dafi  sich 
auch  bei  Eintritt  der  geschilderten  Entwicklung  ihre  konjunktur- 
anregenden  Wirkungen  nur  langsam  einstellen  konnten . .  *  Fiir  Pro- 
duktion  und  Beschaftigung  folgt  hieraus,  dafi  eine  konjunkturelle  Bes- 
serung  in  dem  unmittelbar  vor  uns  liegenden  Zeitabschnitt  kaum  er- 
wartet  werden  kann . . ,  Nach  dem  gegenwartigen  Stande  ihrer  Ent- 
wicklungsbedingungen  ist  also  damit  zu  rechnen,  daB  die  amerika- 
nische  Wirtschaft  in  den  nachsten  Monaten  kaum  mehr  als  eine  ver- 
haltnismafiig  schwache  Saisonentlastung  erfahren  wird. 

Von  den  Vereinigten  Staaten  aus  hat  sich  die  Weltwirt- 
schaftskrise  immer  weiter  verbreitet.  Von  dort  aus  wird  in 
nachster  Zeit  kaum  eine  Besserung  eintreten.  Und  in  Europa? 
Hat  sich  da  nicht  eine  gewisse  Stabilisierung  im  englischen 
Kapitalismus,  im  gesamten  Empire  ergeben,  und  wird  diese 
Welle  nicht  weiter  treiben?  Die  Entwicklung  des  Pfundes  und 
die  Schutzzollpolitik  haben  zunachst  einmal  fraglos  in  England 
ein  Stop  zur  Folge  gehabt  Aber  die  Wirkung  war  nur  eine 
voriibergehende: 

Wahrend  der  Schrumpfungsprozefi  in  den  iibrigen  grofien  In- 
dustrielandern  anhielt,  kam  in  GroBbritannien  der  Riickgang  der  Ge- 
schaftstatigkeit  —  nachdem  bereits  vorher  eine  Verlangsamung  ein- 
g'etreten  war  —  im  vierten  Vierteljahr  zum  Stillstand.  Die  Gesamt- 
produktion,  die  Rohstoffeinfuhr  und  die  Ausfuhr  belebten  sich;  die 
Arbeitslosigkeit  ging  zuriick.  Diese  Entwicklung  ist  als  Folge  der 
Loslosung  des  Pfundes  vom  Goldstandard  und  der  damit  verbun- 
denen  Pfundentwertung  zu  betrachten.  Jedoch  wurde  durch  diese 
Mafinahme  GroBbritanniens  Abhangigkeit  vom  Verlauf  der  Weltkbn- 
junktur  nur  gelockert,  nicht  aber  gelost.  Denn  bereits  zu  Beginn  des 
neuen  Jahres  setzte  ein  neuerlicher  Riickgang  der  Geschaftstatigkeit 
ein,  durch  den  die  im  vierten  Vierteljahr  eingetretene  Besserung  zum 
groBen  Teil  wieder  zunichte  gemacht  wurde. 

Wahrend  in  England  die  Entwicklung  aber  etwas  ver- 
langsamt  wurde,  hat  in  Frankreich  grade  im  letzten  Halbjahr 
die  Krise  mit  besonderer  Intensitat  eingesetzt: 

Nachdem  schon  im  dritten  Vierteljahr  die  Krise  sich  auf  der 
ganzen  Linie  verscharft  hatte,  gewann  sie  gegen  Ende  des  Jahres  mit 
grofier  Schnelligkeit  an  Ausdehnung  und  Tiefe.  Arbeitslosigkeit  und 
wirtschaftliche  Zusammenbruche  nahmen  rascher  zu  als  je,  Im  neuen 
Jahr  hat,  wie  die  Entwicklung  des  Arbeitsmarkts,  der  Gtiterumsatze, 

455 


des  AuBenhandels  und  der  Staatsfinanzen  zeigt,  die  Riickgangsinten- 
sitat  noch  zugenommen. 

Das  Gespenst  der  Arbeitslosigkeit  geht  audi  in  Frank- 
reich  immer  sichtbarer  um: 

Fur  Anfang  Januar  ist  die  gesamte  Arbeitslosigkeit  auf  minde- 
stens  900  000  gegen  etwa  675  000  Anfang  Oktober  und  etwa  300  000 
Anfang  1931  zu  schatzen.  Ganz  besonders  hat  aber  die  Kurzarbeit 
zugenommen.  In  den  Betrieben  mit  uber  100  Arbeitnehmern  stent 
mehr  als  die  Halfte  der  Arbeitnehmer  in  Kurzarbeit;  rund  ein  Vier- 
tel  ist  weniger  als  vier  Tage  in  der  Woche  beschaftigt. 

So  sieht  der  Weltkapitalismus  in  den  entscheidenden 
auBerdeutschen  Gebieten  aus.  In  DeutschLand  steht  es  am 
schlimmsten.  Nirgends  ist  der  Produktionsriickgang  so  starkf 
ist  die  Weltproduktion  unter  das  Niveau  der  letzten  Vor- 
kriegsjahre  zurtickgegangen,  liber  die  Entwicklung  bei  uns  aber 
wird  festgestellt,  daB  ,,in  Deutschland  nur  etwa  ebenso  viel 
Waren  produziert  werden,  wie  im  Jahre  1897".  Es  wird  be- 
tont,  daB  die  Krise  sich  immer  weiter  friBt  und  daB  von  der 
Weltwirtschaft  her  keine  Entlastung  zu  erwarten  ist.  Und  dann 
folgen  Satze,  die  man  zweimal  Iesen  sollte; 

So  ist  also  eine  unverminderte  Kraft  der  depressiven  Faktoren 
festzustellen.  Zugleich  wird  erkennbar,  daB  sich  der  Abschwung 
mehr  und  mehr  seiner  okonomisch  und  soziologisch  liberhaupt  denk- 
baren  Grenze  nahert,  Schon  seit  Herbst  1930  erftillt  der  Abschwung 
seine  eigentliche  Funktion,  Mittel  fiir  neue  Betatigung  frei  zu  setzen, 
nicht  mehr,  Statt  daB  sich  die  Kreditmarkte  verfliissigen,  dadurch 
rentable  Neuinvestitionen  moglich  werden  und  so  auf  eine  Umschal- 
tung  der  Produktionskrafte  auf  neue  Produktionswege  hingearbeitet 
wird,  verbindet  sich  mit  der  Abwartsbewegung  ein  starker  Deflations- 
druck.  Das  Warten  auf  die  heilenden  Krafte  der  Depression  hat  da- 
mit  seinen  Sinn  verloren.  Der  Abschwung  ist  uber  die  Grenze  langst 
hinausgegangen,  bis  zu  der  er  als  notwendige  Reaktion  auf  einen  iiber- 
steigerten  Aufschwung  betrachtet  werden  konnte. 

Das  ist  so  deutlich,  daB  jeder  Kommentar  abschwacht. 
Die  Krise  nahert  sich  ihrer  okonomisch  und  soziologisch  iiber- 
haupt  denkbaren  Grenze. 

Wird  diese  Grenze  iiberschritten,  dann  muB  sich  die  poli- 
tische  Krise  verscharfen.  Dann  kann  die  Kugel  auf  der  Pyra- 
mide,  wie  Trotzki  die  Situation  des  deutschen  Kapitalismus 
illustriert  hat,  nicht  langer  durch  die  bisherigen  Methoden  ba- 
lanziert  werden. 


Ztl  diesetl  MilltarS  von  JohannWolfgang  v.  Goethe 

r^\as  Vaterland  eines  Regiments-Chefs  aber  ist  sein  Regiment,  und  er 
***  wird  ein  ganz  vortrefflicher  Patriot  seyn,  wenn  er  sich  um  poli- 
tische  Dinge  gar  nicht  bemuht  als  so  weit  sie  ihn  angehen,  und  wenn 
er  dagegen  seinen  ganzen  Sinn  und  seine  ganze  Sorge  auf  die  ihm 
untergebenen  Bataillons  richtet,  und  sie  so  gut  einzuexerciren  und  in 
so  guter  Zucht  und  Ordnung  zu  erhalten  sucht,  daB  sie,  wenn  das 
Vaterland  einst  in  Gefahr  kommt,  als  tuchtige  Leute  ihren  Mann 
stehen.  Ich  basse  alle  Pfuscherey  wie  die  Siinde,  besonders  aber  die 
Pfuscherey  in  Staatsangelegenheiten,  woraus  fiir  Tausende  und  Millio- 
nen  nichts  als  Unheil  hervorgeht. 

Zu  Eckermann,  Marz  1832 

456 


Bemerkungen 

Achtung! 

C  teigt  das  Angebot,  wird  der 
^  Nachfragende  frcch;  das  ist 
immer   so, 

Niemals  ist  die  gewerkschaft- 
liche  Moral  der  Angestellten- 
schaft  schlechter  als  in  Krisen- 
zeiten  —  die  Chefs  konnen  heute 
mit  ihren  Leuten  so  ziemlich 
machen,  was  sie  wollen,  vom  Ge- 
halt  schon  gar  nicht  zu  reden. 
Arbeit   als   Griade, 

Unter  der   Uberschrift 
Achtung! 
bietet   sich   einer   so   an: 

,,Zuverlassiger     Verkaufer      u. 
Expedient  (Textilbranche) ,  gu- 
ter   Hausdetektiv,  leichte   Auf- 
fassungsgabe,  sucht  per  sof. . ." 
Ein  f einer  Herr,    Was  ist   das: 
ein  Hausdetektiv?    Friiher    nannte 
man    das    anders,    einfacher    und 
bildkraf  tiger:     einen    Astkriecher. 
Welches    Getue,     um    eine     so 
simple   Sache  auszudriicken!  Was 
er     meint,     ist      ganz     klar:      er 
hinterbringt  den  kleinsten  Knatsch 
dem    Chef,    um    sich    beliebt    zu 
machen,      Oder   glaubt   der  Mann, 
in   jedem   Betriebe   werde  unend- 
lich  viel  gestohlen,  und  man  habe 
auf  ihn  gewartet,  um  das  zu  ent- 
hullen?     Das  meint   er   sicherlich 
nicht.     Der     Kerl     ist     ein    Ast- 
kriecher,  und  tausend   Chefs  fin- 
den    so    etwas    sehr   schon,    „weil 
es    ja   immer    sehr    gut    ist,    iiber 
alles     unterrichtet     zu     sein",   es 
kundigt   sich  dann  leichter, 

Nie  ist  die  Solidaritat  der  An- 
gestellten  schwacher  als  in  Kri- 
senzeiten, 

Und  nur  eines  kann  man  dem 
smarten  Detektiv  nicht  zubilli- 
gen,  namlich  jenes  Wort,  das  er 
selber  iiber  seine  Annonce  ge- 
setzt  hat. 

Ignaz    Wrobel 

\m  Namen  Goethes 

wird  heut  viel  gesiindigt,  recht 
reichlicher  Unfug  geschieht,  und 
iiber  das  Meiste  darf  man,  zu- 
mal  schwerere  Sorgen  drangen, 
den  Mantel  der  Liebe  breiten. 
Aber  es  gibt  eine  Hutschnur, 
und    was    dariibergeht . . . 


Was  dariibergeht,  ist  zum  Bei- 
spiel:  bewuBte,  gewollte  Zwei- 
deutigkeit,  bewuBte,  gewollte 
Irrefiihrung,  damit  man  schonc 
Unterschriften  bekommt,  Durch 
die  Presse  ging  letzte  Woche  ein 
„Aufruf  zum  Goethe  -  Jahr'\ 
schwiilstig,  phrasenreich,  ideen-> 
leer,  unterzeichnet  von  Ministern, 
Professoren,  Oberbiirgermeistern 
und  sonstigen  Mandarinen  der 
Bildung,  auch  von  den  Dichtem 
Carossa,  Gerhart  Hauptmann,  der 
Huch,  Kolbenheyer,  Thomas 
Mann,  W.  v.  Scholz  und  Stehr. 
An  der  Spitze  der  Namen:  Hin- 
denburg,  Briining.  Diese  dabei- 
zuhaben,  insonderheit  den  alten 
Herrn,  daran  lag  den  managen- 
den  Mandarinen  offenbar  ganz. 
gewaltig.  Wei8  der  Teufel, 
warum.  So  wurde  denn  Goethe 
im  Text  zu  einer  Art  Turnvater 
Jahn,  der  „in  den  Jahren  hoff- 
nungslosen  Tief  stands  seinem 
Volke  den  Weg  der  Wieder- 
geburt  gewiesen"  habe.  (Als  ob 
nicht  die  Goethezeit,  im  Gegen- 
teil,  eine  Periode  hoffnungsvollen 
Hochstands  gewesen  ware,  eben 
durch  Goethe  und  die  Schaffen- 
den  neben  ihm,  wahrend  in  den 
Jahrzehnten,  die  folgten,  der 
Patriotismus  den  Tiefstand 
brachte.)  Aber  nein:  Goethe, 
nun  einmal  kein  Politiker,  mufi 
fiir  Zwecke  von  heute  durchaus 
einer  sein.  Er  „mahnt"  „zur  ein- 
trachtigen  Uberwindung  selbst- 
zerfleischenden  Streites"  —  ein 
Hindenburger  hundert  Jahre  vor 
Hindenburg!  „Das  Goethejahr 
soil  die  ganze  Volksgemeinschaft 
in  einem  Erlebnis  zusammen- 
fiihren"  . , .  vor  allem  wohl  die 
ausgesteuerten  Erwerbslosen.  Of- 
fengesagt,    dagegen  habe  ich  nichts. 

Aber  um  die  Unterschriften  des 
Prasidenten  und  des  Kanzlers  zu 
gewinnen,  hat  man  sich  etwas 
geleistet,  was,  sanft  gesprochen, 
aufs  grobste  gegen  den  guten  Ge- 
schmack  verstoBt.  Man  hat 
Goethes  Todestag  als  den  Tag 
bezeichnet,  „an  dem  Deutschland 
vollendetster  Geist  seinem  Glau- 
ben  gemafi  in  die  Unsterblich- 
keit  einging1',  und  man  hat,  im 
Goethe    -    Zusammenhang,        ,tdie 

457 


Kraft  des  Aufblicks  zum  Ewi- 
gen"  gepriesen,  Kein  Mensch 
wird  mir  weismachen,  daB  die 
Zweideutigkeit  dieser  beiden 
Formeln  unbeabsichtigt,  also  ein- 
fach  schlechter  Stil  sei.  Sie  ist 
Absicht.  f(Seinem  Glauben  gemaB 
in  die  Unsterblichkeit  einging" 
—  das  kann,  j  e  nach  Belieben, 
interpretiert  werden  als :  „Es 
kann  die  Spur  von  meinen  Erdc- 
tagen  nicht  in  Aonen  untergehn" 
oder  als  frommer  Kirchenglaube 
an  die  Unsterblichkeit  der  Seele. 
Fur  Intellektuelle)  etwas ;  fiir 
Konservative  etwas ;  bitte,  bedie- 
nen  Sie  sich.  Und  Mdie  Kraft  des 
Aufblicks  zum  Ewigen"  —  steckt 
in  dies  em  „zum"  nun  der  Ewige 
oder  das  Ewige?  Bitte,  je  nach 
Weltanschauung ;  auswechselbare 
Begriffe!  Goethe  als  Kirchen- 
christ,  Goethe  als  Westarp  —  wer 
nicht  mag,  der  darfs  panthei'stisch 
oder  selbst  heidnisch  deuten;  wir 
riihren  die  Jubilaumssauce  so 
an,  dafl  sie  bei  einigem  guten 
Willen  alien  Richtungen  schmeckt. 
Das  aber  ist  ein  Schmocktum 
aus  liber  j  ournalistischen  Spha- 
ren,  dem,  bei  Goethe,  nur  ein  Er- 
brechen  gerecht  wird.  Der  Mann, 
der  schrieb:  „Das  Erste  und 
Letzte,  was  vom  Genie  gefordert 
wird,  ist  Wahrheitsliebe",  mufi 
sich  im  Grabe  umdrehn,  wenn  in 
seinem  Namen  auf  solche  Art 
metaphysisch  gemogelt  j  wird. 
Hatten  die  Herren  sich  doch  in 
den  .Maximen  und  Reflexionen' 
ein  wenig  umgesehn!  Dann  wiir- 
den  sie  auch  die  Bemerkung  ge- 
funden  Thaben;  „dafi  Diejenigen, 
welche  Frommigkeit  als  Zweck 
und  Ziel  aufstecken,  meistens 
Heuchler  werden".  Ob,  wenn  die 
Weimaristen  dies  Zitat  in  den 
Aufruf  getan  hatten,  Hindenburg 
und  Bruning  ihn  unterschrieben 
haben  wtirden,  bleibt  zweifelhaft 

Kurt  Hiller 


Film  vom  Fernamt 

JUT  an  soil  nicht  schadenfroh 
"1  sein,  und  doch  mufi  es  den 
Fernsprechteilnehmer  im  Men- 
schen  mit  Befriedigung  erfiillen, 
wenn  er  sieht,  wie  vier  Tele- 
phonbeamte,  zwei  franzosische 
und  zwei  deutsche,  zwei  mann- 
liche  und  zwei  weibliche,  sich  nun 
einmal  untereinander  griindlich 
falsch  verbinden.  Dies  geschieht 
in  dem  Film  „Hallo,  Hallo  — 
hier  spricht  Berlin",  den  der 
David  Golder-Regisseur  Julien 
Duvivier  mit  deutschen  und  fran- 
zosischen  Schauspielern  herge- 
stellt  hat. 

Die  einzige  reale  Verbindung 
zwischen  Hauptstadt  und  Haupt- 
stadt  ist  nach  wie  vor  der  Tele- 
phondraht,  und  selbst  diese  Ver- 
standigungsmoglichkeit  schildert 
Duvivier  recht  pessimistisch:  die 
Leute  vom  Fernamt  sind  bei  ihm 
erstaunlicherweise  lauter  rade- 
brechende  Kannitverstans  — 
sollte  man  nicht  vermuten,  dafi 
sie  die  Sprache  von  jenseits  des 
Rheins  wenigstens  vom  Horen- 
sagen  kennen?  Die  pariser  Da- 
men  und  die  berliner  Herren  be- 
nutzen  ihr  Sextanervokabular  zu 
aufierdienstlichen  Anbandeleien, 
aber  die  Aufsicht,  die  im  Fern- 
amt fiir  storungslosen  Verkehr 
sorgt,  lafit  im  Leben  die  Tele- 
phonisten  im  Stich,  und  so  ent- 
steht  Konfusion:  je  einer  pro  Ge- 
schlecht  und  Nation  ist  tugend- 
lich,  je  einer  lasterhaft-sinnlich  — 
aber  statt  daB  das  Gleichnamige 
sich  von  vornherein  anzieht,  wie 
es  der  Moral,  wenn  auch  nicht 
der  Physik  entsprache,  erleben 
wir  mit  Erbauung  ein  verfuhre- 
risches  Madchen,  das  nicht  ver- 
f iihrt  wird,  und  einen  Verf uhrer, 
der  nicht  verfiihrt.  Doch  die  un- 
natiirliche  Situation  dauert  nicht 
lange   an;    die  Moral    siegt    iiber 


EIN  UNGEWOHNLICHES 

EIN  FESSELNDES 

EIN  HINREISSENDES  BUCH 

So  beurteilt  die  „Vossische  Zeitung"  Georg*  Kaisers  ersten  Roman 
„Es  Ist  genugl"  (6.50  RM;  Transmare  Verlag,  Berlin) 

458 


die  Physik;  der  lasterhafte  Jung- 
ling  erhalt  Faustschliige,  und  das 
lasterhafte  Madchen  erhalt,  als 
nicht  minder  schwere  Strafe,  einen 
Journalisten  zum  Freund. 

Ein  solches  Puppenspiel  der 
Irrungen  mit  symmetrisch  ange- 
ordneten  Liebespaaren  paBt  nicht 
gut  in  den  irdischen  Bezirk  von 
Telephonamtern,  Bahnhofen  und 
groustadtischen  Vergniigungs- . 

lokalen.  Wir  wiirden  freier 
lachen,  wenn  alles  Lustige,  was 
in  diesem  Film  geschieht,  wirk- 
lich  geschehen  konnte.  Den  Mo- 
nomanen  des  Operettenstils  sei 
gesagt,  daC  Natiirlichkeit  die 
Heiterkeit  befordert  und  dafi  wir 
in  Beerdigungsstimmung  geraten, 
wenn,  wie  neulich  in  dem  depri- 
mierenden  Joe  May-Film:  „Zwei 
in  einem  Auto",  zwecks  Schlufi- 
pointe  ein  Komiker  den  andern 
in  den  Hintern  beifit,  Auch  Du- 
vivier  schadet  seinem  Film  stel- 
lenweise  durch  Possenmimik  und 
knallige  Chargen,  wenngleich  ihm 
andrerseits  als  Einlagen  zwei 
echt  franzosische  Grotesken  ge- 
lingen:  die  wilde  Jagd  im  Rund- 
fahrtauto  mit  den  schief  umher- 
torkelnden  Sehenswiirdigkeiten 
und  der  Empfang  des  naBgereg- 
neten  Auslandspotentaten.  Diese 
in  sich  stilistisch  sehr  einheitlichen 
Spektakelstiicke  platzen  unbarm- 
herzig  mitten  zwischen  die  sanf- 
ten,  etwas  langatmig-umstand- 
lichen  Liebeslieder  des  Tele- 
phonistenquartetts,  mischen  iiber- 
irdischen  Spuk  in  irdisch  ger 
meinte  Schicksale.  Hier  deutet 
sich    wieder    die    Stilunsicherheit 


und  der  Mangel  an  Kontakt  mit 
der  Wirklichkeit  an  —  typische 
Eigenschaften  des  franzosischen 
Films,  wie  wir  neulich  zu  zeigen 
versuchten.  Was  jedoch  in  Duvi- 
viers  „David  Golder"  als  pein- 
liches  Herumspielen  mit  einem 
ernsten  Thema  auf  die  Nerven 
ging,  wirkt  hier,  bei  einem  leich- 
ten  Stoff,  als  geistreicher  Ober- 
mut,  als  sehr  notwendige  Er- 
frischung  nach  der  iramer  be- 
angstigender  ausartenden  Ver- 
odung  des  deutschen  Tonfilms. 
Es  macht  uns  schon  fast  Miihe, 
der  witzig  abkiirzenden,  impromp- 
tuhaften  Formensprache  des 
Franzosen  zu  folgen.  Wir  frischen 
unsre  Sehkunste  auf,  wir  diirfen 
ihm  dankbar  sein.  Er  bemiiht 
sich,  die  Schauplatze  seines  Films 
mit  charakteristischen,  statt 
schematisch  schonen  Figuren  zu 
bevolkern,  er  laCt  den  Dialog 
sehr  einleuchtend  aus  dem  unarti- 
kulierten  Geschnatter  der  Volks- 
menge  hervorwachsen.  Er  fiihrt, 
als  Manuskriptautor,  das  Motiv 
der  langen  Leitung  aus  Telephon- 
draht  sehr  gliicklich  bis  zum 
Ende  durch:  die  beiden  Lieben- 
den  v  finden  sich,  obwohl  im  sel- 
ben  Raum,  doch  erst  durch  Ver- 
mittlung  der  Strippe,  des  Tisch- 
telephons,  Und  die  SchluBszene 
gehort  ins  Sammelalbum  des 
Filmfreundes:  wahrend  die  Beiden 
sich  schweigend  die  Hand  reichen, 
liegt  neben  ihnen  der  abgehobene 
Horer,  Berufsabzeichen  und  zu- 
gleich  Symbol  der  vergeblich  ze- 
ternden   AuBenwelt. 

Rudolf  Arnheim 


DIE  SOZIAUSTISCHE  AKTION 

ISoeben   erscheint   als    erste   Schrift: 
EDUARD  HEIMANN: 
Soziallstlsche  Wirtsclwfts-  u.  Arbeilsordnun$ 
4  Bpgen Preis  RM.  1.20 

459 


Ich  we  16  einen  Mann, 

der  erfindet.  Still  fur  sich  hin  tut 
er  das,  ohne  Nebengerausch,  ganz 
nebenbei.  Es  bildet  ein  Patent 
sich  in  der  Stille. 

Jetzt  hat  er  was  erfunden,  so- 
was  hat  die  Welt  noch  nicht  ge- 
sehn.  Namlich  Lutschbonbons. 
„Aber(  die  . . ."  Sei  still,  Herr  Le- 
ser,  und  hor  erst  zu.  Natiirlich 
gibts  Lutschbonbons.  Aber  solche, 
wie  dem  seine,  die  gabs  noch 
nicht. 

Die  sind  so:  man  nehme  einen 
dieser  Bonbons  und  nuckele  dran 
herum.  Da,  kurz  bevor  einem 
schlecht  wird  —  „Nanu",  denkt 
man,  man  denkt  „Nanu'  —  in 
den  Lutschbonbons  ist  was.  Und 
wenn  mans  ausspuckt,  dann  sind 
das,  aus  einer  unlutschbaren 
Masse,  „K6pfe  beruhmter  Man- 
ner". Die  kann  man  sich  auf- 
heben,  die  kann  man  sich  ins 
Knopfloch  oder  an  den  Hut 
stecken  oder  sie  den  lieben  Klei- 
nen  zum  Spielen  schenken. 

Das  gibt  es.  Zunachst  zwar  nur 
in  der  Idee.  Doch  die  ist  paten- 
tiert.  Und  nun  mochte  der  Er- 
finder  eine  Bonbonfabrik  finden, 
die  das  Patent  erwirbt.  Ich  meine, 
nicht  nur  hierbei  miiflte  man  ihm 
behilflich  sein,  man  sollte  ihm 
seine  Idee  auch  noch  erweitern, 
ausbauen,  sie  beispielsweise  poli- 
tisch  nutzbringend  verwerten. 
..Lutschbonbons  fiir  alle  Parteien ', 
mit  den  Kopfen  der  Parteifiihrer 
drin.  So  ein  Bonbon  ware  Sym- 
bol :  auBen  der  schmockhaf  te 
Schmonzes  des  Parteiprogramms 
und  drin  lauter  ungenieBbare 
Kopfe,  die  man  sich  an  den  Hut 
stecken  kann. 

Greta  Wels 


Religiose  Streiter 

Jn  Frankfurt  a.  M.  kampfen  die 
11  Eltern  verzweifelt  um  die  Er- 
haltung  einer  besonders  gesund 
gelegenen  Simultanschule.  Die 
Behorden  rechnen  hin  und  her, 
der  Elternbeirat  dringt  in  die 
Kanzleien  ■ —  da  fliegt  dem  Rek- 
tor  der  umkampften  Schule  plotz- 
lich  ein  ErlaB  auf  den  Schreib- 
tisch,  nach  dem  die  Schule  end- 
giiltig  geschlossen  wird,  Der 
Rektor  ist  platt,  ruft  den  zustan- 
digen  Stadtrat  an,  der  weiB  von 
nichts.  Der  SchulausschuB  hat 
ebenfalls  keine  Ahnung.  Woher 
also  dieser  BeschluB?  Sehr  ein- 
fach: 

Ein  UnterausschuB,  der  hier 
gar  nichts  zu  beschliefien  hatte, 
bestehend  aus  einem  Pralaten, 
dem  evangelischen  Stadtpfarrer, 
einer  katholischen  Rektorin  und 
einem  katholischen  Turnlehrer, 
gefiihrt  von  einem  katholischen 
Rektor,  der  als  stellvertretender 
Schulrat  eine  einigermafien  ein- 
drucksvolle  Unterschrift  geben 
kann,  ~  diese  fiinf  Herren  haben 
sich  zusammengesetzt  und  die 
Sache  kurzerhand  zugunsten  der 
konfessionellen  Schule  erledigen 
wollen.  Simultanschulen  fordern 
die  Humanitat,  aber  sie  hindern 
die.  hemmungslose  Konfessions- 
propaganda,  und  dieser  letzte 
Punkt  lag  den  Herren  alien  am 
Herzen,  Dafiir  darf  sogar  mal 
die  Distanz  fallen,  hat  sich  der 
evangelische  Herr  Stadtpfarrer 
gesagt. 

Ad  maiorem  dei  gloriam.  Ich 
stelle  mir  vor,  wie  er  da  oben 
sitzt  und  sich  mit  einer  Wolke 
die  Nase  zuhalt. 

Gattamelata 


Reist  mit  Peter  Panter 
Lest:  Ein  Pyrewaewbuch 

ti.Taus. .  GeheftetRM  4.80  •  Lelnenbd  RM  6.50 


460 


„Lest  das  Buch,  lest  den  Stierkampf,  die  Kapitel  von 
der  Republik  Andorra,  lest  Lourdes,  lest  die  franzo- 
sische  Provlnz  und  dann  werdet  ihr  begeistert  dieses 
Buck  aus  der  Hand  legen  und  dabel  bedauern,  dafi 
ihr  es  schon  ausgelesen  habt."    8-Uhr-Abendbl.,  Bin. 

ROWOHLT  VERLAG  BERLIN  W  50 


Das  Chefbureau 

LJerr  President,  wenn  ich  alles 
>»*  l  verstehe  —  Ihren,  grade 
Ihren  MiBmut  verstehe  ich  nicht: 
Ihre  Geschafte  gedeihen  —  Sie 
beziehen  eine  halbe  Million  Ge- 
halt  —  sind  gesund  und  kraftig 
—  Ihre  Gemahlin  ist  eine  pracht- 
volle  Frau  , .  " 

HAlles  sehr  schon,"  sprach  er 
und  blickte  betriibt  ins  Leere, 
„aber '  meine  Sekretarin  ist  heute 
so   ungnadig." 

Zur  Hebung  des  Standes 

Worn  Landesverband  Hessen  der 

*  Strafanstaltsaufsichtsbeamten 
wird  uns  geschrieben: 

„Ihre  geschatzte  Zeitung  brachte 
unter  der  Nr.  55  vom  5.  3.  1932 
einen  Artikel  iiber  den  Aus- 
bruchsversuch  einiger  Gefangener 
im  Landgerichtsgefangnis  Mainz. 
In  diesem  Artikel  bedienten  Sie 
sich  bei  Schilderung  der  Vor- 
gange  iiber  die  Nachtdienst  ver- 
sehenden  Beamten  des  Ausdrucks 
,Wachter'.  Es  wird  dieses  von 
unsrer  Berufsgruppe  als  Herab- 
wurdigung  und  Beleidiguiig  an- 
gesehen,  zumal  einem  Regierungs- 
organ  doch  mindestens  bekannt 
sein  muBte,  dafi  es  im  modernen 
Strafvollzuge  keine  Wachter  und 
Warter  gibt,  sondern  Aufsichts- 
und  Erziehungsbeamte.  Die  heu- 
tigen  Amtsbezeichnungen  der 
Gefangnis-Strafanstalts-Aufsichts- 
beamten  gliedern  sich  in:  Wacht- 
meister,  Oberwachtmeister  und 
Hauptwachtmeister.  Eine  Bezeich- 
nung,  die  Sie  beliebten,  gehort 
der  Vergangenheit  an  und   findet 


man  nur  noch  bei  wilden  Tieren 
in  zoologischen  G&rten, 

Indem  wir  hoffen,  daB  auch 
Ihre  geschatzte  Zeitung  zur  He- 
bung  unsres  Standes  beitragen 
moge,   zeichnet 

Hochachtungsvoll 
Fiir   den    Hauptvorstand 
Wolff   II,  Vorsitzender." 
,Darmstadter  Zeitung* 

Dekret 

|  n    einer    sudamerikanischen    Re- 

*  publik  wurde  folgendes  Gesetz 
erlassen: 

„Niemand  kann  zum  General 
ernannt  werden,  der  nicht  wenig- 
stens  ein  Jahr  in  der  Armee  ge- 
dient  hat," 

Was  noch  — ?    Weiter  nichts. 

Allzu  schlicht 

LJatte  nicht    die   Preu  Ben -Regie - 

*  rung  als  Dekoration  ihre  be- 
rittene  Polizei  hergeliehen,  dann 
hatte  man  mit  wenigen  Ausnah- 
men  hinter  Stresemanns  Sarg 
nichts  als  Zylinder  gesehen.  Das 
Volk  will  aber  nicht  nur  Zylin- 
der. Es  will  Uniformen  als  sicht- 
baren  Ausdruck  der  Staatsmacht. 

,Vossische  Zeitung' 
Liebe  WeltbQhne! 

C  elmar  Fehr,  ehemaliger  Di- 
^  rektor  der  Deutschen  Bank, 
wird  als  Zeuge  im  SchultheiB- 
ProzeB  vernommen.  Der  Vor- 
sitzende  fragt  ihn,  ob  er  den  Eid 
in  weltlicher  oder  in  religioser 
Form  abzulegen  wunsche. 

Darauf  Fehr:  „Herr  Vorsitzen- 
dert  wie  ist  denn  das  hier 
Usance?" 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Orisgruppe  Berlin  des  S.  D.  S.  Mitlwoch  20.00.  Kammersatc  Teltower  Str.  1— 4:  Was 
ist  uds  heute  Goethe  ?  Es  sprechen:  Ernst  Bloch,  Friedrich  Burschell,  Herbeit  Ihering, 
Georg  Lukacs,  Erich  Muhaam.     Von  Mitgliedern    eingeftihrte   Gaste   habcn    Zutritt. 

Essen 

Weltbttbnenleser.  Dannerstag  20.00.  Restaurant  zum  Ritter,  Kettwiger  StraBe.  Zusammen- 
kunft.    Sonst  immer  Freitags. 

BQcher 

Kurt  Hilter:  Der  Sprung  ins  Helle.  Reden,  offne  Briefe,  Zwiegesprache,  Essays,  Thesen, 
Pamphlete  gegen  Krieg,  Kterus  und  Kapitalismus.  Wolfgang  Richard  Lindner,  Leipzig. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  15.20:  Der  Film  in  der  Wirtschaftskrise,  Herbert  Rosenfeld.  —  Leipzig 
17.00:  Goethes  Torquato  Tasso.  —  Berlin  19.30.  Faust,  II.  Teil  (Reichssendung).  — 
Mittwoch.  Frankfurt  19.05:  Ludwig  Marcuse  spricht.  —  Donnersta?.  Berlin  1605: 
Dichter  fltehen  vom  Schreibtisch,  Friedrich  Burschell.  —  17.50:  Die  Stellung  des 
Ktinstlers  in  der  Gesellschaft,  Erik  Reger.  —  2036:  Jiingste  Lyrik.  —  Sonnabend. 
Berlin  19.35:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Hans  Kafka. 

461 


Antworten 


Sozialdemokrat.  Dein  hamburger  ,Echo  der  Woche'  ist  sehr  stolz, 
Es  hat  eine  Nummer  herausgehracht,  in  der  die  Kriegserlebnisse  Hit- 
lers erzahlt  werden;  Hitler  hat  durch  eine  einstweilige  Verfiigung 
einige  Auderungen  durchgesetzt.  Das  Blatt  liegt  also  vor  uns  . . .  §ehr 
stolz  ist  das  tEcho  der  Woche*.  Und  sehr  dumm.  Genau  so  dumm  wie 
der  ,Vorwarts'(  der  eine  Zeichnung  bringt,  auf  der  der  kleine  Goebbels 
die  wackern  Feldgrauen,  die  in  die  Schlacht  marschieren,  aus  dem 
Fenster  mit  „Deserteure!"  anspuckt,  Und  Hitler,  sagen  die  in  Ham- 
burg, sei  gar  nicht  so  ein  guter  Soldat  gewesen , . .  Ja,  merkt  ihr  denn 
nicht,  daB  ihr  den  Namen  einer  Arbeiterpartei,  den  ihr  immer  noch 
falschlich  fiihrt,  schandet?  Seid  ihr  Soldaten  oder  seid  ihr  Zivilisten? 
Ihr  seid  nur  entlassene  kaiserliche  Muschkoten.  Merkt  euch:  Es  ist 
gleichgiiltig,  ob  Hitler  ein  guter  oder  ein  schlechter  Soldat  gewesen 
ist.  Es  ist  gleichgultig,  ob  der  kleine  Goebbels  jemand  einen  Deserteur 
nennt.  Diese  Kategorien  gelten  fur  uns  nicht  —  wir  sind  Zivilisten. 
Eben  das  ist  das  Schmahliche,  daB  diese  Schreihalse  die  Noten  fur 
ethisches  Verhalten  vorschreiben,  und  ihr  fallt  ihnen  in  eurer  maB- 
losen  Instinktlosigkeit  auch  drauf  herein.  Es  interessiert  nicht,  ob 
Hitler  vier  Eiserne  Kreuze  erster  Klasse  oder  ein  Eisernes  Kreuz  vier- 
ter  Klasse  hat.  Es  interessiert  nicht,  ob  Goebbels  im  Kriege  war.  Es 
ist  gleichgiiltig,  was  Liebknecht  und  Lenin  als  Soldaten  geleistet  haben 
—  es  interessiert  nur,  was  ein  Arbeitervertreter  fiir  den  Klassen- 
kampf  leistet.  Nicht  Hitler  gibt  uns  Noten  —  mit  denen  wischen  wir 
uns  die  Augen  aus,  Wir  geben  ihm  eine;  ein  hirnloser  Marktschreier. ' 
Und  wir  lehnen  es  ab,  uns  gegen  ihn  oder  gegen  Groener  oder  gegen 
sonst  jemand  gegen  den  Vorwurf  zu  verteidigen,  wir  seien  un- 
patriotisch.  Wir  sind  es.  Denn  ein  Land  hat  keine  Kaserne  zu  sein  — 
auch  keine  Hindenburg-Kaserne. 

Hilde  Walter.  Sie  schreiben:  lfIn  meiner  Glosse  ,Die  Damen 
wollen  auch  dabei  sein  in  Nr.  11  vom  15.  Marz  ist  durch  eine 
Korrektur  ein  MiBverstandnis  entstanden.  Die  sogenannte  Belgrader 
Friedensresolution  wurde  vom  Internationalen  Frauenbund  angenom- 
men  und  nicht  von  der  Internationalen  Frauenliga*  Der  Internationale 
Frauenbund  ist  eine  Spitzenorganisation  nationaler  Verbande,  die 
Internationale  Frauenliga  fiir  Frieden  und  Freiheit  dagegen  eine 
selbstandige  Organisation." 

Ungeduldiger,  Die  Fortsetzung  des  RuBlandartikels  von  E,  J, 
Gumbel  erscheint  im  nachsten  Heft, 

Aufmerksamer  Leser.  In  der  Glosse  von  Walter  Mehring  „Ich 
zeige  an"  aus  dem  letzten  Heft  der  ,Weltbuhne'  ist  fiir  den  Brief 
Friedrichs  II.  an  den  Lord-marschall  von  Schottland  in  einem  Teil 
der  Auflage  durch  ein  Versehen  ein  falsches  Datum  angegeben  wor- 
den,    Der  Brief  stammt  vom  23.  November  1758. 

Neugieriger.  Nein.  -  Die  deutsche  Reichsregierung  hat  zur  Bei- 
setzung  Briands  niemand  delegiert.  Das  kann  sie  nicht  wagen.  Dafiir 
hat  sich  Briand  von  den  franzosischen  Kriegshetzern  um  das  ,Echo 
de  Paris*  als  Freund  der  Boches  beschimpfen  lassen  mussen. 

Manuakripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  102,  *u 
richten;  es  wird  gcbeten,  ihnen  Riickporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rtickscndung  erf ol gen  kann. 
Da*  Auff  tlhrunff arecbt,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  dee  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  Im  Rahmen  von  Radiovortrggen 
blelben   ftlr   alte  in  der  WeltbUhne  ertchetaenden  Bcitritge  auadrucklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Oisietzky 
uhter  Mitwirkung  von    Kurt  Tucholsky  geleitet.  -    Verantwortlich :   Carl  v.  Oaaietzky,  Berlin; 

Verlag  cer  Weltbuhne,^Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telepnon:  C  1,  Steinplatz  77  57.   —   PosUcheckkonto:  Berlin  11958. 
Bankkonto :     Darmstadter    u.    Nationalbank.       Depositenkasse     Charlottenburg,    Kantstr.   112. 


XXVHUahrgang  29.MlrxlW2  Haamcr  13 

Das  Ende  der  Pressefreiheit  von  can  v.ossietzky 

F^as  offizielle  Deutschland  fciert  Goethe,  aber  nicht  alsDich- 
ter  und  Kiinder,  sondern  vornehmlich  als  Opium.  Goethe 
als  Betaubungsmittel,  Goethe  als  kunstlerisch  ausgefuhrter  Pa- 
ravent  zwischen  Volk  und  Wirklichkeit.  Die  Spitzen.  eines 
halb  fascisierten  Staates  feiern  die  Unendlichkeit  des  Geistes, 
infolgedessen  findet  wenig  Beachtung,  wie  eifrig  die  Zensur 
grade  jetzt  daran  ist,  die  Geister  zu  bin-den.  Literatur,  Presse, 
Film,  Funk  und  bildende  Kunst,  sie  alle  konnen  von  der  amt- 
lichen  Interpretation  der  durch  die  Verfassung  garantierten 
Meinungsfreiheit  ein  miBtonendes  Lied  singen.  Es  ware  ein 
Irrtum,  anzunehmen,  die  Zensur  beschrankte  sich  auf  die  wohl- 
bekannten  groBen  Falle.  Der  ProzeB  George  Grosz,  die  Kampfe 
urn  den  Remarque-Film,  den  Granowsky-Film  zeigten  mehr 
die  offentliche  Gefahr  als  ihre  heimlichen  Fortschritte,  Es 
wird  genug  Gutmeinende  geben,  die  das  Bestehen  einer  Zen- 
sur in  Deutschland  uberhaupt  bestreiten  werden.  Sehr  richtig, 
eine  nominelle  Zensur  gibt  es  in  Deutschland  nicht,  und  trotz- 
dem  fallen  Bucher  wie  Krauter  im  Maien,  trotzdem  wird  der 
Bereich  des  fur  publizistische  Behandlung  Moglichen  immer 
enger.  Die  deutsche  Zensur,  das  ist  einhochst  undurchsichti- 
ges  Kapitel,  das  den  Versuch  rechtfertigt,  in  diesem  Heft  der 
fWeltbiihne*,  wenn  auch  ohne  Anspruch  auf  Vollstandigkeit, 
iiber  ihre  Mittel  und  Wirkumg  AufschluB  zu  geben. 

Kiirzlich  ist  ein  bemerkenswertes  Buch  erschienen  „Der 
polizeiwidrige  Goethe",  eine  wirklich  aktuelle  Gabe  neben 
allzu  vielen  feierlichen  Papierkranzen.  Verfasser  ist  Professor 
H.  H.  Houben,  der  ausgezeichnete  Sammler  und  Redaktor 
von  Dokumenten  aus  dem  Vormarz.  Die  Lektiire  ist  ebenso 
erheiternd  wie  bestiirzend;  man  erfahrt  daraus,  wie  dem 
Olympier  mit  der  Zensorenschere  zugesetzt  wurde,  was  fur 
diimmliche  Verba llhornungen  er  sich  gef  alien  lassen  mufite,  und 
man  begreift,  was  fiir  Arger  er  sich  in  dem  beriihmten  Vers 
vom  Herzen  dichtete; 

Hafis  auch  und  Ulrich  Hutten 
muBten  fianz  bestimmt  sich  rusten 
wider  braun  und  blaue  Kutten; 
meine  jjehn  wie  andre  Christen, 

Der  Geheimerath  und  Antipolitiker  Goethe  war  weder  ein 
aufsassiger  Untertan  tioch  ein  unbarmherziger  Kritiker  be- 
stehender  StaatsordniUng.  Und  trotzdem  liegt  in  diesem  Vers 
die  deutliche  Erkenntnis  einer  miterlebten  Wandlung:  die 
Zensur  hatte  sich  sakularisiert,  sie  war  aus  Priesterhanden 
endgiiltig  an  die  weltliche  Macht  iibergegangen.  Der  feudali- 
stisch-bureaukratische  Staat  tarnte  sich  nicht  mehr  theolo- 
gisch  sondern  mit  romaniisch-reaktionaren  Philosophemen,  und 
die  herrschenden  Schichten  des  heutigem  demokratisch-bureau- 
kratischen  Staates  denken  noch  weniger  daran,  zur  Verteidi- 
gung  ihrer  sozialen  Position  den  lieben  Gott  zu  bemiihen. 
Allerdings  auch  keine  Philosophic   mehr;   ein  hochst   unmeta- 

1  463 


physischer  abcr  auch  juristisch  wenig  stichhaltiger  Ordnungs- 
begriff  geniigt,  urn  das  ehrwurdige  libcrale  Palladium  der  Ge- 
dankenfreiheit  axd  den  Kehricht  zu  werfen.  Unsre  Republik 
tragt  unter  ihrem  biirgcrlichen  Hauskleid  cine  Kombination 
yon  dickstem  Militartuch,  und  ein  Marquis  Posa,  dem  es  ein- 
fiele,  ihr  die  Wahrheit  zu  sagen,  wiirde  bei  seinem  zweiten 
Erscheinen"  kaum  ungemeldet  vorgeiassen  werden,  sondern 
schon  bei  der  ersten  Audienz  unter  den  Artikel48  fallen. 

In  der  Weimarer  Verfassung  heiBt  es  allerdings:  t,Jeder 
Deutsche  hat  das  Recht,  innerhalb  der  Schranken  der  allgemei- 
nen  Gesetze  seine  Meinung  durch  Wort,  Schrift,  Druck,  Bild 
oder  in  sonstiger  Weise  frei  zu  auBern".  Das  steht  da  so  schon 
voll  und  rund,  dafi  es  endlich,  entsprechend  intoniert,  von 
Richard  Tauber  gesungen  werden  sollte.  In  Wahrheit  gleicht 
jedoch  dieser  Artikelll8  noch  mehr  als  viele  andre  einem  je- 
ner  Palimpseste,  wo  der  alte  Text  durch  spateres  Gekritzel 
und  Schichten  von  Staub  und  Vogelleim  vollig  iiberdeckt  ist. 
Den  Zensor  mit  Rotstift  und  Schere,  dieses  ehrwurdige  Ge- 
spenst  mit  Zopf  und  Klebelocken,  gibts  nicht  mehr,  Dafiir  ist 
der  klare  Sinn  der  Konstitution  von  VerwaltungsmaBnahmen, 
Polizeiedikten,  lokalen  Verfiigungen  und,  zuletzt  nicht  weniger, 
von  Justizwillkur  bis  zur  LJnkenntlichkeit  uberklebt  worden- 
Und  als  ob  auch  das  nicht  gemigte,  kamen  endlich  die  Not- 
verordnungen!  um  die  letzten  formalen  Hemmnisse  zu  beseiti- 
gen.  „. . ..  meine  gehn  -vvie  andre  Christen."  Und  oft  auch  wie 
andre  Konfessionslose.  Sie  gehn  nicht  wie  Torquemada  son- 
dern wie  jeder  biirgerliche  Beamte,  wie  sozialdemokratische 
Polizeiprasidehten.  Es  gibt  keine  Znsur,  aber  es  gibt  Behor- 
denf  die  dieses  Buch  oder  jenen  Zeitungsartikel  staatsgefahr- 
lich  oder  fiir  gewisse  Volksschichten  verletzend  finden,  und 
sie  fischen  aus  den  ordmmgspolizeilichen  Bestimmungen  irgend 
eines  vermotteten  Landrechts  die  erforderlichen  Paragraphen. 

Gegen  eine  Zensur,  die  in  einer  dafiir  bestellten  und  be- 
zahlten  Amtsperson  ihre  Verkorperung  findet,  kann  man  kamp- 
fen.  Man  kann  sie  abschaifen.  Aber  was  ist  die  Zensur  in 
Deutschland?  Jeder  Gendarm,  jeder  Zollner,  der  AnstoB 
nimmt,  Jeder  Vereinsmufti,  der  sein  berufsstandisches  Ge- 
fiihl  gekrankt  sieht  und  einen  Magistrat  zu  mobilisieren  ver- 
steht,  Jede  alte  Moralvettel,  die  anonyme  Briefe  schreibt. 
Jeder  Stahlhelmpapa,  der  sich  iiber  ein  Drama  von  Toller  in 
der  Schulbibliothek  aufregt.  Jeder  besorgte  Herr  aus  dem 
Auswartigen  Amt,  der  auslandische  Empfindlichkeiten  ange- 
kratzt  sieht.  Jeder  Minister,  der  die  schlechte  Laune  seiner 
Koalitipnsfreunde  fiirchtet.  Und  notfalls  tritt  sogar  der  Schah 
yon   Persien  respektheischend   in  deutsche  Offizialbezirke   ein. 

So  mischen  sich  die  Motive  in  verwirrendster  Weise.  Es 
gibt  keine  Einheitlichkeit  der  Argumentation,  sondern  nur  eine 
Einheitlichkeit  des  Zugrifis.  Es  gibt  keine  MaBstabe,  sondern 
nur . ;  t  Riicksichten.  Auf  der  Borse  der  Couloirpolitik  haben 
Literatur  tind  Presse  nur  die  Bedeutung  von  Kompensations- 
objekten.  Niemand  weiB,  wie  viele  Zeitungen  beschlagnahmt, 
wie  viele  Verfahren  angestrengt  wurden,  nur  um  eine  Frak- 
tion  zu  bewegen,  einen  heiklen  Antrag  nicht  einzubringen. 

464 


Die  Zensur  ist  korperlos,  aber  sie  funktioniert  irotzdem, 
Und  dabei  war  die  politische  Parteipresse  niemals  so  dumm 
und  roh  wie  jetzt,  wo  sie  unter  Generaivormuridschaft  steht. 
Die  nationalsozialistischen  Blatter  bilden  eiae  einzige  Aufrei- 
zung  zum  Schadelspalten,  und  wenn  einmal  eingeschritten  wird, 
so  muB  zur  Gesellschaft  gleich  em  rotes  Blatt  mit.  Die  Storer 
jeglicher  Ordnung  und  Sicherheit  sitzen,  wie  zu  Kaisers  Zeiteii, 
links.  Nationalisms  und  Fascismus  fiihlen  selbst  noch  in  der 
Straie  eine  nonchalante  Hand. 

Der  preuBische  Ministerprasident  hat  in  seiner  letzten 
Landtagsrede  ausgeiuhrt,  die  iiberwaltigende  Zunahme  der  Hit- 
lerstimmen  in  Ostpreuflen  miisse  auf  die  verheerenden  Wir- 
kungen  eines  nationalistischen  Hetzroraans  zuriickgefuhrt  wer- 
den,  der  mit  unverantwortlichem  Leichtsinn  eine  polnische 
Invasion  an  die  Wand  malt.  Otto  Bratm  war  hof  lich  genug, 
nicht  hinzuzufiigen,  daB  es  sich  dabei  um  den  auch  von  uns 
charakterisierten1  Roman  „Achtung!  Ostmarkenfunk"  von  Hans 
Nitram  handelt.  Dieser  „Nitram"  ist,  wie  wir  vor  einigen 
Wochen  mitteilen  konnten,  ein  aktiver  Reichswehroffizier,  em 
Oberleutniant  Martin,  Adjutant  beim  Ausbildungs-Bataillon  des 
3.  (PreuBischen)  Infanterie-Regiments  in  Marienwerder.  Es  ist 
uns  nicht  zu  Ohren  gekommen,  daB  man  Nitram  so  behandelt 
hat  wie  etwa  einen  jungen  kommunistischen  Schriftsteller,  der 
seine  Parteigesinnung  episch  umzusetzen  versucht.  Der  Kurio- 
sitat  halber  sei  nur  erwahnt,  daB  anscheinend  auch  der  Heeres- 
leitung  die  literarisch  begabten  Offiziere  auf  die  Nerven  fal- 
len, denn  Herr  General  von  Hammerstein  hat  neulich  den  fol- 
genden  inhaltlich  wie  stilistisch  gleich  beachtlichen  Befehl 
herausgegeben;  ,,Die  MaBnahmen,  die  die  Schreibweise  im 
Heere  verringern  sollen,  schlieBen  den  hohern  Zweck  in  sich, 
die  Verantwortung  der  einzelnen  Personen  zu  scharfen  und 
die  Personlichkeitswerte  zu  heben/'  Das  ist  nun  wieder  etwas 
zu  allgemein  ausgedriickt  und  auch  zu  hart,  wenn  auch  die 
von  geringer  Schreibkundigkeit  zeugende  Hand  auf  ungeahnte 
Personlichkeitswerte  schlieBen  lafit.  Es  soil  ja  nur  den  Nitrams 
das  gemeingefahrliche  Maul  gestopft,  nicht  aber  ein  junger 
Kleist  oder  Liliencron  abgewiirgt  werden, 

,,Wehrfreudigkeit",  das  ist  das  neue  deutscjie  Evan- 
gelium.  Die  gegenwartige  Personalunion  zwischen  Wehrmini- 
sterium  und  Innenministerium  bietet  besondere  Chancen,  alles 
zu  verfolgen,  was  sich  dem  gewiinschten  Schema  anzubeque- 
men  weigert.  Die ,  letzte  Spezialitat  heiBt:  ,,Beschimpfung 
des  Soldatenstandes".  Wer  den  Krieg  als  Barbarei  bezeich- 
net,  wer  es  niederzuschreiben  wagt,  daB  Toten  das  Handwerk 
des  Soldaten  ist  und  bleibt,  der  macht  sich  straffaliig.  Da  hilft 
kein  Hinweis  auf  die  groBen  Religions-  und  Sitterilehrer  der 
Menschheit,  die  fast  alle  den  Krieg  verworfen  haben.  Eine 
allgemeine  Treibjagd  auf  die  Freunde  des  Fried  ens  und  die 
Lasterer  des  Waffenspiels  hat  eingesetzt,  AggressLven  Anti- 
militarismus  gibt  es  in  Deutschland  schon  lange  nicht  mehr, 
jetzt  wird  auch  die  abstrakte  akademische  Untersuchuxig  viber 
die  moralische  Legitimation  des  Soldatentums  ebenso  unter 
Straie  gestellt,  wie  die  kritische  Durchleuchtung  miliiaristi- 
scher  Machtanspriiche.     Nach  der   Weltbuhne'  ist  auch   gegen 

465 


das  ,TagebuchV  ein  Verfahren  eingeleitet  worden;  von  cincm 
bcsonders  bizarren  ProzeB  gegen  den  katholischen  Demokra- 
ten  Werner  Thormann  in  Frankfurt,  den  Herausgeber  der  ^eut- 
schen  Republik',  berichtet  Rudolf  Olden  an  andrer  Stelle. 

Die  Methodik  dieses  Feldzuges  gegen  die  unabhangige 
Presse  ist  nicht  zu  unterschatzen.  Zuerst  kamen  die  groBen 
Falle  dran,  die  grundsatzlichen  Auseinanderseizungen  mit  der 
Reichswehr  und  gewissen  bedenklichen  Experiment  en;  daswurde 
als  Landesverrat  angesehen  und  entsprechend  honoriert,  Jetzt 
geht  man  systematisch  daran,  die  bloBe  Skepsis  auszurotten, 
die  theoretischen  Zeugnisse  einer  andern  Denkart,  Wer  die 
kriegerischen  Tugenden  nicht  als  die  hochsten  auf  Erden 
schatzt,  ist  von  vornherein  verdachtig  und  lauft  Gefahr^  kon- 
fisziert  zu  werden.  So  soil  die  oflentliche  Meinuag  unifor- 
miert,  so  soli  der  Anschein  erweckt  werden,  als  herrschte  in 
alien  militarischen  Fragen  allgemeine  Obereinstimmung,  als 
ware  Deutschland  in  alien  seinen  Gliedern  wehrfreudig  wie 
noch  nie.  Und  wahrend  das  geschieht,  reist  Herr  Groener  mit 
dem  neuen  Goetheorden  geschmiickt  im  Lande  herum  und 
nimmt  das  Defilee  der  deutschen  Geistigkeit  ab.  Nord-  und 
siidliches  Gelande  ruht  im  Frieden  seiner  Hande. 

Nun  wird  der  Leser  hier  eine  begreifliche  Frage  einwer- 
fen;  1st  das  alles  dexm  wirklich  so  schlimm?  Man  merkt  doch 
wenig  davon!  Die  Blatter  bringen  ihre  Schlagzeilen  in  Partei- 
kolorit  wie  sonst.  Die  Regierung  wird  angegriffen;  Diesem 
Minister  wird  Unfahigkeit  vorgeworlen,  jenem  Schlappheit. 
Was  hat  sich  denn  unter  den  Notverordnungen  geandert? 

Der  Einwand  ist  richtig  formuliert  und  kann  ohne  Kulis- 
senkeiintnis  nicht  anders  formuliert  werden.  GewiB  wird  noch 
kritisiert  und  polemisiert,  aber  es  kommt  bei  jeder  Polemik 
doch  nicht  nur  auf  „Scharfe"  an,  sondern  auch  auf  Dichtigjceit. 
Die  offentiiche  Kritik  hat  ihre  Intensitat  verloren.  Und  vor 
allem:  man  darf  die  Zeitungen  heute  nicht  mehr  nach  dem 
beurteilen,  was  sie  bringen,  sondern  danach,  was  sie  ver- 
schweigen,  Keine  Linkszeitung  ist  heute  mehr  in  der  Lage, 
ihr  Material  so  wie  vor  einem  Jahr  noch  auszubreiten.  Die 
Wirkung  der  Zensur  ist  nicht  in  den  erreichten  Konfiskatio- 
nen  oder  gerichtlichen  Bestrafungen  zu  suchen,  iiberhaupt  nicht 
in  der  Quantitat.  Diese  Zensur  errichtet  Warnungszeichen,  sie 
will  zunachst  abschrecken.  Die  Konsequenz  fiir  die  Presse 
ist,  daB  ihr  ein  Thema  nach  dem  andem  entgleitet.  Sie  wagt 
nicht  mehr  an  bestimmte  Dinge  zu  riihren,  das  Risiko  ware  zu 
grofi.  Ein  verhangnisvoller  Vorgang,  denn  alles  vollzieht  sich 
unsichtbar.  Die  Dynamik  der  Zeitung  ist  die  gleiche  geblie- 
beii,  die  Substanz  aber  schwindet.  Der  Leser  merkt  von  alle- 
dem  wenig,,  denn  was  nicht  im  Blatt  steht,  das  gibt  es  nicht 

So  sinkt  die  Freiheit  der  Presse  langsam  in  sich  zusam- 
men,  nicht  nur  weil  das  im  Gesetz  der  kapitalistischen  Ent- 
wicklung  liegt,  das  ist  ein  andres  Stiick  und  soil  in  diesem  Zu- 
sammenhang  nicht  beriihrt  werden,  sondern  weil  der  immer 
mehr  diktatoriale  Formen  annehmende  Staat  in  jeder  fundier- 
ten  gegnerischen  Meinung  ein  Kardinalverbrechen  sieht.  Der 
Effekt  bleibt  nicht  aus.  Wir  kfinnen  ohne  Obertreibung  be- 
haupten,  daB  es  zum  Beispiel  seit  dem  LandesverratsprozeB 

466 


gegen  die  (Weltbiihne'  im  vergangenen  November  kaum  mehr 
eine  ernsthafte  Militarkritik  in  der  deutschen  Presse  gegeben 
hat.  Das  Exempel  hat  gewirkt.  *  Wer  hat  danach  noch  Lust, 
sich  die  Finger  zu  verbrennen?  Das  Reichswehrministerium 
hat,  was  es  wolite,  durchgesetzt.  Es  ist  seitdem  vor  lastigen 
Fragen  sicher.  Unter  den  berliner  Blattern  haben  sich  die 
,Berliner  Volkszeitun-g'  und  das  ,8-Uhr-Abendblatt'  nicht  ein- 
schiichtern  lassen,  das  verdient  ehrenvoll  hervorgehoben  zu 
werden.  Aber  jeder  Unterrichtete  weiB  auch,  daB  beide  wie- 
derholt  von  Verbotsgefahr  umwittert  waren. 

Heute  kann  auf  Grund  der  Notverordnung  jedes  Blatt  auf 
Wochen  und  Monate  verboten  werden.  Ein  Verbot  aber  kann 
unter  den  jetzigen  Verhaltnissen  kein  Verleger  auf  sich  neh- 
men,  kein  Redakteur  verantworten.  Denn  eine  Zeitung  oder 
Zeitschrift,  die  ein  privates  Unternehmen  ist  und  kein  Partei- 
unternehmen,  wird  ruiniert,  wenn  sie  fiir  drei  Monate  von  der 
StraBe  verschwindet.  Sie  wird  niemals  wiederkehren.  Die 
deutsche  Linkspresse  befindet  sich  in  einer  ungeheuren  Krise. 
Die  wirtschaf  tliche  Schrumpfung  bedroht  ihren  Lebensboden. 
Die  allgemeine  Unfreiheit,  die  Furcht  vor  Beschlagnahmen  und 
Prozessen  notigt  sie,  ihren  geistigen  Spielraum  einzuengen  und 
auf  den  besten  Teil  ihres  Intrumentars  zu  verzichten.  Heute 
wird  das  noch  durch  viel  Larm  verdeckt,  die  Dynamik,  wie 
gesagt,  ist  nicht  verandert;  noch  immer  riesige  Oberschriften, 
BiLder,  groBaufgemachte  Lokal-  und  Sportsensationen,  Film- 
skandale  und  Baby  Lindbergh,  Aber  eins  Tages  wird  der 
Leser  sich  doch  fragen,  warum  man  ihm  das  Wichtigste  und 
Bewegendste  seiner  Tage  vorenthalt,  er  wird  fragen,  warum 
seine  Zeitung  so  langweilig  geworden  ist. 

Das  ist  kein  freundliches  Bild,  das  wir  hier  voriiberziehen 
lassen,  und  wir  denken  auch  nicht  mit  einem  schon  rollenden 
Proteste  zu  schlieBen.  Unsre  Vater  noch  griindeten  Biinde  im 
Namen  Goethes  und  Lessings  und  beriefen  sich  mit  wehender 
Krawatte  auf  den  Geist  der  Klassiker.  Vorbei  die  Zeit  der 
liberalen  Notablen,  die  mit  echtem  Gefiihl  und  falschem  Vo- 
kabular  ihre  Verwahrungen  deklamierten.  Alles  ist  heute  sehr 
zugespitzt,  die  Dinge  stehen  bos  und  hart  gegeneinander,  Aus 
den  Kampfen  der  Geister  sind  niichterne  Klassenkampfe  ge- 
worden. Die  junge  aus  dem  Proletariat  steigende  Literatur  ist 
unpathetisch,  propagandistisch,  lehrhaft.  Sie  ist  noch  herzlich 
unbeholfen,  aber  sie  wird  auch  das  Singen  wieder  lernen,  und 
sie  wird,  vor  allem,  nicht  mit  Schikanen  aus  der  Zeit  Metter- 
nichs  zu  bandigen  sein.  Es  war  in  der  muffigsten  Reaktion 
des  Vormarz,  als  der  junge  Karl  Marx  diese  Bemerkung  nieder- 
schrieb:  ,,Man  muB  jede  Sphare  der  deutschen  Gesellschaft 
als  die  partie  honteuse  der  deutschen  Gesellschaft  schildern, 
man  mufi  diese  versteinerten  Verhaltnisse  dadurch  zum  Tanzen 
zwingen,  daB  man  ihnen  ihre  eigene  Melodie  vorsingt!"  Einmal 
werden  auch  die  deutschen  Verhaltnisse  wieder  zu  tanzen  an- 
fangen,  und  von  der  Klugheit  unsrer  Regierenden  wird  es  ab- 
hangen,  ob  dieser  Tanz  der  schone,  lustige  Wirbel  sein'wirdi 
mit  dem  eine  Generation  die  andre  ablost,  oder  der  Totentanz, 
mit  dem  eine  uberfallige  Gesellschaft  machtberauscht  und  ah- 
nungslos,  im  Bettelputz  ihrer  Illusionen  zu  Grabe  hiipft- 

a  467 


Preufienwahlen  —  und  was  dann? 

von  K.  L.  Gerstorff 

VjjT  ie  hat  man  in  PreuBen  bci  der  Reichsprasidentenwahl  ge- 
w    wahlt?   Es  erhielten  Stimmcn  (in  1000): 

Hindenburg  11022,  Hitler  6845,  Duesterberg  1825,  Thalmann  3725. 
Wahrend.  Hindenburg  im  ganzen  Reich  an  der  absoluten 
Majoritat  nur  hundert-  bis  zweihunderttausend  Stimmen  fehl- 
ten,  ist  er  in  PreuBen  von  der  Majoritat  viel  weiter  entfernt. 
Um  mehr  als  1,3  Millionen  Stimmen  sind  die  Gesamtzahlen  der 
gegnerischen  Kandidaten  starker.  Grade  in  PreuBen  wird  die 
Veranderung  der  Stimmenverhaltnisse  im  Vergleich  zum  alien 
Landtag  besonders  stark  sein;  denn  der  preuBische  Landtag 
ist  im  Mai  1928  gewahlt  worden.  Mit  den  Wahlen  von  1928 
hat  ten  die  Kandidaten  folgende  Stimmen  erhalten  (in  1000); 
Hindenburg  12  536,  Hitler  553,  Duesterberg  3275,  Thalmann  2237. 

Bei  den  Wahlen  von  1928  hatten  die  Parteien,  die  jetzt  fur 
Hindenburg  eingetreten  sind,  eine  Zweidrittelmajoritat.  Des- 
halb  war  in  PreuBen  eine  Regierung  sogar  ohne  die  Deutsche 
Volkspartei  moglich.  Es  ist  fraglos,  daB  nach  den  Wahlen  die 
Regierung  Braun-Severing  gestiirzt  werden  wird.  Hindenburg 
ist  bereits  um  1,3  Millionen  in  der  Minoritat  geblieben.  Weiter 
aber;  Prasidentschaftswahlen  sind  keine  Parlamentswahlen. 
Hindenburg  wahlten  die  Splitter  der  Rechtsparteien  und  die 
Volkspartei,  die  sonst  in  Opposition  stehen.  Den  Hindenburg- 
block  kann  man  schon  deshalb  nicht  der  bisherigen  PreuBenkoali- 
tion  gleichsetzen.  Und  auch  die  Kommunisten  werden  bei  den 
Landtagswahlen  voraussichtlich  besser  abschneiden  als  am 
13.  Marz.  Schon  bei  der  Prasidentenwahl  von  1925  erhielt  Thal- 
mann weniger  Stimmen  als  die  Kommunisten  bei  den  Reichstags- 
wahlen,  und  es  sind  fraglos  viele  Schichten  gewesen,  die  dieses 
Mai  fiir  Hindenburg  gestimmt  haben  —  bei  andern  Wahlen 
aber  kommunistisch  wahlen  —  in  dem  Glauben,  daB  durch  Hin- 
denburg die  fascistische  Gefahr  doch  noch  fiir  einen  bestimm- 
ten  Zeitraum  gebannt  werden  kann,  Das  Stimmverhaltnis  wird 
also  fiir  die  Parteien  der  Weimarer  Koalition  in  PreuBen  noch 
ungiinstiger  sein.     Was  ist  die  Folge? 

Die  Weimarer  Koalition  kann  nicht  wiederkehren,  Auf  der 
andern  Seite  ist  es  ebenso  fraglos,  daB  die  Front  von  Harzburg, 
auch  wenn  sie  durch  rechte  Splittergruppen  und  Deutsche 
Volkspartei  verstarkt  wird,  fiir  den  preuBischen  Landtag  keine 
Majoritat  erlangen  kann.  Wie  in  Hessen,  wird  daher  auch  in 
PreuBen  das  Zentrum  zur  Majoritat  notwendig  und  somit  das 
Zunglein  an  der  Wage  sein.  Das  Zentrum  wird  zunachst  wohl 
in  keine  Koalition  mit  den  Nazis  g«hen,  Es  wird  ihnen  Bedin- 
gungen  stellen  ahnlich  wie  in  Hessen,  die  die  Nazis  um  ihrer 
S.A.  willen  ablehnen  miissen.  Ein  Beamtenkabinett  ist  die 
wahrscheinlichste  Losung.  Nachdem  durch  die  imxner  starkere 
Abwalzung  der  Arbeitslosenlasten  auf  die  Stadte  die  kommu- 
nale  Seibstverwaltung  immer  mehr  zerstort  wird,  ware  es  man- 
chen  Reaktionaren  gewiB  nicht  unangenehm,  wenn  auch  die 
Landerverwaltung  von    innen    heraus    immer    mehr  unterhohlt 

468 


wurde.  Was  die  Landerregierungen  an  Macht  verlieren,  ge- 
winnt  das  Reichsministerium  dcs  Innern.  Scin  diktatorischc 
Machtfuile  verstarkt  sich  immer  mehr. 

Trotzki  hat  jiingst  gcschriebcn,  daB  eine  passende  Analogic 
ftir  die  Situation  im  deutschen  Kapitalismus  eine  Pyramide  sei, 
auf  deren  Spitze  sich  eine  Kugel  befiridet,  Sie  konnte  jeden 
Augenblick  aui  einer  von  beiden  Seiten  herabrollen.  Bisher  hat 
die  Briining-Regierung  zu  balanzieren  gesucht.  Der  Ausgang 
der  Prasidentenwahl  scheint  ihr  die  weitere  Balanzierung  zu 
erleichtern.  Sie  wird  auch  nach  den  Preufienwahlen  weiter  zu 
balanzieren  suchen,  Sie  wird  versuchen,  weiter  den  legalen 
Faseismus  zu  organisieren,  ohne  zunachst  die  Nazis  in  die  Re- 
gierung  zu  nehmen.  Denn  es  ist  gut,  wenn  die  nachste  Not- 
verordnung  von  Sozialdemokraten  und  Gewerkschaften  tole- 
riert  wird.  Hitler  in,  Opposition  ist  dafiir  gunstiger  als  in  der 
Regierung. 

Natiirlich  werden  auch  mit  Hitler  in  der  Opposition)  die 
Beziehungen  nicht  ganz  unterbrochen.  Severing  geht  gegen 
die  Nazis  vor  und  Groener  empfangt  ihre  Abgeordneten.  Die 
,Germania*  gefallt  sich  in  sehr  scharfen  Tonen  gegen  die  Nazis. 
Aber  wie  lange  noch,  wenn  sich  die  Krise  weiter  zuspitzt? 

In  den  letzteri  Wochen  hat  man  nicht  mehr  mit  Hitler  ge- 
fruhstiickt.  Bis  zu  den  Preufienwahlen  wird  man  es  auch  nicht 
tun.   Aber  dann  wird  der  Tisch  bald  wieder  gedeckt  sein. 


Schutz  den  Militarmarschen!  von  Rudolf  oiden 

I  Jber  die  Zensur,  die  itach  der  braven  alten  Verfassung  ,,nicht 
^  stattfindet",  wird  man  sich  spater,  sehr  viel  spater  einmal 
die  Hucke  voll  iachen.  Wer  weifi,  ob  die  zukiinftigen  humo- 
ristischen,  Betrachter  unsrer  Reaktion  das  geniigende  Ver- 
standnis  dafiir  haben  werden,  wie  sehr  uns  dabei  zum  Weinen 
war.  Folgendes  hat  sich  zur  Erheiterung  unsrer  Enkel  und  zu 
unsrer  Beschamung  begeben: 

Am  12.  Mai  1931  ftihrte  der  Musikschriftsteller  Hans  Winge 
in  einem  Rundfunkvortrag  uber  ,,AuBenseiter  der  Schallplat- 
tenproduktion",  nachdem  er  eine  Reihe  von  folkloristischen 
Musikstiicken  zum  Vortrag  gebracht  hatte,  chinesische,  java- 
nische,  agyptische,  spanische,  spaniolische  und  endlich  auch 
den  MErzherzog-Albrecht-Marsch"  des  k.  u.  k,  Hoch-  und 
Deutschmeister-Infanterieregiments  Nr.  4  vor  und  sagte:  „Es 
klang  ein  wenig  wie  aus  dem  Grabe,  diese  ganze  martialische 
Pracht,  und  nicht  nur,  weil  die  Aufnahme  schon  so  lange  her 
ist;  wir  wollen  uns  nichts  vbrmachen . . ." 

Ein  Privatmann,  der  Diplom-Ingenieur  A.  Bachmann.  aus 
Berlin-Schoneberg  (das  heifit  wenn  es  ihn  gibt),  schrieb  am 
J4.  Mai  an  das  Reichswehrministerium: 

Zttr  beliebigen  Verwertung  teile  ich  Ihnen  folgendes  mit:  . , .  Im 
unmittelbaren  AnschfuB  an  die  Vorfiihrung  einiger  flatten  mit  Neger- 
musik  ging  der  Vortragende  ohne  logische  Verbindung  auf  Militar- 
marsche  iiber.  Es  wurde  zuerst  der  Marsch  eines  brand enburgischen 
Regiments  gespielt;  die  Trompeter  legten  nach  dem  Blasen  desselben 

469 


ihre  Trompeten  fort  und  verbanden  die  Verwundeten  mit  ihren  Ver- 
bandpackchen,  glossierte  der  Vortragende  diesen  Marsch.  Dann  muBte 
der  Marsch  des  sehr  beliebten  wiener  Regiments  „Hoch-  und  Deutsch- 
meister**  daran  glauben,  gespielt  auf  einer  fiinfundzwanzig  Jahre 
alten  Platte,  wie  der  Vortragende  hinzuftigte.  Es  klang  auch  danach. 
Im  AnschluB  an  diesen  Marsch  nun  bemerkte  der  Vortragende:  —  un- 
gefahr  wie  oben  — . 

Die  letzten  sechs  Worte  wurden  mit  hochmutiger,  wegwerfender 
Betonung  gesprochen,  Mir  scheint,  dafi  das  Militar,  reprasentiert 
durch  die  Reichswehr,  verachtlich  gemacht  wird,  wenn  es  vom  groB- 
ten  Rundfunksender  Deutschlands  aus  als  eine  begrabene  Sache  be- 
zeichnet  wird.    HochachtungsvolL 

In  der  Zcit  unsrer  Jugcnd,  unter  dem  liberalen  Regime 
Kaiser  Wilhelms  IL,  hatte  man  das  genannt:  ,,vom  wilden  Sol- 
daten  gebissen".     Heute  wird  man  sich  hiiten. 

Ehiiges  hat  der  Herr  Anzeiger  (im  Telephonbuch  steht  er 
nicht)  in  den  Vortrag  gradezu  hineinphantasiert.  Weder  von 
einem  brandenburgischen  Marsch  noeh  von  Verbandpackchen 
war  die  Rede.  Das  hochmutige  Wegwerfen  hatte,  wie  die 
Musikabteilung  der  Berliner  Funkstunde  berichtet,  auch  nur 
der  Diplom-Ingenieur  (oder  Pseudonymus)  empf  unden,  Man  darf 
sich  wundern,  daB  er  nicht  auch  die  Handbewegungen,  das 
Mundverziehen  und  Augenplinkern  Winges  geschiidert  hat. 

Nun  gehts  weiter.  Der  Herr  Reichswehrminister  bittet  am 
16.  Mai  den  Herrn  Reichsminister  des  Innern  urn  Stellung- 
nahme.  Noch  am  selben  Tag  antwortet  der  Herr  Reichs- 
minister des  Innern  dem  Herrn  Reichswehrminister,  er  habe 
den  Programmleiter  der  Funkstunde  verstandigen  lassen,  t,daB 
die  beanstandete  AuBerung  des  Herrn  Winge,  selbst  wenn  die- 
sem  auch  jede  Absicht,  die  deutsche  Reichswehr  verachtlich 
zu  machen,  ferngelegen  habe,  recht  unnotig  gewesen  sei,  und 
ciaB  er  ferner  seinen  Vertreter  {im  UberwachungsausschuB)  be- 
auftragt  habet  darauf  hinzuwirken,  daB  derartige  Bemerkungen 
im  Rundfunk  kiinftig  unterbleiben." 

Der  Herr  Reichsminister  des  Innern,  das  war  damals  der 
Doktor  Josef  Wirth.  Einstmals  rief  er  im  Reichstag:  Der 
Feind  steht  rechts!  Jetzt,  also  vor  einem  Jahr,  muBte  er  es 
fuhlen,  wie  nah  ihm  die  Rechte  auf  die  Haut  geriickt  war.  Der 
Herr  Reichswehrminister  liberweist  ihm  die  Eingabe  des 
Diplom-Ingenieurs  nicht  ,,zustandigkeitshalber",  sondern  zur 
,,Stellungnahme'\  Und  die  Zurechtweisung,  die  er  dem  Vor- 
tragenden  erteilte,  wird  ihm  selbst  peinvoller  gewesen  seinf  als 
dem  Zurechtgewiesenen. 

Die  ,Deutsche  Republik*,  die  Doktor  Josef  Wirth  einmal, 
v/ahrend  des  Kampfs  gegen  den  ,,Besitzburgerblock"  mit  Lobe 
und  Ludwig  Haas  gegriindet  hatte,  schrieb  am  20,  Juni  unter 
dem  Titel   ,,Militarzensur*': 

Doch  das  Reichswehrministerium  scheint  wenig  oder  gar  unbe- 
schaftigte  Referenten  zu  haben,  die  sich  mit  den  schwachsinnigen  Zu- 
schriften  kleiner  fascistischer  Bierbankpolitiker  ungebuhrlich  ernst 
und  gewissenhaft  befassen^  Es  liegt  sogar  der  SchluB  nahe,  daB  solche 
sachlich  abscheulichen  Zuschriften  in  den  Herzen  der  Bureau-Ma j ore 
ein  nicht  lediglich  amtliches  Echo  finden  . . .  Und  dafur  werden  die 
Steuergroschen    der    notleidenden    Bevolkerung   vergeudet,    dafur;    zur 

470 


Finanzierung  einer  gehelmen  Militarzensur,  die  sich  vor  ihren  ge- 
schichtlichen  Vorbildern  nur  durch  Einfalt  und  AnmaGung  aus- 
zeichnet. 

Als  Minister  war  Wirth  nicht  mehr  Herausgeber  der  Zeit- 
schrift.  Der  Reichswehrmmister  stellte  fur  seine  Referenten 
Strafantrag  gegen  den  Redakteur  Doktor  Werner  Thormann, 
und  die  Staatsanwaltschaft  erhob  die  Offizialklage, 

Gegen  diese  Anklage  hat  sich  Herr  Thormann  mit  vielen 
guten  Argumenteri  gewehrt:  HerrWinge  habe  nur  alsMusik- 
asthet  gesprochen,  weil  doch  keine  Truppe  mehr  mit  Marschen 
gegen  Giftgas  und  Tanks  marschiere,  nicht  als  Politiker,  Dann: 
er  habe  die  Referent  en  nicht  getroffen,  sondern  das  Regime. 
Er  habe  auch  deshalb  nicht  beleidigt,  weil  er  iiberhaupt  keine 
Beleidigungen  zum  Druck  befordert  habe.  Scdann,  der  Schutz 
des  §  193  stehe  ihm  zur  Seite,  denn:  ein  demokratischer  Publi- 
cist miisse  eben,  urn  leben  zu  konnen,  demokratische  Kritik 
tiben,  es  sei  auch  seine  Pflicht,  das  zu  tun,  und  die  Verfassung 
garantiere  ihm  das  Recht  darauf. 

Endlich  hat  er  sich  auf  den  Papst  und  auf  den  Kelloggpakt 
und  auf  den  Kardinal  Faulhaber  berufen,  die  alle  nicht  sauber- 
Hch  vom  Krieg  reden.  Faulhaber  erst  kiirzlich:  „Der  Nimbus 
der  Uniform  und  Militarparade  ist  verblaBt,  Die  alten  Kriegs- 
lieder  konnen  ruhig  zum  alien  Eisen  im  Kriegsministerium  ge- 
kgt  werden , .  ."  Wenn  ein  Vortragender  vom  Reichswehr- 
ministerium  zur  Rechenschaft  gezogen  wird,  hat  Thormann  ge- 
sagt,  weil  er  Meinungen  auBert,  die  ein  kirchlicher  Oberhirt 
vertritt,  dann  miisse  er,  Dolctor  Thormann,  ein  katholischer 
Publizist,  sich  mit  *aller  Kraft  dagegen  wehren.  Die  Anklage, 
sagte  er,  verschleiefeT  ,,daB  das,  was  Herr  Winge  gesagt  hati 
nicht  nur  seine  und  aller  verniinftigen  Leute  Meinung,  sondern 
zugleich  Glaubensgut  der  katholischen  Kirche  ist,  und  daB  das 
Reichswehrministerium  zur  Durchsetzung  seiner  Wehrhaftig- 
keitsideologie  sich  nicht  nur  mit  alien  modern  und  freiheitlich 
Denkenden  in  Widerspruch  befindet,  sondern  einen  haretischen 
und  kulturkampferischen  Standpunkt  vertritt." 

Ja,  und  dann  hat  ihn  das  Gericht  verurteilt 

Was  man  aber  dazu  sagen  soil?  Ich  schlage  vor,  man 
werfe  die  Augen  klagend  gen  Himmel  und  rufe:  So  weit  sind 
wir  gekommen.    Mir  wenigstens  bleibt   die  Spucke  weg. 

Wie  weit?  So  weit,  daB  Kirchenfiirsten  in  der  Welt- 
geschichte  nicht  bekannt  als  Vorkampfer  freiheitlicher  Ge- 
sinnung,  bald  die  einzigen  sind,  die  noch  anklagend  das  Wort 
ergreifen  gegen  die  Tyrannis.  Aber  schon  ihre  Anhanger 
haben,  obwohl  Bruning  und  Schmidt,  der  preuBische  Justiz- 
minister,  treue  Katholiken  sind,  in  puncto  puncti  nichts  zu 
bestellen. 

Gar  wir? 

Das  habe  ich  mir  nicht  traumen  lassen,  daB  ich  einmal 
hinter  dem  Kardinal  Faulhaber  Deckung  nehmen  werde,  Aber 
ich  tue  es  und  lasse  ihn  das  SchluBwort  sprechen:  „V6lker,  die 
vor  dem  Frieden.  Angst  haben,  statt  vor  dem  Kriege,  miiBten 
aus  der  Liste  der  Kulturvolker  gestrichen  werden." 

471 


Reemtsma  kauft  von  t.  h.  Tetens 


Wir  verweisen  den  interessierten  Leser  auf  die  Artikel  von 
Tetens,  die  in  den  Nummern  46  und  52  de&  Jahres  1929  und  in 
der  Nummer   5  dieses   Jahres  veroffentlicht  worden  sind. 

/"IJeneralstaatsanwalte  an  die  Front!"  So  lautet  dcr  viel- 
w  sagende   Titel   einer  Broschiire,  die   der  Zigarettenkonig 

Philipp  Reemtsma  neben  andern  Manuskripten  'durch  Mittels- 
manner  fiir  einige  hunderttausend  Mark  aufkaufen  lieB.  Wir 
haben  hier  den  etwas  ungewohnlichen  Fall,  daB  ein  bekannter 
Wirtschaftsmann  aufschluBreiche  Bilder  iiber  Gliick  und  Auf- 
stieg  seines  Hauses  mit  Hilfe  grofler  Schweigegelder  angstlich 
als  Geheimnis  htiten  mochte,  ein  Vorgang,  der  auch  General- 
staatsanwalte  stutzig  machen  sollte, 

Dem  Aufienstehenden  drangen  sich  immer  wieder  drei  Fra- 
gen  auf: 

Wie  konnte  sich  eine  kleine,  vor  ein  ein  Jahrzehnt  noch 
fast  unbekannte  Firma  in  der  Zeit  von  1924  bis  1928  zur 
Zentralmacht    des    deutschen    Zigarettentrusts   entwickeLn? 

Warum  riihrt  sich  keine  amtliche  Stelle,  warum  versagt 
der  Staatsanwaltv  obwohl  seit  Jahren  schwere  Anschuldigungen 
nicht  nur  gegen  das  System  Reemtsma  und  seine  Manager  son- 
dern  auch  gegen  dessen  Proteges  in  hohen  Amtsstellen  yor- 
gebracht  werden? 

Was  veranlaBt  Herrn  Reemtsma,  in  zahlreichen  Fallen 
durch  groBe  Sum  men  Schweigen  zu  erkaufen? 

Die  letzte  Frage  glaubte  Reemtsma  im  karlsruher  ProzeB 
mit  der  Vorsorge  fiir  seine  Marken  beantworten  zu  miissen,  da 
ihm  fiir  diese  angeblich  ,,kein  wirksamer  Rechtsschutz  zurVer- 
fiigung  stehe",  Im  deutschen  Zigarettengewerbe  ist  aber 
Reemtsma  als  gewiegter  Praktiker  zur  Erlangung  einstweiliger 
Verfiigungen  bekannt  genug,  und  er  muB  demnach  durch 
Schweigegelder  und  nStillhaltevertrage1'  Dinge  zu  schiitzen 
suchen,  fiir  die  er  die  Gerichte  ungern  mobil  machen  mochte. 

Im  Reichswirtschaftsrat  war  man  sich  schon  1928  daruber 
im  klaren,  daB  Reemtsma  nicht  nur  die  fahrlassig  gehandhabten 
Tabaksteuergesetze  sondern  auch  durch  einfluBreiche  Be- 
ziehungen  die  maBgebenden  Stellen  der  Reichsfinanzverwaltung 
riicksichtslos  fiir  das  Machtstreben  seines  Konzerns  aus- 
nutzte.  Durch  eine  raffiniert  ausgeklugelte  Methode  wurde  auf 
scheinbar  legalem  Wege  Reemtsmas  Eroberungszug  mit  alien 
Kraften  gefordert,  wahrend  in  derselben  Zeit  der  groBte  Teil 
der  deutschen  Zigarettenindustrie  durch  den  Machtapparat  des 
Reichfinanzministeriums  den  TodesstoB  erhielt.  Wahrend 
sich  der  Zigarett entrust  mit  150  bis  200  Millionen  Mark  zins- 
losen  Steuerkrediten  vollsaugte,  wurden  zahlreiche  lebens- 
fahige  Betriebe,  soweit  sie  nicht  im  Reemtsma-Konzern  auf- 
gingen,  systematisch  der  Liquidation  und  dem  Konkurs  iiber- 
antworteL  Einzelne  Phasen  dieser  Entwicklung,  so  das  Ta- 
baksteuer-Ermachtigungsgesetz  von  1925  und  die  beriichtigte 
Maiverfiigung  von  1927,  zeigten  in  der  Praxis  Auswirkungeri< 
die  anstandige  Kaufleute  nur  mit  unparlamentarischen  Aus- 
driicken  charakterisieren  wurden. 

472 


In  dcr  Kette  von  Begiinstigungen,  Irrefiihrungen,  Be- 
stechungen  und  Schicbungen  iiberschneiden  sich  fortgcsctzt 
Unkorrektheiten  mit  strafbaren  Vorgangen: 

1,  Reemtsma  hat  den  Machtapparat  dcr  deutschen  Finanz- 
und  Zollbehorden  zur  rcchtswidrigen  Forderung  seiner  priva- 
ten  Interessen  eingespannt  und  miBbraucht,  und  zwar  im  ge- 
meinsamen  Zusammenspiel  mit  dem  vereidigten  und  vom 
Reichsfinanzministerium  eingesetzten  Treuhander  und  Buch- 
priifer  „Doktor"  Hans  Schulte.  Der  , .Treuhander"  verwaltete 
im  Interesse  Reemtsmas  das  ehrbare  Amt  eines  Generalhenkers 
iiber  die  freie  deutsche  Zigarettenindustrie,  aber  nach  auBen 
zeichnete  fiir  alles  verantwortlich:  das  Reichsfinanzministerium! 

2,  nDoktor"  Schulte  wurde  von  Ministerialdirektor  Ernst 
Parlamentariern  gegenuber  als  ,,Pers6nIichkeit  von  groBer 
Sachkenntnis"  ausgegeben,  und  das  zu  einer  Zeit,  als  es  im 
Reichsfinanzministerium  schon  langst  bekannt  war,  daB  der 
^Treuhander'1  sein  Amt  zu  iibelsten  Praktiken  miBbrauchte. 
Selbst  als  Schultes  Erpressungen  bekannt  wurden,  griff  das 
Reichsfinanzministerium  nicht  ein.  Trotzdem  schon  1927  vor 
Schulte  eindringlich  in  der  Fachpresse  gewarnt  wurde,  hat  das 
Reichsfinanzministerium  es  fertig  gebracht,  ihn  als  Gutachter 
fur  Tabaksteuer-  und  Wirtschaftsfragen  dem  Reichswirtschafts- 
rat  zu  prasentieren. 

3,  Diese  (,Personlichkeit  von  groBer  Sachkenntnis"  hat  in 
fortgesetzter  Zusammenarbeit  mit  Komplizen  erhebliche  Ver- 
mogenswerte  des  deutschen  Fiskus  beiseite  geschafft.  Heute 
sitzt  dieser  Vertrauensmann  des  Reichsfinanzministeriums  mit 
rund  zehn  Millionen  Mark  fluchtig  in  Paris.  Im  karlsruher 
ProzeB  wurde  Schulte  von  Ministerialrat  Schroder  in  befremd- 
licher  Weise  gedeckt. 

4,  Seit  langer  Zeit  verschiebt  der  Tabaktrust  Reemtsma- 
David  Schnur  seine  Gewinne  durch  kunstlich  uberhohte  Roh- 
tabakpreise  ins  Ausland,  die  von  Sachkennern  auf  etwa  60  bis 
70  Millionen  Mark  jahrlich  geschatzt  werdem.  Die  zustandigen 
fiskalischen  Stellen  bemerken  nichts. 

5<  Reemtsma  hat  sich  der  dauernden  Zahlung  von  Be- 
stechungs-,  Schmier-  und  Schweigegeldern  zur  Durchfuhrung 
ungesetzlicher  Handlungen  und  zur  Erlangung  von  Sondervor- 
teilen  schuldig  gemacht. 

6.  Reemtsma  hat  sich  in  den  Jahren  1924  bis  1926  durch 
betrugerische  Handlungen  Millionenbetrage  rechtswidrig  ver- 
schafft  Nach  dem  amtlichen  Protokoll  war  im  HaushaTtsaus- 
schuB  Mder  Vertreter  des  Reichsfinanzministeriums  gezwungen, 
den  Vprgang  bei  der  Zigarettenfabrik  Reemtsma  hundertpro- 
zentig  zu  bestatigen",  Eine  strafrechtliche  Ahndung  ist  aber 
bis  heute  nicht  erfolgt,  ebensowenig  wurden  die  in  den  Tabak- 
steuergesetzen  vorgesehenen  StrafmaBnahmen  durchgefiihrti 

1,  Reemtsma  hat  heimlich  die  vom  Fiskus  gepfandeten  Bat- 
schari-Aktien  von  Borg  fiir  2,4  Millionen  gekaufl  Im  Haus- 
haltsausschuB  erklarte  der  friihere  Reichsfinanzminister  Dok- 
tor  Kohler,  daB  „die  Beamten  des  Ministeriums  sich  in  ihrer 
beamtenmaBigen  Ehrlichkeit  und  Gradheit  von  Borg  haben  ein- 
wickeln  ;lassen'\  Ministerialdirektor  Ernst  muBte  dabei  zu- 
^eben,  MdaB  moglicherweise  Borg  das  Reichsfinanzministerium 

473 


geleimt  hat*'.  Wean  das  Hcrr  Borg  aus  Danzig  schon  konnte, 
wie  mussen,  es  da  erst  Reemtsma,  ltTreuhander"  Schulte  und 
der  Zigarettensyndikus  Rcgierungsrat  a.  D.  Doktor  FKigler  ge~ 
triefoen  haben! 

8,  Herrn  Doktor  Fliiglers  Praktikcn  und  Duzfreundschaften 
im  Reichsfinanzministerium  brachten  dem  Hause  Reemtsma 
vielfacben  Millionensegen.  Gerichtsnotorisch  steht  jedenfalls- 
fest,  daB  Fliigler  durch  Angaben,  „dic  der  Wahrheit  nicht  ent- 
sprochen  haben",  dem  Reichsfinanzministerium  eine  von  ihm 
abgefaBte  Verfiigung  entlockt  hat,  durch  die  Reemtsma  sich 
um  Millionenbetrage  bereicherte.  Durch  ReichstagsbeschluB' 
wurdc  spater  diese  ungesetzliche  Verfiigung  aufgehoben, 

9,  Zwei  unabhangig  von  einander  urteilende  Landgerichte 
haben  in  umfangreichen  Begriindungen  Herrn  Reemtsma  at- 
testiert,  daB  sein  geschaitliches  Gebaren  und  wirtschaftliches 
Machtstreben  wider  die  guten  Sitten  verstoBt.  Im  karlsruher 
ErpresserprozeB  wagte  jedoch  der  Zeuge  Reemtsma  folgende 
Aussage;  „Nur  durch  einwandfreie  kaufmannische  Methoden 
und  durch  Tiichtigkeit  haben  wir  unser  Unternehmen  groB  ge- 
macht,  Alle  gegenteiligen  Behauptungen  erklare  ich  hier  unter 
meinem  Eid  ftir  schmutzige  Liige'\ 

10,  Die  Gebruder  Borg,  die  das  dunkle  Batscharigeschaft 
mit  Reemtsma  gefingert  haben,  erleichterten  in  wenigen  Mona- 
ten  den  deutschen  Fiskus  um  funf  Millionen  Mark,  Ministerial- 
rat  Schroder  muBte  in  Karlsruhe  zugeben,  daB  Max  Borg 
schwere  Untreue  begangen  habe.  Trotzdem  betreibt  einer  der 
Bruder  Borg  jetzt  eine  Zigarettenfabrik  in  Offenbach  und  soil 
dabei  mit  ansehnlichen  Steuerkrediten  gesegnet  sein,  Wu  ist 
das  moglich  —  weiB  er  zu  viel? 

In  der  deutschen  Wirtschaft  beginnt  jetzt  grade  ein  GroB- 
reinemachen.  Da  sollte  das  Kapitel  Reemtsma  nicht  iibergan- 
gen  werden.     HGeneralstaatsanwalte  an  die  Front!" 

Die  Verfolgung  der  Literatur 

in  der  Deutschen  Republik  von  waitner  Karscn 

C  s  soil  hier  nicht  protestiert  werden.  Proteste  haben  ihre 
Wirkumg  verLoren,  Es  sind  doch  immer  wieder  Dieselben, 
die  zum  xten  Male  betonen,  daB.  sie  nmit  Entrustung  von  dem 
Verbot  Kenntnis  genommen  haben  und  aufs  allerscharfste  Ver- 
wahrung  dagegen  einlegen",  Lassen  wir  das,  es  wird  da  oben 
im  Hochstfall  zur  Kenntnis  genommen,  um  daim  zu  denAkten 
zu  wandern,  Es  ist  ein  nutzloses  Unterfangen,  den  Zensoren 
ins  Gewissen  zu  rederi.  Die  Angst,  die  aus  alien  ihren  MaBnah- 
men  spricht,  zeigt  zu  deutlich,  daB  sie  nicht  gewillt  sind,  den  Ar- 
gumenten  der  Vemunft  Gehor  zu  schenken.  Sie  verteidigen 
ein  System  und  wenden  eben  dabei  je  nach  der  Situation  die 
ihnen  am  geeignetsten  erscheinenden  Mittel  an,  Der  poli- 
tische  Kampf  hat  sich  verscharf  t,  ergo  verscharf  en  sich  seine 
Methoden,  Wer  das  erkannt  hat  und  weiB,  daB  dem  and-ern 
jedes  Machtmittel  und  uns  nur  die  Oberzeugung  vom  Sieg  unsrer 
Anschauungen  zur  Verfiigung  steht,  wird  alien  Protest  als  ver- 
lorene   Liebesmuh   ansehn.     w ichtiger   ist   daher,    des   Zensors 

474 


Spuren  in  seinem  Jagdrevier  zu  verfolgen;  nachzuforsch.cn,  wie 
er  seine  MaBnahmen  rechtlich  unterbaut;  zu  untersuchen, 
ob  seine  Beute  wirklich  die  Tatbestandsmerkmale  aufweist, 
die  zu  ihrer  Erlegung  fiihrten. 

Von  der  Unmasse  der  Zeitungsverbote,  die  in  ihrer  Mehr- 
zahl  die  kommunistische  Presse  betroffen  haben,  kann  hier 
nicht  die  Rede  sein,  weil  ihre  Behandlung  mehr  als  eine  ganze 
Nummer  der  ,Weltbiihne'  fiillen  wiirde.  Der  Kuriositat  halber 
sei  nur  erwahnt,  daB  sogar  die  ,Moskauer  Rundschau'  ein 
paarmal  PolizeimaBnahmen  iiber  sich  ergehen  lassen  muBte; 
und  zwar  geschah  dies  in  Bayern  und  -in  Baden.  Dabei 
attestierte  unter  dem  23.  September  1931  die  Polizeibehorde 
von  Traunstein  der  Zeitschrift: 

Ihr  ausschlieBlicher  Zwcck  ist  nach  ihrem  Inhalt,  den  Umsturz 
auch  im  Gebiet  des  Deutschen  Reiches  herbeizufiihren  und  die 
russische  Staats-  und  Wirtschaftsform  einzurichten.  Sie  gefahrdet  da- 
her  die  offentliche  Ordnung  und  Sicherheit. 

Unmoglich  kann  der  Verfasser  dieses  Ukas'  das  Blatt 
richtig  gelesen  haben,  denn  sonst  miiBte  er  wissen,  daB  die 
,Moskauer  Rundschau'  als  ein  durchaus  wissenschaftliches 
Organ  anzusprechen  ist,1  das  in  instruktiver,  oft  recht  trocke- 
ner  Weise  iiber  die  Aufbauarbeit  in  RuBIand  berichtet.  Doch 
der  Kollege  von  der  Polizeidirektion  Nurnberg-Furth  ist  der 
gleichen.  Ansicht  wie  der  Machthaber  iiber  die  9300  Einwoh- 
ner  von  Traunstein,  auch  ihm  ist  das  ,,russische  Muster"  an- 
scheinend  ein  rotes  Tuch,  gegen  das  unbedingt  alle  verfugbaren 
MaBnahmen  getroffen  werden  miissen.  :  Eine  Extratour  leistet 
sich  das  Innenministerium  von  Baden.  Zu  einer  Verbots- 
beschwerde  erklart  es:  Weil  auf  den  Exemplaren  ,,weder  ein 
im  Inland  liegender  Verlagsort,  noch  ein  fiir  den  Inhalt  verant- 
wortlicher  Redakteur  angegeben"  sei,  fehle  „der  ,Moskauer 
Rundschau'  die  Eigenschaft  einer  periodischen  Druckschrift". 
Weil  aber  das  Kind  schlieBlich  einen  Namen  haben  muB,  wird 
mit  messerscharfer  Logik  aus  der  eindeutig  periodischen  Druck- 
schrift  auf  einmal  ein  Flugblatt  politischen  Inhalts  gemacht, 
das  auf  Grund  des  §  10  Abs.  2  der  Notverordnung 
vom  28.  Marz  1931  vierundzwanzig  Stunden'vor  der  Verteilung 
der  Polizei  vorgelegt  werden  miisse.'  Ist  dasj  nun  Hilf- 
losigkeit  oder  bewuBte  Vertuschung  der  wahren  Griinde? 
Wiirde  namlich  diese.  Praxis  Platz  greifen,  dann  konnten  alle 
auslandischen  Zeitungen  ihren  Vertrieb  nach  Deutschland  ein- 
stellen,  weil  doch  auch  diese  Blatter  keinen  im  Inland  lieigen- 
den  Verlagsort  angeben.  Und  sowas  nennt  das  badische 
Innenministerium  Heine  Sach-  und  Rechtslage",  bei  der  es  ,,un- 
erortert  bleiben"  konne,  „ob  die  (von  dem  beschwerdefuhren- 
den  Abgeordneten  Bock)  angefochtene  MaBnahme  nicht  auch 
noch  aus  andern  Griiniden  gerechtfertigt  ist". 

Verschiedene  Stadte  veranstalteten  richtiggehende  Poli- 
zeirazzien  auf  politisch  anriichige  Literatur,  In  Augsburg 
lieBen  dabei  die  Beamten  einmal  2450  billige  Schriften  mit- 
gehen,  worunter  sich  solche  befanden,  von  denen  jeder  Mensch 
weiB,  nur  eben  die  bayrische  Polizei  nicht,  daB  sie  niemals 
Gegenstand  eines  Verbotes  waren.  Macht  nichts:  Verfasser- 
namen  wie   Stalin,   Titel   wie    ,,Volksgesundheit'\    „Wo   bleibt 

3  475 


der  zwcite  Mann?",  „40  Tage  im  Dienste  der  JAH"  sind  hin- 
rcichcnd  verdachtig,  urn  die  Beschlagnahme  zu  rechtfertigen* 
In  Miinchen  muBten  sogar  Hirschfeld-Linserts  „Empfangnis- 
verhutung"  und  Otto  Riihles  „Kultur  und  Sittengeschichte  des 
Proletariats*'  den  W-eg  ins  Presidium  antreten,  obwohl  die 
Notverordnungen  iiber  AnstoCigkeit  bisher  nichts  aussagen, 
Damit  ihr  aber  nicht  glaubt,  so  was  komme  nur  in  dem  fins  tern 
Bayern  vor,  sei  euch  verraten,  daB  der  stettiner  Polizeirat 
Nitz  Stalins  Rede  „Neue  Lage,  neue  Aufgaben"  und  die 
Schrift  ,,Wie  sie  hetzen"  ebenfalls  konfiszieren  lieB  und, 
auf  die  Ungesetzlichkeit  seiner  MaBnahme  hingewiesen,  er- 
klarte,  er  miisse  sich  erst  einmal  in  Berlin  erkundigen,  ob  , 
nicht  doch  etwas  ,,Staatsgefahrliches"  in  dent  Broschuren  ent- 
halten  sei.  Sicherlich  mit  eingekniffenem  Schleppsabel  lieB 
er  am  nachsten  Tage  die  Hefte  den  Eigentiimern  wieder  aus- 
handigen, 

Besonders  hart  werden  die  theoretischen  Schriften  ins 
Gebet  genommen.  Wir  haben  es  ja  oft  gentig  erleben  miissen, 
daB  Zeitungen,  die  Marx-,  Engels-  oder  Lenin-Zitate  brachten, 
der  Beschlagnahme  verfielen,  obwohl  doch  jeder  diese  Zitate 
in  den  Schriften  der  betrelfenden  Autoren  nachlesen  kann. 
In.  den  ,Antworten*  der  tWeltbuhne'  wurde  schon  einmal  dar- 
auf  hingewiesen,  daB  sich  dieser  scheinbare  Unsinn  sehr  leicht 
erklaren  laBt,  An  die  teuren  Biicher  kann  der  Proletarier 
fiir  gewohnlich  nicht  heran,  also  werden  diese  ungeschoren 
gelassen;  aber  man  sorgt  wohlweislich  dafiir,  daB  er  ihren  In- 
halt  auch  nicht  in  geringern  und  also  billigern  Dosen  zu  sich 
nehme,  und  unterdruckt  einfach  die  betreff enden  Zeitungsnum- 
mern  oder  Broschuren,  die  solche  unbeliebten  Zitate  aufweisen. 
Am  deutlichsten  zeigt  sich  dies  bei  dem  Verbot  der  militar- 
politischen  Schriften  Lenins.  Der  Internationale  Arbeiter-Ver- 
lagt  dem,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  die  Paragraphen  der 
Notverordnungen  das  Leben  besonders  sauer  machen,  hat  eine 
Zusammenstellung  all  der  Stellen  aus  den  Werken  von  Engels 
und  Lenin  besorgen  lassen,  die  sich  mit  militar-politischen 
Fragen  beschaftigen.  Beim  ersten  Band,  den  Darlegungen  von 
Engels,  fand  die  Zensur,  bisher,  nichts  auszusetzen.  Dagegen 
stiirzte  sie  sich  auf  Band  II,  in  dem  die  entsprechenden 
AuBerungen  Lenins  iiber  die  Zeit  von  1905  bis  1918  wieder- 
gegeben  word  en  sind.  Gegen  das  durch  den  berliner  Polizei- 
prasidenten  fiir  ganz  PreuBen  ausgesprochene  Verbot  erhob 
der  Verlag  Einspruch  —  naturlich  nutzlos.  Der  Oberprasident 
der  Provinz  Brandenburg  schloB  sich  unter  dem  4.  Dezember 
1931   den  Argumenten  der  Zensurbehorde  an: 

Das  Buch  ist  scheinbar,  wie  auch  in  seinem  Namen  zum  Aus- 
druck  gebracht  wird,  aus  Abhandlungen  von  Engels  und  Lenin  zu- 
sammengestellt.  In  Wirklichkeit  spielt  jedoch  der  verbindende  Zwi- 
schentext,  die  zusammengesetzten  Titel,  Bemerkungen  und  t)ber- 
gange  eine  derartigc  Rolle,  daB  von  einem  selbstandigen  originaren 
Werk  gesprochen  werden  muB.  Ebenso  ist  auch  die  scheinbar  histo- 
rische  Form,  namlich  die  Behandlung  der  Ereignisse  von  1905  bis 
1918,  nur  der  Rahmen,  hinter  dem  sich  in  Wirklichkeit  eine  auf  un- 
mittelbare  praktische  Zwecke,  namlich  die  Vorbereitung  revolutio- 
narer  Handlungen,  gerichtete  Belehrung  und  Anweisung  aufbaut, 
Bei   der  ganzen   Struktur   der   kommunistischen   Bewegung,   vor  allem 

476 


ihrer  Wehrverbande,  wird  kein  diesen  Kreisen  entstammender  Leser 
dieses  Buch  als  ausschlieftlich  historische  Abhandlung  lesen,  son- 
dern  er  wird  die  Schilderung  und  Kritik,  die  die  Revolutionshand- 
lungen  von  1905,  die  Februar-  und  Oktober-Revolution  erfahren,  als 
unmittelbare  Kritik  und  Belehrung  auch  fiir  von  ihm  zu  treffende 
Mafinahmen   ansehen. 

Unterlassen  wir  es,  uns  die  aufgefiihrten  Stellen,  die  dem 
Verbot  die  Unterlagen  liefern  mu6tent  naher  zu  betrachten,  Es 
mag  geniigen,  zu  wissen,  daB  es  sich  hier  nicht  um  eine  „schein- 
bare"  Zusammenstellung  handelt  sondern  um  cine  tatsach- 
liche;  daB  der  geringe.  Zwischentext  ebenso  wie  die  Tiiel  nur 
dazu  dienen,  den  historischen  Aufbau  zu  ermoglichen;  daB  von 
kommunistischen  „Wehrverbanden"  schon  deshalb  nicht  die 
Rede  sein  kan>nf  weil  der  Rote  Frontkampferbund  ja  langst 
verboten  ist;  und  daB  die  meisten  revolutionaren  Handlungen 
der  Zukunft  mit  ganz  andern  Tatsachen  zu  rechnen  haben 
werden,  als  sie  Lenin  zur  Beurteilung  vorlagen.  Der  Herr  Ober- 
prasident  hatte  sich  mit  seiner  Begriindung  ruhig  etwas  mehr 
Miihe  geben  konnen.  Das  haben  die  Behorden offenbar  nicht 
notig.  Da  erscheint  vor  Jahren  eine  RGO-Broschiire  „Streik" 
von  Losowski.  Keine  polizeiliche  Stirn  runzelt  sich.  miB- 
billigend.  Als  aber|  das  Heft  in  der  zweiten  Auflage 
einen  etwas  knalligen  Umschlag  und  den  Titel  „Streik* 
als  Massenschlaoht"  erhalt,  springt  dies  der  Obrigkeit  so 
heftig  in  die  Augen,  daB  sie  die  Schrift  vor  ihrer 
Bestimmung,  weiter  verbreitet  zu  werden,  durch  eine  Be- 
schlagnahme  bewahrt.  Die  Delinbarkeit  der  Notverordnungs- 
paragraphen  macht  auch  hier,  wie  in  jedem  andern  Fall,  die 
Einspruchsmoglichkeiten  illusorisch. 

P.  Langers  Broschiire  „Der  Massenstreik  im  K ample  des 
Proletariats'*  (wiederum  Intemationaler  Arbeiter-Veriag)  for- 
dert  nach  der  Ansicht  des  berliner  Polizeiprasidiums  „zum 
Ungehorsam  gegen  Gesetze  oder  rechtsgtiltige  Verordnungen 
oder  die  innerhalb  ihrer  Zustandigkeit  getroffenen  Anordnun- 
gen  der  verfassungsmaBigen  Regierung  oder  der  Behorden" 
auf ;,  nach  welcher  Weisheit  auf  Grund  einer  eingehenden  und 
bei  Gott  nicht  unkritischen  Lektiire  gefragt  werden  muB,  ob 
der  Streik  heute  noch  ein  erlaubtes  Mittel  im  Klassenkampf  ist 
oder  nicht.  Denn  diese  Schrift  iibt  in  scharfster  Form  Kritik 
an  den  bisherigen  Streikbewegungen  und  gibt  Richtlinien  fiir 
derartige  Aktionen,  falls  sie  sich  in  Zukunft  wiederholen 
sollten.  Das  verstoBt  gegen  die  „Gesetze"?  Mir  scheint,  dies 
Verbot  verstoBt  gegen  ganz  etwas  andres.  Langer  spart  nicht 
mit  schweren  Vorwiirfen  gegen  die  reformistische  Gewerk- 
schaftsbureaukratie.  Derem  politische  Freunde  sitzen  im  ber- 
liner Polizeipr&sidium.  Wie  leicht  kann  dadurch  die  Objek- 
tivitat  getriibt  werden. 

Mit  Zitaten  aus  Werken  von  Marx,  Engels,  Lenin  etcetera, 
mit  Gedichten,  Photos  und  Bildreproduktionen  mahnt  jeden 
Tag  der  t,Illustrierte  Arbeiter-Kalender"  (Carl  Hoym,  Ham- 
burg) den  Proletarier  an  die  Erfiillung  seiner  sozialistischen 
Pflicht.  Kein  Wunder,  daB  des  Zensors  Schere  fast  in  jedem 
Jahr  dem  Kind,  kaum  daB  es  geboren  ist,  den  Lebensfaden  ab- 
schneidet.    Warum  dies  auch  mit  dem  Kalender  fiir   1932  ge- 

477 


schah,  hat  Axel  Eggebrecht  in  Nr.  2  der  .Weltbuhne'  ausfiihr- 
lich  dargelegt. 

In  dcr  Nachbarschaft  der  theoretischen  Schriften  haust 
die  Memoiren-Literatur.  Der  Mopr-Verlag  hat  in  diinnen 
20-Pfeirnig-Heftchen  ein  paar  Episoden  aus  der  Arbeiterbe- 
wegung  darstellen  lassen.  Die  preuBische  Zensur,  also  Berlins 
Polizeiprasident,  dessen  Verbote  ja  fur  ganz  PreuBen  Giiltig- 
keit  haben,  hat  sich  an  den  Heftchen  bisher  nicht  vergriffen. 
Dagegen  sind  sie  den  stuttgarter,  den  chemnitzer  und  den 
nurnberg-further  Behorden  unangenehm  aufgefallen,  wovon  wir 
in  den  Antworten  (1931/51  und  1932/8)  Kunde  gaben.  Alles 
Notwendige  wurde  zwar  dort  bereits  gesagt,  die  Willkiir  die- 
ser  MaBnahmen  ist  aber  so  arg,  daB  wir  noch  einmal  zitieren 
wollen,  wie  sich  auf  eine  Beschwerde  die  Kreishauptmann- 
schaft  von  Chemnitz  zu  Kobayashis  ,,15.  Marz"  auBerte: 

Die  Priifung  dcr  Druckschrift  ergibt,  daB  zwar  in  ihr  japanischc 
Vorgange  geschildert  werden,  daB  aber  die  Tendenz  der  Schilderung 
eine  Aufreizung  der  Anhanger  der  kommunistischen  Idee  gegen  die 
jetzt  bestehenden  Verfassungen  nicht  bloB  in  Japan,  sondern  auch 
in  alien  Landern,  die  kommunistisch  nicht  regiert  werden,  bezweckt. 
DaB  sie  auch  gegen  die  Verfassung  des  Deutschen  Reiches  und  seiner 
Lander  aufreizen  will,  ergibt  sich  schon  daraus,  daB  sie  ins  Deutsche 
iibersetzt  worden  ist  und  im  Deutschen  Reiche  verbreitet  werden  soil. 

Angeblich  mit  Vernunft  begabte  Wesen  waren  es,  die  die- 
sen  horrenden  Unfug  dem  beschwerdefuhrenden  Verlag,  als 
,,Begrundung"  offerierten.  DaB  sich  die  Kreishauptmann- 
schaf t  dabei  auch  noch  auf  ein  angeblich  von  der  Polizei- 
direktion  Niirnberg-Furth  erlassenes  Verbot  der  Erzah- 
lung  Kobayashis  bezieht,  wo  die  Bayern  sich  doch 
grade  auf  Schapowalows  Erinnerungen  an  Lenin  versteift 
batten,  kennzeichnet  sowohl  den  Grad  der  angerichteten  Ge- 
miilsverwirrung  als  auch  die  schlampige  Art,  mit  der  solche 
Dinge  en  bagatelle  behandelt  werden. 

Drei  Bande  seiner  Reihe  (,Der  Rote  1-Mark-Roman" 
muBte  sich  der  Internationale  Arbeit er- Verlag  (schon  wieder!) 
wegnehmen  lassen.  Von  prinzipieller  Wichtigkeit  ist  dabei,  was 
die  letzte  Instanz,  das  PreuBische  Oberverwaltungsgericht,  uber 
Hans  Marchwitzas  MSturm  auf  Essen*  ausfuhrte.  Diese  Ent- 
scheidung  soil  darum  in  ihren  wesentlichen  Punkten  gesondert 
abgedruckt  werden. 

Ein  weiteres  Zensuropfer  aus  dieser  Romanserie:  Walter 
Schonstedts  ,,Kampfende  Jugend".  Ein  paar  Schilderungen  iiber 
ZusammenstoBe  zwischen  jugendlichen  Kommunisten  und 
Nazis,  eine  mehr  als  zahme  Kritik  an  der  politischen  Justiz: 
diese  Geringfiigigkeiten,  im  ganzen  vier  Stellen  aus  einem 
mehr  als  hundert  Seiten  starken  Buch,  muBten  herhalten,  um 
das  Verbot  zu  „begrunden".  Die  Kritik,  die  der  Autor  von 
sich  aus  an  den:  geschilderten  TerrormaBnahmen  iibt,  hat  der 
Herr  von  Werder  wahrscheinlich  gar  nicht  erst  gelesen.  Die 
Rotstiftstriche  des  Sachbearbeiters  geniigten  ihmt  das  Erst- 
lingswerk  eines  jtingen  kommunistischen  Arbeiters  auf  den 
Scheiterhaufen   zu  werfen. 

Mit  besonderer  und  auch  verstandlicher  Sorgfalt  hat  sich 
die  Polizei  in  Klaus  Neukrantzs  dokumentarischen  Roman  iiber 

478 


die  Maitage  von  1929  „Barrikaden  am  Wedding"  hineingelesen. 
Das  Verbot  vom  2.  Juni  1931  fiihrt  nicht  weniger  als  ftinfzehn, 
sich  teils  iiber  mehrere  Seiten  erstreckende,  Stellen  an,  ,,in 
denen  Organe,  Einrichtungen  der  berliner  Polizei  und  das 
Polizeiprasidium  Berlin  als  Behorde  des  Staates  iiberhaupt  be- 
schimpft  und  boswillig  verachtlich  gemacht  werden".  §  1 
Ziffer  2  der  Notverordnung  vom  28,  Marz  1931  hat  den  Text 
hierzu  geliefert.  Ich  kann  wahrhaftig  nicht  zugeben,  dafi  die 
durch  Dokumente  jederzeit  zu  belegenden  Darstellungen  je- 
manden  „beschimpfen"  oder  gar  ,,b6swillig  verachtlich  machen". 
War  es  nicht  so,  wie  Neukrantz  es  da  schildert?  Hat  Zorgie- 
bel  nicht  im  .Vorwarts'  schon  vor  dem  1.  Mai  die  Schuld  an 
den  kommenden  Ereignissen  den  Kommunisten  zuschieben 
wollen?  Waren  nicht  unter  den  verpriigelten  und  erschossenen 
Opfern  auch  Unbeteiligte?  Wurde  nicht  ein  amtlicher  Bericht 
herausgegeben,  in  dem  es  hieB,  daB  ,,Dachschutzen"  Schupos 
die  Karabiner  aus  den  Handen  geschossen  haben,  ohne  daB 
einer  von  den  Polizisten  verletzt  wurde?  Ich  weifi:  die  offent- 
liche  Meinung,  wie  sie  damals  auch  in  der  fWeItbuhne'  zum 
Ausdruck  kam,  und  die  Ansicht  der  Polizei  iiber  die  Frage 
der  Schuld  an  den  Vorgangen  und  iiber  diese  selbst  gehen 
weit,  sehr  weit  auseinander.  Aber  ein  Verbot,  die  Vorgange 
darzustellen,  loscht  diese  Diskrepanz  nicht  aus,  macht  diesen 
ersten  Mai  nicht  vergessen.  Das  Polizeiprasidium  hatte  bes- 
ser  daran  getan,  die  Schatten  des  Jahres  1929  nicht  noch  ein- 
mal  heraufzubeschworen. 

Und  damit  in  dieser  blutig-ernsten  Sache  die  Komik  nicht 
zu  kurz  kommt:  unter  den  aufgefiihrten  Stellen  findet  sich  auch 
jene,  wo  erzahlt  wir,d,  wie  eine  Delegation  von  drei  Bau- 
arbeitern  nach  einem  vergeblichen  Versuch,  bis  zu  Zorgiebel 
vorzudringen,  dem  Polizeivizeprasidenten  WeiB  ihre  .  Aufwar- 
tung  macht  und  ihn  beschwort,  das  Demonstrationsverbot 
aulzuheben.  WeiB  windet  sich,  und  als  ihn  der  Eine  fragt,  was 
er  denn  iiber  das  Verbot  denke,  antwortet  er:  „. , .  wenn  ich 
sagen  soil,  was  ich  denke.;.?  —  Ich  denke  iiberhaupt  nicht!" 
Derselbe  WeiB  setzte  seine  Unterschrift  unter  das  Dokument, 
das  den  weitern  Vertrieb  des  Buches  unterband.  Finden  Sie 
das  nicht  ein  bifichen  peinlich,  Herr  Polizeivizeprasident? 

. . .  bleibt  zu  bedenken,  daB  es  ein  grofier  Unterschied  ist,  ob 
diese  Gedichte  ein  jedes  fiir  sich  allein  in  einer  Zeitung  oder  in 
einer'  andem  Druckschrift  gelegentlich  eingestreut  worden  ist  oder 
ob  diese  Gedichte  in  einem  umfassenden  besonderen  Gedichtband  in 
die  Offentlichkeit  gebracht  werden.  In  der  Ftille  der  in  der  Be- 
schlagnahmeverfiigung  am  SchluB  angegebenen  Seiten  mit  Gedichten 
liegt  das  Entscheidende.  Der  unbefangene  Leser  der  Druckschrift 
erhalt  den  Eindruck,  daB  in  der  Druckschrift  ganz  planmaBig  die 
Klassengegensatze  und  der  KlassenhaB  und  die  politischen  Leiden- 
schaften  aufgepeitscht,  die  Gefiihle  der  Rachsucht  entfesselt  und  die 
Neigung  zur  Ausschreitung  gefordert  werden.  Eine*  solche  Ansamm- 
lung  tind  Veroffentlichung  von  aufhetzerischen  und  am  Ende  die 
Leser  zu  einem  neuen  politischen  Umsturz  reif  machenden  Gedichten 
ist  grade  in  der  heutigen  Zeit  der  politischen  Hochspannung  nicht  zu 
dulden.  Ihr  muB  mit  alien  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  entgegenge- 
treten  werden,  da  sie  eine  Gefahrdung  der  offentlichen  Sicherheit 
und  Ordnung  ist.  Demnach  ist  auch  der  Tatbestand  des  §  2  Abs.  1 
der  Verordnung  vom   10.  August   1931  gegeben. 

479 


In  einem  solchen,  Stil  sprach  der  Oberprasident  der  Pro- 
vinz  Brandenburg  am  12.  Februar  1932,  und  die  „Roten  Signale" 
(Neuer  Deutscher  Verlag)  diirfen  nun  endgiiltig  nicht  mehr  er- 
tonen,  (Guter  —  nicht  strafbarer!  —  Rat  an  die  Leser  der 
.Arbeiter-Illustrierten':  Schneidet  euch  die  Gedichte  aus,  klebt 
sie  auf,  heftet  alies  zusammen,  dann  habt  ihr  eine  Lektiire,  in 
die  euch  kein  Zensor  hineinreden  kann.  Der  Verlag  darfs 
allerdings  nicht  machen.  Deni  wird  das  Klebehandwerk  ge- 
legt.)  Ignaz  Wrobel  hat  hier  (1931/52)  iiber  das  Verbot  be- 
richtet.  In  seiner  Verfugung  notierte  damals  der  Zensor  fein 
sauberlich  die  Seitenzahlen,  auf  denen  die  Gedichte  zu  finden 
waren,  die  seinen  Unwillen  erregt  hatten.  Da  sieht  man 
zum  Beispiel  auf  der  Seite  32  im  Bilde  die  zer- 
hackten,  blutigen  Gesichter  von  zwei  Verbindungsstuden- 
ten,  und  Theobald  Tiger  hat  ihnen  ein  paar  liebe- 
volle  Verse  gewidmet.  Das  darf  nicht  sein,  und  alles  andre 
auch  nicht*  Regierung,  Reichswehr,  Polizei,  Justiz,  Religion, 
WaHenstudententum  —  sie  sind  tabu,  und  wehe  dem  Kritiker, 
der  sich  an  sie  heranwagt,  Die  Machthaber  verstopfen  sich 
die  Ohren  vor  den  gellenden  Pfiffen  der  Satire  und  lassen  den 
unangenehmen  Gesellen  das  Maul  verbinden.  Es  muB  doch 
sehr  wacklig  um  diese  Gesellschalt  stehn,  wenn  ihre  Repra- 
sentanten  so  nervos  auf  den  Stuhlen  herumrutschen  und  gleich 
deri  Rotstift  spitzen,  macht  einer  unzarte  Bemerkungen  iiber 
die  Giite  dieser  Gesellschaft. 


Verbote,  Verbote,  Verbote  —  und  fast  immer  nur  nach 
links,  Auf  dem  rechten  Aiuge  sind  die  Exekutoren  der  herr- 
schenden  Machte  anscheinend  blind,  was  wohl  daran  liegt,  daB . 
man  von  dieser  Seite  genau  weiB,  sie  wird,  wenn  es  hart^  auf 
hart  geht,  keinerlei  Schwierigkeiten  machen,  sie  wird  ihre 
Pflicht  als  allergetreuste  Opposition  Seiner  Majestat  des  Kapi- 
talismus  erfiillen.  Immer  nur  nach  links.  Aber  bei  alledem 
hat  man  das  trostliche  BewuBtsein:  in  Sturmzeiten  war  das 
nie  anders,  und  doch  haben  die  Metterniche  nicht  gesiegt. 


„Sturm  auf  Essen"  vor  der  hochsten  lnstanz 

Im  vergangenen  Sommer  lieB  der  berliner  Polizeiprasident 
das  schnell  bekannt  gewordene  Buch  „Sturm  auf  Essen"  des 
jungen  kommunistischen  Schriftstellers  Hans  Marchwitza  auf 
Grund  der  Notverordnungen  beschlagnahmen.  Der  1929  er- 
schienene,  in  mehreren  Tageszeitungen  abgedruckte,  in  funf- 
zehntausend  Exemplaren  verbreitete  Roman  sollte  zwei  Jahre 
spater  plotzlich  Sicherheit  und  Ordnung  gefahrden.  Der  Inter- 
nation-ale  Arbeiter-Verlag  hat  durch  Rechtsanwalt  Doktor 
Apfel  beim  PreuBischen  Oberverwaltungsgericht  Klage  er- 
hoben.  Diese  Klage  ist  kiirzlich  vom  Dritten  Senat  unter  Vor- 
sitz  des  Prasidenten  Doktor  Drews  abgelehnt  worden.  In 
Anbetracht  der  besondern  Bedeutung  dieses  Urteils  fur  die 
gesamte  Literatur  drucken  wir  im  folgenden  den  groBern  Teil 

480 


der  Urteilsbegriindung  ab.  Vorausgeschickt  werden  muB  aller- 
dings,  daB  auch  dieses  Verdikt  die  Ratselfrage  nicht  lost,  was 
erlaubt,  was  verboteni  ist,  Wir  erfahren  immerhin  daraus,  daB 
dem  beschlagnahmten  Roman  „eine  vollstandige  Anleitung  fur 
die  praklische  Fiihrung"  des  Burgerkriegs  zu  entmehmen  sei, 
was  allein  das  polizeiliche  Vorgehen  rechtfertige,  Weiter  wird 
der  Einwand  des  kiinstlerischen  Wertes  mit  der  diirren  Be- 
merkung  abgetan,  die  Form  des  Werkes  bilde  nur  die  auBere 
Hiille  staatsfeindlicher  Absichten,  Wir  mac  hen  uns  anheischig, 
mit  einer  solchen  Argumentation  Hauptstiicke  unsrer  Klassi- 
ker,  wie  den  „Gotz",  „Die  Rauber*',  nFiesco"  oder  ,,Tell" 
auf  ihre  Verbotswiirdigkeit  zu  untersuchen  und  ihre  staats- 
gefahrlichen  Merkmale  festzustellen.  I>as  PreuBische  Ober- 
verwaltungsgericht  hat  zwar  sehr  fleiBig  gearbeitet,  aber  trotz- 
dem  der  Jurisprudenz  kein  Fest  bereitet.  Wenn  es  indessen 
Brauch  werden  sollte,  an  Hand  dieser  Entscheidung  die  klas- 
sische  und  moderne  Literatur  zu  untersuchen,  so,  bietet  sich 
wenigstens  die  Aussicht  auf  ein  recht  amiisantes  Gesellschafts- 
spiel, 

* 

Die  Schrift  schildert  an  der  Hand  der  Erlebnisse  einer  Anzahl 
von  Bergleuten  und  Arbeitern  den  Aufstand  der  Ruhrarbeiter  im 
Marz  1920  und  dessen  Zusammenbruch.  Als  Motiv  des  Aufstandes 
wird,  wenn  auch  vorwiegend  nur  in  Andeutungen,  die  Ausheutung 
der  Arbeiter  durch  die  Besitzenden,  die  Unertraglichkeit  ihres  Da- 
seins  gekennzeichnet  (S.  8,  13,  3l,  95,  112,  128),  Als  Fiihrer  erschei- 
nen  die  vom  KlassenbewuBtsein  und  Kampfesmut  erfiillten  Angehori- 
gen  der  Unabhangigen  Sozialdemokratie  und  die  Mitglieder  des  Spar- 
takusbundes,  als  Vorbild  die  Vorkampfer  der  russischen  Revolution 
(vgL  S.  101,  112 ff„  128).  Die  Vertreter  des  Burgertums  und  der  Re- 
vierpolizei  werden  als  Feiglinge  (S.  20,  66,  92),  die  den  Arbeitern 
gegeniiberstehenden  Schutzpolizisten  und  Sol  da  ten  als  erbarmungslose 
Unmenschen  geschildert,  die  die  besiegten  Gegner  oder  auch  ganzlich 
Unbeteiligte  bestialisch  ermorden  (S.  7,  72,  120,  122,  142,  154)  und 
Gefangene,  Frauen  und  harmlose  Passanten  feige  miBhandeln  (S.  20, 
21,  23,  27,  37,  54,  57,  58,  155—57,  159),  Von  den  Vertretern  der  Ar- 
beiterschaft  werden  sie  demgemaB  wiederholt  mit  den  argsten  Schimpf- 
worten  bedacht  (S,  33,  34,  35,  60  usw,).  Das  Auftreten  unsauberer 
Elemente  und  Plunderer  in  den  Reihen  der  Arbeiter  wird  zwar  er- 
wahnt,  aber  mehr  episodisch  behandelt,  der  moralische  Nimbus  der 
Fiihrer  dadurch  erhoht,  dafi  sie  sich  dieser  Elemente  energisch  entle- 
digen  (S.  76  ff.,  108  ff.).  Als  Ziel  wird,  wiewohl  ebenfalls  nur  in  un- 
deutlichen  Umrissen,  die  Machtubernahme  durch  das  Proletariat,  die 
endliche  Befreiung  der  Arbeiterschaft  von  dem  Elend  ihres  bisherigen 
Daseins,  hingestellt  (S.  16,  113,  149),  Stets  aber  wird  betont,  daB 
dieses  Ziel  nur  mit  auBerster  Zahigkeit  und  Energie  und  nur  durch 
Waffengewalt  erreicht  werden  kann-  Zutreffend  verweist  der  Polizei- 
prasident  auf  den  SchluB  des  Buches,  der  diesen  Gedanken  in  fol- 
genden  Worten  zusammenfaBt: 

,,Die  tausend  Grabber  der  roten  Ruhrrebellen  werden  stets  der 
Wegweiser  sein  fiir  die  frischen,  roten  Bataillone,  die  wir  neu  for- 
mieren  werden,  Genosse!  Der  Prolet  wird  wieder  eines  Tages  mit 
seinen  Fausten  in  die  Rader  greifen,  die  Gewehre  an  sich  reiBen! 
Dann  gibt  es  keinen  Waffenstillstand  mehr,  Wir  werden  die,  die 
ihn  predigen,  in  die  Ruhr  werfen,  Wir  werden  die  Schwatzer  aufs 
Maul  schlagen,  Nur  eins  wird  sprechen:  Unsre  Gewehre," 
Gegeniiber  dem  Einwand  der  Klagerin,  daB  es  gentigt  hatte,  wenn 
die  Streichung  dieses  SchluBabsatzes  gefordert  worden  ware,  ist  her- 

481 


vorzuheben,  dafi  derselbe  nur  die  Gedankengange  wiederholt,  die  auf 
fast  alien  voraufgehenden  Seiten  bereits  Ausdruck  gefunden  haben,  so 
dafi  seine  Streichung  die  Wiirdigung  des  Werkes  vom  polizeilichen 
Standpunkt  aus  nicht  zu  andern  vermochte. 

1st  somit  das  Buch  nach  seiner  Grundtendenz  offensichtlich  dar- 
auf  eingestellt(  den  Gedanken  des  Biirgerkriegs  im  Sinne  kommunisti- 
scher  Ideengange  zu  vcrherrlichen  und  zu  verbreiteu,  so  gibt  es  ande- 
rerseits  gleichzeitig  eine  vollstandige  Anleitung  fur  die  praktische 
Fuhrung  eines  derartigen  Kampfes,  Es  stellt  gewis&ermafien  ein 
knapp  gefafites  Handbuch  der  Taktik  des  Burgerkriegs  dar.  DieDar- 
stellung  der  Kampfhandlungen  in  alien  ihren  Einzelbeiten  fullen  viele 
Seiten,  Der  Strafienkampf  (S.  61 — 72,  76 — 80),  die  Ersturmung  be- 
setzter  Gebaude  (S.  72 — 75,  81,  89—91),  der  Kampf  im  offenen  Ge- 
lande  (S.  116 — 141),  die  Sprengung  einer  Briicke  (S.  153)  werden  ge- 
schildert.  Fur  das  Verhalten  gegeniiber  der  Verwendung  der  ver- 
schiedenen .  Waf f engattungen  auf  Seiten  des  Gegners  werden  Anlei- 
tungen  gegeben  (S.  23,  116,  130  ff.,  135)*  Die  Fragen  der  Versorgung 
mit  Gewehrem,  Handgranaten,  Maschinengewehren  und  der  -  dazu- 
gehorigen  Munition  (S.  29,  30,  60,  61,  152),  der  Beschaffung  von 
Kraftwagen  (S.  89,  96  ff .) ,  der  Verproviahtierung  und  Bekostigung 
(S.  66  ff.,  99  f£J,  der  Sorge  fur  die  Verwundeten  (S.  84,  98),  der  Ver- 
wahrung  der  Gef angenen  (S.  64,  1 19) ,  der  Beschaffung  von  Geldmit- 
teln  (S.  94)  werden  erortert,  Insbesondere  die  Notwendigkeit  der 
Bewaffnung  wird,  wie  erwahnt,  unausgesetzt  hervorgehoben  (S.  17,  23, 
24,  29,  30,  44,  65,  110,  149,  151). 

In  Zeiten,  in  denen  die  politischen  Gegensatze  aufs  Aufierste  ver- 
scharft  sind  und  der  auf  der  Gesamtbeit  des  Volkes  lastende  wirt- 
schaftlicbe  Druck  den  Wunsch  nach  einer  gewaltsamen  Veranderung 
irgendwelcher  Art  in  breiten  Kreisen  wach  werden  lafit,  bedeuten  der- 
artige  Kundgebungen  eine  unmittelbare  Gefahr  fiir  die  Erhaltung  des 
innern  Friedens,  Die  Gefahr  erhoht  sich,  wenn  nicht  nur  der  Burger- 
krieg  an  und  fiir  sich  als  Heilmittel  angepriesen  wird,  sondern  gleich- 
zeitig praktische  Winke  fiir  seine  Durchfuhrung  gegeben  werden,  die 
ihn  besonders  blutig  und  wirksam  zu  machen  geeignet  sind. 

Die  Klagerin  beruft  sich  auf  den  kunstlerischen  Wert  des  Buches, 
der  von  der  Kritik  anerkannt  worden  sei,  Ob  demselben  ein  solcher 
Wert  innewohnt,  ist  fiir  die  polizeiliche  Beurteilung  unerheblich,  Nach 
allgemeinen  Rechtsgrundsatzen  kommt  es  fiir  die  Frage  des  polizei- 
lichen Einschreitens  gegen  ein  bestimmtes  Verhalten  lediglich  auf  des- 
sen  objektive  Polizeiwidrigkeit  an  {vgl.  OVG.  Bd.  87,  S,  280  und  die 
Zusammenstellung  friiherer  Entscheidungen  auf  S.  283  daselbst),  Wohl 
vermag  die  literarische  Form  unter  Umstanden  einen  an  sich  bedenk- 
lichen  Gegenstand  derart  in  die  Sphare  kunstlerischer  Betrachtung  zu 
erheben,  dafi  eine  gefahrliche  Wirkung  ausgeschlossen  erscheint.  Im 
vorliegenden  Fall  bildet  diese  Form  aber  offensichtlich  nur  die  aufiere 
Hulle,  unter  der  die  staatsfeindliche  Absicht  der  hinter  der  Verbffent- 
lichung  steh'enden  Kreise  verborgen  werden  soil. 

Hiernach  rechtfertigte  sich  die  getroffene  Entscheidung.  Die  Kla- 
gerin tragt  die  Kosten  nach  §  103  des  Landesverwaltungsgesetzes  vom 
30.  7.   1883. 


SPD 


P'allt  der  Stein  auf  den  Krug  —  wehe  dem  Krug!    Fallt  der  Krug 
auf  den  Steip  —  wehe  dem  Krug!   So  oder  anders  —  immer:  wehe 
dem  Krug  — I 

Talmud 

482 


Funk  in  Fesseln  von  h.  g.  Kahie 

past  vier  Millionen  Empfangsgerate  sind  bei  der  deutsehcn 
1  Reichspost  registriert.  Rund  funfzehn  Millionen  Menschen 
horen  taglich  das  deutsche  Rundfunkprogramm,  Der  Rund- 
funk  ist  zu  einem  politischcn  und  kulturellen  Machtfaktor 
erstcr  Ordnung  gewordcn,  der  heute  vielleicht  schon  die  brei- 
ten  Massen  mit  einer  starkern  Intensitat  als  die  Presse  be- 
einfluBt.  Trotz  der  Wirtschaftskrise,  den  viel  zu  hohen  Funk- 
gebiihren  und  dem  in  seiner  Grundtendenz  reaktionaren  Rund- 
funkprogramm wachst  die  Zahl  der  Horer  von  Monat  zu  Mo- 
nat;  eine  Tatsache,  die  von  der  selbstgefalligeni  Reichsrund- 
funkgesellschaft  als  Beweis  fur  die  Zufriedenheit  der  Rund- 
tunkhorer  angesehen  wird.  Die  Ursachen  fur  das  Aniwachsen 
der  Horerziffern  liegen,  so  paradox  es  klingen  mag,  in  der 
wirtschaftlichen  und  kulturellen  Not  der  minderbemittelten 
Volksschichten.  Hunderttausende  von  Arbeitern,  Angestellten 
und  kleinen  Beamten  konnen  sich  heute  keinen  Theater-  oder 
Konzertbesuch,  nicht  einmal  einen  bescheidenen  Kinoplatz,  die 
wochentliche  Zeitung  oder  ein  gutes  Buch  leisten,  Sie  ent- 
schlieBen  sich,  ein  billiges  Rundfunkgerat  auf  Stottern  zu  kau- 
fen,  abonnieren  den  Rund  funk  . . ,  und  erleben  binnen  vierzehn 
Tagen  eine  restlose  Enttauschung:  weil  das  Rundfunkprogramm 
gegen  die  Forderungen  und  Wunsche  der  uberwiegendenHorer- 
mehrheit  zusammengestellt  wird,  weil  der  Rundfunk  kein 
Spiegel  sondern  ein  Zerrspiegel  der  Zeit  ist,  weil  an  alien 
Sendern  mit  Hilfe  der  raffiniertesten  Gerauschkulissen  Potem- 
kinsche  Dorfer  vorgezaubert  werden. 

Nur  ein  kleines  Beispiel:  Die  berliner  Funkstunde  ver- 
anstaltet  eine  Obertragung  aus  der  Zigarettenfabrik  Josetti. 
Fiir  einen  Teil  der  Belegschaft  wird  eine  Feierschicht  ein- 
gelegt,  Vor  leerlaufenden  MascHinen  und  einem  kleinen  Kreis 
gesiebter  Betriebsveteranen  rollt  ein  Horfilm  aus  der  Zigaret- 
tenindustrie  ab,  den  der  Rest  der  Belegschaft,  der  an  andrer 
Stelle  kollektiv  mithort,  als  falsch,  ja  als  verlogetu  bezeichnet. 

Der  ersiaunte  Zeitgenosse  wird  tiberrascht  fragen,  wie  so 
etwas  moglich  sei,  Der  Rundfunk  soil  doch  alien  Schichten 
der  Bevolkerung  dienen,  er  ist  j.neutral"  und  „uberparteilich'\ 
Da  mufl  doch  etwas  nicht  stimmen.  Jawohl,  im  deutschen 
Funkbetrieb  stimmt  nicht  nur  etwas,  da  stimmt  vieles  nicht. 
Denn  der  Staat  als  Inhaber  des  Rundfunkmonopols  ubt  eine 
auBerordentlich  scharfe  Kontrolle  iiber  das  Rundfunkprogramm 
aus.  Die  Intendanten  aber,  die  in  den  Jostys  der  deutschen 
Sendestadte  gerne  „radikale"  Diskussionen  fuhren,  zucken  die 
Achseln  und  verkriechen  sich  hinter  unbekannten  GroBen,  die 
sich  Oberwachungsausschusse  und  Kulturbeirate  nennen. 

Die  Oberwachungsausschiisse  sind  die  wahren  Herren  des 
deutschen  Rundfunks.  Sie  werden  von  jenen  beamteten  Wach- 
tern  deutscher  Kultur  und  Sitte  eingesetzt,  die  die  muffigen 
Amtsstuben  unsrer  Innen-  und  Kultusministerien  bevolkern. 
Vor  der  OHentiichkeit  zeigen  sich  diese  Herren  nicht,  die  hin- 
ter schalldichten  Wanden  das  Rundfunkprogramm  zusammen- 
brauen,     Nur  einmal  in  der  Geschichte  des   deutschen  Rund- 

483 


funks,  gelegentlich  der  Fiinfjahrfeier  der  Reichsrundfunkgesell- 
schaft,  erschicncn  sic  im  vollen  Rampenlicht.  Es  war  ein  er- 
schreckender  Anblick.  Dutzendfache  Ausgaben  dcs  unsterb- 
lichen  Professor  Unrat  marschierten  dort  auf.  Gerissenc 
Muckermanner  aller  Konfessioncn  bewiesen  durch  ihre  laut- 
lose  Anwesenheit  den  stillen  aber  um  so  kraftigern  Druck, 
den  die  fuldaer  Bischofskonferenz  und  das  preufiische  Kon- 
sistorium  auf  den  Rundfunk  ausiiben.  Musterexemplare  aus 
den  Kultursekretariaten  der  SPD  enthullten  ihre  verstaubte 
Beschranktheit  und  ihren  hoffnungslos  spieBbiirgerlichen  Hori- 
zoni,  Diese  Nachtwachter  der  Kultur  des  andern  Deutsch- 
land  fiihren  den  Belagerungszustand  im  Ather  durch,  haben  den 
Funk  in  unertragliche  Fesseln  geschlagen.  Sie  tragen  die  Ver- 
antwortung  fur  die  endlose  Kette  von  Zensurskandalen,  die 
den  deutschen  Funkbetrieb   kennzeichnen. 

Die  Rundfunkzensur  richtet  sich  ausschlieBlich  gegen  links, 
besonders  gegen  die  revolutionare  Arbeiterbewegung;  denn 
fur  die  nationalsozialistischen  Interessen  sorgen  am  berliner 
Sender  Gerd  Fricke  und  jener  Arnold  Bronner  aus  Wien,  der 
sich  im  oberschlesischen  Stahlbad  zum  Arnolt  Bronnen  ver- 
jiingte.  Nationalsozialistische  Kundgebumgen  und  kirchliche 
Feiern  nehmen  im  Programm  viel  Raum  ein,  wahrend  die  Zen- 
surstreiche  nach  links  eine  beliebig  zu  verlangernde  Liste  fullen. 

Wir  nehmen  heute  nur  einige  der  krassesten  Falle  her- 
aus.  Die  Weltbiihnen-Leser  werden  sich  sicher  noch  der  ge- 
planten  Diskussion  zwischen  Kurt  Hiller  und  dem  christlich- 
sozialen  Pater  Strathmann  iiber  das  Thema  „Konnen  Kriege 
vermieden  werden?"  erinnern,  die  dem  Moloch  Zensur  auf 
Betreiben  kirchiicher  Kreise  zum  Opfer  fiel.  Selbst  das  Hor- 
spiel  eines  biirgerlichen  Autors,  der  ftir  den  frankfurter  Sen- 
der seit  Jahren  die  Zeitberichte  zusammenstellt,  wurde  ab- 
gesetzt,  weil  in  seinem  „AffenprozeB  von  Tennessee"  die  Evo- 
lutionstheorie  behandelt  wurde.  Ein  besonderer  Stein  des  An- 
stoBes  fiir  die  Rundfunkzensoren  ist  Alfons  Goldschmidt.  Ein 
Zwiegesprach  zwischen  ihm  und  dem  Inder  Naidu  wurde  mit 
Riicksicht  auf  eine  Volkerbundstagung  aus  dem  Programm  ent- 
fernt.  Auch  Paul  Friedlander,  Chefredakteur  der  ,Welt  am 
Abend',  erfreut  sich  seit  seinem  Streitgesprach  iiber  die  poli- 
tische  Jugenderziehung,  in  dem  er  den  Zentrumsabgeordneten 
Joos  ziemlich  zudeckte,  keiner  Beliebtheit  beim  Oberwachungs- 
ausschuB.  Seine  Diskussion  mit  Herbert  Ihering  „Idealismus 
und  Materialismus",  imRahmen  der  Zwiegesprache  „Bewegung 
und  Schlagwort",  wurde  im  allerletzten  Augenblick,  und  trotz- 
dem  beide  Herren  schon  im  Funkhaus  erschienen  warenf  ab- 
gesagt  mit  der  Begriindung,  daB  ein  Zensor,  der  deutschnatio- 
nale  Ministerialrat  Scholz  vom  Reichsinnenministerium,  Be- 
denken  gegen  das  Manuskript  hatte,  Der  gesamte  Ober- 
wachungsausschuB  trat  darauf  zusammen  und  verbot  kurzer- 
hand  das  Zwiegesprach.  Die  beiden  andern  Zensoren  waren 
der  staatsparteiliche  Abgeordnete  Riedel  und  der  Sozialdemo- 
krat  Heilmann.  Das  gleiche  Schicksal  hatte  eine  spatere  Dis- 
kussion zwischen  Paul  Friedlander  und  dem  Universitats- 
professor  Heller  zum  Thema:  „Diktatur  oder  Demokratie?" 

484 


Dern  letztcn  groBen  Zensurskandal  der  Deutschen  Welle 
bildete  das  Verbot  des  Dreigesprkches  „Kommunismus  und 
Eigentumsbegriff"  zwischen  Alfons  Goidschmidt,  Doktor 
Duncker  und  Professor  Resch.  Hierzu  ist  zu  bemerken,  daB 
die  Deutsche  Welle  eine  Veranstaltungsreihe  durchfiihrte,  in 
der  Vertreter  aller  Weltanschauungen  zum  Eigentumsbegriff 
gesprochen  haben,  angefangen  mit  den  beiden  groBen  Kirchen 
und  abschlieBend  mit  Herrn  Hilferding.  In  diesem  Fall  ist  das 
Verbot  auf  ein  Eingreifen  des  Reichsinnenministers  Groener 
zuriickzufiihren,  nachdem  der  OberwachungsausschuB  bereits 
die  Veranstaltung  freigegeben  hatte.  Auf  das  Kommando  aus 
der  Bendler-StraBe  klappten  die  drei  Zensoren  der  Deutschen 
Welle,  Ministerialrat  Scholz,  Doktor  Bohne,  der  zweite  Vor- 
sitzende  des  Schutzverbandes  deutscher  Schriftsteller,  und  der 
sozialdemokratische  Kultursekretar  Baake,  gleichzeitig  Leiter 
des  reformistischeiv  Arbeiter-Radio-Bundes,  prompt  um,  Der 
nationalsozialistische  Beitrag  zum  gleichen  Thema  wurde  nicht 
verboten,  er  wurde  nur  wegen  einer  Verhinderung  des  Herrn 
Feder  verschoben,  Gegen  den  Vortrag  des  Naziprofessors 
Wundt  liber  die  geistigen  Grundlagen  des  Nationalismus  hatte 
der  OberwachungsausschuB  nichts  einzuwenden. 

Bedarf  es  noch  eines  weitern  Beweises,  daB  sich  die  Rund- 
funkzensur  gegen  links  im  allgemeinen  und  gegen  Kommuni- 
sten  im  besondern  richtet?  AuBer  diesen  groBen  politischen 
Funkskandalen  ereignen  sich  taglich  Obergriffe  der  Ressort- 
leiter  der  Sendegesellschaften,  die  Texte  von  Horspielen  und 
Chansons  verstummeln.  So  wurde  der  Refrain  eines  Tonfilm- 
schlagers  (1Liebe  kommt,  Liebe  geht,  das  kann  keine  Regie- 
rung  verbieten"  in  nLiebe  kommt,  Liebe  geht,  das  kann  niemand 
auf  Erden  verbieten"  abgeandert,  anscheinend  um  die  Wiirde  der 
Regierung  von  der  profanen  Liebeslust  abzugrenzen.  Einzelne 
Horspiel-Autoren  konnten  der  Off  entlichkeit  erstaunliche  Tat- 
sachen  mitteilen,  unter  welchen  Schwierigkeiten  und  Kampfen 
mit  den  verschiedensten  offiziellen  und  inoffiziellen  Funk- 
instanzen  sie  die  Annahme  ihrer  Horspiele  durchgedriickt 
haben.  Fast  ein  Jahr  dauerte  es,  bis  sich  die  Norag  dazu  auf- 
raffte,  Rudolf  Franks  und  Georg  Licheys  Horspiel  „Wir  hatten 
gebaut  ein  stattlich  Haus"  umzuarbeiten  und  von  alien  schwarz- 
rotgoldenen  Reminiszenzen  an  die  Paulskirche  zu  reinigen, 

Eine  andre  Form  der  Rundfunkzensur  ist  es,  wenn  die 
deutschsprachigen  Sendungen  des  moskauer  Gewerkschafts- 
senders  so  nachhaltig  gestort  werden,  daB  ein  Empfang  in 
ganz  Deutschland  unmoglich  gemacht  wird,  oder  wenn  Herr 
von  Hindenburg  als  einziger  Pra,sidentschaftskandidat  eine 
Kandidatenrede  halt,  von  der  der  offizielle  Rundfunk  behaup- 
tet,  sie  sei  keine  Wahlrede  gewesen.  Der  Rundfunk  voni  heute 
ist  keine  Tribune  des  Fortschritts  und  der  Freiheit  sondern 
die.  Kanzel  der  Reaktion  und  des  IV^uckertums.  Die  Schuld  an 
diesem  unwurdigen  Zustand  trifft  zu  einem  groBen  Teil  die 
deutschen  Intellektuellen  selbst,  die  sich  mit  geringen  Aus- 
nahmen  vom  Rundfunkintendanten  bis  zum  kleinsten  Rund- 
funkkritiker  durch  den  Rundfunk  korrumpieren  lassen  und  den 
Kampf  der  Rundfunkhorer  fiir  ein  freiheitliches  Programm  nur 
ungeniigend  unterstiitzen. 

485 


Petzet,  Kuhle  Wampe,  Albers  RudoifTmheim 

In  einer  lesenswerten  Schrift  MVerbotene  Filme"  {Societats- 
verlag  Frankfurt  am  Main)  gibt  Wolfgang  Petzet  eine  zuver- 
lassige  und  gut  belegte  Beschreibung  der  Filmzensurstellen 
und  ihrer  Wirksamkeit.  Nicht  leicht,  das  Material  fiir  eine 
sole  he  Untersuchung  herb  eizuschaf  fen,  bei  der  Geheimnis- 
kramerei  der  Priifstellen  und  der  Unlust  der  Filmfirmen,  sich 
durch  Publikation  von  Zensurmaterial  miBliebig  zu  machen. 
Petzet,  der  nachdriicklich  betont,  da6  er  nicht  fiir  die  In- 
dustrie sondern  fiir  den  guten  Film)  gegen  die  Zensur  kampfe, 
zeigt  an  einleuchtenden  Beispieien,  wie  verworren  und  wider- 
spruchsvoll  die  Entscheidungen,  wie  vieldeutig  die  sogenann- 
ten  Richtlinien  sind  und  mit  welcher  politischen  Einseitigkeit 
Verbote  erlassen  werden.  Die  Schrift  liefert  gutes  Material, 
laBi  aber  den  Leser  im  Stich,  wo  er  klare  flaltung  und  Forde- 
rungen  erwartet.  Ganz  scharf  hatte  die  Grundfrage  gesteilt 
werden  mussen:  Soil  das  demokratische  Prinzip  publizistischer 
Meinungsfreiheit  unbegrenzt  gelten,  oder  muB  dem  Staat  das 
Recht  gegeben  werden,  Feindliches  und  Schadliches  zu  unter- 
driicken.  Richtet  sich  der  Kampf  nur  gegen  die  Anwendung 
der  Zensur  im  heutigen  Slaat  oder  ist  er  grundsatzlich?  Und 
wenn  es  hier  keine  Entweder-Oder-Entscheidung  gibt  — 
welche  Richtlinien  sind  denen  der  Priifstelle  entgegenzusetzen? 
Petzet  bekennt  sich  zu  „ einer  gelassenen  und  glaubigen  Libe- 
ralitat  als  der  an  sich  wiirdigen  Haltung".  Durch  solche,  Un>- 
bestimmtheit  —  und  durch  den  wenig  geschickten  Einfall,  das 
doch  richtunggebende  Anfangskapitel  einem  sehr  durchschnitt- 
lichen  und  durch  das  Zensur  verb  ot  keine  swegs  gead'elten  Kri- 
minalreiBer  zu  widmen  —  nimrat  er  seiner  substanzreichen 
Arbeit  die  propagandistische  Schlagkraft* 

* 

Dieser  Tage  fallt  die  Entscheidung  der  Filmpriifstelle 
iiber  den  von  Bert  Brecht  und  Ernst  Ottwalt  und  dem  Re- 
gisseur  S.  Th.  Dudow  hergestellten  Film  „Kuhle  Wampe",  Es 
ist  zu  hoffen,  daB  die  Kommission  mit  Leuten  besetzt  ist,  die 
viel  ins  Kino  gehen  und  also  den  Wust  von  Verlogenheit  und 
Verspieltheit  kennen,  der  augenblicklich  produziert  wird. 
Denn  dies  Aufatmen  vor  einem  Stuck  Naturlichkeit  und  Wirk- 
lichkeit  gibt  die  richtige  Grundhaltung  fiir  die  Bewertung  des 
Kuhle  Wampe-Films.  Die  Herren  Zensoren  mussen  sich  klar 
machen,  daB  eine  solche  Arbeit,  bei  alien  Unvollkommenheitenf 
heute  eine  hegenswerte  Seltenheit  darstellt  und  nicht  durch 
kleinliche  Einwande  verstiimmelt  werden  darf,  Ein  Eingriff 
verbietet  sich  urn  so  mehr,  als  die  eigentliche  Handlung  des 
Films  nicht  politisch  ist.  Sie  beweist  keine  politische  Theorie. 
Sondern  es  wird  nur  eine  Reportage  von  Schauplatzen  ge- 
geben, deren  Betrachtung  politisch  ausgewertet  werden  kann: 
Arbeitssuche,  arbeitslpse  Familie,  Kleinburgersiedlung,  Arbei- 
tersport  Der  Film  weist  nicht  Ursachen  auf  sondern  schildert 
die  Sorgen  der  Hungernden  und  Wohnungslosen,  die  Hafilich- 
keit  eines  Biergelages  und  die  gesunde  Schonheit  der  kampfe- 
rischen  Proletarierjugend.  Im  Zuschauer  sollen  durch  blofien 
Augenschein   Sympathien   fiir   die   Verfechter   des   Fortschritts 

486 


geweckt  werden.  Was  an  Argumenten  geboten  wird,  folgt 
nicht  aus  der  Handlung  sondcrn  ist  reines  Gesprach,  so  die 
ausgezeichnet  gelungene  Diskussion  zwischen  Arbeitem.  und 
Biirgern  im  iiberfiillten  Stadtbahnwagen,  eine  Episfode,  die 
ohne  weitcres  als  Kurzfilm  fur  sich  gezcigt  werden  konnte. 
Ahnlich  wie  dem  Zuschauer  geht  es  der  Hauptfigur  des  Films. 
Der  junge  Mann  wohnt  einer  Arbeitersportveranstaltung  bei, 
die  ihm  gefallt.  So  wird  er  zum  Mitkampfer,  'Die  Abneigung 
gegen  eine  allzu  individuelle  Handlung,  die  man  wohl  f alsch- 
lich  fiir  eine  individualistische  hielt,  fiihrt  dazu,  daB  man  es 
sich  versagt,  an  einer  lehrreichen  Einzelbegebenheit  den 
Mechanismus  des  herrschenden  Systems  und  die  notwendige 
politische  Folgerung  fiir  die  Betroffenen  aufzuzeigen,  Diese 
Unbestimmtheit,  diese  mehr  hymnisch  anieuernde  als  aufkla- 
rende  Haltung  bedeutet  fur  uns  einen  Einwand.  Die  Zensoren 
inuB  sie  nachgiebiger  stimmen,  wie  denn  die  notwendige  Riick- 
sicht  auf  die  Zensur  von  vornherein  manches  Deutlichwerden 
verboten  haben  mag.  Der  Regisseur  Dudow  hat  mit  guten 
Rohstoffen  gearbeitet:  viele  Freilichtauinahmen,  die  tibrigens 
in  der  unbefangenen  Verwendung  des  natiirlichen  AuBentons 
manche  aberglaubische  Vorurteile  der  Tontechniker  beheben 
konnten;  Verwendung  von  Nichtschauspielern,  denen  allerdings 
mangels  geeigneter  Dialogregie  die  Natiirlichkeit  des  Sprechens 
abhanden  gekommen  ist,  Wunderschon  einfach  die  beiden 
jungen  Leute:  Ernst  Busch  und  Hertha  Thiele.  Die  Verfasser 
des  Films  halten  sich  nicht  an  die  Tonfilmgepflogenheit,  lange 
Akte  auf  einheitlichem  Schauplatz  durchzuspielen,  Sie  zeigen, 
zumal  im  ersten  Teil,  daB  man,  wie  beim  Stummiilm,  von  Ort 
zu  Ort  springen  kann,  wobei  dann  manchnnai  in  der  einzelnen 
Szene  nur  Platz  fiir  einen  einzigen  epigrammatischen,  durch 
seine  Kiirze  wirksamen  Dialogsatz  bleibt,  Sehr  gut  geraten 
der  Arbeiter,  der  mit  holpriger  Stimme  seiner  Frau  eine 
liistern-schmalzige  Schilderung  von  Mata  Haris  Nackttanzen 
aus  der  Zeitung  vorliest;  der  junge  Selbstmorder,  der  vor  dem 
Sprung  aus  dem  Fenster  sorglich  seine  Taschenuhr  auf  den 
Tisch  legt;  die  Abtreibungsvision  des  Madchens,  eingeleitet 
von  einem  wirkungsvollen.  Aufschrei  der  Musik.  Hanns  Eislers 
kraftvolle  Lieder,  von  Ernst  Busch  sehr  schon,  von  Helene 
Weigel  sehr  unschon  gesungen,  vertiefen  und  befeuern  das 
Bildgeschehen.  Dieser  Film,  saoiber,  gesund,  fortschrittlich 
muB  unzerschnitten  vor  das  *  Kinopublikum  kommen,  das  einer 
solchen  Erfrischung  dringend  bedarf. 

* 
„Der  Sieger"  im  Gloria-Palast  —  zwei  aufdringlich  von 
Erfolg  strotzende  Vokabeln.  Und  Hans  Albers,  der  dochi  mehr 
kann  als  lacheln,  ja  vieles  besser  kann  als  grade  lacheln,  spielt 
die  magere  Bombenrolle  des  strahlenden  Goldjungen,  Nur  se- 
kundenweise  darf  der  volkstiimliche  Humor  dieses  wertvollen 
Charakterspielers  aufblitzen;  im  iibrigen  durchmiBt  er  mit  ge- 
fletschtem  GebiB  und  in  elastischem  Dauerlauf  eine  Handlung, 
fiir  die  er  bei  weitem  zu  schade  und  ein  wenig  zu  alt  ist.  Die 
Verantwortung  fiir  das  jammervolle  Manuskript  iibernehmen 
zwei  Autoren,  und  so  ist  nicht  leicht  zu  sagen,  was  auf  das 
Konto  von  Leonhard  Frank  geht  und  mit  wieviel  Prozent  Ro- 

487 


bert  Liebmann  beteiligt  ist.  Nun  Robert  Liebmann,  ohne 
ktinstlerische  Ansprtiche,  ist  ein  schlichter  Arbeiter  im  Hugen- 
berge  des  Herrn,  wahrend  Lconhard  Frank  einen  Namen  zu 
verkaufen  hat,  und  so  muB  man  ihm  deutlich  sagen,  daB  seine 
Mitarbeit  an  diesem  Schmarren  eine  Schande  ist.  Frank,  der 
urspriinglich  gepredigt  hat,  daB  der  Mensch  gut  sei,  zeigt 
heute,  daB  der  Mensch  sich  verbessert,  -  und  zwar  mit  Hilfe 
von  Hochstapeleien  und  sogenanntem  Gliick.  (Corriger  la  for- 
tune, pour  augrnenter  sa  fortune.)  An  diesen  verlogenen  Ra- 
dauoptimismus,  an  dies  Handgemenge  abgestandenster.  Zwi- 
schenfalle  verschwendet  der  Meisteroperateur  Gunther  Rittau 
seine  besten  Kiinste.  GroBartige  Trickaufnahmen,  in  denen 
Zusammengesetztes  zu  phantastischen  Nebelbildern  ineinander- 
schwimmt,  und  erstaunliche  Passagen,  die  das  Interieur  eines 
ganzen  Hauses  an  dem  laufenden  Schauspieler  voriiberjagen 
lassen.  Wie  iiberhaupt  im  Formalen  vieles  vorbildlich  ist.  Die 
harudlungsstorenden  Songs  hat  man  den  Schauspielera  aus 
dem  Munde  gehommen;  sie  werden,  ahnlich  wie  bei  Rene 
Clair  und  in  ,,Kuhle  Wampe",  von  unsichtbaren  Mannerchoren 
als  sehr  wirksame  Bildbegleitung  gesungen.  Die  vom  Gerausch 
der  Wirklichkeit  erfiillte  Szene  im  Buchmachertaden,  Ida 
Wiists  prasselnder  Rapid-Speech  iiber  Sex  appeal  und  Schnei- 
derkunst  und  das  Wolgalied  der  Gigolos  erfreuen  unser  Herz. 
Ein  bezeichnendes  Produkt  der  Pommerproduktion  —  Einfalle 
am  untauglichen  Objekt.  Ftihrt  denn  wirklich  „kein  andrer 
Weg  zur  Seligkeit"?  Duponts  „Peter  VoB"  eiwa  will  auch 
nichts  andres  sein  als  oberflachlichste  Unterhaltungsware  und 
ist  doch  frei  von  alien  Peinlichkeiten  und  aufgepropften  Wir- 
kungshaschereien.  Ohne  Krampf  und  Angstlichkeit  gearbeitet, 
lose,  lustig  und  gutgelaunt 

SchnipSel    von  Peter  Panter 

LJoflich  wie  ein  Eng lander  zu  Hause.  Unhoflich  wie  ein  Englander 
*  *  auf  Reisen. 

* 
Man  sollte   gar   nich't   glauben,  wie   gut   man   auch   ohne   die  Er- 
findungen  des  Jahres  2500  auskommen  kann! 

Kriminalroman  im  Bett  ist  schwer,  Ein  Bett  ist  doch  keine 
Eisenbahn! 

* 

Und  immer  wieder:  man  stelle  sich  vor,  wie  unsre  Bucher  aus- 
sahen,  wenn  Herr  Seeger  und  seine  Mannen  sie  vorher  zu  zensieren 
hat  ten  I  Rundfunk  und  Film  sehen  aus  wie  die  Literatur  in  einem 
Polizeistaat:  kindisch,  gefesselt  und  uninteressant.  Zu  fordern  ist 
—  immer  wieder  — :  Filmfreiheit,  Rundfunkfreiheit,  und  zwar  vollige 
Freiheit.  Die  Strafgesetze  genugen,  wie  bei  den  Btichern.  Jeder 
Einwurf.  dagegen,  auch  solche  von  den  Bildungsbonzen  der  SPD, 
stammt  aus  einem   Polizcigehirn. 

* 

Fiir  einen  WeiBen,  der  Afrika  nicht  kennt,  haben  die  Hochzeits- 
gebrauche  eines  Negerstammes  keinen  Sinn  —  er  sieht,  aber  be- 
greift  nichts. 

Wenn  man  einmal  aus  dem  Burgertum  herausgefallen  ist,  erscheint 
eine  mondane  Bar  in  Paris  sinnlos;  alles  fallt  auseinander,  die  Frauen 
riechen  nach  Verwesung,  die  Manner  wirken  wie  verkleidet,  und  eine 

488 


leere  Musik  macht  ein  vertragsmafiig  ausbedungnes  Gerausch  dazu. 
Ich  habe  dort  nie  das  Gefuhl:  wie  uhsittlich!  Sondern  ich  fiihle; 
welch  Anachronismus.  ^ 

Fur  die  kleincn  Note  des  Lebens  ist  unser  Apparat  nicht  ge- 
schaffen;  dazu  ist  er  zu  sehr  Selbstzweck.  Arzte  und  Rechtsanwalte 
machen  gewaltige  Fortschritte,  abcr  mit  einer  Forderung  von  46,50 
Reichsmark  und  mit  einem  Schnupf en  bist  du  doch  immer  der  Dumme. 

* 

In  Spanien  griindeten  sie  einmal  einen  Tierschutzverein,  der 
brauchte  notig  Geld.  Da  veranstaltete  er  fiir  seine  Kassen  einen 
groBen  Stierkampf.  < 

Auf  den  Volkerbund  schimpfen  darf  nur,  wer  gegen  die  absolute 
Souveranitat  der  Staaten  ist.  Ein  Rechtsgebiide  iiber  den  Staaten  be- 
sitzt  an  Macht  lediglich,  was  ihm  die  einzelnen  Staaten  geben.  Also 
gibt  es  zur  Zeit  gar  keinen  Volkerbund,  und  Genf  ist  eine  Farce.  Das 
darf  aber  kein  Nationaler  tadeln.     Er  ist  ja  damit  einverstanden. 

Rein  hippologisch  betrachtet  ist  er  vom  Pferd  gefallen. 

* 

Es  ist  der  grundlegende  Irrtum  aller  Dilettanten,  der  lyrischen 
Damen,  romantisierenden  Lehrer  und  katholischen  Familienblattschrei- 
ber:  dafi,  wer  ergriffen  sei,  dadurch  schon  den  Leser  ergreife,  f,Aber 
ich  habe  es  doch  mit  Gefuhl  geschrieben!"  Ergriffen  zu  sein,  ist  eine 
Voraussetzung  —  fiir  ein  Kunstwerk  bedeutet  es  allein  noch  gar 
nichts. 

Warum  sagen  die  Russen  eigentlich  niemals,  wieviel  Geld  sie  sich 
im  Ausland  geliehen  haben,  um  den  Funfjahresplan  durchfuhren  zu 
konnen?  Ihre  Leistung  verkleinerte  es  nicht.  Es  ist  geschickt  und  gut, 
dafi  sie  den  Kapitalismus  mit  dessen  Waffen  schlagen  —  doch  sollte 
das  Geschrei  iiber  eine  neue  Fabrik  auf  das  richtige.  Mafi  zuriick- 
gefuhrt  werden.  Hier  ist  Geld  investiert  worden  — :  wird  es  richtig 
und  fruchtbringend  arbeiten  — ? 

Verzeiht,  o  Kleriker  des  marxistischen  Korans,  mir  die  Siinde. 

* 

Eine  alien  Deutschen  gemeinsame  Literatur  gibt  es  nicht.  Bei  uns 
liest  jeder  nur  seins. 

Die  schonste  Geschichte  iiber  Masochismus,  die  ich  weifl: 

Wir  lagen  in  einem  polnischen  Nest,  gleich  hinter  der  damaligen 
deutschen  Grenze,  hinter  Marggrabowa.  In  unserm  Armierungs- 
bataillon  waren  Schlesier  und  Berliner  anmutig  gemischt.  Und  eines 
sternenklaren  Abends  stand  ich  hinter  einer  Hausecke,  da  schlugen 
die  trauten  Laute  der  Heimat  an  mein  Ohr.    A  richtich!    Ich  lauschte. 

Es  waren  zwei  waschechte  Berliner,  die  sich  da  um  die  Ecke 
unterhielten.  ,  Der  eine  mufite  von  Beruf  wohl  so  eine  Art  Zuhalter 
gewesen  sein;  jedenfalls  ruhmte  er  sich  dessen  und  erzahlte  viel  von 
einer  gewissen  Ella,  bei  der  er  die  Spinde  abjewackelt  hatte.  Dieses 
Madchen  nun  hatte  auch  eine  masochistisch  veranlagte  Kundschaft,  die 
sie  gut  und  richtig  bediente,     Und  ich  horte: 

„Ick  komm  also  ruff  bei  Elian,  un  die  hatte  sonen  Meeker jreis, 
den  mufite  sie  imma  vahaun.  Jutet  Jeld  —  jedet  Mai  achssich  Mark. 
An  den  Ahmt  wah  a  ooch  da,  Wie  ick  die  Korridortiir  uffschliefie,  heer 
ick  schon  von  weitn:  Wifite  mal  die  Pantoffeln  uffhebn!  Jleich  hebst 
du  die  Pantoffeln  uff,  du  Sau!  Du  Hund!  Heb  mal  die  Pantoffeln 
uff!"  —  „Wat  haste  denn  da  jemacht?"  fragte  der  andre. 

„Na",  sagte  der  erste,  „ick  bin  rinjejangn  un  hab  zu  den  altn 
Herrn  jesacht: 

Warum  tun  Sie  denn  die  Dame  nich  den  Jefalln  un  hehm  die 
Pantoffeln  uff  — ?," 

489 


Internationale  Sozialisierung  BembaVd  citron 

lUfan  hat  sich  die  Enteignung  des  Kapitals,  die  Sozialisierung 
1V1  und  gar  die  internationale  Vergesellschaftung  der  Pro- 
duktions-  und  Finanzwirtschait  einmal  anders  vorgestellt.  Die 
internationale  Sozialisierung  marschiert  heute  im  Rhythmus 
von  Trauerweisen,  und  das  Musikkorps  an  dei;  Spitze  tragt 
die  Uniform  kapitalistischer  Parteien.  Revblutionare  Zukunfts- 
traume  .  . ,  iiber  Nacht  in  Erfiillung  gegangen,  obwphl  die  Re- 
aktion  in  alien  Landern  niemals  so  stark  wie  heute  gewesen 
ist.  Vielleicht  spricht  dies  fur  die  Kraft  des  sozialistischen  Ge- 
dankens,  daB  er  grade  von  seinen  Gegnern  aufgenommen  und 
zum,  Teil  verwirklicht  werden  muBte.  Der  Kampf  Aller  gegen 
Alle,  die  ungehemmte  Betatigung  der  freien  Wirtschaft  hat 
den  selbslherrlich  und  individualistisch  denkenden  Unterneh- 
mer  Schiffbruch  erleiden  lassen.  Jakob  Goldschmidt,  wohl  die 
markanteste  Erschehwiag  unter  den  deutschen  Finanzmannern 
der  Nachkriegszeit,  wurde  1928  auf  dem  kolner  Bankiertag 
mit  seiner  groO  angelegten  Charakteristik  der  invidualistischeii 
Wirtschaft  als  der  Verkiinder  der  einzig  wahren  Wirtschafts- 
ethik  vom  deutschen  Unternehmertum  gefeiert.  Heute  muB  der 
Angebetete  von  damals,  den  man  jetzt  in  die  Wiiste  schickt, 
bekennen,  dafi  jedes  einzelne  Glied  der  Wirtschaft,  der  offent- 
lichen  wie  der  privaten,  auf  das  andre  angewiesen  ist.  Man 
wird  vielleicht  einen  zum  Riicktritt  gezwungenen  Bankleiter, 
dem  noch  nicht  einmal  die  iibliche  Ehrung  durch  Zuwahl  in 
den  Aufsichtsrat  zuteil  geworden  ist,  nicht  als  Kronzeugen  an- 
erkennen  wollen,  jedoch  diirfte  Jakob  Goldschmidt  noch  langst 
nicht  zum  Schweigen  gebracht  sein,  so  daB  auch  diejenigen, 
die  von  der  allein  selig  machenden  Privatwirtschaft  iiberzeugt 
sind,   Stellung  zu  dieser  Sinnesanderung  nehmen  miissen. 

In.  keinem  Lande  der  Welt  ist  das  Geschrei  iiber  die  Be- 
tatigung der  offentlichen  Hand  grofier  gewesen  als  bei  uns. 
Man  hat  kleine  Kormptionsskandale,  die  in  der  Privatwirt^ 
schaft  kaum  bis  an  den  Sitzungssaal  des  Aufsichtsrats  gelan- 
gen  wiirden,  jahrelang  breit  getreten.  Dennoch  laBt  sich  kaum 
ein  Fall  grobster  MiBwirtschaft  und  katastrophalen  Zusammen- 
bruchs  wie  in  der  Privatwirtschaft  finden.  Die  einzige  groBere 
Insolvenz  eines  offentlichen  Bankinstituts,  namlich  die  der 
Landesbank  der  Rheinprovinz,  wird  auch  von  dem  konkur- 
rierenden  Privatbankgewerbe  als  ungliicklicher,  aber  unver- 
schuldeter  Schicksalsschlag  -  betrachtet.  Die  andern  Bank- 
institute  der  offentlichen  Hand,  Reichs-Kredit-Gesellschaft,  der 
groBte  Teil  der  Giro-Zentralen  und  Sparkassen  haben  trotz 
den  Schwierigkeiten,  die  bei  ihnen  nicht  kleiner  als  bei  den 
privaten  Instituten  waren,  die  Wirtschaftskrise  besser  als  jene 
iiberstanden,  Natiirlich  ist  die  Tatsache,  am  Leben  zu  sein, 
noch  kein  Befahigungsnachweis.  Wer  in  den  letzten  Jahren 
sich  von  jeder  Betatigung  zuriickgehalten  hat,  darf  zwar  auf 
die  Rettung  seines  Vermogens  hinweisen,  aber  nicht  auf  die 
Erfiillung  volkswirtschaftlicher  Aufga'ben.  Diese  sind  aber 
von  den  offentlichen  Instituten  nicht  weniger  genau  beobachtet 
worden  als  von  den  privaten,     Lediglich  die  Voraussetzungen 

490 


von  Kredifcgewahrungen  sind  dem  Charakter  und  der  Tcndenz 
dcr  Institute  entsprcchend  verschieden  gewesen,  Man  hatte 
den  Privatbanken  wohl  etwas  mehr  bureaukratische  Hemm- 
schuhe  gewiinscht,  die  das  Ausgleiten  auf  schief er  Wirtschaf ts- 
ebene  verhindert  hatten. 

In  Zeiten  der  Not  hat  sich  erwiesen,  daB  weder  das  Soli- 
daritatsgefiihl  noch  die  Hilfsreserven  des  privaten  Unterneh- 
raertums  groB  genug  sind,  um  aus  eigner  Kraft  der  bedrohten 
Wirtschaft  zu  helfen.  Die  letzte  Zuilucht  blieb  stets  die 
offentliche  Hand.  Der  im  Wirtschaftsleben  geltende  Satz,  daft 
derjenige,  der  Pflichten  ubernimmt,  auch  Rechte  erwirbt,  trifft 
zwar  bei  der  Sozialisierung  der  Verluste  nicht  in  vollem  MaBe 
zu(  zwangslaufig  hat  sich  aber  der  unfreiwillige  EinfluB  zahl- 
reicher  Staaten  auf  ihre  Volkswirtschaften  verstarkt.  Den 
Grad  der  Sozialisierung  kann  man  am  Fiebergrad  der  Wirt- 
schaftskrise  ablesen,  Daher  ist  auch  der  EinfluB  des  Staates 
auf  die  Privatwirtschaft  in  Deutschland  besonders  groB,  Neben 
den  Banken  gilt  dies  von  nicht  unerheblichen  Teilen  der  In- 
dustrie. In  jungster  Zeit  hat  erst  die  Sanierung,  der  Reedereien 
zu  neuer  staatlicher  Kapitalhergabe  und  Machterweiterung 
gefuhrt.  AuBer  der  sichtbaren  Interessenphare  gibt  es  aber 
auch  einen  unsichtbaren  EinfluB  der  offentlichen  Hand,  Auf 
der  Generalversammlung  der  Deutschen  Bank  und  Disconto- 
Gesellschaft  hat  der  Angestelltenvertreter  Marx  mit  Recht 
gesagt,  daB  die  Kunden  sich  vielleicht  auf  der  einen  Seite 
freuen,  mit  einem  privatwirtschaftlichem  Institut  weiter  zu 
arbeiten,  daB  es  ihnen  aber  andrerseits  groBe  Beruhigung  ein- 
floBt,  den  Staat  hinter  sich  zu  wissen,  Selbstverstandlich  ist 
es  einer  Bank  oder  einer  Industrie-Gesellschaft,  die  zwar  noch 
keine  offentlichen  Mittel  in  Anspruch  genommen  hat,  eine 
etwaige  Hilfe  aber  als'  letzte  stille  Reserve  betrachtet,  nicht 
moglich,  die  Absichten  der  Staatsleitung  zu  durchkreuzen.  In 
einer  solchen  Lage  befindet  sich  der  groBte  Teii  der  deutschen 
Privatwirtschaft. 

Blicken  wir  auf  andre  Lander  mit  liberalen,  konservativen, 
fascistischen  oder  sozialistischen  Regierungen,  iiberall  bleibt 
der  Staat  die  letzte  Zuflucht,  um  die  Krise  ohne  sichtbare 
Katastrophen  zu  uberwinden.  Eine  ubersichtliche  Statistik 
der  internationalen  Konkurse  lieg  nicht  vor.  Man  hat  aber 
Berechtigung  zu  der  Annahme,  daB  die  Zahl  der  groBen  Zu- 
sammenbriiche  ziffernmaBig  geringer  ist  als  die  der  mittlern 
und  kleinern,  Diese  Feststellung  ist  zu  treffen,  obwohl  die 
GroBkonzerne  in  fast  alien  Landern  von  der  Krise  am  schwer- 
sten  beriihrt  worden  sind.  Wenn  der  Eisenbahnkonig  Strous- 
berg  nicht  in  den  siebziger  Jahren  sondern  sechzig  Jahre  spa- 
ter  gelebt  hatte,  dann  wiirde  sein  Ende  vermutlich  auch  ein 
andres  gewesen  sein.  Man  laBt  heute  in  Europa  ebensowenig 
wie  in  Amerika  Konzerne  von  groBer  Bedeutung  zusammen- 
brechen,  Wahrend  das  einzelne  Unternehmen  vor  dem  Unter- 
gang  gerettet  wird,  schwindet  allmahlich  die  Cberzeugungs- 
kraft  des  kapitalistischen  Gedankens.  So  marschiert  die  inter- 
nationale  Sozialisierung,  getrieben  nicht  vom  Glauben  an  den 
Sieg  des  Sozialismus  sondern  von  der  Furcht  vor  dem  Unter- 
gang  des  Kapitalismus. 

491 


Das  verbietet  keiner! 

T  Jber  Tierqualereien  im  Film  sprach  Joseph  Delmont  im  National - 
^  hof,  BfilowstraBe.  Delmont  ist  Artist,  Tierwarter,  Tierianger, 
Dompteur  und  Filmregisseur  gewesen,  Er  hat  als  solcher  Einblick 
in  die  Herstellung  von  Tierfilmen,  Er  fuhrte  aus,  dafi  alle  GroBtier- 
fangfilme  und  Afrikafilme  unzahlige  Qualereien  fur  die  wilden  Tiere 
enthalten.  So  werde  zur  Zeit  ein  deutscher  Film  gedreht  „Atlantide'\ 
in  dem  verhungernde  Kamele  in  einer  belgischen  Kolonie  gezeigt  wiir- 
den,  Die  Filmleitung  sei  so  weit  gegangen,  die  Kamele  tatsachlich 
dem  Hungertode  preiszugeben.  Der  Belgische  Tierschutzverein  ver- 
folge  aber  die  Angelegenheit.  In  dem  Film  MTrader  Horn"  sei  einem 
Lowen  ein  Holzpfahl  durch  den  Unterkiefer  getrieben  worden.  In 
MAfrika  spricht"  seien  einem  Lowen.  urn  ihn  in  allernachster  Nahe  mit 
Revolvern  erschieBen  zu  konnen,  die  Sehnen  der  Hinterpranken  durch- 
schnitten  worden.  Selbst  die  Kampfszene  in  „SimbaM,  wo  ein  Lowe 
„gespeert"  wird,  sei  zu  beanstanden,  zumal  die  Massai  eine  solche 
Kampfesweise  nur  noch  gegen  Bezahlung  ausfuhren,  Schlimm  ginge 
es  auch  oft  bei  der  Herstellung  von  Cowboyfilmen  zu,  in  denen  die 
Bezwim?ung  wilder  Pferde  gezeigt  wiirde.  Da  wiirden  zahme  Pferde 
durch  Feuer  kunstlich  scheu  gemacht,  unter  den  Sattel  schmerzende 
Holzscheite  gebunden,  so  daB  das  Pferd  vor  Pein  den  Reiter  immer 
wieder  abwirft.    Das  erst  ergabe  dann  die  „mutigen"  Szenen. 

D.A.Z.  12.  3.  32 

Beschlagnahmef  reies  Gedicht  von  Theobald  Tiger 

Ich  bin   klein. 
*  Mein   Herz  ist  rein* 
Soil  niemand  drin  wohnen  als  nach  Belieben  auszufiillen  allein, 
Lieb  Vaterland,  magst  ruhig  sein, 
fest  stehtf   dafi  Ponds   Creme  das  beste  fur  die  Haut  ist. 

Hipp. 
Wer    seine  Obrigkeit    lafit   walten, 
der  bleibet  immer  wohlbehalten. 

Hipp,   hipp. 
Wenn  ich  nur  meinen  Adolf  hab, 
bis   an  mein   schwarz-weiB-rotes   Grab. 

Hurra. 
Ein  Veilchen  stund  an  Baches   Ranft, 
so  preuBisch-blau,  so  lind  und  sanft; 
da   kam  ein   kleines    Schaf   daher, 
jetzt  steht  da  gar  kein  Veilchen  mehr. 

Hurra. 
Ein   Richter   steht   im  Walde, 
so   still   und  stumm. 
Er  war   republikanisch  bis  zuletzt, 
drum  haben  sie  ihn  in  den  Wald  versetzt, 
und   da   steht   nun  der   Richter, 
auf   seinem   linken   Bein, 

ganz  allein. 
Lieb   Vaterland    (siehe   oben). 
Siehst   du   die  Brigg   dort  auf   den  Wellen? 
„Rechts    miiBt   ihr   steuern!"    hallt    ein   Schrei. 
Die  Republik  kann  nicht  zerschellen, 
Frau  Wirtin  hatte  auch  ein  Ei, 
Die  Zeiten  werderi   schon  und  schoner, 
Ich   denk   an  Manner,   ktihn  und  barsch: 
An  Noske,  GeBler  und  auch  Groener. 
Lieb  Vaterland  (siehe  oben). 

492 


Bemerkungen 

Was  der  Nazi  nicht  darf  * . . 

Im  Parteiprogramm  und  in  den 
■  zahllosen  Enzykliken  des  Osaf 
steht  genau  zu  lesen,  wie  es  der 
Pg.  anfangt,  ein  hitlergefalliges 
Leben  zu  fuhreiL  Er  darf  nichts 
Jiidisches  beriihren,  keine  Nicht- 
arierin  heiraten,  nicht  in  Kauf- 
hausern  kaufen  —  die  Monchs- 
regel  ist  lang.  Aber  doch  enthalt 
sie  kein  Wort  der  zahllosen  Ver- 
bote,  die  sie  konsequenterweise 
aufzahlen  mufite,  Wir  haben  im 
Folgenden  versucht,  sie  zusam- 
menzustellen  —  leider  gibt  es 
keine  Exekutive,  urn  die  ortho- 
doxen  Hitleranbeter  zu  zwingen, 
sie  wirklich  einzuhalten. 

Verboten  ist  —  urn  eine  kleine 
Auswahl  aufzuzahlen  —  der  Ge- 
brauch  der  folgenden,  aus  der  |ii- 
dischen  Bibel  stammenden  Phra- 
sen  und  Zitate:  Kein  Nazi  ist  „ein 
gewaltiger  Jager  vor  dem  Herrn", 
keiner  ein  „Kopfhanger"  (Jes. 
58,5),  keiner  ein  .^asterraaul" 
(Salom.  4,24).  In  Deutschland 
herrscht  weder  „agyptische  Fin- 
sternis"  noch  „babylonische  Ver- 
wirrung".  Sie  durfen  ihren  Fiihrer 
nicht  „wie  den  Augapfel  hiiten" 
(5-  Mos.  32,10),  nicht  „auf  der 
Bank  der  Spotter  sitzen"  (Psalm 
1,1),  nicht  „ihr  Herz  ausschiitten" 
(1.  Sam,  1,15),  sich  nicht  „mit 
FiiBen  treten'  lassen  (Jes.  10,24). 
Keiner  darf  ein  Deutscher  sein 
„vom  Scheitel  bis  zur  Sohle" 
(5.  Mos.  28,35),  keiner  „sich  giit- 
lich  tun4'  (Kohel.  3,12),  keiner 
„ums  goldene  Kalb  tanzen",  kei- 
nem  durfen  „die  Haare  zu  Berge 
stehen"  (Hiob  4,15),  keiner  darf 
,*auf  Herz  und  Nieren  gepriift 
werden"  (Ps.  7,10),  niemand  darf 
ihm  „ein  Dorn  im  Auge"  sein 
(4.  Mose  33,55) 

Verboten  sind  die  Worte:  Mene- 
tekel,  Hiobspost,  Amen,  Moloch, 
Hexensabbath,  Lockvogel  (Jer. 
5,27) ,  Zeichen  und  Wunder 
(2.  Moses  28,35),  Fleischtopfe 
Agyptens  (2.  Moses  16,3),  Abra- 
hams SchoB,  Krethi  und  Plethi, 
Hosianha  und  Halleluja  etcetera; 
verboten  die  Taufnamen:  Josef, 
David,  Emanuel,  Michael,  Gabriel, 
Joachim,  Thomas,  Johann,  Anna, 


Elisabeth,  Susanne,  Maria  etcetera; 
verboten  die  aus  dem  Talmud 
herruhrenden  Sprichworte:  „Im 
Hause  des  Gehenkten  spricht  man 
nicht  vom  Strick  (Talmud  Baba 
mezia  57  b),  Gedanken  sind  zoll- 
frei  (Kiddusch  49b)f  Jeder  ist 
sich  selbst  der  Nachste  (Sanh.  9b), 
Einem  Liigner  glaubt  man  nicht 
und  wenn  er  auch  die  Wahrheit 
spricht  ( Sanheddr in         89  b) , 

Schmiede  das  Eisen  solange  es 
heiB  ist,  Unter  Blinden  ist  der 
Einaugige  Konig  (Ber.  r.  30),  Not 
kennt  kein  Gebot  (Erub  27  a), 
Gleich  und  gleich  gesellt  sich  gern" 
(Baba  R  92  b)  —  und  andre,  die 
alle  auf  die  Parteigenossen  (siehe 
das  letzte  und  das  erste)  so  gut 
passen.  Hier  sei  noch  hinzugefugt, 
daB  auch  Dialektworte  aller  Art 
nicht  verwendet  werden  diirfen, 
da  sie  aus  dem  Hebraischen  stam- 
men;  etwa  „kaputtM  fur  hin  (von 
Kappara  —  dahin)  oder  „Kaffer" 
f  iir  Bauer  (Kafran) ,  Moos  fur 
Geld  (maoth),  klaffen  fiir  bellen 
(keleb),  Techtelmechtel  etcetera. 

Mag  es  aber  durch  Training  ge- 
lingen,  sich  die  obigen  Worte  und 
Satze  abzugewohnen,  so  wird  es 
doch  schwer  werden,  bei  Lues  die 
Behandlung  mit  Salvarsan  (ent- 
deckt  von  dem  Juden  Ehrlich) 
oder  die  Wassermannsche  Reak- 
tion  abzulehnen.  Zu  schweigen 
von  psychoanalytischer  Behand- 
lung —  die  ein  rassischer  Mann 
schlechter  dings  entbehren  muB 
und  kann  —  oder  der  Behand- 
lung mit  Insulin,  das  auf  der  Ent- 
deckung  des  Juden  Minkowski 
von  1889  beruht,  des  Fleckfiebers 
(Edmund  Weil)  oder  der  Gonor- 
rhoe  (Erreger  von  Albert  Neisser 
gefunden) .  DaB  ein  teutsches  Herz 
rasch  genug  schlagt,  um  die  Auf- 
pulverung  durch  Digitalis  (ent- 
deckt  von  dem  Juden  Ludwig 
Traube)  entbehren  zu  konnen, 
versteht  sich  von  selbst,  ebenso 
die  Betaubung  durch  Kokain 
(durch  Salomon  Strieker).  Der 
aufgenordete  Mensch  laBt  sich  die 
Zahne  ohne  Kokain  ziehenf  DaB 
er  auch  Gersonkuren  oder  eine 
Steinachoperation  verpont,  ist 
selbstverstandlich ! 

493 


Aber  verboten  sind  leider  auch 
viel  naher  ans  Herz  gehende  Dinge: 
verboten  ist  —  ach,  man  kann 
keine    Rheinf  ahrt    mehr    macben ! 

—  das  deutscheste  aller  deutschen 
Lieder:  „Die  Lorelei"  des  Juden 
Heine,  verboten  ist;  „Leise  ziebt 
durch  mein  Gemiit,.."!  Niemehr 
wird  man  singen  diirfen:  ,,Es  ist 
bestimmt  in  Gottes  Rat",  „0  Taler 
weit  o  Hohen"  und  „Wer  bat  dich 
du  schoner  Wald"  —  man  wird 
sich  urn  eine  andre  Vertonung  als 
die  Mendelssohns  umsehen  mussen. 
Von  Juden  stammen  —  es  muB 
einmal  zur  Warnung  gesagt  werden 

—  HWenn  die  Schwalben  heim- 
warts  ziehen"  (Herlossohn),  „Die 
alten  Deutschen  tranken  noch 
eins"  (Kanitz)  und  die  Studenten- 
lieder:  „Sind  wir  nicht  zur  Herr- 
lichkeit  geboren"  (A.  Wollheim), 
„Das  war  der  Graf  von  Riides- 
heim"  (Bloch,  Benda)  und  „Es 
hatten  drei  Gesellen  ein  feins 
Kollegium"  (Elias  Salomon).  Alle 
diese  wird  von  nun  an  ein  echter, 
rassisch  fiihlender  Fuchs  niemehr 
iiber  die  JJppen  bringen!  (Leise 
bemerkt;  und  Operetten  von  Of- 
fenbach bis  Oskar  StrauB?) 

DaB  kein  Pg.  Chloralhydrat 
(Entdecker  Oskar  Liebreich),  An- 
tipyrin  oder  Pyramidon  (Filehne 
in  Breslau)  verwenden  wird,  son- 
dern  lieber  mit  Kopfschmerzen 
schlaflos  bleibt,  versteht  sich  von 
selbst.  Aber  er  darf  auch  nicht 
mit  dem  Zeppelin  fahren,  weil  sein 
Chefkonstrukteur  Doktpr  Karl 
Arnstein  Jude  ist;  er  darf  nicht 
Radio  horen,  weil  Heinrich  Hertz 
die  Basis  fur  die  Funkentele- 
graphie  schuf ;  er  darf  den  —  doch 
so  rechtsstehenden  —  ,Kladde- 
radatsch'  nicht  zur  Hand  nehmen, 
da  er  von  dem  Juden  Kalisch  be- 
grundet  wurde;  er  darf  —  wir 
wollen  die  Klosterregel  nicht  ins 
Unendliche  fortsetzen  —  moderne 
Bauten  in  Berlin  nicht  bewundern, 
die,  von  Messel  (Wertheim)  bis 
Mendelssohn,  von  Juden  stammen. 

Als  letztes  t,Verbot"  sei  aber 
betont,  daB  es  dem  Nationalsozia- 
listen  strenger  Observanz  uner- 
laubt  ist,  von  Juden  als  von 
„fremdstammigen  Eindringlingen" 
zu  sprechen,  da  die  altesten 
Stammtafeln      (Familien      Mainz, 

494 


Lurie  und  Rindskopf .)  bis  1 390, 
1350  und  1498  zuriickgehen,  wo- 
bei  erwahnt  werden  mufi,  daB 
Kaiser  Konstantin  im  Jahre  321 
nach  Christus  an  die  kolner  Ju- 
den ein  Edikt  erlieB,  in  dem  sie 
MBesitzer"  genannt  werden,  so  daB 
angenommen  werden  muB,  sie 
seien  damals  schon  lange  in 
Deutschland  heimatberechtigt  ge- 
wesen,  Und  —  Hand  aufs  Herz 
—  wer  unter  den  „Fuhrern"  kann 
dies  (um  300  nach  Christus)  mit 
Sicherheit  von  seiner  Familie  be- 
haupten? 

„Schwer  zu  sein  ein  National- 
sozialist!" 

Paul  Elbo&en 

Dann  schon  lieber  Potitik! 
T  Taser  Morgenblatt,  das  ist  ne 
w^  ganz  famose  Zeitung",  sagte 
unlangst  ein  bekannter  Verleger 
zu  mir,  ,tSo  was  wollen  die  Leute; 
sanfte  Betrachtungen  —  kleinen 
geimitlichen  Schmus,  halb  ge- 
bildete  Abhandlungen  —  hloB- 
nicht  soviel  Politik!"  Die  Auf- 
lageziffer  seines  Blattes  scheint 
ihm  beinahe  Recht  zu  geben,  ob- 
gleich  andre  Leute  von  der 
schwarzen  Zunft  behaupten,  das 
„Volk"  verlange  einzig  und  allein 
iiber  Politik  unterrichtet  zu  wer- 
den. Und  wie  vertragt  sich  diese 
Sehnsucht  mit  dem  ins  Peinliche 
gestiegenen  Goetherummel  ? 

Wohin  wir  blicken;  Goethe. 
Wahrscheinlich,  weil  wir  sonst 
nichts  zu  bieten  haben,  Goethe 
in  Weimar  und  Goethe  in  Frank- 
furt, Goethe  der  Mensch  und 
Goethe  der  Befreier,  Was  ist 
Goethe  uns  Juristen?  Goethe  im 
Winter  und  Goethe  im  Friihling, 
Goethe  und  die  Erwerbslosen, 
Goethe  und  die  Hebammen* 
Goethe  ein  Turm,  Goethe  ein 
Sturm! 

Kommt  man  auf  irgend  eine 
Redaktion,  dann  lauft  die  Sekre- 
tarin  des  Feuilletonredakteurs 
schweiBgebadet  und  wie  ein  Huhn 
in  einem  engen  Kafig,  nur  matt 
mit  denFlugeln  schlagend,  herum, 
„Was  ist  denn  los,  Lillif  was 
haben  Sie  denn?"  „Mensch, 
lassen  Sie  mich  bloB  —  Joethef 
Nicht  wie  Joethe!"  „Und  warum 
die  Hetze?"  „Ach  Gott,  der  Chef 


fahrt  doch  nach  Weimar,  ich  weifl 
schon  nicht,  wo  vorn  und  hinten 
ist.  Gehnse  blofi  nicht  etwa  zu 
ihm!   Die  Laune!" 

Goethe  kursiv  und  Goethe  als 
Kasten,  Goethe  als  Spitze  (drei- 
mal  fette  Borgis  als  Uberschriftl), 
Goethe  und  das  Radio,  Goethe 
und  die  Homosexuellen  .  * . 

Rundfragen,  Querschnitte,  Rurid- 
schnitte,  Querfragen.  Ein  zweiund- 
zwanzigjahriger  Student  schreibt: 
„Lafit  mich  blofi  mit  Goethe  zu- 
frieden,  Der  Mann  kann  einem 
ja  leid  tun!  Mir  hangt  er  zum 
Hals  heraus,  und  ich  glaube,  dafi 
es.  den  meisten  so  geht,  sie  mo- 
gen  es  nur  nicht  sagen.  Wem 
die  Klassiker  in  der  Jugend  so 
eicgeblaut  sind  wie  mir,  der  riihrt 
sie  sein  Leben  lang  nicht  wieder 
an,  Und  wenn  Goethe  wirklich 
der  grofie  Mann  ware,  den  sie  aus 
ihm  machen,  auch  dann  traute  ich 
ihm  noch  nicht  zu,  dafi  er  dieses 
,Goethejahr*  uberlebte.  Wenn  es 
blofi  schon  vorbei  ware!'*  Bravo, 
tapferer  Student,  Es  sind  die 
Schlechtesten  nicht,  die  of  fen  ihre 
Empfindungen  sagen.  Wem  von 
uns  Normalen  hinge  der  Goethe- 
rummel  nicht  schon  lange  zum 
Halse  heraus,  und  dabei  fangt  er 
grade  erst  an.  Mehr  ab  neun 
Monate  liegen  noch  vor  uns,  in 
denen  uns  Goethe  in  Beziehung 
zur  Umwelt  vorgesetzt  werden 
wird.  Politik  wird  vernachlas- 
sigt,  aber  bei  all  den  banalen,  ab- 
gegriffenen,  feinsinnigen  Abhand- 
lungen  ware  es  erlosend  und  er^ 
hebend,  auch  einmal  Goethes 
Verhaltnis  zu  ganz  modernen, 
neuzeitlichen  Errungenschaften 
zu  beleuchten.  Es  kame  da  in  Be- 
trachti  Goethe  und  die  offentliche 
Lichtwirtschaft,  anlafilich  seiner 
letzten  Worte,  fur  den  Innenpoli- 
tiker:  Goethe  und  der  Oster- 
burgfrieden  (Faust  I.),  fiir  den 
Landwirt:  Goethe  und  die  Ost- 
hilfe,    fur  den    Verband    neuzeit- 


licher  Architektur:  Goethe  und 
die  Hochhauser  (Faust  IL,V-  Akt: 
mein  Hochbesitz,  er  ist  nicht  rein) , 
Goethe  und  die  N.S.A,P.  (ebenda: 
die  braune  Baute,  das  morsche 
Kirchlein,  ist  nicht  mein),  Goethe 
und  die  Kanalschif fahrt  (ebenda: 
ein  grofier  Kahn  ist  im  Begriffe, 
auf  dem  Kanale  hier  zu  sein). 
Von  mir  selbst  sind  zwei,  das 
Thema  erschopfende  Werke,  be- 
reits  in  Arbeit:  Goethe  und  die 
Skandalprozesse,  unter  besonde- 
rer  Berticksichtigung  des  Falles 
Sklarek,  und:  Goethe  und  die 
chinesischen  Wirren. 

Denn  was  ist  uns  Goethe?  Ein 
nie  versagendes,  wunderbares 
Lexikon. 

Lisa  Matthias 

Die  armen  Luder 

r'Jafi  die  Nazis  keine  Schrift- 
L*  steller  besitzen,  die  fahig 
sind,  deutsch  zu  schreiben,  weifi 
man  aus  den  Leistungen  ihrer 
Fiihrer,  Dafi  dieses  Gesocks  aber 
systematise^  klaut,  um  den  Le- 
sern  ihrer  Papiere  vorzufiihren, 
was  herzustellen  sie  selber  nicht 
fahig  sind 

Es  ist  j  etzt  der  zweite  Nazi- 
Diebstahl,    den  ich  hier  festnagele. 

Das  ,Blatt  der  Niedersachsen', 
Nat.-Soz.  Tageblatt  fiir  den  Gau 
Hannover-Ost,  bringt  in  seiner 
Nummer  vom  24.  Februar  1932 
einen  Beitrag: 

„Kurzer  Abrifi  der  National- 
okonomie,  von  Karl  Murx,  staat- 
lich  pramiierter  National-Komi - 
ker." 

Der  Beitrag  ist  gestohlen;  er 
hat  hier  unter  derselben  tiber- 
schrift  am  15.  September  1931  ge- 
standen  und  war  damals  Kaspar 
Hauser  gezeichnet. 

Stehlen  —  sich  die  deutsche  Na- 
tionalitat    ermogeln    •■ —    liigen    — 
stehlen  — :  es  sind  arme  Luder. 
Kaspar  Hauser 


KEIN   ZWEIFEL,   DASS  WIR   ES 

mit  elnem   erregend   sch6nen   Buch  zu  tun  habenl 
schrteb  Kurt  Reinhold  Im  „Tagebuch"  uber  Georg  Kaisers 

ERSTEN  ROMAN  „ES  1ST  6ENU6!" 

495 


Ufa  und  Autoren 

T>ie  Ufa  stellt  einen  neucn  Wer- 
*^  ner  Kraufl-Film  nach  Motiven 
von  Balzacs  „Oberst  Chabert" 
her,  AnlaBlich  dieses  Films  ist  es 
zu  Streitigkeiten  zwischen  der  Ufa 
und  Filmschriftstellern  gekommen, 
die  den  Anspruch  erheben,  diesen 
Film  angeregt  und  mitvorbereitet 
zu  haben.  In  meinem  besondern 
Fall  wird  alles  Rechtliche  auf  dem 
ProzeBwege  geklart  werden.  Fur 
die  Offentlichkeit  wissenswert 
scheint  mir  nur,  dafi  es  mir  durch 
glucklichen  Zufall  moglich  ist, 
schliissiges  Beweismaterial  fur 
etwas  beizubringen,  was  andre 
Autoren  oft  behauptet  haben, 
ohne  es  recht  belegen  zu  konnen: 
daB  namlich  die  Ufa  im  Umgang 
mit  Autoren  vor  bewuflten  Ver- 
drehungen  nicht  zuriickschrickt. 

Ich  unterstelle,  daB  ich  nicht 
der  einzige  bin,  der  der  Ufa  den 
„0bersten  Chabert"  als  Filmstoff 
vorgeschlagen  hat,  Darum  han- 
delt  es  sich  hier  aber  gar  nicht. 
Die  Ufa  behauptet,  daB  ich  ihr 
den  „Chabert"  wohl  vorgeschla- 
gen habe,  aber  nicht  in  moderner 
Fassung.  Erst  ihr  Chefdramaturg, 
Herr  Podehl,  habe  mich  darauf 
hingewiesen,  daB  HChabertM  nur 
in  moderner  Fassung  brauchbar 
sei,  „denn  selbstverstandlich  sei 
das  bloBe  Hinschleudern  des  Titels 
eines  so  bekannten  Buches  ohne 
Bedeutung",  „Erst  daraufhin  hat 
Koffler  versucht,  ein  Expose  in 
moderner  Form  fur  sich  auszu- 
arbeiten."  Dies  Expose  habe 
Herrn  Podehl  nicht  gefallen. 
Koffler  habe  jedoch  die  Hoffnung 
nicht  aufgegeben  und  eine  neue 
Bearbeitung  des  Stoffes  einge- 
reicht,  die  aber  ebenfalls  nicht 
gefallen  habe  und  zuriickgegeben 
worden  sei.  Fin*  die  Ufa  stehe 
also  nichts  im  Wege,  das  Ma- 
nuskript  durch  Herrn  Robert 
Liebmann  ausfuhren  zu  lassen. 
Ich  erhielt  meinen  zweiten  Ent- 
wurf, den  ich  in  zwei  Exemplaren 
eingereicht  hatte,  mit  dem  Be- 
merken  zuriick,  die  Ufa  habe  be- 
schlossen,  das  Projekt  zur  Zeit 
zuriickzustellen,  Aber  nur  ein 
Exemplar  —  das  zweite  hatte  der 
Produktionsleiter,     Herr    Stapen- 

496 


horst,  eingefordert,    (Ich  habe  es 
bis  heute  nicht  zuriickerhalten.) 

Die  Ufa  hat  Pech.  Mein  Ent- 
wurf  zu  einer  modernen  Fassung 
des  „0bersten  Chabert"  lag,  bevor 
ich  ihn  der  Ufa  einreichte,  schon 
seit  zwei  Monaten  beim  Presse- 
chef  der  Terra,  von  dem  ich 
ihn  mir  fur  die  Ufa  ausbat.  Die 
Anregung  zu  einer  modernen  Fas- 
sung kam  mir  also  nicht  von 
Herrn  Podehl.  Zweitens;  jene 
zweite  Fassung  stellt  keineswegs 
einen  neuen  Entwurf  da,  sondern 
ist  nichts  als  eine  auf  Herrn  Po- 
dehls  Wunsch  hergestellte  detail- 
liertere  Ausgestaltung  der  ersten, 
Zum  Beweis  dafiir  liegt  —  von 
mehreren  Zeugen  und  der  Korre- 
spondenz  mit  der  Ufa  abgesehen 
—  eine  Zwischenfassung  vor,  die 
ich  mit  Herrn  Podehl  durchge- 
sprochen  und  in  der  ich  mir  seine 
Einwande  und  Wunsche  an  Ort 
und  Stelle  mit  Bleistift  notiert 
habe.  In  der  letzten  Fassung  habe 
ich  diese  Korrekturen  dann  ver- 
wertet.  Es  handelt  sich  also  nicht 
um  einen  neuen  Entwurf  nach 
Ablehnung  des  ersten  sondern  um 
eine  Ausgestaltung  des  ersten,  die 
ich  im  Auftrage  Herrn  Podehls 
und  unter  seiner  Mitarbeit  herge- 
stellt  habe. 

Die  Ufa  scheut  also  in  ihrem 
Umgang  mit  Autoren  nicht  davor 
zuruck,  klare  Tatbestande  zu  ver- 
drehen,  Zum  SchluB  noch  dieses: 
Als  ich  auf  ahnliche  Falle  von 
Autorenausbeutung  hinwies,  gab 
man  mir  in  der  Rechtsabteilung 
der  Ufa  die  Antwort;  falls  ich  da- 
mit  etwa  auf  die  Veroffentlichun- 
gen  der  .Weltbuhne'  anspielen 
wolle,  so  rate  man  mir,  sich  auf 
dies  Blatt  lieber  nicht  zu  berufen; 
denn  ich  wiirde  sonst  vor  Gericht 
einen  sehr  schlechten  Eindruck 
machen!  Es  bleibt  nichts  tibrig, 
als  zu  hoffen,  daB  auch  die  Ufa 
vor  Gericht  einen  sehr  schlechten 
Eindruck  machen  wird, 

Dosio  Koffler 

Berlin  und  Paraguay 
In  Lugano     saBen   wir,     eine   un- 

wahrscheinlich  bunte  Gesell- 
schaft, 

Der  Herr  aus  Paraguay  erzahlte 
von  den  Peonen.     Peon:  in  Spa- 


men  bedeutet  es  einf ach  Bauer ; 
in  Latein-Amerika  versteht  man 
darunter  den  Viehhirten.  Jeder 
von  ihnen  hat  zwei  Pferde  —  fiinf 
oder  sechs  Peone  halten,  fast 
ewig  im  Sattel,  eine  Riesenherde 
von  zehn-t  zwolftausend  Rindern 
im  Zaura.  Die  Peone  sind  die  ge- 
bornen  Reiter,  von  prachtvoll  pri- 
mitiver  Ritterlichkeit.  Einmal  ga- 
loppiert  solch  ein  junger  Peon 
vor  seinen  Herrn,  schlagt  mit 
edelm  Anstand  den  Mantel  iiber 
die  Schulter  und  sagt:  „Senor,  ich 
brauche  zweihundert  Pesos  Vor- 
schuB."  Vierhundert  Mark  also  — 
es  ist  der  Lohn  von  zehn  Mo- 
naten,  Donnerwetter.  Aber  man 
darf  einem  Peon  keine  Bitte  ab- 
schlagen  —  er  geht  sonst,  belei- 
digt,  auf  der  Stelle  aus  dem 
Dienst,  „Gut",  erzahlt  der  Herr 
aus  Paraguay,  ,,ich  gab  ihm  die 
zweihundert  Pesos.  Und  was, 
meinen  Sie,  fing  er  damit  an  — 
mit  dem  Lohn  von  zehn  Monaten? 
Zunachst  verschwand  er.  Am  drit- 
ten  Morgen  war  er  wieder  da  — 
aus  der  Stadt  Conception,  auf 
todmtidem  Gaul,  achtzig  Meilen 
hin,  achtzig  zuriick  —  und  das 
Handpferd  war  iiber  und  fiber  be- 
packt  mit  Raketen  —  fur  zwei- 
hundert Pesos  Raketen.  Am 
Abend  brannte  der  Peon  all  diese 
Raketen  in  einer  Viertelstunde 
ab;  er  hatte  sich  verlobt;  und  das 
Feuerwerk  hatte  die  Freuden- 
kunde  der  Nachbarschaft  be- 
kanntzugeben.  Was  sagen  Sie  zu 
diesem  Menschen?  Sein  Ver- 
mogen  buchstablich  verpulvern 
vor  Jubel  —  ist  das  nicht  Gran- 
dezza?    Groflmut?    Stolz?'1 

Die  Damen  ergingen  sich  in  Be- 
wunderung  des  prachtvoll  dreisten 
Brautigams. 

Still  hatte  bisher  Stobitzer  da- 
gesessen  —  Stobitzer,  Kaufmann 
aus  Berlin.  Mummelte  an  seiner 
Zigarre  —  endlich  brummte  er: 

„Ick  hab  'n  Laden  am  Kur- 
furstendamm,  ziemlich  bekannten 
jrotien  Laden.  Wenn  ick  in  zehn 
Monaten  zwoohundert  Pesos  rein 
verdienen  konnte  —  ick  wurde 
ooch  Raketen  abbrennen." 

Roda  Roda 


Von  Mozart 
bis  Frfedrich  den  Grofien 

An  einem  ganz  ahnlichen  Tag, 
wie  vor  140  Jahren  —  bei 
Schnee,  Regen  und  Wind  — 
wurde  unlangst  die  Gedenktafel 
an  der  Stefanskirche  enthullt,  die 
an  die  unerquicklichen  Urn- 
stande  bei  Mozarts  Tod  und 
Begrabnis  erinnern  soil.  Der 
Sarg  ist  an  der  Louis-XVI -Halle 
neben  dem  Capiytron-Denkmal 
eingesegnet  worden  und  wurde 
dann  ohne  Begleitung  in  den 
Sankt-Marxes-Friedhof  befor- 

dert,  wo  er  in  einem  Massengrab 
verschwand.  Niemand  weifi  heute 
mehr  wo.  Die  Wenigen,  die  dem 
Sarge  folgten  —  Begrabnis 
III.  Klasse:  8  Gulden  36  Kreu- 
zer,  Leichenwagen:  3  Gulden  — , 
kehrten  vor  Schnee,  Regen  und 
Wind  schon  in  der  Schulerstrafie, 
im   I.  Bezirk,  zuriick. 

Mozart  war  schon  zu  seinen 
Lebzeiten  ein  anerkannter  Kunst- 
ler.  Viele  hielten  ihn  fur  den 
grofiten  lebenden  Musiker.  Er 
fand  auch  Gonner,  und  diese  Ver- 
bindung  zwischen  der  osterreichi- 
schen  Aristokratie  und  dem  mit 
sechsunddreifiig  Jahren  in 

Schwindsucht  und  Elend  verkom- 
menem  osterreichischen  Genie 
gehort  zum  „6sterreichischen 
Barock".  Wie  sein  Tod  und  Ver- 
schwinden  im  Massengrab  als 
eine  riihrselige  Biedermeier- 
geschichte    weitergegeben    wird. 

Man  sagt,  dafi  heute  der  Kiinst- 
ler  auf  den  Markt  gehen  und 
dort  Ruhm  und  Geld  finden 
kann.  Der  anerkannte  Kunstler 
gehore  zu  den  Spitzen  unsrer  Ge- 
sellschaft  und  die  Auffassung  der 
Grofien  unsrer  Zeit  uber  die  Stel- 
lung  des  Kunstlers  habe  sich 
griindlich   geandert . . . 

WirkHch? 

Da  muB  ich  eine  Anekdote  er- 
zahlen,  die  ich  auch  eine  histo- 
rische  nennen  konnte.  Im  Jahre 
1916  war  ich  als  Berichterstatter 
in  Kowno  im  Hauptquartier  von 
Hindenburg.  Meine  Artikel  mufl- 
ten  selbstverstandlich  der  Zensur 
vorgelegt  werden,  und  ein  oster- 
reichischer  Generalstabshaupt- 
mann  hatte  die  Aufgabe,  mit  mir 
iiber  die  Einwendungen  der  Zen- 

497 


sur  zu  verhandeln.  Ernes  Tages 
lafit  er  mich  wieder  rufen. 

„Sie  diirfen  mich  nicht  mifiver- 
stehen",  sagte  er  zur  Einleitung, 
,,glauben  Sie  nicht,  dafl  wir  nicht 
wissen,  wer  Beethoven  war,  Sie 
schreiben  aber  hier  an  einer 
Stelle:  ,, .  -.  vor  mir  taucht  die 
hunenhafte  Gestalt  und  die  Maske 
auf,  die  heute  schon  so  all- 
bekannt  istf  wie  die  Beethoven- 
Maske , . .'  Ich  mdchte  Sie  ge- 
falligst  bitten"  —  und  hier  wurde 
der  Ton  des  Generalstablers 
streng  —  nSie  miissen  es  ver- 
stehen,  das  geht  doch  nicht,  Wir 
wissen  sehr  gut,  was  Beethoven 
ist!  Sie  vergleichen  aber  den 
Feldmarschall  —  mit  einem 
Musiker!  Das  kann  keinesfalls 
bleiben , ,  -  Wir  werden  hier" 
—  und  seine  Stimme  wurde  teils 
versohnlich,  teils  triumphierend  — 
„Friedrich    den  GroBen  setzen  . . ," 

Und  schon  schwang  er  den 
Blaustift,  Und  so  ist  es  auch 
gedruckt  erschienen,  Hindenburg 
mit  der  Maske  Friedrichs  des 
GroBen. 

Nur  ein  Musiker  . .-.  Also:  ich 
weiB  nicht,  wenn  Mozart  noch 
einmal  sttirbe  . .  <? 

Paul  KM 

HOrspiel  In  Naturfarben 

Co  nahm  der  Kalif  das  Leben 
•^  irgend  eines  hilflosen  Men- 
schen,  der  zufrieden  war  in  sei- 
nem  kleinen  Haus  und  in  seinem 
kleinen  Garten  und  sich  der 
Blaue  gliicklicher  Tage  freute. 
Dieses  Leben  farbte  er  mit  dem 
Purpur  der  Macht,  brachte  Strei- 
fen  hinein  mit  dem  Scharlach 
der    Lust;     dann    iiberzog    er    es 


mit  dem  tiefen  Grau  der  Er- 
niedrigung  und  fleckte  es  mit 
dem  grellen  Rot  der  Pein;  die- 
ses alles  aber  umsaumte  er  mit 
dem  schwarzen  Bord  der  Ver- 
nichtung. 

Eilnackrichten    des    West- 
deutschen    Rundfunks 

Qoethe  und  .  .  . 

Verleger   gesucht 

fur 

Goethe    und    die    Sudslawen 

und 

Goethe   und  Amerika 

Dr,   L.   Brajjer 

Stamparija    Pleitz 

Veliki    Beckerek 

Jugoslawia 

Inserat 

Brflnlng  seiner  Zeit  voraus 

Reichskanzler  Dr,  Briining  traf 
Dienstag  abend,  11.30  Uhr,  mit 
dem  fahrplanmafiigen  Schnellzug, 
von  Berlin  kommend,  in  Beglei- 
tung  von  Staatssekretar  Dr,  Piin- 
der  in  Weimar  ein. 

Deutsche  AHgemeine  Zeitung 
Dienstag  morgen 

Liebe  Weltblihnel 
^orbert  Schiller  kommt  mit 
*  '  Manuskripten  in  ein  illu- 
striertes  Blatt,  in  dem  sich  ein- 
mal wochentlich  die  Welt  spie- 
gelt.  Die  Redaktion  erfreut  sich 
wegen  ihres  ausgedehnten  Frem- 
denverkehrs  und,  ihrer  gemiit- 
lichen  Kaffeestunden  allgemeiner 
Beliebtheit. 

Dort  begriiBt  ihn  die  Vor- 
steherin  des  gastfreundlichen 
Hauses:  „Ah,  der  Herr  Schiller 
—  welch  angenehme  Abwechs- 
lung    im    Goethejahr!" 


Hinweise  der  Redaktion 

Darmstadt 

Gesellschaft  fur  sozialwissenschaftliche  Vortrage.    Dienstag-  (5.  4.)    20-00.     Musikvereio, 
Wilhelm-Glassing-Str.  24:    Drojit  ein  neuer  Weltkrieg?     K.  A.  Wittfogel. 

Bficher 

M.  Iljin:   Fuaf  Jahre,  die  die  Welt  verandern.     Malik- Verlag,  Berlin." 
Robert  Neumann:    Die  Macht.     Paul  Zsolnay,  Wien. 

Rundfunk 

Dienstag.  Langenberg  1840;  Kunstler  und  Auftraggeber,  Adolf  Behne.  —  Berlin  19.30; 
Reise  in  Spanicn,  Ernst  Toller.  —  Breslau  19.3u:  Vom  MiBtrauen  gegen  unsre  Zeit, 
Ludwig  Marcuse.  —  Konigsberg  19  30:  Utopie  von  gestern  -  Technik  von  heute, 
Waldemar  Baumgart  und  Ernst  W.  FreiBler.  —  Frankfurt  21.15:  A.  M.  Frey  Hest.  — 
Mittwoch.  Berlin  22.15:  Arbeitslosigkeit  in  den  U.S.A.  von  Actualis.  —  Donnerstag. 
Konigswusterhausen  17.30:  Vom  Werden  heutiger  Kiinstler,  Paul  Westheim.  — 
Soonabcnd.      Konigsberg  19.05:    Baumwolle  und  Petroleum  von  B.  Traven. 

498 


Antworten 

Reichswehrminister  Groener.  Das  .Hamburger  Fremdenblatt'  vom 
10.  Marz  berichtet  fiber  eine  Rede  des  Btfrgermeisters  Petersen:  „In 
tiefempfundenen  Worten  und  mit  charakteristischen  Einzelziigen 
zeichnet  Dr,  Petersen  die  heroische  Gestalt  Hindenburgs,  die  er- 
innere  an  Bismarck,  an  den  alten  Kaiser.  Er  erzahlte  dabei  aucb  ein 
personliches  Erlebnis  von  Hindenburgs  Besucb  in  Hamburg:  Als  er 
mit  Hindenburg  durch  die  Stadt  zum  Hafen  fuhr,  schrie  ein  kom- 
munistischer  Sprechhor  am  Wege:  ,Massenm6rderl  Massenmorder !' 
Ich  sagte:  ,Herr  Reichsprasident,  es  gibt  uberall  Irrsinnigel  Es  gibt 
auch  bei  uns  in  Hamburg  Irrsinnigel*  Da  sah  mich  der  alte  Herr 
sehr  rubig  an  und  sagte  mit  einem  iiberlegenen  Lacheln:  ^Massen- 
morder? —  Das  ist  doch  Ansichtssache.'"  Was  sagen  Sie  dazu? 
Sie  wollen  doch  jetzt,  nacb  der  .Weltbuhne*.  auch  das  .Tagebuch* 
beim  Kanthaken  nehmen,  Wann  stellen  Sie  denn  nun  Strafantrag 
gegen  den  Herrn  Reichsprasidenten? 

Arthur  Ernst  Rutra,  Sie  senden  uns  folgende  Resolution:  „Die 
munchner  Volksbuhne  ist  eine  Grundung  der  Sozialdemokratischen 
Partei,  wird  von  einem  sozialdemokratischen  Stadtrat  geleitet,  und  in 
ihrem  mehrkopfigen  Kunstbeirat  sitzt  wenigstens  ein  Herr,  der  sich 
als  Redaktionsmitgiied  der  .Miinchener  Post'  doch  zur  Sozialdemokra- 
tischen Partei  bekennt,  Aber  schon  der  angestellte  dramaturgische 
Beirat  ist  ein  Schriftsteller:  Paul  Alverdes,  der  als  Autor  des  Georg 
Miiller  Verlages  iiber  dem  Verdacbt  einer  kulturellen  JLinksorientie- 
rung'  stent.  Das  zeigt  sich  auch  in  der  Auswahl  der  Stiicke,  die  von 
der  Volksbuhne  ihren  Mitgliedern  im  Verlaufe  der  letzten  Jahre  zu- 
gedacht  worden  sind.  So  wurden  in  den  beiden  abgelaufenen  Jahren 
Kolbenheyers  fJagt  ihn  —  ein  Menschl'  und  ein  Stuck  um  den  salz- 
burger  Erzbischof  .Paris  Graf  von  Lodron'  fur  die  Mitglieder  an- 
genommen,  ein  wohlgemeintes  Werkchea  von  Bassermann- Jordan, 
einer  munchner  LokalgroBe,  die  neben  dem  Kritikeramt  am  .Bayri- 
schen  Kurier*  eine  einfluBreiche  Stellung  in  der  zweiten  groOen  mun- 
chener  Theater-Besucherorganisation,  der  katholischen  .Theater- 
gemeinde'  innehat;  und  ebenso  selbstverstandlich  wurde  Kolben- 
heyers zweites,  gleichfails  am  bayrischen  Staatstheater  gespieltes 
Stiick  ,Das  Gesetz  in  Dir'  den  Mitgliedern  der  Volksbuhne  vorgesetzt, 
das  —  wie  sein  Vorlaufer  —  ebenfalls  im  Verlage  Georg  Miiller  er- 
schienen  ist,  und  eben  erst  die  jtingste  Errungenschaft  des  Staats- 
theaters,  der  ,18.  Oktober*  yon  Schafer.  Die  Besucher  der  Volksbuhne 
konnten  ihre  Eindriicke  mit  den  Gasten  der  weltanschaulich  hetero- 
genen  Theatergemeinde  austauschen.  die  ihrerseits  gleichfails  diese 
Stiicke  erworben  hatte,  Die  Homogenitat  in  der  kunstlerischen  Be- 
treuung  beider  Besucherorganisationen  zeigt  sich  aber  auch  in  der 
Ablehnung  von  Stucken,  von  der  allerdings  in  erster  Linie  die 
munchner  Kammerspiele  betroffen  werden,  die  fiir  Wolffs  .Cyankali' 
und  Doblins  fEhe*  vergebens  bei  der  Volksbuhne  angeklopft  haben, 
wahrend  Lampels  .Revolte  im  Erziehungshaus*  erst  nach  langem  Zd- 
gern  und  auf  intensives  Verlangen  der  Mitglieder  angenommen  wurde. 
In  diesem  Jahre  bildete  lediglich  ,Das  weifie  Rofil'  einen  Unterschied 
in  der  Repertoiregestaltung,  das  von  der  munchner  Volksbuhne  fiir 
ihre  Mitglieder  gut  befunden,  von  der  Theatergemeinde  jedoch  aus 
kulturellen  Gninden  abgelehnt  worden  war.  Die  Volksbiihne  hat  aller- 
dings die  Moglichkeit,  spiel planbildend  zu  wirken  und  alljahrlich  ein 
Stuck  an  beiden  munchner  Biihnen  zu  verlangen.  Von  diesem  Recht 
hat  sie  jedoch  bisher  nur  zweimal  Gebrauch  gemacht:  als  sie  vor  eini- 
gen  Jahren  ihr  Jubilaum  feierte  und  die  Kammerspiele  mit  ihrer 
Unterstiitzung  ein  .revolutionares'  Stiick  spielen  wollten,  wahlte  sie 
aus  einer  Reihe  von  Vorschlagen  Georg  Kaisers  romantischen  fOkto- 
bertag'  und  setzte  sich  im  vorigen  Jahre  beim  Staatstheater  fiir  Pen- 

499 


zoldts  .Portugalesische  Schlacht*  'ein,  wobei  sic  diesmal  behutsamer- 
weise  als  zweites  Stiick  Wolffs  .Matrosen  von  Cattaro*  vorschlug. 
Man  konnte  diese  schone  Gestc  ruhig  wagen,  denn  die  Gefahr,  daB 
das  bayrische  Staatstheater  Friedrich  Wolff  spielen  wurde,  bestand 
—  wie  der  Kunstbeirat  der  Volksbiihne  sehr  wohl  wisscn  muBte  — 
auch  nicht  einen  einzigen  Augenblick  lang,  Diese  Feststelluhgen 
werden  von  den  Unterzeichneten  einmal  darum  gemacht,  weil  nicht 
einzusehen  ist,  warum  Miinchen  zwei  weltanschaulich  getrennte  Be- 
sucherorganisationen  haben  soil,  deren  eine  —  die  Theatergemeinde  — 
ihr  kiinstlerisches  Programm  durchaus  zurecht  in  strenger  Linienhal- 
tung  verficht  und  damit  beinahe  auch  das  Programm  fiir  die  andre 
entwirft,  so  daB  man  die  ktinstlerischen  Beirate  ruhig  vertauschen 
konnte,  ohne  daB  in  der  Spielplangestaltung  beider  Verbande  eine  be- 
sondere  Anderung  wahrzunehmen  ware.  Ferner  werden  sie  darum 
gemacht,  weil  dem  gegenwartigen  Kunstbeirat  der  Volksbiihne  in  sei- 
ner seit  Jahren  starren  Zusammensetzung  der  Sinn  fiir  Ziele  und  Auf- 
gaben  einer  Volksbiihne  abhanden  gekommen  zu  sein  scheint  und  eine 
Anderung  durch  Einsicht,  trotz  Vorstellungen,  Mahnungen  oder  Be- 
sch werden,  nicht  mehr  zu  erwarten  ist."  Unterzeichnet  von  A.  M.  Frey, 
Oskar  Maria  Graf,    Odon  Horvath  und  A.  E.  Rutra. 

Liga  gegen  Imperialismus.  Wir  veroffentlichten  in  der  Nr.  49 
des  vcrgangenen  Jahres  einen  Artikel  von  Asiaticus  iiber  M.  N.  Roy. 
Asiaticus  appellierte  dabei  an  die  proletarischen  Organisationen, 
Hilfsaktionen  fiir  Roy,  der  sich  im  Gefangnis  befand,  in  die  Wege 
zu  leiten.  Er  machte  den  betref fenden  Organisationen,  also  auch 
Ihnen,  zum  Vorwurf,  daB  Sie  sich  fiir  Roy  nicht  einsetzten,  weil  er 
Differenzen  mit  der  III.  Internationale  gehabt  habe.  Ihre  Absicht,  uns 
sofort  eine  Entgegnung  zu  ubermitteln,  scheiterte  an  der  bekannten 
polizeilichen  Beschlagnahme  Ihres  gesamten  Materials,  worunteri  sich 
auch  das  vorbereitete  Manuskript  befand.  Sie  lassen  uns  nunmehr 
eine  Darstellung  zugehen,  aus  der  wir  entnehmen,  daB  Sie  Ihrer  Auf- 
fassung  nach  gewichtige  Grtinde  haben,  fiir  Roy  keine  Sonderaktionen 
vorzunehmen  sondern  seinen  Fall  als  einen  der  vielen  Unterdriickungs- 
maBnahmen  Englands  gegen  die  revolutionare  Bewegung  in  Indien  zu 
betrachten.  Sie  werfen  Roy  vor,  daB  er  durch  sein  Verhalten  die  Ge- 
werkschaftsbewegung  Indiens  gespalten  habe;  daB  er  eine  opportu- 
nistische  Politik  treibe;  dafi  er  an  den  englischen  Gewerkschafts- 
kongreB  ein  BegruBungstelegramm  gerichtet  habe,  Sie  sehen  in  diesen 
und  andern  MaBnahmen  ein  Abweichen  Roys  von  der  einzig  richtigen 
Linie  des  revolutionaren  Kampfes  in  Indien.  Ihrer  Ansicht  nach  hat 
Roy  durch  sein  Verhalten  gegeniiber  den  biirgerlichen  Kreisen  der  re- 
volutionaren Bewegung  Indiens  die  Kampf front  des  Proletariats  ge- 
schwacht.  Darum  glauben  Sie  von  einer  Sonderaktion  fiir  Roy  Ab- 
stand  nehmen  zu  mussen,  betonen  aber,  daB  Sie  den  nunmehr  mit  zwolf 
Jahren  Verbannung  Bestraften  naturlich  nicht  von  Ihrer  Forderung  nach 
Befreiung  aller  verurteilten  Revolutionare  Indiens  ausnehraen. 

Dieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fiir  die  Abonnenten  bei,  auf 
der  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fiir  das  II.  Vierteljahr  1932 
einzuzahlen,  da  am  10.  April  1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht, 

Manuikripte  lind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  xu 
richten ;  es  wird  g-ebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Riicksenduny  erfolffen  kann. 
Dai  Auff  Uhrungsrecht,  die  Verwertung  vonTiietn  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  dte  musik- 
mechanischc  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radlovortragen 
bleiben  ffir  alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitrage  ausdrUckllch  vorbehalten. 
^ 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  TuchoUky   geleitet.  —   Verantwortlich :   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin} 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telepnon:  C  I,  Steinplatz  7767.  —   Postscheckkonto :  Berlin  11968. 
Bankkonto:    Darmstadter    u.    Nationalbank.      Depositenkasge    Charlottenburg,    Kantstr.  112. 


XXVIII.  Jahrgang  5.  April  1832  Nnmmcr  14 


Alba  itn  SchlafrOCk  vonCarl  v.Ossietzky 

Tm  vorigen  Heft  der  ,Weltbuhne'  hatte  sich  durch  zahlreiches 
Material  und  einige  notwendige  Bemerkungen  dazu  zwanglos 
eine  Sondernummer  „Zensur"  gefiigt.    Wem  unsre  Feststellun- 
gen  etwas  zu  pessimistisch  erschienen,  der  ist  inzwischen  auf 
hochst  drastische  Weise  belehrt  worden.    Denn  inzwischen  hat 
das  Reichsministerium  des  Innern  das  Verbot  des  Films  „Kuhle 
Wampe"  vor  der  Priifstelle  vertreten  und  durchgesetzt.  Gleich- 
falls  vor  acht  Tagen  hat  Rudolf  Arnheim  diesen  Film,  den  be- 
reits   Verbotsgeriichte   iiberschatteten,  hier   gewtirdigt.    Dieses 
Verbot    kront    friihere   Zensurskandale     aufs  wiirdigste.     Ab- 
wechsltmgshalber  haben  diesmal  keine  militarischen  Momente 
mitgespielt  sondern,  wie  vor    alters,  Kirche    und   Sittlichkeit. 
Aber  den  Zivil-Schleichern  im  Reichswehrministerium  des  Innern 
paBt  eben  die  ganze  Richtung  nicht,  der  Film  nicht  und  seine 
Motive,  und  die  Autoren  erst  recht  nicht.     Sonst  warden  die 
Herren  nicht  auBer  Acht  lassen,  da£  grade  dieser  Film  Gesund- 
heit  und  Ertiichtigung  des  Korpers  feiert,  zwei  Dinge,  die  der 
.militarische  Chef  dieser  Behorde  doch  sonst  als  gut  zu  feiern 
pflegt.    Besteht   hier  wieder   ein   Kompetenzkonflikt   zwischen 
Krieg  und  Innerm?  Wiinscht  der  Innenminister  fromme  und  gut- 
gesinnte,  wenn  auch  rachitische  Soldaten,  wahrend  sein  mili- 
tarisches  alter  ego  naturgemaB  auf  seelische  Ornamentik  we- 
niger  Wert  le£en  muB  als  auf  grade  Knochen?   Wir  wissen,  daB 
Groener  es  schwer  hat.    Als  ministerieller  Hermaphrodit  steht 
er  oft  vor  harten  Aufg.aben,  und  er  findet  die  Synthese  darin, 
indem  er  in  den  verschiedenen  Funktionen  gleichartig  versagt. 
Die  1,Egmont"-Auffuhrung   im    ber liner  Staats theater    hat 
bei  der  Kritik  und  bei  einem  tgroBen  Teil  des  Publikums  eine 
sehr    schlechte  Note    gefunden.     Es    wurde    neben    manchem 
Andern     bemangelt,     daB     der     ausgezeichnete     Schauspieler 
Aribert  Wascher  den  Herzog  von  Alba    nicht  wie  iiblich    im 
dunklen  Brustharnisch  spielte  sondern    in  einem    genuitlichen 
wattierten  Schlafrock,     Ich  ha.be  diese   Vorstellung  nicht  ge- 
sehen  und  kann  deshalb  auch  keine  Meinung  dariibef  haben, 
aber  nicht  alle  modernen  Regisseureinfalle  sind  ansprechend. 
So  entsinne  ich  mich,  vor  einigen  Jahren  einen  Schauspieler 
erlebt  zu  haben,  der  Philipp  II.  als  Homosexuellen  spielte  und 
den  stattiichen  Darsteller  des  Marquis  Posa  wahrend  seiner 
langen  Rede  liistern  anblinzelte  und  endlich  am  Kinn  krabbelte. 
Aber     die     offiziellen     Besucher     der     ..Egmont^-Auffiihrung, 
worunter  sich  vielleicht  auch  die  Filmhenker  aus  dem  Reichs- 
innern  befanden,  hatten  am  wenigsten  Veranlassung,  eine  solche 
1  501 


Auffassung  der  Albafigur  abzulehnen.  Dcnn  dieser  Diktator  im 
Schlafrock,  dieser  gar  nicht  imposante,  gespenstisch  meckernde 
Vertreter  der  Staatsraison,  der  den  Artikel  48  von  Madrid  nach 
Flandern  und  Brabant  importiert,  ist  die  beste  Syxnbolisierung 
der  Methoden,  nach  denen  wir  regiert  werden,  Es  muS  ein 
seltsamer  Theaterabend  gewesen  sein.  Im  Parkett  safi  befrackt 
und  bebandert  der  Staat,  oben  auf  der  Szene  geisterte  sein  Bild, 

Ich  mochte  hier  beileibe  nicht  Kostiimgeschichte  oder 
sonstige  Geschichte  treiben.  Aber  Fernando  Alvarez  Toledo 
Herzog  Alba  ist  durch  die  Jahrhunderte  eine  volkstiimliche 
Personifizierung  fanatischer  Ordnungsretterei  geblieben,  und 
die  aktuelle  Verbindung  fur  unsre  Zeit  stellt  sich  leicht  her, 
wenn  wir  ihn  als  Erfinder  des  sen  vorstellen,  was  wir  heute 
„wirtschaftliehe  Notverordnungen"  nennen.  Durch  die  „Drei 
Dekrete"  vom  Marz  1569  inuBte  jedermann  voni  allem  beweg- 
lichen  und  unbeweglichen  Vermogen  ein  Prozent  abgeben,  fiinf 
Prozent  bei  Verkauf  von  Grundeigentum,  zehn  Prozent  von  je- 
der  verkauften  Ware,  Als  dann  aber  kein  Geld  einkam,  wohl 
aber  Tumulte  ent  stand  en,  schuf  dieser  Klassiker  des  Ausnahme- 
zustandes  seinen  Vierten  Straisenat,  den  nRat  der  Unruhen". 
Die  historische  Wirkung  ist  bekannt.  Nach  secha  Jahren  zog 
Alba  davon,  Leichenhiigel  hinter  sich  lassend,  von;  den  Fliichen 
und  dem  Hohn  'Europas  verfolgt,  Aus  dem  voni  ihm  tyranni- 
sierten  Boden  wuchs  eine  neue  unabhangige  Republik. 

Die  deutsche  Reaktion  von  heute  hat  nicht  die  Kraft, 
einen  Alba  zu  produzieren,  Diese  harte,  sehnige  Gestalt  aus 
der  Gegenreformation,  mit  Gott,  den  Priestern  und  Juristen  in 
best  em  Einklang,  frei  von  Skrupeln,  mit  einer  Seele  ohne  Hin- 
tertreppe  in  private  Moralauffassungen,  kann  sich  nicht  in  Zeit- 
lauften  entwickebi,  deren  regierende  Schichten  unter  dem 
Druck  eines  schlechten  sozialen  Gewissens  agieren.  Diese  so 
stramm  diktierenden  Staatslenker  laufen  herum,  halb  die  Ver- 
fassung,  halb  fascistische  Kinderspiele  im  Herzen,  eingewickeit 
in  einen  biedern  wattierten  Schlafrock,  der  mehr  verbirgt  als 
die  Linien  des  Korpers.  Wir  leben  in  einer  Diktatur,  aber  ihr 
Terror,  noch  immer  unblutig,  gibt  sich  hausbacken,  treuherzig, 
schlichitbiirgerlich,  als  Dienst  am  gemeinen  Besten.  Eine  solchc 
Politik  ist  weniger  schrecklich  als  argerlich.  Sie  scheut  das 
Blut  Sie  schlagt  nicht  tot,  sie  rauchert  aus.  Sie  versohnt  sagar 
manchmal  durch  ihre  unireiwillige  Komik. 

Gibt  es  zum  Beispiel  ein  zweites  Land  auf  Gottes  Erde, 
wo  ein  solcher  Konflikt  moglich  ist,  wie  der  zwischen  Groener 
und  Severing  iiber  die  preufiische  Polizeiaktion  gegen  die 
Nazis  — ?  Das  heiBt,  ein  richtiger  Konflikt  ist  es  nicht,  denn 
der  preufiische  Vertreter  vor  dem  Staatsgerichtshof  zieht  mit 
verbindlichem  Lacheln  ein  von  Groener  eigenhandig  unter- 
502 


fcrtigtes  Schreiben  aus  der  Mappc,  das,  wenigstens  fur  den  ge- 
sunden  Menschenverstand,  PreuBens  Vorgehen  legitimiert.  In 
der  Rechtspresse  aber  halt  man  entgegen:  gewiB  hat  Groener 
unterschrieben,  aber  diese  Unterschrift  ist  ihm  abgelistet  wor- 
den;  er  kannte  den  Inhalt  dies  Schreibens  nicht.  Das  wird  in 
alien  Rechtsblattern  behauptet,  und .  vom  Reichsinnenministe- 
rium  ist  keine  stichfeste  Erklarung  zu  erlangen.  Oder  aber: 
uber  den  Empfang  der  Nazifiihrer  bei  Groener  wird  von  diesen 
die  Lesart  ausgegeben,  der  Minister  billige  die  preuBische 
Aktion  nicht-  Das  Ministerium  riickt  zwar  von  dieser  Lesart 
ab  —  aber  wie?  Und  die  grade  Herrn  Groener  besonders  ge- 
wogene  Presse  vom  Schlage  der  .Deutschen  Allgemeinen  Zei- 
tung'  schreibt  weiter,  Groener  denke  gar  nicht  daran,  Severing 
rechtfertigen  zu  wollen  tind  habe  das  auch  niemals  getan,  Vor 
dem  Staatsgerichtshof  vergleicht  sich  Severing  mit  Hitler  in 
aller  Stille,  die  Streitobjekte  verschwinden  plotzlich,  eine  amt- 
liche  Darstellung  der  Vorgange  ist  nicht  zu  erlangen,  und  in  der 
Presse  fiihren  die  verschiedenen  Lesarten  eine  katalaunische 
Schattenschlacht  weiter. 

Wenn  ein  Mann  wie  Groener  einen  so  wichtigen  Fall  dem 
allgemeinen  Ratselraten  uberlaBt,  wenn  er  sogar  den  Vorwurf 
auf  sich  sitzen  laBt,  ein  wichtiges  Schriftstiick  unterschrieben 
und  nicht  gelesen  zu  haiben,  so  laBt  sich  bei  diesem  kraftigen 
Sechziger  schlieBlich  nicht  Altersschwache  annehmen  son- 
dern  ein  politisches  Motiv.  Der  Herr  Minister  zweier  Ressorts 
will  gewiB  den  Staat  verteidigen,  aber  er  will  auch  dessen 
Feinde  nicht  verletzen.  Der  Verfassungsminister  will  Hitler  in 
den  Schranken  halten,  der  Militarminister  ihn  fur  wehrpolitische 
Interessen  nutzbar  machen.  Beide  Groenerhalften  strauben  sich 
gegen  die  Prasidentschaftskandidatur  Hitler,  aber  mindestens 
die  eine  davon  mochte  spatere  Moglichkeiten  fiir  PreuBen,  fiir 
das  Reich  offen  lassen.  Ein  soiches  Spiel  ware  eines  Talleyrand 
wurdig  gewesen,  auch  der  lachelnde  Bulow  konnte  das.  Aber 
Herr  Groener  ist  kein  wendiger  Diplomat  und  iiberhaupt  kein 
groBer  Geist  sondern  ein  durchschnittlicher  General,  ein  Poli- 
tiker  von  spieBigen  Ordnungsbegriffen,  wenn  schon  ein  Alba, 
dann  einer  im  gefiitterten  Schlafrock.  Groener  hatte  Meriten 
als  Chef  des  Transportwesens,  der  andre  Transportfachmann 
ist  russischer  Reitergeneral.     So  seltsam  ist  es  oft  im  Leben. 

Groener  hat  den  Ehrgeiz,  gleichzeitig  an  den  zwei  groBen 
politischen  Hoclizeiten  teilhaben  zu  wollen.  Ich  bin  nicht 
geneigt,  Herrn  Groeners  Rundungen  Unrecht  widerfahren 
zu  lassen,  aber  urn  zugleich  bei  der  Republik  und  beim  Fascis- 
mus  zu  sitzen,  dazu  langt  nicht  einmal  der  dicks te  deutsche  Mi- 
nisterarsch.  Groener  wird  bald  zwischen  die  Stiihle  pltunpsen, 
und  niemand  sollte  den  Sturz  aufhalten.  Nur  scheint  es  notwen- 
dig,  daB  die  Republik  rechtzeitig  ihr  Tafelservice  in  Sicherheit 
bringt. 

503 


Die  jtingSte  Partei  von  flans  Dentsch 

TUf  an  sctze  den  Fall,  die  Kommunisten  hatten  sich  mit  Putsch- 

absichten  fur  die  Nacht  der  Prasidentenwahl  getragen,  sie 
hatten  nach  deren  Bekanntwerden  beim  Staatsgerichtshof 
Riickgafce  des  polizeilich  beschliagnahmten  Materials  verlangt 
Wir  brauchen  nicht  zu  schildenx,  was  geschehen  ware.  Die 
vollig  andersartige  Behandlung  der  Nazis  vor  dem  Staats- 
gerichtshof zeigt,  wie  ernst  die  Gefahr  der  legalen  Fascisierung 
noch  immer  ist. 

Und  dabei  ist  die  Arbeiterschaft  uneiniger  denn  je.  Der 
.Vorwarts*  erzahlt,  wie  weit  es  die  Arbeiterschaft  in  Deutsch- 
land  gebracht  habe,  weil  sie  Hindenburg  wahlen  darf ;  die  ,Rote 
Fahne'  ist  zwar  etwas  betreten  iiber  den  MiBerfolg  der  Kom- 
munisten bei  der  Prasidentenwahl;  aber  die  obern  Instanzen 
der  Partei  versuchen,  sich  von  alter  Schuld  reinzuwaschen,  und 
schieben  den  MiBerfolg  auf  die  schlechte  Durchfiihrung  der 
Linie  durch  die  untern  Funktionare.  Und  wahrend  die  Kom- 
munisten behaupten,  da6  sie  die  gesamte  Arbeiterklasse  gegen 
den  Fascismus  fiihren  wollen,  schreiben  sie  jeden  Tag  einen 
Artikel,  daB  die  neu  gegriindete  SAP  zur  Zeit  Hauptfeind  sei 
und  wichtigstes  AngriffszieL 

In  diese  Epoche  argster  Zersplitterung  der  deutschen  Ar- 
beiterbewegung  fall't  der  erste  Parteitag  der  Sozialistischen 
Arbeiterpartei,  die  jetzt  etwa  ein  halbes  Jahr  alt  ist.  Ihre  Ka- 
ders  bildeten;  oppositionelle  Sozialdemokraten,  die  im  Gegen- 
satz  zur'Tolerierungspolitik  gestanden  hatten.  Die  Partei  hatte 
ihre  Stiitzpunkte  in  Zwickau,  Plauen,  Breslau,  Frankfurt.  AU- 
mahlich  stieBen  zu  ihr  die  ehemalige  USPD,  der  Sozialistische 
Bund,  dessen  fiihrender  Kopf  Le  deb  our  war,  und  zuletzt  die 
Minderheit  der  Kommunistischen  Opposition,  in  der  neb  en  Paul 
Frolich  vor  allein  die  entscheidenden  Gewerkschaftsfachleute 
der  KPD  vertreten  waren.  Dazu  stieBen  radikale  Pazifisten, 
die  die  Panzerkreuzerpolitik  der  Sozialdemokrateni  nicht  mit- 
machten. 

Die  SAP  hatte.  sich  vor  einem  halben  Jahr  ein  vorlaufiges 
Aktionsprogramm  gegeben,  von  dem  man  mit  einigem  Recht 
sag  en  konnte,  daB  es,  als  es  in  Druck  ging,  bereits  veraltet  war; 
dieses  Programm  hielt  noch  an  vielen  demokratischen  Illusio- 
nen  f  est,  wahrend  der  groBte  Teil  von  den  Mitgliedern  der  neuen 
Partei  bereits  viel  weiter  fortgeschritteni  war.  In  dem  halben 
Jahr, hat  die  junge  Partei  standig  weiter  zugenommen.  Ende 
Januar  hatte  sie  bereits  52  000  Mitglieder  und  wird  jetzt  knapp 
von  60  000  entfernt  sein.  Allerdings  ist  das  Wachstumstempo 
nicht  so  groB  gewesen,  wie  es  manche,  die  au?  «der  Sozial- 
demokratie  kamenf  zunachst  gehofft  hatten. 

Die  Mangel  des  vorlaufigen  AktionsprogramL  ty  wurden  in 
der  politischen  Arbeit  vielfach  empfunden,  und  so  sollte  der 
erste  Parteitag  zunachst  ein  Programm  formulieren.  Es  lagen 
dazu  groBere  Vorarbeiten  vor:  der  Programmentwurf  von  Zwei- 
ling-Sternberg,  die  den  linken  Fliigel  innerhalb  der  Partei  dar- 
stellten;  und  der  von  Fritz  Lewy- Weckerle,  die  die  Ansichten 
der  Mittelgruppe  reprasentierten.  Der  Parteitag  nahm 
kein     endgiiltiges    Programm    an;     man    hatte    in    der    Zwi- 

504 


schenzeit  die  Erfahrung  gemacht,  dafl  es  unmSglich  war, 
alle  die  verschiedenartigen  Elemente,  die  sich  in  der  neuen 
Partei  vereinigten,  so  schnell  unter  einen  Hut  zu  bringen. 
SchlieBlich  hatte  ja  auch  die  kommunistische  Internationale 
neun  Jahre  gebraucht,  ehe  sie  sich  ein  endgultiges  Pragramm 
gab.  Man  legte  daher  dem  Parteitag  eine  Prinzipienerklarung 
vor,  die  in  gedrangter  Form  ungefahr  die  Gedankengange  ent- 
hielt,  die  dem  Programmentwurf  Zweiling-Sternberg  ent- 
sprachen.  Da  hinter  dieser  Prinzipienerklarung  die  beherr- 
schende  Autoritat  des  Parteifiihrers  Seydewitz  stand,  so  wurde 
diese  Erklarung  nicht  nur  von  dem  linken  Fliigel  sondern  auch 
von  der  Mitte  angenommen  und  erzielte  so  eine  iiberwaltigende 
Majoritat:  mehr  ais  siebzig  Stimmen  bei  insgesamt  einigen 
neunzig,  Wahrend  man  von  dem  ehemaligen  Aktionspro- 
gramm  sag  en  konnte,  daB  es  hinter  dem  damaligen  Reife- 
zustand  der  SAP  zuriickgeblieben  war,  so  kann  man  umge- 
kehrt  von  der  absolut  revolutionaren  Prinzipienerklarung  sa- 
gen,  daB  sie  dem  Reifezustand  eines  groBen  Teils  der  Mitglie- 
der  weit  vorauseilt. 

Und  das  zeigte  sich  auch  bereits  bei  den  Verhandlungen 
des  Parteitages.  Gegen  die  Erklarung  hatte  zunachst  nur  ein 
kleiner  Kr-eis  der  Delegierten  gestimmt.  Aber  im  Laufe  der 
Verhandlungen  wurden  die  politischen  Konsequenzen,  die  sich 
daraus  ergaben,  immer  klarer,  und  so  erfolgte  kurz  vor  dem 
Ende  des  Parteitages  eine  Erklarung  von  mehr  als  einem  Vier- 
tel  der  Delegierten,  unter  andern  den  Reichstagsabgeordneten 
Siemsen,  Portune  und  Ziegler,  daB  sie  diese  Prinzipienerkla- 
rung nur  als  eine  Diskussionsgrundlage  anerkennen,  Damit 
wurde  nur  direkt  vor1  aller  Offentlichkeit  dokumentiert,  was 
sich  im  Laufe  der  gesamten  Debatte  herausgestellt  hatte:  daB 
es  innerhaib  der  SAP  noch  keine  einheitliche  Grundauffassung 
iiber  die  Gestalt  der  Partei  und  ihre  Aufgaben  gibt.  Diejeni- 
gen,  die  aus  der  Sozialdemokratie  kamen,  betonten  immer 
wieder  mit  Recht,  daB  es  viel  leichter  gewesen  war,  in  der 
SPD  Opposition  zu  machen,  als  in  der  SAP  eine  eigne  Politik. 
Zeigte  so  der  Parteitag  noch  sehr  deutlich,  von  wie  verschie- 
dener  Herkunft  die  fiihrenden  Kopfe  sind,  und  wird  dadurch 
naturlich  die  Aktionsf ahigkeit  in  gewissem  Umf ange  ge- 
schwacht,  so  ist  aber  auch  als  starkes  Positivum  zu  bewerten, 
dafi  mit  der  SAP  wohl  die  einzige  sozialistische  Tribune  in 
Deutschland  gegeben  ist,  wo  noch  wirklich  diskutiert  wird,  Wenn 
die  Sozialdemokratie  heute  einen  Parteitag  abhielte,  so 
wiirde  es  noch  weniger  Diskussionen  geben  als  auf  dem  letz- 
ten  in  Leipzig.  Und  wenn  die  KPD  einen  Parteitag  abhielte, 
so  wurden  alle  Beschliisse  einstimmig  angenommen  werden. 
In  der  SAP  dagegen  verkorpert  sich  der  immer  starker  wer- 
dende  Wille  der  Massen  zu  einer  wirklichen  Klarung.  Und  die 
kommende  politische  Entwicklung  diirfte  eine  Verstarkung  der 
Partei  bringen^  Aus  mehrfachen  Griinden:  Man  hatte  vor  dem 
ersten  Wahlgang  vielfach  die  Diszipliniertheit  der  sozialdemo- 
kratischen  Arbeiter  unterschatzt,  Sie  sind  bei  der  Parole  Hin- 
denburg  nicht  zu  Thalmann  gegangen,  sie  sind  nicht  einmal  zu 
Hause  geblieben,  sie  haben  gewahlt.  Sie  haben  gewahlt,  weil 
eben  Hindenburg  doch  noch  nicht  Hitler  ist.     Aber  sie  haben 

2  505 


g-ewahlt,  ohne  daB  man  ihnem  etwas  dafiir  vcrsprochen  hat. 
Nun  wird  wohl  bald  wieder  cin  neuer  Lohnabbau  einsetzen, 
und  das  wird  das  Eindringen  von  Gedankengangen  der  SAP  bci 
den  alten  sozialdemokratischen  Mitgliedern  erleichtern,  die 
spiiren  werden,  daB  ihnen  die  Wahl  Hindenburg  nichts  ntitzt. 

Aber  auch  innerhalib  der  KPD  beginnt  es  zu  rumoren.  Die 
Funktionare,  die  in  einer  unerhort  intenshren  Kleinarbeit  alles 
fur  die  Wahl  Thalmanns  getan  haben,  lassen  sich  nicht  einfach 
mehr  von  den  zentralen  Instanzen  beschimpfen,  lassen  sich 
nicht  einfach  herunterputzen,  daB  sie  die  Weisungen  der  Zen- 
trale  falsch  ausgefiihrt  hatten.  Und  wenn  jetzt  nach  dem  kom- 
munistischen  MiBerfolg  die  ,Rote  Fahne*  als  Kampfparole  nur 
auszugeben  weiB,  daB  man  in  der  Agitation  die  Bedrohung 
SowjetruBlands  von  der  Mandschurei  her  in  den  Vordergrund 
stellen  miisse,  so  erklaren  viele  kommunistische  Funktionare 
und  natiirlich  noch  mehr  die  groBeii  mit  der  KPD  sympathisie- 
renden  Massen,  daB  ihnen  andre,  und  zwar  dankbarere  Auf- 
gaben,  heute  naher  stiinden.  Die  SPD  wird  in  diesem  Sommer 
noch  viel  tolerieren  miissen,  das  wird  der  SAP  nicht  zum  Scha- 
den  werden.  Die  KPD  wird  sobald  keine  wirkliche  Aktion  fer- 
tig  bringen,  das  wird  wiederum  die  SAP  begiinstigen.  So  wird 
sie  voraussichtlich  zur  Klarung  der  Kopfe  in  den  eignen  Reihen 
noch  eine  S panne  Zeit  haben, 

Wie  wenig  es  sich  bei  dieser  Abspaltung  von  der  Sozial- 
demokratie  um  eine  nur  deutsche  Angelegenheit  handelt,  zeigt 
unter  anderm,  daB  auch  in  der  hollandischen  Partei  grade  in 
diesen  Tagen  ein  Abfall  des  linken  Flugels  unter  Fiihrung  Edo 
Fimmens  eingetreten  ist.  Die  SAP  wird  in  die  PreuBen- 
wahlen  mit  eignen  Kandidaten  gehen;  bei  der  mangelnden 
Starke  der  Organisation,  der  Presse  und  der  Finanzen  sind  die 
Aussichten  natiirlich  in  keiner  Weise  betrachtlich.  Aber  auch 
diese  Kampagne  kann  dazu  ausgenutzt  werden,  den  Gedan- 
ken  der  Einheitsfront  in  der  Arbeiterschaft  zu  kraftigen, 
Daher  hat  die  SAP  beschlossen,  sowohl  der  KPD  wie  der  SPD 
Listenverbindung  vorzuschlagen.  Sie  sieht  ihre  Lebensberech- 
tigung  darin,  dem  Fascismus  die  geschlossene  Arbeiterfront 
entgegenzustellen. 

Blutige  KonjUflktUr  von  Rudolf  Braune 

Die  Weltborsen  begegnen  den  Ereignissen  im  Fernen 
Osten  mit  einer  nicht  nur  erstaunlichen  Ruhe,  sondern  sogar 
in  einigen  Fallen  mit  einer  Art  yon  Hoffnungsfreudigkeit,  die 
mit  der  Zunahme  der  Komplikationen  um  Schanghai  nur  zu 
wachsen  scheint . , .  Natiirlich  profitiert  in  solchen  Fallen  zu- 
erst  die  Rustungsindustrie . . .  Hausse  der.  Hotchkiss.-Aktien . . . 
von  etwa  1100  auf  1268 . . .  Gnome  &  Rhone  von  300  auf  360 .. . 
Lorraine-Werke  von  90  auf  118...  Schneider-Creuzot  von  1300 
auf  1350.,. 

.Deutsche  Bergwerkszeitung'  4.  2.  1932 

^XF/siS  dem  Monsieur  Schneider- Creusot  und  dem  Mister 
w  Vickers- Armstrong  recht  ist,  ist  den  Herren  Klockner, 
Thyssen  und  Duisberg  billig:  Vom  groBen  Schifisfriedhof  im 
waltershofer  Hafenbecken  werden  Frachtdampfer  gechartert, 
im  hamburger  Freihafen  entwickelt  sich  ein  schwunghafter 
506 


Waffenhandel,  und  die  Spezialabteiiungen  wichtiger  „Vestag"- 
und  nL  G/'-Betriebe,  die  bisher  vollkommen  still  lagen  oder 
nur  unter  Einschiebung  ianger  Feierschichten  ein.  kummerliches 
Lebcn  fristcn  konnten,  arbeiten  wieder  mit  Hochdruck:  Kon- 
junktur,  blutige  Konjunktur ... 

Der  Dank  der  Riistungsindustrie  ist  dicsmal  den  unmittel- 
bar  Beteiligten  an  der  Verlangerung  dieser  Konjunktur,  den 
Kulis  von  Tschapei  und  Takio  gewiB,  obwohl  die  nur  mittel- 
bar  beteiligten  aber  unmittelbaren  Arrangeure  an  Hand  des 
Volkerrechts  haarscharf  und  prazis  beweisen,  daB  juristisch 
ein  Kriegszustand  im  Fernen  Osten  iiberhaupt  nicht  besteht 
und  die  Toten  in  die  Rubrik  1fVerkehrsunfalle"  einzuordnen 
sind,  Diese  Tarnung  der  militarischen  Operationen  durch  nicht- 
erlassene  Kriegserklarungen  findet  eine  wiirdige  Parallele  im 
Verbal  ten  der  deutschen  Riistungsindustrie,  die  Kriegsmaterial 
fiir  den  Fernen  Osten  produziert,  ohne  daB  die  Belegschaften 
etwas   ahnen. 

In  dem  der  ,,Schmiedag"  (Hoesch-Konzern)  angeschlosse- 
nen  ^Griinthaler  Eisenwerk"  in  Hagen  wurden  bisher  Tank- 
bestandteile  (Raupertschlepper,  Traktoren)  und  Eisenbahn- 
bedarf  hergestellt.  Vor  wenigen  Wochen  kam  ein  neues 
Stiick  in  die  Abteilung  Bohrerei,  dessen  Form  und  Pro- 
duktionsweise  erbeblich  von  ahnlichen  Stiicken  abwich.  Die 
erste  Sendung  ergab  500  Stiick,  MRohlinge"  genamnt  —  in 
Wirklichikeit  Maschinengewehrmantel,  die  nach  der  Schweiz 
gingen,  um  dort  fur  Japan  weiterverarbeitet  zu  werden. 

Das  ebenialls  in  Hagen  liegende  „Akku"~Werk  stellt  neu- 
artige  Panzerplatten  fiir  U-Boote  hen  Eine  japanische  Militar- 
kommission  nahm  10000  Stiick  ab. 

Diese  Abnahmekommissionen  des  japanischen  Generalstabs 
sind  iiberhaupt  haufige  Gaste  in  den  westdeutschen  Industrie- 
werken.  Aucb  beim  EinschieBen  Kruppscher  Langrohr- 
gescbiitze  auf  dem  SchieBplatz  Lohningen  (Oldenburg)  waren 
japanische  Offiziere  zugegen. 

Die  Firma  Kaspar  &  Nolle,  Liidenscheid,  fiihrte  einen  Aui- 
trag  iiber  4000  Kilo  Kupferstfreifen  fiir  Granatringe  aus. 
I.  H.  Henkels  in  Solingen  lief erte  4000  Stiick  Maschinengewehr- 
teile  nach  der  Schweiz.  (Die  weiterverarbeitenden  und  die 
Montagebetriebe  der  internationalen  Riistungsindustrie  schei- 
nen  sich  in  der  Nahe  von  Genf  am  wohlsten  und  geborgensten 
zu  fuhlen). 

Die  Firma  Karl  kerg  in  Werdohl  produziert  Kartuschen 
fiir  schwere  Granaten,  das  Textilwerk  Rheine  Sandsacke, 
Bestimmungsort:  Kobe. 

Stacheldraht  ist  ein  gesuchtes  Produkt.  So  viel  Schreber- 
garten  gibt  es  in  der  ganzen  Welt  nicht,  um  die  als  „Garten- 
draht"  deklarierte  Ware  zur  Umzaunung  zu  verwenden. 
„Konix",  Diisseldorf,  und  die  „Gute  Hoffnungshiitte"  in  Gel- 
senkirchen,  die  ein  neues  Kaltverfahren  anwendet,  sind  die 
Haupthersteller  der  Spanischen  Reiter.  Die  Stacheldraht- 
abteilung  der  Hoeschwerke  arbeitete  in  den  letzten  Monaten 
nur  drei  Tage  in  der  Woche,  seit  Anfang  dieses  Jahres  in  drei 
Schichten  taglich! 

507 


Wo  Krieg  istf  steigen  die  Chemie-Aktien.  Statt  Bemberg- 
seidc  laBt  sich,  wenn  es  gewiinscht  wird,  sehr  schnell1  Schiefl- 
baumwolle  fabrizieretn,  ohne  daB  die  Arbeiterinnen  viel  mer- 
ken.  Die  Schwefelkiesgrube  Sachtleben  schickt  seit  Wochen 
Hunderte  von  Tonnen  ,,Pilanzenschutzmitter'  nach  SchanghaL 

Die  Mannesmann-Rohrenwerke  in  Diisseldorf-Rath  pro- 
duzieren  Stahlilaschen,  die  in  einem  Stickstoffwerk  der  I.  G: 
ihre  todliche  Ammoniaksulfat-Fiillung  cr  halt  en.  Von  Lever- 
kusen  gehen  mit  Chlor  gefiillte  Bomben  nach  dem  Fernen 
Osten,  und  eine  neue  Versuchsstation  fur  Giftgase  erhebt  sich 
aul  dem  wiesdorfcr  Gelande.  Die  Kokerei  der  Schachtanlage 
MKaiserstuhl  2"  (Hoesch-Werke),  Koln-Neuessen,  lieferte  400 
Tonnen  Ammoniak  nach  Japan.  70  Waggons  derselben  Ware 
verfrachtete  die  Kokerei  des  Hoerder  Vereins  nach  Obersee; 
Umschlaghafen:  Amsterdam. 

Die  Mehrzahl  dieser  ammoniakliefernden  Betriebe  sind 
der  I.  G.  angeschlossen,  in  deren  ludwigshafener  Werk  vor 
wenigen  Wochen  der  stellvertretende  Chef  des  Sicherheits- 
wesens,  Diplomingenieur  Eicke,  der  seltsamerweise  gleich- 
zeitig  Fuhrer  der  10.  Standarte  der  NSDAP  (Pfalz)  war,  wegen 
Herstellung  einer  groBern  Anzahl  von  Bomben  verhaftet  wurde. 
Die  Bomben  waren  naturlich  nur  zur  Abwehr  kommunistischer 
Putsche  bestimmt. 

,,Der  Angriff  Japans  auf  Charbin",  schrieb  der  (Deutsche*, 
das  Organ  Stegerwalds,  vor  wenigen  Wochen,  flist  ein  Angriff 
auf  RuBland . . .  Japan  konnte  in  diesem  Krieg  auf  die  Sym- 
pathie  Europas  rechnen  . . ."  Das  nebulose  Wort  „Sympathie" 
bedeutet,  in  die  eindeutige  Kaufmannssprache  ubersetzt:  Ma- 
schinengewehre,  Gasbatterien,  Spanische  Reiter,  Chlor . . . 

Aufgeteilt  auf  Dutzende  kleiner  und  mittlerer  Betriebe  — 
die  sich  keinesfalls  auf  die  wenigen,  hier  aufgezahlten  west- 
deutschen  Beispiele  beschranken  —  hat  sich  ein  Kettensystem 
der  Riistungsproduktion  entwickelt,  das  den  Arbeitern  des  be- 
treffenden  Werkes  fast  gar  keine  Kenninisse  vom  Endprodukt 
vermittelt.  Die  einzelnen  Abteilungen  stellen  nur  harmlbse 
Einzelteile  her,  die  erst  in  absolut  zuverlassigen  Montagewerk- 
statten  oder  im  Ausland  zusammengebaut  werden. 

Blutige  Konjunktur  —  und  was  weiter?  „Der  Krieg  im 
Osten  soil  uns  freuen'1,  erklarte  der  christliche  Gewerkschafts- 
sekretar  Wagner  bei  einer  Versammlung  des  Christlichen  Me- 
tallarbeiterverbandes  im  Ruhrgebiet,  „denn  dadurch  bekommen 
auch  die  Arbeiter  wieder  ein  dickeres  Portemonnaie . . ." 


EamOIl  de  Valera  von  Hanns-Erich  Kaminski 

T\  er  Held  '  des  irischen  Unabhangigkeitskampf  es,  der  Mann, 
der  heute  mit  diplomatischen  Noten  und  parlamentarischen 
Voten  gegen  England  kampft  wie  vor  einigen  Jabren  mit  Bom- 
ben und  Revolvern,  ist  nur  ein  halber  Ire;  sein  Vater  war  ein 
Latein-Amerikaner.  Trotzdem  sieht  Eamon  de  Valera  wie  ein 
Angelsachse  aus,  und  zwar  wie  ein  puritanischer  Professor,  ob- 
gleich*  er  selbstverstandlich  katholisch  ist.  Die  hagere  Gestalt 
und  mehr  noch  das  schmaie  Gesicht  mit  den  verkniffenen  Lip- 

508 


pen  erinnern  an  Wilson.  Er  spricht  auch  wie  ein  Angelsachse: 
in  kurzcn,  klaren  Satzen,  schwunglos  und  nrit  deutlicher  Vor- 
liebe  fur  Statistiken. 

Als  ich  ihn  im  Oktobcr  1929  in  Dublin  aufsuchte,  erklarte 
er  mir:  ,,Unsre  Haltung  gegeniiber  England  geht  davon  aus,  daB 
England  nicht  das  mindeste  Recht  hat,  sichi  in  die  irischen  An- 
gelegenheiten  einzumischen.  Der  Vertrag  von  1921  war  ein 
Diktat,  er  wurde  uns  durch  Kriegsdrohungen  auigezwungen, 
das  irische  Volk  hat  ihn  nicht  freiwillig  angenommen.  Das 
irische  Volk  ist  an  ihn  moralisch  nicht  gebunden,  Sollte  die 
englische  Einmischung  aufhoren,  so  ist  nicht  einzusehen, 
warum  wir  nicht  mit  England  in  nachbarlichen  und  freund- 
schaitlichen  Beziehungen  leben  konnten." 

„Wie  wollen  Sie  Ihr  Ziel  verwirklichen?"  fragte  ich.  ,,Hof- 
fen  Sie  vielleicht  auf  auslandische  Hilfe?"  De  Valera  gab  mir 
darauf  keine  Antwort.  ,,Ich  hoffe",  sagte  er  nur,  f,auf  den 
guten  Willen  aller,  die  die  Freiheit  liebeh,"  Im  iibrigen  miisse 
Irland  sich  selber  helfen.  Wie?  ,,Indem  wir  unser  Volk  organi- 
sieren,  seine  Rechte  wahrzunehmen." 

Damn  sprach  er  von  den  zwanzig  Millionen  Pfund,  die  Ir- 
land jahrlich  an  England  zu  zahlen  hat.  f,Wenn  man  diesen 
Betrag  auf  den  Kopf  der  Bevolkerung  umrechnet",  setzte  er 
mir  auseinander,  ,,so  ergibt  sich,  daB  er  gfoBer  ist  als  der  Be- 
trag, den  jeder  einzelne  Deutsche  fur  die  Reparationen  auf- 
bringen  muB." 

Das  Programm  de  Valeras  war  also  schon  fertig,  als  seine 
Partei  noch  die  Opposition  im  irischen  Parlament  bildete.  Es 
ist  jedoch  ein  nur  scheinbar  klares  Programm,  in  Wahrheit 
spiegelt  es  die  ailzu  pompose,  wirklichkeitsfremde  und  dabei 
ianatische  Romantik  wider,  die  typisch  fur  Sudirland  ist.  Schon 
in  dera  Namen  der  Partei  wird  sie  deutlich.  Sie  heiBt  Fianna 
Fail,  zu  deutsch  „Heer  des  Schicksals". 

Was  will  der  Fianna  Fail  denn  eigentlich?  Die  Unabhan- 
gigkeit  von  England?  Aber  der  irische  Freistaat  ist  unabhan- 
gig!  Er  hat  eine  eigne  Armee,  eigne  Justiz,  eigne  Hoheits- 
zeichen,  eignes  Geld,  eigne  Briefmarken,  Er  empfangt  und  ent- 
sendet  Gesandte,  selbst  in  London  hat  er  einen  diplomatischen 
Vertreter.  Er  erhebt  Zolle,  und  zwar  auch  auf  englische  Ware- 
Er  kann  selbstandig  Vertrage  schlieBen;  beispielsweise  die 
Locarnovertrage  hat  die  irische  Regierung  nicht  unterzeichnet. 
Ja,  diese  Republik,  die  einen  eignen  Prasidenten  an  der  Spitze 
hat,  braucht  nicht  einmal  an  Kriegen  teilzunehmen,  die  Eng- 
land ftihrt.  Sie  zahlt  daher  auch  keine  Beitrage  fiir  die  Flotte. 
Ihre  ganzen  Beziehungen  zum  britischen  Imperium  beruhen 
auf  dem  Treueid,  den  die  Regierung  dem  Konig  zu  leisten  hat, 
und  auf  den  zwanzig  Millionen  Pfund,  die  de  Valera  jetzt  nicht 
mehr  zahlen  will. 

Von  diesen  zwanzig  Millionen  Pfund  bilden  einen  kleinen 
Teil  die  Pensionen  fur  die  britischen  Beamten,  die  fruher  in 
Irland  tatig  waren.  Der  weitaus  groBere  Teil  aber  besteht 
*  aus  dem  Zinsendienst  und  der  Amortisation  einer  Summe,  die 
die  englische  Regierung  in  Irland  zur  Durchfuhrung  der  Agrar- 
reform  investiert  hat.    Durch  diese  Agrarreform  von  1903  er- 

509 


hielten  die  irischen  Pachter  Geld  aus  Staatsmitteln,  urn  den 
Landlords  ihr  Pachtgebiet  abzukaufen.  Der  Fianna  Fail  hatte 
trotzdem  das  Recht,  diese  Zahlungen  zu  verweigern,  wenn  er 
eine  radikalere  Agrarreform  durchfiihren  wollte.  Abcr  de  Va- 
lera  denkt  gar  nicht  daran,  die  GroBgrundbesitzer,  die  heute 
alle  irische  Patrioten  sind,  ohne  Entschadigung  zu  eniteignen. 
,,Die  Agrarfrage'  ist  erledigt",  erklarte  er  mir.  Jawohl,  durch 
das  Gesetz,  dessen  Urheber  Lloyd  George  war,  und  mit  Hilfe 
der  englischen  Staatskasse,  aus  der  die  Entschadigungsgelder 
floss  en! 

VerlaBt  man  Dublin,  so  sieht  man  jedoch,  daB  die  StraBen 
des  Freistaates  noch  immer  duroh  hohe  Mauern  gesaumt  sind. 
Um  jedes  bebaubare  Stiickchen  Land,  um  jede  Weide  erheben 
sich  diese  Matiern,  die  den  Besitz  der  Landlords  abgrenzen. 
Die  Pachter,  die  zu  selbstandigen  Bauern  geworden  sind,  und 
auch  jene  Pachter,  die  fremden  Boden  bearbeiten,  bilden  dabei 
ebenfalls  schon  eine  bevorzugte  Klasse.  Die  Masse  der  Land- 
bewohner  sind  Proletarier  ohne  Ar  und  Halm,  und  haufig  trifft 
man  verfallene  Hiitten,  aus  denen  die  Bewohner  fortgezogen 
sind,  um  in  die  Stadt  oder,  wenn  sie  das  Geld  fiir  die  Oberfahrt 
auEbringen  konnten,  in  die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  zu 
ziehen.  Denn  die  Vereinigten  Staaten  sind  das  gelobte  Land 
der  Iren,  in  dem  mehr  Iren  wohnen  als  auf  der  g  run  en  InseL 

Sie;  ist  schon,  diese  Insel.  Das  Meer,  das  sie  umspult, 
schlagt  an  pittoreske  Felsen,  zwischen  sanften  Hu'geln  liegen 
schwarze  Seen,  iiber  dem  feuchten  Gnin  weiter  Moore  bro- 
deln  ewige  Nebel,  und  zwischen  keltischen  Hunengrabern  und 
uralten  Heiligtiimern  wachsen  Legenden,  Marchen  und  Lieder 
wild  wie  das  Heid'ekraut.  Aber  leben  wollen  in  dieser  melan- 
cholischen  Landschaft  nicht  einmal  die  GroBgrundbesitzer,  die 
ihre  in  endlosen  Garten  versteckten  Schlosser  allenfalls  zur 
Jagdzeit  aufsuchen,  Alles  drangt  in  die  Stadte;  von  den  drei 
Millionen  Menschen,  die  im  Freistaat  leben,  wohnen  allein  vier- 
hunderttausend  in  Dublin, 

Dasi  ist  keine  Flucht  in  die  Industrie,  denn  es  gibt  kaum 
Industrie  in  Dublin.  Dies  ist  lediglich  eine  Flucht  in  die  Hoff- 
nung,  in  der  Hauptstadt  wenigstens  nicht  Hungers  sterben  zu 
mussen.  Eine  vergebliche  Hoffnung!  Bereits  im  Jahr  1929  war 
beiniahe  jeder  siebente  Bewohner  des  Freistaates  arbeitslos. 
Schon  damals  hausten  in  Dublin  79000  Menschen,  also  mehr 
als  ein  Funitel  der  gesamten  Einwohnerschaft,  familienweise 
in  einem  einzigen  Raum.  Freilich,  diese  Zahlen  nannte  mir 
Eamon  de  Valera  nicht. 

Ich  bin  ziemlich  weit  herumgekommen  in  Europa,  nirgends 
aber  habe  ich  so  viel  Elend  gesehen  wie  in  der  Hauptstadt  des 
irischen  Freistaates.  Nur  noch  in  den  armsten  Teiien  des  Bal- 
kans sieht  man  <derartig  zerlumpte  Bettler,  und  selbst  in  die 
Hohlen  der  sudspanischen  Zigeuner  dringt  mehr  Licht  als  in 
die  Lehmhiitten  der  dubliner  Vorstadte.  Mitten  in  der  Stadt 
gibt  es  einen  Trodelmarkt,  der  scheint  der  Phantasie  eines 
Wahnsinnigen  entsprungen.  Lumpen  liegen  da  zum  Verkauf 
aus,  die  man  anderswo  nicht  auf  den  Schuttabladeplatzen  fin- 
den  konnte,  weil  sie  schon  weggeworfen  wurden,  als  sie  noch 

510 


in  besserm  Zustand  waren;  einzclnc  Schuhe  mit  zerrisse- 
nen  Sohlen,  Hosen,  deren  Boden  aus  Fetzen  von  eingesetzten 
Bettiaken  bestehen,  zerbrochene  Waschgeschirre,  Madonnen- 
statuen  ohnc  Kopfe,  Bratpfannen  ohnc  Stiel,  Schranke  ohne 
Tiiren.  Und  als  ich  in  die  Hauser  hineinblickte,  sah  ich,  daB 
man  solchcn  Hausrat  auch  benutzte. 

Der  Fianna  Fail  aber  interessiert  sich  nur  fur  auBere  po- 
litik  und  spielt  nationales  Lebcn.  Besonders  grotesk  sind  da- 
bei  die  Versuche,  die  gaelische  Sprache  zu  neuem  Leben  zu 
erwecken.  „Suchen  Sie  etwas?  Ich  kann  Ihnen  Auskunft  ge- 
ben,  ich  spreche  englisch",  erklarte  mir  liebenswiirdig  ein  Po- 
lizist,  als  ich  mich  in  einer  irischen  Kleinstadt  umsah.  Ich  bin 
ganz  sicher,  daB  der  Gute  nur  englisch  sprach.  Mit  Ausnahme 
von  ein  paar  alten  Leuten  in  westirland  benutzt  iiberhaupt 
niemand  das  Gaelische  als  Umgangssprache.  Ich  muBte  un- 
zahlige  Leute  fragen,  bis  ich  einen  iand;  der  mir  sagen  konnte, 
was  Fianna  Fail  eigentlich  auf  englisch  hciBt.  Trotzdem  sind 
die  StraBennamen  zweisprachig,  und  gaelisch  sind1  auch  die  In- 
schriften  der  Miinzen,  Banknoten  und  Briefmarken.  Auch  im 
Dail  Eireann,  dem  irischen  Parlament,  ist  alles  zweisprachig; 
nur  daB  die  meisten  Redner  englisch  sprechen. 

Es  ist  richtig,  die  Iren  sind  keine  Angelsachsen,  obgleich 
aus  ihrer  Mitte  Manner  wie  Nelsont  Swift,  Tomas  Moore  und 
selbstverstandlich  Bernard  Shaw  hervorgegangen  sind.  Ware 
nicht  das  leuchte  Klima,  man  konnte  manchmal  glauben,  das 
Land  St.  Patricks  und  St.  Kevins  liege  am  Mittelmeer,  so  sud- 
lich  ist  hier  das  Leben.  Den  ganz  en  Tag  sind  die  Leute  auf 
der  StraBef  man  schreit  und  singt,  in  den  Lokalen  knutschen 
sich  Liebesparchen,  und  die  Asche  seiner  Zigarette  wirft  jeder- 
rnann  auf  den  FuBboden.  Es  gibt  auch  keine  englischen  Ge- 
schafte  in  Irland,  selbst  die  groBten  londoner  Firmen  haben 
hier  keine  Filialen.  Und  ganz  unenglisch  ist  schheBlich  der 
wilde  HaB,  der  iiberall  gegen  die  nachsten  Nachbarn,  namlich 
die  nordirischen  tJlsterleute,  herrscht.  Dennoch  gehort  der 
Freistaat  zum  Kuiturkreis  und  erst  recht  zum  wirtschafts- 
gebiet  der  britischen  Nation.  Ohne  England,  den  einzigen  Ab- 
nehmer  seiner  Erzeugnisse,  kann  Sudirland  iiberhaupt  nicht 
existieren.  , 

De  Valera  und  seine  Partei  besitzen  freilich  ein  Rezept, 
um  das  zu  andern,  ein  sehr  modernes  Rezept:  die  Autarkie. 
Irland,  das  bisher  so  gut  wie  kein  Getreide  erzeugt,  soil  nicht 
nur  Getreide  sondern  alles  selbst  erzeugen,  dann  wird  es  Eng- 
land nicht  mehr  notig  haben.  Praduktionspramien  und  Prohi- 
bitivzolle  sollen  diese  vollkommene  Unabhangigkeit  schaf- 
fen.  DaB  die  Preise  fiir  die  notwendigsten  Bedarfsartikel,  die 
jetzt  schon  in  Irland  sehr  viel  hoher  sind  als  in  England,  durch 
eine  solche  Wirtschaftspolitik  ins  UngemCssene  steigen  miiB- 
ten,  stort  den  Fianna  Fail  nicht. 

Diese  Partei,  die  sich  revolutionar  nennt,  ist  in  Wirklich- 
keit  durch  und  durch  reaktionar.  Sie  iibersieht  geflissentlich 
alle  sozialen  Fragen,  sie  starrt  nur  gebannt  auf  ihr  natio- 
nalistisches  Programm,  das  durch  die  Entwicklung  langst  iiber- 
holt   ist.     Viel  mehr  als   ein  Republikaner  ist   de  Valera   ein 

511 


Fascist,  und  vielleicht  wird  er  auch  vor  dcr  Diktatur  nicht  zu- 
riickschrecken,  um  scin  Ziel  durchzusetzen-  Auf  legalem  Wege 
ist  er  dazu  auBerstande,  denn  seine  Mehrheit  verdankt  er  den 
Stimmen  der  allerdings  nur  kleinen  Arbeiterpartei,  die  das 
Ziinglein  an  der  Waage  der  irischen  Parteien  bildet  und  nicht 
daran  denkt,  dies  Land,  das  schon  so  viel  gelitten  hat,  einem 
unabsehbaren  Abenteuer  auszuliefern. 


Wunder  der  StatlStlk  von  Walter  Mehring 

T\  ie  Zahl  der  framzosischen  Journalisten,   denen  es  als  einzi- 

gen    gelungen    ist,    eine    Unterredung    mit    Adolf   Hitler 

zu      erreichen,       betragt      nach      vorsichtigen       Schatzungen 

987^.   (Das  %  bezieht  sich  auf  den  Schriftsteller  S zu  dem 

Herr  Hitler  in  der  Tiir  des  Kaiserhofes  Verzeihung!  gesagt  hat.) 

* 

Die  vor  und  nach  den  Wahlen  iiber  Adolf  Hitler  in  der 

franzosischen    Presse    erschienenen  Aufsatze    ergeben    anein- 

andergelegt  das  Funfzehnfache  der  Strecke  Berlin — Schneider- 

Creusot, 

* 

Der  Prozentsatz  der  Druckfehler  in  den  Namen  der  Pra- 
sidentschaftskandidaten  verteilt  sich  folgendermaBen:  Hitler 
1  Prozent,  Hindenburg  3  Prozent,  Thaelmann  47  Prozent  (Tell- 
mann,  Toelman,  Thalmen),  Duesterberg  48  Prozent  (Duster- 
back,  Dunstberg,  Duenstenburg),  Winter  1  Prozent, 

* 

Ein  statistisches  Kuriosum:  Die  Zahl  der  Nazi-Wahlver- 
sammlungen  ist  gleich  der  Zahl  der  in  der  "gauze n  Welt  ver- 
anstalteten  Goethefeiern.  Die  Besucherzahl  dieser,  multipli- 
ziert  mit  den  seit  Goethes  Tode  verflossenen  Jahren,  ergibt 
die  Besucherzahl  der  ersten.  Diese  wieder  multipliziert  mit 
der  Bandzahl  der  Sophienausgabe  zeigt  das  MaB  ani  Populari- 
ty des  Regierungsrates  Hitler  gegeniiber  der  des  Geheimrates 

Goethe. 

* 

Der  Kummer  des  M.  Pertinax  iiber  die  Niederlage  Hitlers 
stent  im  direkten  Verhaltnis  zur  Freude  Leon  Blums  iiber  das 
Eintreten  der  Sozialdempkratie  fur  Hindenburg. 

* 

Der  Quotient  der  nationalsozialistischen  Legalitatsbeteue- 
Belastendes  Material, 
ruixgeaist    = Qroener. 


Setzt  man  die*  Zahl  der  Abriistungsvorschlage  mit  x,  das 
Heeresbudget  mit  y  und  den  Weinkonsum  der  zu  Abriistungs- 
zwecken  veranstalteten  Diners  mit  z  an,   so  ist  das  Resultat 

■>  +  z)y        0. 


(y-  y]z 


512 


Die    Hdhe    der    Wettgelder    auf    Kapitalismus   (Sieg    oder 

Platz)  list  gleich  den  in  den  japanischen  Feldzug  investierten 

Kapiialienu    Die  Zahl  der  Menschenopfer  steht  d'azu  in  gar  kei- 

nem  Verhaltnis. 

* 

Auf  je  drei  GroBunternehmer  kommt  eine  Stiitzungsaktion. 
Auf  jeden  Kopf  der  ubrigen  Bevolkerung  die  ganze  Pleite. 

* 

Die  bisher  mit  den  Marsbewohnern  getatigten  Verstandi- 

gungea  betragen  fast  das  Doppelte  der  von  den  europaischen 

Volkern   untereinander   erzielten.     Die  Entferniung   vom  Mars 

zur  Erde  ist  gleich  dem  deutsch-franzosischen  Rapprochement. 

* 

Vom  Gebaude  des  neuen  berliner  Arbeitsamtes  kommt  ein 
Ziegelstein  auf  jeden  Arbeitslosen. 

* 
2X2  —  5.    Groener  X  Breitscheid  =  Deutsche  Republik, 


MOSkaU  1932  vonE.J.  Gumbel  . 

II 

Cine  neue  Literatur,  die  nur  mit  Ganghofer  verglichen  wer- 
den  kann,  stellt  Moskau  als  eine  Stadt  standiger  Hoch- 
stimmung  dan  Die  Emigrant  en  erzahlen  uns  von  standigem 
Hunger.  Natiirlich  kennt  Moskau  den  Alltag  und  seine  grauen 
Sorgenf  die  Wohnungsnot,  die  Anstrengung  einer  Trambahn- 
f ahrt  und  die  Schlangen  vor  den  Butterladen.  Einige  Einhei- 
mische  erzahlten  mir,  was  es  alles  nicht  gabe:  ein  Gang  ins  Wa- 
renhaus  gentigte  —  es  war  alles  da.  Manches  f  reilich  zu  teuer, 
andres  nicht  in  der  gewiinschten  Qualitat,  vieles  im  Stile 
Kyritz  an  der  Knatter,  Jahrgang  1880-  Auch  der  Einheimische, 
fiir  den  die  Auslander-  und  Valutaladen  verschlossen  sind,  hat 
die  Moglichkeit,  so  ziemlich  alle  Gegenstande  des  taglichen 
Bedarfs  zu  kaufen,  Aber  die  Tatsache,  daB  manchmal  solche 
Dinge  fur  kurze  Zeiti  fehlen,  andre,  relativ  unnotige  vorhanden 
sind!  erzeugt  die  libliche  Hamsterei,  die  ihrerseits  wieder,  zu- 
sammen  mit  kurzfristigen  Transportschwierigkeiten,  den  Man- 
gel schafft.  Vielfach  wandert  das  unnotig  Gekaufte  auf  den 
freien  Markt,  wo  es  zu  bedeutend  hohern  Preisen  wieder  ver- 
kauft  wird.  Oberall  bleibt  das  Warenangebot  hinter  der  ge- 
stiegenen  Kaufkraft  der  Arbeiter  zuriick. 

Die  Kalenderwoche  ist  abgeschaf ft.  An  ihre  Stelle  trat 
ursprunglich  die  Viertagewoche  mit  durchlaufender  Arbeit, 
also  ohne  allgemeinen  Ruhetag.  Die  Belegschaft  der  Betriebe 
wechselte  daher  dauernd.  Dies  fuhrte  zu  Schwierigkeiten  in 
der  Zustandigkeit  und  Verantwortlichkeit  fiir  die  einzelnenAr- 
beiten.  Daher  wurde  die  Fiinftagewoche  eingefiihrt,  bei  der 
jeder  sechste  Tag  als  allgemeiner  Sonntag  gilt.  Dafiir  sind 
samtliche  kirchlichen.Feiertage  abgeschaf  ft. 

Auch  fur  die  Intellektuellen  existiert  keine  Arbeitslosig- 

keit.     Charakteristisch  ist  vielmehr  der  Mangel  an  geistigen 

Arbeitern;    daher  die   ftirchterliche   Oberlastung  und   tiberan- 

3  513 


strengung  der  Intellektuellen.  Die  Gehalter  sind  niedrig,  Ein 
Universitatsprofessor  erhalt  pro  Unterrichtsstunde  etwa  zehn 
RubeL  Er  wird  also  vielleicht  vierzig  bis  sechzig  Stiinden  im 
Monat  geben.  Um  dies  zu  ermoglichen,;  wird  er  mehrere  Stel- 
len  annehmen,  was  leicht  zu  erreichen  ist.  Da  aber  niemand 
tatsachlich  zwei  bis  drei  Stellcn  vollstandig  ausf ullen  kann* 
fiihrt  dies  naturlich  zu  dienstlichen  Schwierigkciten. 

Im  Gegensatz  zu  den  Gehaltern  sind  die  Schriflsteller- 
honorare  sehr  hoch,  Es  gibt  keine  geistige  Arbeit,  die  nicht 
bezahlt  wird  —  ausgenommen  die  Arbeit  fur  die  Partei.  Ein 
Parteiloser  kann  schon  aus  diesem  Grande  viel  mehr  Geld 
verdienen  als  ein  Kommunist.  Im  allgemeinen  kann  ein  Wis- 
senschaitler  gut  auskommen.  Nur  fehlt  ihm  normalerweise  die 
Zeit  zur  eigentlich  wissenschaftlichen  Arbeit,  Haufig  macht 
dem  Gelehrten  auch  die  Notwendigkeit,  die  politischc  Linie 
einzuhalten  und  sich  rechtzeitig  auf  ein  en  neuen  Kurs  umzu- 
stellen,  das  Leben  sauer. 

Wer  als  Auslander  im  Hotel  lebt,  wird  ftir  ein  sauberes 
Hotelzimmer  mit  elektrischem  Licht  und  laufendem  warmen 
Wasser  pro  Tag  etwa  acht  bis  zwolf  Rubel,  fiir  Friihstiick 
etwa  ein  bis  zwei  Rubel,  fur  ein  reic Miches  Essen  vier  bis  iun£ 
Rubel  ausgeben.  Das  Essen  ist  gut,  ziemlich  sauber,  aber  nicht 
ganz  nach  europaischem  Geschmack,  da  das  Fleisch  zu  stark 
vertreten  ist,  Dasselbe  Essen  kostet  in  einem  Klub  ein  bis 
zwei  RubeL  Ein  Auslander  braucht  im  Tag  also  etwa  zwan- 
zig  Rubel,  das  heiBt  normalerweise  vierzig  Mark,  Er  kann 
aber  mit  dem  russischen  Honorar  fiir  einen  langern  Artikel  gut 
zehn  Tage  leben.  So  kommt  es,  daB  manche  Retsende  berich- 
ten,  das  Leben  in  Moskau  sei  teuer,  andre,  es  sei  billig, 

Der  offizielle  Kurs  des  Rubels  ist  zwei  Mark,  Manche 
Stellen  legen  aber  bereits  den  gesunkenen  Wert  von  einer 
Mark  zugrunde.  Da  der  Rubel  nirgends  im  Ausland  notiert 
ist,  existiert  kein  objektives  Kriterium,  wie  es  der  Stand  der 
Wechselkurse  in  gewisser  Hinsicht  darstellt.  Auf  der  schwar- 
zen  B6rse  soil  ex  auf  zwanzig  Pfennig  stehcn. 

Die  Frage  niach  dem  Wert  des  Rubels  laBt  sich  nicht  be- 
antworten,  Denn  er  schwankt  je  nach  der  Zugehorigkeit  des 
Kaufers  zu  einem  best  imm  ten  Lad  en  ty  pus  und  nach  der  Ware, 
In  Eisenbahnfahrten  gerechnet  steht  der  Rubel  auf  der  Goid- 
paritat;  dasselbe  gilt  annahernd  fiir  Brot  und  Fleisch,  die 
Hauptnahrung  der  Russen.  In  Zigaretten  der  gangbaren  Sor- 
ten  gerechnet  unter  Beriicksichtigung  der  Qualitatsminderung 
hSchstens  auf  fiinfzig,  in  Droschkenfahrten  etwa  auf  zwanzig, 
in  Apfeln  oder  Textilien  hochstens  auf  zehn  Prozent, 

Wenn  man  unter  Inflation  eine  Vermehrung  der  umlau- 
f enden  Zahlungsmittel,  verglichen  mit  der  Menge  der  umlau- 
fenden  Giiter  versteht,  so  sprechen  erhebliche  Merkmale  fiir 
ihre  Exist enz,  Namlich:  die  trotz  aller  dafiir  getriebenen  Pro- 
paganda geringe  Spartatigkeit,  die  bereits  erwahnte  nominelle 
Preissteigerung  der  Giiter  im  freien  Verkehr,  der  ungeheiire 
Warenhunger,  die  leichten  Verdienstmoglichkeiten,  entschei- 
dend  endlich  die  gegeniiber  friiher  erheblich  gewachsene  Kauf- 
kraft  der  auslandischen  Wahrung.  Dagegen  $pricht,  dafl  das 
wirtschaftliche   Niveau  der  Arbeit  erschaft  gestiegen  ist, 

514 


Von  den  uns  bekannten  Folgen  einer  Inflation  miissen  sich 
die  cincr  russischen  in  wesentlichen  Punkten  unterscheiden. 
Denn  es  cxistiert  keine  Unternehmerklasse,  wclche  aus  dcm 
Nachhinken  der  Lohne  hinter  den.  Prcisen  besonders  da- 
durch  gewinnt,  daB  sie  nach  dcm  Ausland  in  Gold  verkauit  und 
die  Lohne  in  Papier  bezahlt,  Keine  Klasse  erf  ahrt  durch  Be- 
zahlung  ihrer  alten  Schulden  im  nominellen  Betrag,  aber  in 
entwerteter  Wahrung  ein  praktisches  Geschenk.  Wenn  eine 
Inflation  existiert,  so  bedeutet  die  hierdurch  vor  allem  inner- 
halb  des  landwirtschaftlichen  Sektors  herbeigefiihrte  Lohnsen- 
kung,  daB  die  staatliche  Industrie  mehr  bauen  kann  und  daB 
der  Staat  seine  innern  Schulden  auf  Kosten  der  Zeichner,  also 
der  Arbeiter  und,  Angestellten,  teilweise  abstoBt, 

Die  Gefahr,  daB  eine  Inflation  zur  Auspowerung  der  Ar- 
beiterschaft  zugunsten  einer  Kapitalistenklasse  fiihre,  existiert 
also  nicht.  Im  Gegenteil,  eine  Reihe  von  MaBnahmen,  ganz 
besonders  die  Staffelung  der  Preise  nach  dem  sozialen 
Stand,  konnen,  wenn  man  die  Inflation  als  gegeben  an- 
sieht,  als  Versuche  gedeutet  werden,  ihre  Lasten  von  der 
Industrie-Arbeiterscbaft  auf  die  andern  Teile  der  Bevolkerungt 
also  Angestellte,  Bauern  und  die  kiimmerlichen  Reste  der 
Bourgeoisie;  abzuwalzen. 

Man  kann  aber  aus  diesen  Tatsachen  nicht  folgern,  daB 
eine  Inflation  dort  gefahrlos  sei.  Denn  sie  bedroht  das  kost- 
barste  Gut  der  russischen  Wirtschaft,  den  Plangedanken.  Da 
der  Abrechnungsverkehr  im  Inland  in  Rubeln  vor  sich  geht, 
kann  eine  Erfiillung  der  Planvorschriften  in  Bezug  auf  den 
Wert  der  Produktioh  unter  Umstanden  vollig  bedeutungslos 
werden,  da  der  Wert  der  verkauften  Waren  unterhalb  der 
Kosten  liegen  kann.  Zudem  bedeutet  eine  Inflation,  daB  die 
Herrschaft  iiber  die  Preise  aufhort,  daB  die  verdrangten  Son- 
derinteressen  der  einzelnen  Betriebe  wieder  auferstehen,  daB 
ein  Teil  der  nationalen  Produktion  trotz  alien  Kollektivisierun- 
gen  wieder  den  Weg  in  eine  neue  privatwirtschaftliche  Sphare,. 
den  Schleichhandel,  nimmt. 

Die  Frage  nach  der  Existenz,  dem  Umfang  und 
Tempo  der  Inflation  laBt  sich  natiirlich  nach  dem  Eindruck 
eines  kurzen  Auf  en  t  halt  es  nicht  b  cant  wort  en.  Eine  innenwirt- 
schaftliche  Krise  in  unserm  Sinn,  also  Arbeitslosigkeit  und  Fal- 
len der  Produktion,  besteht  absolut  nicht.  Infolge  der  gestei- 
gerten  Akkumulation  wachst  vielmehr  der  Beschaftigungsgrad. 
Aber  die  Weltkrise  hat  auch  RuBland  in  ihren  Bann  gezogeri. 
Denn  der  Preisfall  der  landwirtschaftlichen  Produkte  auf  dem 
Weltmarkt  bedeutet,  daB  RuBland  mehr  ausfiihren  muBt  um  die 
gleiche  ZahL  von  Maschihen  einzufuhren.  Dies  ware  bedeu- 
tungslos, wenn  die  russischen  Produkte  der  fur  die  Ausfuhr  ge- 
eigneten  Waren  schneller  wiichse  als  ihre  Weltmarktpreise 
und  damit  die  Absatzfahigkeit  sinkt,  was  augenscheinlich  nicht 
der  Fall  ist.  Das  Sinken  der  Weltmarktpreise  zwingt  zu  er- 
hohter  Ausfuhr,  die  ihrerseits  die  Preise  senkt.  So  entsteht 
als  Folge  der  Weltkrise  eine  Knappheit  an  alien  Waren,  die 
zur  Ausfuhr  geeignet  sind. 

Schluftfolgt 

515 


Entthronung  des  Willens  von  Rudolf  Amheim 

l*\ic  Erforsehung  gewisscr  Geisteskrankheiten  lchrt  aui  selt- 
sam  eindringliche  Art,  das  normale  Seelenleben  verstehen. 
So  haben  besondern  EinfluB  auf  die  neueste  Psychologic  einigc 
Untersuchungeh,  die  unter  der  Leitung  der  Professoren  Adhe- 
mar  Gclb  und  Kurt  Goldstein,  an  einem  sogenannten  MSeelen- 
blinden"  angestellt  werden*  Der  geheimnisvolle  poetische  Reiz 
dieser  Bezeichnung  verspricht  nicht  zuviel.  Es  handelt  sich 
im  besondern  Fall  um  einen  achtunddreiBigjahrigen  Handwer- 
ker,  der  sich  ini  Kriege  eine  Gehirnverletzung  zugezojgen  hat, 
Er  versieht  seinen  Beruf,  er  lebt  mit  Frau  und  Kindernt  er  fin- 
det  sich  im  StraBenverkehr  zurecht,  er  kanm  lebhait  und  zu- 
sammenhangend  sprechen,  aber  er  erkennt  einen  Brief  nicht 
wieder,  den  er  selbst  geschrieben  hat,  er  erkennt  weder  ein 
Menschengesicht  noch  ein  Buch  auf  dem  Tisch,  noch  kann  er 
Schrift!  lesen,  ohne  sie  mit  dem  Finger  oder  dem  Kopf  nach- 
zufahren;  aber  er  hat  so  scharfe  Augen,  daB  er  Flugzeuge  und 
Vogel  am  Himmei  sieht.  Er  versagt  vor  kinderleicnten  Denk- 
aufgaben,  er  karm  nur  mit  Miihe  sagen,  welche  Farbe  ein  Laub- 
frosch  hat,  er  kennt  die  Farbe  seiner  eignen  Augen  nicht,  aber 
er  kann  Schillers  Glocke  auswendig  und  entwickelt  einen  iiber- 
normalen  Wissensschatz.  Die  erwahnten  Forschungsarbeiten 
fdie  soeben  erschienene  dreizehnte  stammt  von  Wolfgang 
Hochheimer  und  heiBt  , .Analyse  eines  Seelenblinden  von  der 
Sprache  aus",  ,,Psychologische  Forschung",  16*  Bandf  1.  und 
2.  Heft,  Verlag  Julius  Springer,  Berlin)  bemiihen  sich,  diese 
zunachst  vollig  regellos  anmutenden  Storungserscheinungen 
wissenschaftlich  zu  erfassen.  Dabei  stellt  sich,  wie  haufig  bei 
Geisteskrankheiten,  ein  Abbau  der  phylogenetisch  spaten  See- 
lenfunktionen  heraus,  ein  Wiederhervortreten  von  Verhaltungs- 
weisen,  die  man  von  Naturvolkern,  Kindern,  Tieren  her  kennt. 
So  erweist  sich  beispielsweise  dieser  Hirnverletzte  als  ein  in- 
teressierter,  lebendig  denkender  Mensch  in  alien  Situationen, 
die  einen  sinnvollen  Zusammenhang  mit  seinen  eignen  Lebens- 
aufgaben  haben.  Dagegen  wird  er  starr,  automatisch,  gequalt 
und  unfahig,  sobald  man  ihn  nach  rein  theoretisohen  Dingen 
iragt.  Der  Denkapparat  kann  nicht  oder  kaum  auch  als  Luxus- 
apparat  arbeiten,  wie  bei  uns,  sondern  dient  streng  als  Werk- 
zeug  zur  Bewaltigung  des  Lebens.  Dies  gilt,  wie  man  aus  den 
iibereinstimmenden  Berichten  weiB,  auch  fur  alle  Naturmen- 
schen.  Die  Missionare,  die  bei  der  geringsten  Abstraktion 
unertrasgliche  Anstrengung  konstatieren,  beschreiben  dieselben 
Naturmenschen  als  Mscharfsinnig,  urteiisfahig,  geschickt,  ge- 
wandt,  ja  spitzfindig,  wenn  ein  Gegenstand  sie  fesselt  und  zu- 
mal  wenn  sie  ein  sehnlichst  erwiinschtes  Ziel  erreichen  wol- 
len"  (Levy-Bruhl).  Man  mag  unsre  eigne  Fahigkeit,  auch  dort 
zu  denken,  wo  es  nicht  „in  Wahrung  berechtigter  Interessen" 
geschiehtf  fiir  einen  Fortschritt  im  Geistigen  oder  aber  fiir 
einen  krankhaften  Auswuchs  halten  —  jedenfails  gehort  das 
Studium  der  phylogenetisch  frtiheren  Verhaltungsweisen  zu  den 
Iehrreichsten  Methoden  der  Psychologie. 

Wolfgang  Hochheimers  Gesprache  mit  dem  Seelenblinden 
sind  auch  fiir  den  Nichtfachmann  in  mancher  Beziehung  fes- 

516 


selnd,  lehrreich,  belustigend,  Mcnschlichc  Dummhciten  und 
Unarten,  ctwa  das  Monolog-Reden  im  Gesprach  odcr  die  phra- 
senhafte  Verwendung  von  Denk-  und  Wortklischees,  erscheinen 
in  der  pathologischen  Verzerrung  wie  bewuBt  stilisierte  Karika- 
luren;  und  die  hilflose,  krankhaft  originelle  Art  zu  sehen  fuhrt 
zu  roerkwurdigen  Formulierungen.  Ubcr  Rastelli;  ,,BloBf  dafi 
die  Balle  auf  ihm  waren  wie  wenn  , .  .  als  went*  wir  den  Hut 
aufhaben,  hat  er  die  Balle  aufgehabt."  Das  kann  man  kaum 
besser  ausdrucken, 

Sehr  auffallig  nun  ist  an  diesem  Gehirnkranken  eine  ge- 
wisse  Willenlosigkeit,  eine  Unfahigkeit  zu  eignen  Entschlussen, 
zur  Spontaneitat  jeder  Art,  Er  tut  nichts  aus  eigner  Anregung, 
er  spricht  nurf  wenn  er  gefragt  wird,  er  wiinscht  sich  niemals 
besthnmte  Speisen,  er  tragt  immer  denselben  Schlipsf  er  ist  in 
der  Liebe  niemals  der  anregende,  immer  der  angeregte  Teil.  Er 
kann  nicht  spazierengehen  sondern  braucht  immer  ein  Ziel.  Es 
ist  ihm  tIunm6glich,  willentlich  in  Vielheiten  einzugreifen1*,  sagt 
Hochheimer.  Das  heifit:  er  muB  sich  immer  in  einer  Situation 
befinden,  die  ihm  zwangslaufige  Reaktionen  vorschreibt,  Er 
kann  nicht  wahlen  und  nicht  aus  eigner  Anregung  irgend  etwas 
begmnen, 

Auch  diese  Erscheinung  wird  man  als  einen  Riickfall  in 
stanunesgeschichtlich  Alteres  auf  f  ass  en  durfen.  Sie  gibt  Anlafi 
zum  Nachdenken  iiber  die  Aufgabe  des  Willens  im  Haushalt 
unsres  Seelenlebens  und  iiber  den  Sinn  und  Wert  des  Wollens. 
Man  erinnere  sich  des  auffalligen  Willenskultes,  der  im  konser- 
vativen  Lager,  zumal  von  hausbackenen  Padagogen  getrieben 
wird.  Das  Wollen  wird  da  eine  Mkonigliche  Kunst"  genannt; 
mit  verdachtigem  Eif er  wird  die  Selbstbeherrschung  gepriesen, 
und  im  Mittclpunkt  der  Sittenlehre  findet  sioh  die  Propagie- 
rtwg  des  Heldischen,  das  im  gewaltsamen  Niederkampfen  von 
Widerstanden  besteht.  Auf  solche  Ideale,  denen  man  etwas 
Krampfhaftes,  ja  Krankhaftes  leicht  anspiirt,  fallt  ein  iiber- 
raschendes  Licht,  wenn  man  sie  vom  Standpunkt  jener  ,,bio- 
logischen  Weltanschauung"  aus  betrachtet,  die  aus  guten  Grtin- 
den  als  kulturbolschewistisch  bekampit  wird,  die  sich  aber  bei- 
spielsweise  auf  Goethe  als  einen  ihrer  ersten  Vorkampfer  be- 
rufen  darf, 

Im  W-esen  einer  solchcn,  die  Einheit  der  Welt  betonenden 
Naturbetrachtung  liegt  es,  eine  organismische  Erscheinung  nicht 
zunachst  beim  Menschen  zu  studieren,  wie  es  immer  tiblich  wart 
sondern  ihre  naturlichere,  wahrere  Form  erst  in  der  „niedernM 
Lebewelt  aufzusuchen,  Von  dort  aus  begreift  man  ihre  Ab- 
wandlung  im  Menschlichen  als  einen  Sonderfall,  der  sich  auf 
diese  Weise  sogleich  mit  der  notigen  Bescheidenheit  in  den 
Kosmos  einordnet,  Geht  man  aber  an  ma  Bend  vom  Menschen 
aus,  so  ergeben  sich  mit  Sicherheit  schiefe  Perspektiven.  Man 
Wird  dann  beispielsweise  leicht  dazu  kommen,  dem  Will  en  eine 
zu  groBe  Rolle  im  Lebensbetrieb  einzuraumen,  und  erst  auf 
Unrwegen  einsehen  lernen,  daB  echte  Entschlusse,  echte  Wil- 
lensakte  vernal  tnismaBig  selten,  weil  selten  notwendig  sind. 

Wenn  man  das  reprasentativste  Buch  iiber  die  modcrne 
amerikanische  Psychologie,  John  B.  Watsons  ,,66^^101481^8' * 

517 


(Deutsche  Verlagsanstalt  Stuttgart),  nach  dem  Willen  durch- 
sucht,  so  findet  mail  ihn  auf  vierhundert  Seiten  nicht  behah- 
delt.  Und  das  in  einem  Werk  iiber  das  Gesamtgebiet  des 
Seelenlebens.  Kein  Wunder,  dcnn  die  Behavioristen  erklaren 
alles  nienschliche  und  tierische  Handeln  als  automatisch  ab- 
laufende  Reaktionen  a*if  gewisse  auBere  oder  innere  Reize. 
Alles,  was  ein  Lebewesen  tut,  ware  also  restlos  bestimmt  dtirch 
die  jeweilige  Situation  des  Augenblicks,  und  eigner  Antriebe 
bediirfte  es  nicht.  Wobei  man  den  Ausdruck  , .eigne  Antriebe" 
richtig  verstehen  muB.  Denn  damit  sind  nicht  Hunger,  Gier, 
Lustbetonungen  aller  Art  gemeint.  Diese  Triebregungen,  die 
wir  nicht  hervorrufen  sondern  erleiden,  bilden  die  „innere 
Situation"  im  Gegensatz  zur  auBern,  mit  ihren  „Aufforderungs- 
charakteren"  (wie  der  berliner  Willens-  und  Handlungspsycho- 
loge  Kurt  Lewin  sagen  wiirde):  rotbackiger  Apfel,  verfuhre- 
risches  Madchen,  Geldscheine  auf  dem  StraBenpfiaster.  Aus 
dem  Anziebungs-  und  AbstoBungsspiel  dieser  ,,Feldkrafte" 
allein  also  erklart  Watson  alles  menschliche  Handeln.  Auf  den 
auBern  Reiz  „Feuer"  zum  Beispiel  habe  ich  mehrere  Reaktions- 
moglichkeiten.  Welchc  eintritt,  das  bestimmen  nmeine  frtthere 
Organisation  und  mein  augenblicklicher  physiologischer  Zu- 
stand".  Also  meine  innere  Situation.  Willensakte  werden  da- 
zu  nicht  benotigt,  meint  Watson.    Wohl  mit  Recht. 

Man  hat  den  Behavioristen  sehr  veriibelt,  daB  sie .  mit 
amerikanischer  Unbefangenheit  die  Existenz  alles  Seelischen 
leugnen,  ,,Niemand  hat  je.  eine  Seele  beruhrt  oder  sie  in  einer 
Versuchsrohre  gesehen."  Deswegen  halten  sie  sich  allein  an 
das  auBere  Verhalten,  dasi  behavior  —  ein  Verfahren,  das  fur 
die  Tier-  und  Kleinkindpsychologie  natiirlich  sowieso  das  einzig 
mogliche  ist.  Uns  scheint  wenig  darauf  anzukommen,  ob  je- 
mand  von  der  Seele  oder  ihren  physiologischen  Korrelaten 
spricht.  Wenn  er  nur  die  Erscheinungen  richtig  und  vollstandig 
beschreibt  und  erklart.    Das  aber  tun  die  Behavioristen  nicht. 

Fur  die  Pflanze  wird  man  gern  zugeben,  daB  sie  ganzlich 
„reizbedingtM  handelt.  Die  Art  ihres  Wachstums  hangt  teils 
von  den  eignen  Triebkraften,  teils  von  den  auBeren  Bedingun- 
gen  (Wasser,  Humus,  Licht)  ab.  Die  Tropismen,  beispielsweise 
das,  Hinneigen  zum  Licht,  sind  typische  Reaktionshandlungen. 
S>ie  werden  vom  Reiz  her  zureichend  bestimmt.  Aber  schon 
bei  4en  Tieren  gibt  cs  geiegentlich  ganz  andre  Verhaltungs- 
weisen.  Friedrich  Engels  sagt  in  seinem  Aufsatz  iiber  den  MAn- 
teil  der  Arbeit  an  der  Menschwerdung  des  Affen",  den  be- 
zeichnenden  Unterschied  zwischen  Affenrudel  und  Menschen- 
gesellschaft  mache  die  Arbeit.  Wobei  er  unter  Arbeit,  ziem- 
lich  wilikurlich,  alle  nicht  durch  Instinkte  oder  Reize  unmittel- 
bar  ausgeloste  Tatigkeit  versteht.  „Die  Arbeit  fangt  an  mit 
der  Verfertigoing  von  Werkzeugen/1  Nun  wissen  wir  heute,  daB 
auch  Tiere  Werkzeuge  „erfinden"(  deren  Herstellung  sie  kein 
Instinkt  lehrt.  So  beschreiot  Wolfgang  Kohler,  wie  ein  Schim- 
panse  darauf  verfiel,  hohle  Bambusstocke  ineinanderzustecken, 
um  mit  Hilfe  dieser  kiinstlich  verlangerten  Stange  eine  vor 
dem  Gitter  liegende  Banane  herbeizuholen.  Solche  Intelligenz- 
handlung  nun  erfordert  als  Voraussetzung  zweifellos  feine  wil- 
lentliche  Abkehr    von    dem    umweglos    zum    Ziel    drangenden 

513 


Trieb.  Das  Tier  muB  fur  cine  Weile  vom  Ziel  ablasscn  und 
zunachst  eine  Umweghandlung  erledigen.  Ahnliches  beobachtet 
man,  wenn  ein  Tier  lernt,  um  einen  Zaun  herum  zum  Ziel  zu 
lauf en,  statt  blindlings  durch  den  Zaun  hindurch  darauf zuzu- 
draagen*  Hier  haben  wir  den  Typiis  einer  reinen  Willenshand- 
lung:  Verzicht  auf  uninittelbare  Triebbefriedigung  auf  Grund 
eines  eignen,  von  Einsicht  dikiierten  Antriebes.  In  den  Streit 
um  Determinismus  und  Indeterminismus  wollen  wir  hier  nicht 
eingreifen.  Wir  sagen  nur:  es  gibt  Vorstellungen,  Entschlusse, 
Handlungen,  die  unser  Bewuijtsein  selbstandig  hervorruft,  und 
aridrev  die  ohne  sein  Zutun  auftreten;  (Hunger  erweckt  in  mir 
ohne  mein  Zutun  Vorstellungen  von  leckerer  Speise,  aber  ich 
kann  mir  auch  ohne  von  ,,auBen"  diktierten  Grund,  aus  eigne  m 
Willeri,  eine  Speise  vorstellen).  Charakteristisch  ist,  daB  audi 
in  Fallen  wie  den  obigen  der  Wilien&akt  sehr  bald  uberflussig 
wird.  Die  Umweghandlung  gliedert  sich  ganzlich  ein  und  wird 
als,  Teil  des  direkten  Weges  zum  Ziel  empfunden.  Das  Hem- 
mende,  Situationsstorende  des  Willensaktes  verschwindet 
schnell,  sdbald  es  sich  um  einen  verminf  tigen  EntschluB  in  einer 
passenden  Umwelt  handelt.    Das  ist  fur  spater  wichtig. 

Niitzlich  ist  die  Betrachtungsweise  der  Behavioristen,  inso- 
ierri  sie  als  normales  und  elementares  Handlungsagens  im  Le- 
bensbetrieb  nicht  den  willentlichen  Impuls  sondern  die  auf 
Reize  antwortende  Reaktion  sehen.  Auch  im  Menschenleben 
bebbachten  wir  iiberall,  wie  man,  nicht  aus  Faulheit  sondern 
aus  einem  gesunden  Geftihi  iiir  Krafteokonomie,  eigne  Ent- 
schlusse zu  sparen  tund  statt  dessen  passende  Situationsantriebe 
zu  bekommen  sucht;  Rennfahrer  und  Wettlaufer  bedienen  sich 
des  Schrittmachers.  KrasserFall  im  Pathologischen:  der  Seelen- 
blinde  ist  unlustig  und  unfahig,  Entschlusse  zu  fassen,  und 
xeagiert  nur  auf  Beanspruchung  und  Zielsetzung  von;  auBen. 
Die  natiirliche  Aufgabe  des  Willens  setzt  da  ein,  wo  ein  Lebe- 
wesen  erkennt,  daB  zur  Erreichung  eines  Ziels  ein  andrer  Weg 
besser  ist  als  der  von  den  Situationsantrieben  unmittelbar 
diktierte.  Da  im  biologischen  Haushalt  ein  Organ  immer  erst 
auftritt,  wenn  eine  Funktion  fur  es  bereit  ist,  so  erscheint 
Wille  erst,  wo  Einsicht  existiert,  Denn  erst  die  Einsicht  gibt 
AnlaB  zu  Handlungsagentien,  die  sich  auBerhalb  instinktiver 
Impulse  und  im  Gegensatz  zu  ihnen  betatigen. 

Tier  und  Pflanze  sind  mit  alien  ihren  Organen  und  In- 
stinkten  in  dauernder  Anpassung  an  ihre  Umgebung  entstanden, 
Sie  leben  in  einer  fur  sie  guns  tig  en  Situation  und  sind  nach 
Kraften  ausgestattet,  das  Beste  aus  ihr  fur  sich  herauszuholen. 
Die  meisten  Menschen  hingegen  leben  heute  unter  Bedingun- 
geh,  die  ihnen  im  hochsten  Mafle  unnatiirlich  und  schadlich 
sind.  Da  gibt  es  nun  zwei  Auswege:  entweder  sich  durch  hef- 
tigste  Willensanspannung  gegen  diese  ungunstigeni  Um- 
weltbedingungen  zu  behaupten.  Oder  aber;  die  Umweltbe- 
dingungen  zu  andern.  Den  ersten  Weg  propagieren  die  Kon- 
servativen,  weil  sie  an  der  bestehenden  Gesellschaftsordnung 
interessiert  sind.  Sie  pflegen  den  Willens-  und  Heidenkult  und 
tun,  als  sei  die  ewige  Lebensaufgabe  des  Menschen  Kampf 
gegen  etwas  so  naturgegeben  Schlechtes  wie  Siegfrieds  Drache. 
itDie  Okonomen  sagen,  daB  die  gegenwartigen  Verhaltnisse  — 

519 


die  Verhaltnisse  der  biirgerlichen  Produktion  —  natiirliche 
sind . . ,  von  dem  EinfluB  der  Zeit  unabhangige  Naturgesetze, 
Es  sind  ewige  Gcsetzc,  welche  stets  die  Gesellschaft  zu  regie- 
ren  haben"  (Marx),  Weil  sie  die  Verhaltnisse  nicht  schlecht 
nennen  wollfen,  sagen  sie,  der  Mensch  sei  schlecht  und  musse 
deshalb  gegen  sich  selbst  kampfen,  Sie  empfehlen  dem  Ver- 
brecher,  seine  bo  sen  Triebe  zu  bekampfen,  sie  predigen 
Keuschheit  und  Enthaitsamkeit,  statt  zu  fragen,  ob  es  nicht  na- 
turlicher  ware,  die  Unrwelt  der  Menschen  so  zu  verbessern,  daB 
sie  ihre  nattirlichen  Bediirf nisse  befriedigen  konnen  und  nicht 
vom  Guten  abweichen.  Es  ist  sehr  bemerkenswert,  wie  sich 
bei  den  deutschen  Philosophen,  die  den  Willen  a  Is  Ding  an  sich 
in  den  Mittelpunkt  der  Welt  stellen,*  zugleich  die  Lehre  vom 
Radikalbosen  der  menschlichen  Natur  auftritt.  Das  fuhrt  zu 
den)  perversesten  Verdrehungen:  „Fichtes  teleologische  Natur- 
auffassung  besteht  nur  darin,  daB  er  deduzieren  will,  die  Natur, 
wie  sie  da  ist,  habe  erzeugt  werden  miissen,  urn  als  ein  Wider- 
stand  die  Verwirklichung  der  sit t lichen  Aufgabe  mdglich  zu 
niachen.  So  ubertragt  sich  auch  in  Fichtes  Naturauffassung 
der  Widerspruch,  bei  dem  Kant  stehen  geblieben  war,  Beiden 
Denkern  gilt  das  natiirliche  Weseh  und  vor  allem  das  dazu  ge- 
horige  sinnliche  Triebleben  des  Menschen  als  etwas  dem  Sittefl- 
gesetze  Widerstrebendes  und  seine  Erfullung  Hemmendes" 
(Windelband).  Dazu  kann  man  nur  sagen:  um  so  schlimmer  fiir 
das  Sittengesetz.  Es  ware  eine  schone  Aufgabe,  diesen  pessi- 
mistischen  Willenskult  von  Kant  bis  Schopenhauer  einmal  au£ 
seine  politischen  Ursachen  hin  marxistisch  zu  durchleuohten, 

Wille  und  Selbstbemeisterung  sind  schon,  wo  sie  den  Men- 
schen iiber  zufallige  Augeniblieksantriebe  und  schlechtc  Ein- 
flusse  hin w eg  zu  der  natiirlichen  Bestimmung  hinfuhren,  die 
seinen  Instinkten,  seinen  Anlagen  entspricht,  Wille  kann  ein 
intelligenzgelenktes  Korrektiv  im  Instinklhaushalt  sein.  Aber 
es  heiflt  nicht,  der  Sittlichkeit  und  Menschenwurde  dienen, 
wenri  man  durch  WillensmiBbrauch  auszugleichen  sucht,  was 
man  durch  false  he  Einrichtungen  und  Vorschriften  siindigt. 
Man  vergleiche  die  freie  Natiirlichkeit  des  Willensaktes,  mit 
dem  das  Mannchen  das  Weibchen  zu  etwas  zwingt,  was  ihnen 
beiden  im  Grunde  angenehm  und  ntitzlich  ist,  mit  der  eklen 
Krampfhaftigkeit  einer  Vergewaltigungsszene;  vergleiche  die 
ungezwungene  Enthaltung  von  Aug  enb  lick  sbegierden  mit  dem 
unappetitlichen  Schauspiel  neurosenschaffender  Askese.  Wo 
gewaltsame  Willensanspannung  no  tig  ist,  da  sehen  wir  das  Kri- 
terium  fiir  eine  Anderung  der  Situationsbedingungen.  Unsre 
Ethik  besteht  nicht  darin,  den  Willen  zu  starken  sondern  die 
Anlasse  zur  Gewaltanwendung  zu  beseitigen.  Gegenseitiges 
Obertrumpfen  durch  kriegerische  Gewaltakte  fuhrt  zu  Siegen 
aber  nicht  zu  L  6  sung  en.  Die  Psychologen  lehren.  uns,  daB  es 
der  Sinn  der  Reaktion  sei,  die  durch  den  Reiz  ausgeUSste 
Spanmung  zu  beseitigen  und  wieder  Gleichgewicht  zu  schaffen. 
Gleichgewicht,  nicht  Hochspannung  zu  schaffen,  ist  unsre  Auf- 
gabe, die  Aufgabe  unsrer  Ethik.  Wenn  es  gelingt,  den  Men- 
schen lose  und  angenehm  in  eine  Umwelt  einzupassen,  die  ihra 
seine  Arbeit  erleichtert,  statt  ihm  heldische  Gewaltakte  auf- 
zudrangen,  so  ist  das  kein  Ruck  fall  in  tierische  Gemutftdbkeits- 

520 


ideale,  sondern  erst  dann  wird  die  Menschheit  bewiesen  haberi* 
daB  sie  wiirdig  ist,  auf  dieser  Erde  zu  wohnen.  DaB  sie  namlich 
uis  eigner  Kraft  und  auf  eignem  Niveau  eme  Ordnung  zu 
schaffen/  verstanden  hat,  die  sich  neben  der  selbsterwschsenen 
Ordnung  der  Naturgesetze  sehen  lassen  karrn. 


SctinipSel  von  Peter  Panter 

r\  as  Christentum  ist  eine  gewaltige  Macht,  DaB  zum  Beispiel  pro- 
*^  testantische  Missionare  aus  Asien  unbekehrt  wieder  nach  Hause 
kommen  — ;  das  ist  eine  groBe  Leistung. 

* 

Ein  Mitarbeiter  dieser  Blatter  hatte  einst  einen  sonderbaren 
Traum.  Er  traumte,  daB  er  sein  Abitur  nocb  einmal  machen  muBte, 
und  das  Thema  zum  deutschen  Aufsatz  lautete: 

..Goethe  als  solcher." 

* 

Die  Amerikaner  kommen  bestimmt  alle  in  die  Holle,  besondcrs  die 
frommen  —  aber  eines  wird  ihnen  hoch  angerechnet  werden:  das  ist 
ihr  Humor. 

Im  .Life*  neulich:  Da  sitzen  zwei  Kaufleute  schluchzend  am 
Schreibtisch  und  lesen  und  kramen  in  Skripturen.  Was  tun  sie  — ? 
Sie  sehen  sich  die  alten  Orders  aus  dem  Jahre  1928  an, 

Es  ist  sehr  schwer,  nachzuschmecken,  was  hier  so  gut  mundet,  Es 
ist,  wie  wenn  einer  alte  Speisekarten  noch  einmal  nachliest,  erhdhte 
Tatigkeit    der    Mundspeicheldriisen , . .    warum   muB  man    da    lachen? 

Was  denen  in  .Life'  und  im  ,New  Yorker'  einfallt  — :  ach,  daB 
wir  das  doch  hatten!  Es  ist  wohl  so:  sie  kommen  in  ein  lustiges  Fege- 
feuer  und  wir  in  einen  ernsten  und  durchaus  sachlichen,  in  den  Lan- 
desfarben  angestrichenen  Himmel. 

Weil  wir  grade  von    .Life'    reden: 

Zu  meinem  hundertsten  Geburtstag  wiinsche  ich  mir  das  Original 
des  Titelblattes,  das  dort  im  vorigen  April  erschienen  ist* 

Oben,  auf  dem  Gerust  eines  Wolkenkratzers,  sitzt  ein  Arbeiter, 
den  sieht  man  ganz  aus  der  Nahe,  ein  etwas  dreckiger  Kerl  mit  auf- 
gekrempelten  Hemdsarmeln,  behaarte  Arme,  nicht  rasiert,  Unten  auf 
der  StraBe  stehen,  winzig,  zwei  feine  Damen  und  sehen  so  zum  Haus 
herauf.  Und  was  tut  der  Mann  — ? 
Er  zieht  sich  seine  Kravatte  grade. 
Das  Bild  trug  keine  Unterschrift. 

* 
Es  gibt  deutsche  Katholik  en,  die  zerreiBen  sich  fast  das  Maul  dar- 
iiber.  daB  die  Kommunisten  „ihre  Befehle  aus  Moskau  entgegenneh- 
men",    Und  woher  bekommen  jene  ihre  Befehle?  Aus  Rom,   Wird  je- 
mals  ein  deutscher  Katholik  Papst? 

Das  Papsttum  ist  seit  Jahrhunderten  eine  italienische  Prerogative, 

* 
Die  meisten  Leute  wissen  gar  nicht,  daB  sie  im  Jahre  1932  leben. 
Die   andern  konnen   sich  nicht   darfiber  beruhigen,   daB  sie  im   Jahre 
1932  leben. 

* 
Pressefreiheit  ist  einmal  ein  gutes  politisches  Schlagwort  gewesesu 
Was  hetrte  verlangt  werden  mufl,  ist:  Filmfreiheit  und  Rundfunkfrei- 
heit.     Die  Zensorenj  machen  aus  bedden  einen  Kindergarten, 

* 
*      Ein  skeptischer    Katholik  ist  mir  lieber  als  ein  glaubiger  Atheist* 

521 


Brolat  von  flabriele  Tergit 

F\  ie  Vernebmung  van  Brolat,  dem  Dircktor  der  Berliner  Ver- 
*^  kehrsgesellschaft,  war  erschutternd.  Erschutternd  war,  wie 
Amtsgerichtsrat  KeBner  ihn  behandeite,  erschiitternd,  daB  er 
sich  so  behandeln  HeB,  erschiitternd  die  Kreatur,  umspiilt  vom 
Hohn  des  berliner  Votks  im  Zuhorerraum,  zu  dem  er  gehorts 
wie  nur  je  einer,  erschiitternd  die  schiefen  Sachen,  die  dieser 
Mann  machte,  der  72  000  Mark  Gehalt  bezieht, 

Verkorpert  ist  in  ihm  Glanz  und  Abstieg  einer  groBen  Be- 
wegung,  einer  groBen  Idee,  einer  Partei,  die  links  steht,  „wo 
der  Mensohheit  grofles  Herz  schlagt."  Es  stand  vor  Gericht 
nicht  der  Wunschtraum,  namlich  der  kluge,  seiner  Klasse  nahe 
Direktor  eines,  gemeinniitzigen  Unternehmens,  es  stand  vor 
Gericht  in  Wahrheit  der  kleine  Mann,  der  das?  groBe  Los  ge- 
wonnen  hat,  Lustspielfigur  seit  George  Dlandin  von  Moliere. 

Brolat  ist  Metallarbeiter  auf  dem  Wedding  gewesen. 
,,Unsre  braven  Metallarbeiter,' '  pflegte  Ebert  zu  sagen  und 
meinte  damit  im  wesent lichen  Brolat,  Die  Metallarbeiter  des 
Weddings  waren  immer  fur  Brolat.  Er  ist  einer  der  ihren,  alles 
andre  ist  schlecht  pass  end  e  Schale.  Er  ist  klein,  dick  und 
untersetzt,  hat  kurze  dicke  Finger,  spricht  falsches  Deutsch, 
ist  ohne  Geschmeidigkeit  und  weiB  nicht,  sich  zu  benehmen, 
Rosenthal,  der  kluge  Kaufmann,  saB  Amtsgerichtsrat  KeBner 
ebenburtig  gegeniiber.  Seine  Waffe  war  seine  Krankheit,  da- 
durch  saB  er,  nahm  Pillen,  trank  Wasseh  Brolat,  der  simple, 
einfache  Arbeiter  aber  stand  wie  der  Gemeine  stramm  steht 
vor  dem  OHizier  und  wie  dieser  war  er  stumm  und  hilflos 
gegenuber  dem  Witz  des  Vorsitzeruden,  dem  Hohn  des  Gebilde- 
ten  und  der  schneidenden  Scharfe  der  Jurisprudent, 

..  Brolat  ist  bestimmt  ein  anstandiger  Mensch,  seine  Tra- 
godie  ist  die  Trag6die  aller  a  us  der  SPD,  die  nicht  ganz  cha- 
rakterfest  waren  und  nicht  sehr  klug.  Herausgeworfen  aus 
seiner  Sphare,  war  er  dem  Neueni  nicht  gewachsen,  Sein 
Schicksai  muBte  mit  Naturnotwendigkeit  die  inner e  Unsicher- 
heit  werden,  die  Uberschatzung  der  auBern  Formeri,  die  er 
nicht  kannte.  DaB  er  niemand  andern  f and  als:  Fiihrer  zur 
Welt,  zur  feinen  Sprache,  zur  richtigen  Gabelhaltung,  denn  Leo 
Sklarek,  ist  seine  Tragik  und  sein  Verbrechen.  DaB  er  aber 
dies  mitmachte,  Diners  und  iibertriebene  Kleidung  und  Aufent- 
halt  in  Tanzdielen,  diesen  ^ganzen  Quatsch  mit  Frack  und 
Presseball,  dafiir  ist  er  nur'zum  Teil  schuldig.  Der  groflere 
Anteil  seiner  Schuld  ist  zwar  nicht  den  Sternen,  aber  der  Ge- 
wissen  und  Geist  beraubten  Zeit  zuzuschreiben. 

Er  wurde  Leiter  der  BrennstoHgesellschaH  und  damit 
kaufmannischer  Direktor  eines  groBen  Unternehmens.  Er  hat 
sich  gut  bewahrt,  das  heiBt,  es  gelang  ihm,  sehr  groBe  Mengen 
Kohlen  zu  verkaufen,  Er  sagt  van  Sklarek:  „Sie  haben  mir 
geschaltlicb  den  Weg  geebnet,  zu  Rosenthal,  Tietz  und  Kar- 
stadi11  Alle  diese  haben  ihre  Kohlen  durch  die  Brennstoff- 
gesellschaft  bezogen. 

Hier  liegt  der  tragische  Konliikt.  Von  der  Barrikade  zum 
Kohlen  verkauf,  vom  Arbeiterluhrer  zum  tuchtigen  Leiter  eines 

522 


Kohlenwnternehmens,  von  der  Theorie  zur  Praxis,  von  der 
roten  Miitze  des  Jakobiners  zum  Frack  auf  dem  Pres^cball,  vom 
blauen  Iicmd  des  Metallarbeiters  zu  den  scidenen  Hcmden  der 
Sklareks.  Das  soli  kein  Vorwurf  sein,  sondern  die  Schwere 
des  Weges,  die  Tragik,  die  Konflikte  aufzeigen.  Es  ist  nicht 
Sache  des  Fiihrers  einer  Arbeiterpartei,  72000  Mark  zu  ver- 
dienen,  einzugehen  in  die  Gefilde  des  Reichtums.  Schuldl  sind 
die,  die  solcbe  Riesengehaiter  auswerfen,  360  000  Mark  fiir  den 
Deutschnationalen  Lutke,  72  000  Mark  fiir  den  Sozialdemo- 
kraten  Brolat.  Man  sehe  sich  die  Gehalter  des  reicben  Aus- 
lands  an.  Der  Direktor  des  gesamten  Verkebrswesens  der 
reicben  Stadt.  Zurich  bezieht  10  000  Francs.  Macht  ergreifen 
ist  beroisch,  Macbt  besitzen  das  Gegenteil.  Der  Heroismus 
der>  iranzosischen  Revolution  ging  liber  in  den  Heroismus  der 
napoLeonischen  Kriege,  der  Heroismus  der  Sozialdemokratie  in 
das  gemeinniitzige  Unternebmen.  Nur  Riesen  ah  Charakter- 
starke  konnte  es  gelingen,  rein  diesen  Obergang  zu  vollziehen. 
Brolat  straucbelte.  Er  befreundete  sicb  mit  Leo  Sklarek. 
Man  soil  aber  die  Kirche  beim  Dorf  lassen..  Wol  waren  die 
Vorteite  fiir  die  Sklareks?  Sie  batten  immer  fiir  die  B.V.G. 
geliefert  1926,  also  vor  Brolats  Zeit,  fiir  110  000  Mark  im 
Jahr.  1928  zur  Zeit  von  Brolat  fiir  94  000  Mark,  1929  mehr. 
Vorteile  fiir  Brolat?  Brolat  hat  sich  seine  Anziige  durch 
Sklarek,  bei  Keller  &  Furcb  besorgen  lassen  und  fiir  die  An- 
ziige weniger  bezahlt,  als  sie  kosteten.  Er  will  es  nicht  gewuBt 
haben,  und  das  ist  auch  moglich.  Warum  soil  Brolat  unter- 
scheiden  konnen  zwischen,  Anziigen  fiir  250  und  450  Mark?  Er 
hat  dann  spater  nach  dem  Zusammenbruch  der  Sklareks  die 
Rechnungen  fiir  Anziigef  die  die  Sklareks  ihm  und  andern  Be- 
am ten  besorgt  batten,,  schneil  aus  der  eignen  Tascbe  bezahlt, 
statt  den  ganzen  Kleiderkomplex  dem  Staatsanwalt  anzuzeigen. 
Diese  Handlung  bringt  ihn  heute  in  den  Verdacht  der  Be- 
gunstigung,  damals  war  das  Bezahlen  der  Rechnung  a)  eine 
Panikbandtung  aus  Furcht  vor  der  CMfentlichkeit,  b)  ist  es 
nicht  jedem  gegeben,  den  Freund  sofort  dem  Staatsanwalt  zu 
iiberliefern.  Man  kann  sageni,  daB  eine  Personlichkeit  des 
offentlichen  Lebens  sich  ibrer  privaten  Gefiihle  zu  enthalten 
hatf  aber  wenn  ihre  privaten  Gefiihle  unter  einen  Paragrapben 
des  Strafrechts  fallen,  so,  soil  man  sie  bedauern,  aber  nicht 
verhobnen.  Da  hat  ferner  Sklarek  den  Pelz  von  Brolats  Frau 
mit  2000  Mark  bezahlt.  Brolat  will  Leo  Sklarek  die  2000  Mark 
in  die  Jackentaschen  gesteckt  haben,  weil  der  das  Geld  nicht 
nebmen  wollte,  und  er  ist  dann  nochmals  zum  Pelzlieferanten 
gegangen  und  hat  ihm  2000  Mark  fiir  die  Ausstellung  einer 
Rechnung  bezahlen  woilen.  Das  sind  natiirlich  alles  unmog- 
liche  Sacben.  Aber  was  die  sechs  seidenen,  von  Sklarek  ge- 
schenkten  Hemden  fiir  den  Preis  von  819  Mark  anbetrifft,  so 
mu8  man  auch  mitteilen,  dafi  Brolat  sagte;  „Ich  babe  mich  ge- 
schamt,  solcb  teure  Hemden  zu  tragen.  Ich  dacbte,  Leo  muB 
seine  Sinne  nicht  beisammen  gcbabt  haben,  als  er  solche  Hem- 
den fur  mich  bestellte." 

Das  ist  Brolat,  Ein  in  Reichtum  und  falschen  Luxus  ver- 
irrter  Metallarbeiter,  aber  sein  Gegenspieler  ist  der  Ober- 
magistratsrat  Brandes,  der  ihm  grade  dlas  zum  Vorwurf  macht, 

523 


was  ein  Positives  seiner  Arbeit  ist,  Denn  zum  guten  Kohlen- 
verkaufer  braucht  man  ja  schliefilich  keinen  Arbeiterftihrer. 
Er  hat  ein  schones  Erholungsheim  fiir  Kphlenarbeiter  gebaut. 
t(Eine  Gesellschaft  von  20  000  Mark  kann  sich  nicht  erlauben, 
eine  Anlage  von  250  000  Mark  zu  errichten,"  sagte  Brandes. 
,,Wie",  ruft  Brolat,  „15  Millionen  waren  aber  der  Umsatz,  bei 
ein  em  Lohnkonto  von  2  Millionen.  Kohlenarbeiter  sind  die 
schwerstarbeitenden  Menschen  und  liaben  drei  bis  sieben  Tage 
Urlaub,"  Brolat  will  bei  Brandes  kurz  vor  dexa  Zusammen- 
bruch  der  Sklareks  gewesen  sein,  „wegen  das  Erholungsheim", 
wie  er  sich  ausdriickt.  Brandes  aber  erklart,  er  habe  offenbar 
nm  gut  Wetter  fiir  die  Sklareks  bitten  wollen.  Aussage  steht 
gegen  Aussage,  Brandes,  der  an  der  Aufdeckung  des  Kom- 
plexes  Sklarek  stark  heteiligt  war,  hat  das  vornehme  Aus- 
seheni  und  Benehmen  eines  alten  preuBischen  Beamten,  Aber 
wenn  er  in  einem  stillen,  vornehmen  Nebensatz,  so  ganz  neben- 
beivi  in  formvollendeter  Intrigue,  ks,  einen  abmurkst,  wie  den 
Stad'tkammerer  Lange,  bei  dem  es  ihm  nicht  gelang,  oder 
Brolat,  bei  dem  es  ihm  gelang,  da  kann'  einen  wirklich  erne 
Gansehaut  uberlaufen.  Und  so  ist  es  ein  erlosendes  Wort,  als 
Brolat  zu  Brandes  sagt;  MSie  besitzen  eine  Voreragenommen- 
heit  gegen  Linksparteien,  Wenn  ich  Ihnen  erzahlt  hatte,  die 
Sklareks  haben  Tausende  von  Mark  an  die  Deutschnationalen 
und  Blumenarrangements  an  eine  hochgestellte  Dame  gegeben, 
der  sie  auch  Tausende  fiir  Offiziere  stifteten,  so  ware  lhre 
Meinung  von  den  Sklareks  eine  ganz  andre  geworden.'* 

Man  kann  von  Brandes  kein  Verstandnis  fiir  die  historische 
Tragik  eines  Menschen  wie  Brolat  verlangen,  fiir  die  schweren 
Konflikte,  die  dieses  Leben  im  Gegensatz  zu  seinem  eignen, 
glatten,  bringt.  Aber  auch  Amtsgerichtsrat  KeBner  zeigte 
keinen  Hauch  von  Verstandnis, 

Der  Zuhorerraum  geftillt  mit  Arbeitslosen,  die  wahrschein- 
lich  Kommunisten  waren,  iiberschuttete  Brolat  mit  Hohn, 
aber  die  Rechten  sind  es,  die  Brolat  mit  Vergniigen  diesem 
Hohn   hinhalten, 

Sie  bildeten  ein  Kollektiv  von  Erich  Kastner 

Colo  ging  Jedem  Alles   schief, 
*-*  Da  packte  sie  die  Wut, 
Sie  bildeten  ein  Kollektiv 
und  glaubten,  nun  seis  gut. 

Sie  blinzelten  mit  viel  Geduld 

der  Zukunft  ins  Gesicht, 

Es  blieb,  wies  war.     Was  war  dran  schuld? 

Die  Rechnung  stimmte  nicht. 

Addiert  die  Null  zehntausend  Mai, 
und  rechnets  grundlich  aus! 
Multipliziertsl     Mit  jeder  Zahl! 
Steht  Kopfl    Es  bleibt  euch  keine  Wahl: 
Zum  SchluB  kommt  Null  heraus 

524 


Die  Sonne  tdnt  von  Marthe  Schwerdtlein 

Der  Direktor,  Dramaturg  Neumeister,  drei  Erzengel. 

Dunkle  Biihne  einer  grdBern  Hafenstadt 

Von  Zeit  zu  Zeit  hort  man  die  Souffleuse  nie&en. 

Der  Direktor:  Warum  fangt  es  denn  nicht  an.   Los!  Na  red  schon. 

Raphael:  Die  Sonne  tont  — 

Direktor:  Wieso?  „Habe  nun  ach",  fangt  es  an.  Was  schauen  Sie 
so.  Ich  habe  recht.  Sie  konnen  mir  glauben.  Ich  inszeniere  den  Faust 
nicht  zum  ersten  Mai.  Jaf  ja,  ich  konnte  auch  Jubilaum  feiern,  ich 
bin  nur  nicht  der  Mann  dazu.  Goethe  ist  inj  diesen  Tagen  hundert 
Jahre  tot,  meine  Faustinszenierung  funfzehn.  Aber  ich  bitte  Sie(  keine 
iangen  Vortrage.    Los,  red  schon. 

Raphael:  Die  Sonne  tont  — 

Direktor:  Es  ist  gradezu  lacherlich,  wie  man  bei  dieser  Renitenz 
gutes  Theater  machen  soil.  Neumeister,  geben  Sie  bitte  das  Buch  her. 
Doch,  Sie  haben  zufallig  recht.  Dasi  heiBt,  auch  ich  habe  rechtf  Sie 
werden  sehen,  drei  Seiten  spater  heiBt  es  „Habe  nun  ach"  oder  ahn- 
lich.   Warum  ha  I  ten  Sie  die  Probe  so  lange  auf  und  reden  nicht. 

Raphael:  Die  Sonne  tont  nach  alter  Weise  — 

Direktor:  Wie?  Wieso?  Oh  nein,  Ich  lese  hier  eben  bei  Reklam, 
dafl  dieser  Raphael  Erzengel  ist.  Erzengel.  Glauben  Sie,  dafi  ein  Erz- 
engel so  spricht?  Nein,  mein  Lieber,  viel  weniger  piano,  bedeutend 
mehr  dur.  Viel  fanfarenstoBiger.  So  ungefahr  wie  das  der  Dingerich 
sprechen  wurde,  der  — ,  nein  nicht  Wtillner,  nein  auch  der  andre  nicht, 
na  also  mir  fallt  der  Name  nicht  ein.  So  ungefahr:  „Frau  Sonne  tont 
nach  alter  Weise."  Ich  hab  es  eben  auch  nicht  ganz,  ich  bin  etwas 
bei  Morgenschleim.     Weiter,  weiterf 

Raphael:  Die  Sonne  tont  nach  alter  Weise  — 

Direktor:  Jetzt  yersuch  mal  dabei  die  Arme  zu  verschranken.  Das 
konnte  etwas  Neues  sein.  Das  Publikum  sagt  sich  dann  sofort:  „Ver- 
schrankte  Arme,  aha,  also  Menschen,  die  nicht  viel  zu  tun  haben,  aha, 
also  Erzengel." 

Raphael:  In  Bruderspharen  Wettgesang  — 

Direktor:  Neumeister,  schauen  Sie  in  der  Mythologie  nach,  was 
Bruder  Spharen  sind.  Es  konnte  natiirlich  auch  ein  Goethizismus  sein. 
Unterbrechen  Sie  mich  doch  nicht  immer,  red  schon. 

Raphael:  Und  ihre  vorgeschriebne  Reise  — 

Direktor:  Entschuldigen  Sie,  wenn  ich  diesmal  unterbreche,  aber 
sagen  Sie  im  Bureau  oben  an,  man  mochte  mir  das  Auto  urn  zehn  vor 
vier  schicken,  Neumeister  weiter.  Weiter.  Aber  jetzt  einmal  richtig. 
Erzengelhaft*    Los! 

Raphael:  Und  ihre  vorgeschriebne  Reise  — 

Direktor:  „Vorgeschriebne  Reise"  ist  bestimmt  falsch.  Sie  meinen 
vielleicht  „vorgefafite  Reise".  „Vorgeschriebne  Reise"  wiirdej  Goethe 
nie  sagen.  Das  tut  meinem  Ohr  weh.  Das  entbehrt  jeder  Lautmalerei. 
Die  goethischen  Tonfarben  mussen  wir  schon  lassen,  wie  sie  sind. 
\Was?  Hier  steht  im  Buch  doch  vorgeschrie  — .  Also  los,  los,  weiter! 
Aber  rein  prinzipiell  habe  ich  recht. 

Raphael:  Vollendet  sie  mit  Donnergang. 

Direktor:  Zu  pathetisch.  Sie  mussen  alles  modern  undJ  trotzdem 
packend  sprechen.  ,fVoliendet  sie  mit  Donnerkrach",  hier  haben  Sie 
wieder  echte  Lautmalerei.  Ihr  jungen  Leute  habt  alle  keinen  Schim- 
mer  mehr.  Ein  solches  Werk  wie  der  Faust!  Wenn  ich  einmal  in 
meinem  Leben  als  junger  Mensch  das  Glttck  gehabt  hatte,  unter  meiner 
Regie  den  Faust  zu  spiel  en!  Weiter.  Nein,  halt!  Neumeister,  was 
werden  die  Erzengel  fiir  Schuhe  anziehen.  DaB  die  Engel1  gepanzert 
sindf  ist  klar,  hellblau.  Keinen  Widerspruch  bitte!  Sie  konnen  Ihre 
Meinung  auBern,  aber  keinen  Widerspruch,  Erzengel  mussen,  wie  schon 

525 


der  Name  sagt,  hellblau  gepanzert  sein,  Wahrend  der  Probe  konnen 
Sie  ruhig  Anziige  von  Knische  tragen,  aber  abends  hellblau  gepanzert. 
Weiter,  weiter. 

Raphael:  Vollendet  sie  mit  Donnergang, 

Direktor:  Nein,  ich  will  versuchen,  das  alles  zu  streichen, ,  Trotz 
zweifellos  sprachlich  schoner  Tonfarbereien  will  das  Publikum  doch 
mehr  —  Sie  verstehen  schon,  Wif  streichen.  Das  mit  dem  Donner- 
krach  nehmen  wir  direkt  auf  Schallplatten  und  iibertragen  es  mit 
Lautsprecher  und  Sie,  meine  Herren,  stehen  einfach  mit  verschrankten 
Armen  da  und  horen  glaubig  auf   die  Stimme  vom  Vater, 


Max  Frankel  von  Bernhard  Citron 

FVe  Hypothekeninstitute  bildeten  nach  den  Erschiitterungen 
der  Inflation  den  eigent  lichen  KristalHsationspunkt  der 
wirtschaftlichen  Stabilisierung.  Die  Goldpfandbriere,  die  von 
diesen  Instituten  ausgegeben  wurden,  genossen  Jahrelang  weit 
groBeres  Ansehen  als  Reichs-  und  Staatsanleihen,  Vielleicht 
war  fiir  diese  Bevorzugung  durch  weite  Kreise  der  (Mfentlich- 
keit  die  Silbe  „Gold"  im  Namen  jener  Pfaridbriefe  maBgebend. 
GewiB  entspricht  diese  Haltung  einer  etwas  primitiven  Aii- 
schauungsweise;  aber  die  Leuchtkraft  des  Goldes  war  nach 
Krieg  und  Inflation  so  stark,  daB|  man  den  goldgeranderten 
Glanz  eines  Pfandbriefes  dem  wirklichen  Golde  gleichstellte. 
Dazu  kam,  daB  sich  aus  der  Inflation  grade  der  Grundbesitz, 
der  das  Fundament  des  Realkredites  bildet,  am  besten  hiniiber- 
retten  konnte,  wahrend  No  ten  und  Schuldverpflichtungen  in 
der  Inflation  wertlos  wurden  und  zahlreiohe  damals  groB  ge- 
wordene  Industriezweige  das  Opfer  der  ersten  Stabilisierungs- 
periode  wurden.  Der  gewaltige  Aufschwung,  den  der  Grund- 
stiicksmarkt  zwischen  1925  und  1928  nahm,  verstarkte  den  Ein- 
druck,  daB  Realkredit  die  sicherste  Kapitalsanlage  sei,  Als  dann 
allmahlich  die  Grundstiickspreise  sanken  und  die  Bautatigkeit 
nachlieB,  besaBen  die  Hypothekenbanken  noch  immer  einen 
groBen  Fundus  an  Kapital  und  Reserven  sowie  einen  Stock 
von  gut  gedeckten  Hypotheken,  Eine  Erschiitterung  dieses 
Gebaudes  erschien  noch  vor  einem  Jahre  ausgeschlossen.  Da- 
mals setzte  sogar  eine  kraftige  Hausse  in  alien  Pfandbriefen 
ein,  so  daB  die  Kurse  aus  dem  ersten  Viertel  des  Jahres  1931 
kaum  hinter  den  Hochstkursen  friiherer  Jahre  zuriickblieben. 
Dem  Wesen  der  Hypothekenbamken  entspricht  eine  solide, 
vielleicht  sogar  etwas  bureaukratische  Geschaftsfuhrung.  Noch 
heute  pflegen  die  beiden  leitenden  Direktoren  einer  angesehe- 
nen  berliner  Hypothekenbank  alle  Grundstiicke,  auf  die  sie 
eine  Hypothek  geben  wollen,  selber  zu  besichtigen.  Be- 
kannt  sind  audi  die  strengen  Grundsatze  der  bayrischen  Insti- 
tute, die  zu  den  bestgeleiteten  gezahlt  werden.  Der  Auf- 
sdrwung  des  Realkreditwesens,  die  Leichtigkeit,  mit  der  jahre- 
lang  groBe  Kapitalieix  umgesetzt  werden  konnten,  bot  aber  alien 
das  gunstigste  Terrain  fiir  spekulative  Betatigung,  Der  Mann, 
der  verschiedene  Realkredit-Institute  in  einem  gewaltigen  Block 
zusammenfaBte  und  fiir  sich  und  die  ihm  nahestehenden  Grup- 
pen  groBe  Vorteile  aus  dem  Aufbluhen  dieses  Geschafts  zog, 
526 


wur.de  erst  in  den  letzten  Jahren  weithin  bekannt.  Doktor 
Max  Frankel  ist  zuletzt  in  die  Arena  der  Finanzmatadore  ge- 
stiegen;  als  Jacob  Goldschmidts  Stern  schon  verblaBte,  da 
sprach  die  Offentlichkeit  bewundernd  von  dem  Beherrscher 
der  Hypothekenbanken.  Frankels  Karriere  nahm  ihren  An* 
fang  bei  der  Roggen-Rentenbank,,  die  er  mit  der  PreuBischen 
Pfandbriefbank  im  Marz  1927  vereinigte.  Sehon  damals  begann 
er  sich  fiir  die  PreuBische  Hypothekenbank  zu  interessieren, 
deren  Majoritat  er  mit  der  -Unterstiitzung  Ivar  Kreugers  erwarb, 
Im  Juli  1929,  als  in  PreuBen  die  Fusion  zwischen  Pfandbrief- 
bank  und  Hypothekenbank  vollzogen  wurde,  war  das  Kapital 
von  4  Millionen  Mark  nach  der  Goldmark-Umstellung  bereits 
auf  25  Millionen  Mark  angewachsen,  AHgemein  bekannt  wutcte 
Frankel  dann  durch  die  Fusion  mit  einem  der  bedeutendsten 
Realkredit-Institute,  der  PreuBischen  Zentralboden-Kreditbank, 
die  im  Marz  1930  erfolgte,  Bei  all  diesen  Transaktionen  stan- 
d'en  dem  neuen  Konzernschopfer  verschiedene  wichtige  Ver- 
bindungen  zur  Seite.  Erstens  konnte  er  sich  auf  seine  vater- 
liche  Firma,  das  Bankgeschaft  Frankel  &  Simon,  stiitzen.  Durch 
dieses  Haus  pflegte  er  seine  groBen  Transaktionen  durchzu- 
fiihren.  Ferner  lieh  ihm  Ivar  Kreuger  seine  Autoritat  und  viel- 
fach  auch  die  dafiir  notwendigen  MitteL  Dazu  kamen  eAge 
Verbindungen  mit  der  Dresdher  Bank  und  dem  londoner  Bank- 
haus  Singer  &  Friedlaender,  das  bei  der  Plazierung  von  Pfand- 
briefeii  und  Aktientransaktionen  wertvolle  Dienste  leistete. 
Heute  laBt  sich  kaum  mehr  xibersehen,  wie  alle  diese  Konsor- 
tialgeschafte  zusammenhingen*  Es  fanden  gemeinsame  Auf- 
kaufe,,  Aktieniibertragungen,  Lombardierungen  und  Plazierun- 
gen  statt,  die  den  Grundstein  fiir  den  groBten  deutschen  Hypo- 
thekenbarik-Block  und  gleichzeitig  fiir  das  zeitweilig  sehr  groBe 
Privatvermogen  Frankels  bildeten. 

Nach  der  Vereinigung  von  Pfandbriefbank  und  Zentral- 
boden-Kreditbank gait  es,  die  in  ihrer  Geschaftsfiihrung  etwas 
bureaukratische  Gemeinschaftsgruppe  deutscher  Hypotheken- 
banken,  die  sich  aus  recht  heterogenen  Elementen  zusammen- 
setzte,  in  den  Kreis  des  neuen  Blocks  zu  ziehen.  Vorerst  muBte 
die  Frankel-Bank  einen  Beweis  ihrer  Machtstellung  liefern,  Im 
Friihjahr  1930  ergaben  sich  Schwierigkeiten/  bei  der  Deutschen 
Grundcreditbank  in   Gotha. 

Im  allgemeinen  pflegt  es  in  Wirtschaitszweigen,  die  haupt- 
sachlich  auf  das  offentliche  Vertrauen  angewiesen  sind,  ublich 
zu  sein,  daB  ein  schwach  gewordenes  Institut  von  dem  stark- 
sten  Unternehmen  aufgenommen  wird.  Die  Obernahme  der 
Deutschen  Grundcreditbank  Gotha  war  also  vor  allem  eine 
Prestigefrage.  Frankel  respektive  seine  Gruppc  stellte  im  Juni 
1930  die  fiir  die  Fusion  benotigten  2  Millionen  Mark  PreuBische 
Zentralboden-Kreditbank-Aktien  zum  Kurse  von  180  Prozent 
zur  Verfiigung,  Sein  Interesse  gait  jetzt  der  Fusion  einzelner 
zur  Gemeinschaftsgruppe  deutscher  Hypothekenbanken  geho- 
render  Geselischaften.  Zu  diesem  Zwecke  hatte  er  vor  allem 
durch1  Frankel  &  Simon  Aktien  der  PreuBischen  Bodenkredit- 
bank  und  der  Schlesischen  Bodenkreditbank  zusammengekauft. 
Bei  der  Fusion  ist  er,  die  Aktien  ungefahr  zum  hochsten  jemals 
erreichten    Kurse,    namlich   zu   155    Prozent,    an    sein   Institut 

521 


losgeworden.  Als  im  November  1930  die  Deutsche  Zentral- 
boden-Kreditbank  durch  Verschmelzung  dec  PreuBisohea  Zen- 
tralbodenkredit-  und  Pfandbriefbank  mit  der  PreuBischen  Bo- 
denkreditbank  und  der  Schlesischen  Bodenkreditbank  geschaf- 
fen  wurde  und  dieses  Unternehmen  an  die  Spitze  der  Gemein- 
schaftsgruppe  deutscher  Hypothekenbankeu  trat,  hatte  der 
EinLLuB  Frankels  im  Hypothekenbankwesen  und  im  deutschen 
Bankwesen  uberhaupt  seinen  Hohepunkt  erreicht.  Der  Zu- 
sammenschluB  war  keine  organische  Vereinigung,  sondern  die 
aus  spekulativen  Griinden  vollzogene  Aufpfropfung  verschie- 
dener  Institute  auf  einen  kaum  zusammengeschweiBten  Block. 
Die  rheinischen  Institute  haben  schon  damals  in  richtiger  Er- 
kenntnis  der  Lage  ihre  Beteiligung  entschieden  abgelehnt,  Wie 
groB  die  Autoritat  Frank  els  gewesen  ist,  geht  daraus  hervor, 
daB  im  Januar  1931,  als  Eingeweihte  begannen,  sich  uber  die 
Danatbank  Gedanken  zu  machen,  Frankel  als  deren  kommen- 
der  Mann  und  wohl  auch  als  der  Reorganisator  genannt  wurde, 
Wie  alle  groBeni  Konzerngebilde,  die*  durch  Spekulationcn 
entstanden  sind,  trug  auch  der  Frankel-Block  den  Krankheits- 
keim  von  vornherein  in  sich.  GewiB  ist  das  Realkreditgeschaft 
ein  durchaus  gesundes  Fundament,  auf  dem  sich  eine  solid e 
Bankpolitik  aufbauen  lafit.  Man  kann  diese  Art  des  Bank- 
geschafts  vielleicht  als  die  relativ  krisenfesteste  bezeichnen, 
Aber  Frankels  Politik  bedurfte  einer  standigen  Geschaftserwei- 
terung  zur  spekulativen  Betatigung.  Da  seit  anderthalb  Jah- 
ren  das  Geschaft  am  Realkreditmarkt  stagniert,  bieten  sich 
auch  keine  Aussichten  mehr  fur  die  Durchfiihrung  groBziigiger 
Transaktionen,  die  bis  zum  Jahre  1930  ublich  war  en.  Inn  iibri- 
gen  hat  Frankel  mit  seinen  Konsorten  viel  Ungliick  gehabt. 
Die  Dresdner  Bank  ist  in  Staatsbesitz  ubergegangen  und  hat 
fiir  die  spekulativen  Transaktionen  ihres  Geschaftsfreundes 
kein  Interesse  mehr.  Man  hat  Frankel  bei  der  Generalreini- 
gung  des  Aufsichtsrats  zwar  sein  Mandat  belassen,  wird  aber 
vermutlich  auch  auf  die  Abwicklung  bestehender  Engagements 
gedrangt  haben.  Die  Firma  Singer  &  Friedlaender  in  London 
kann  infolge  der  Devisenschiebungsaffare  keine  Geschafte  mehr 
in  Deutschland  tatigen;  Ernst  Friedlander,  der  Inhaber,  ist  im 
Februar  aus  dem  Aufsichtsrat  der  Deutschen  Zentralboden- 
Kreditbank  ausgeschieden.  Die  Stiitze,  die  Frankel  an  Ivar 
Kreuger  gehabt  hat,  ist  mit  dessen  Tod  dahin.  So  ist  es  auch 
nicht  erstaunlich,  daB  Frankel  &  Simon,  die  Hausfirma  Doktor 
Frankels,  in  den  letzten  Wochen  auf  Grund  von  Abgaben  in 
Deutschen  Zentralboden-Kreditbank-Aktien  in  den  Mittelpunkt 
von  Borsengeruchten  geraten  sind.  Bald  wird  auchl  der  letzte 
Komet  am  Bankenhimmel  wied'er  verschwinden.  Manbraucht 
nicht  zu  befurchten,  daB  er  bei  seinem  Sturz  die  Erde  er- 
schtittern  wird.  Das  Realkreditgeschaft  ist  in  seinem  Kern 
auch  heute  noch  gesund,  wenn  auch  die  Deutsche  Zentralbo- 
den-Kreditbank  respektive  ihre  Vorgangerinnen  eine  nicht  ganz 
so  strenge  B el eihungs praxis  getibt  haben  wie  andre  Institute. 
Daran  ist  wiederum  der  Frankels-Kurs  schuld,  der  nach  Ver- 
breiterung,  nicht  nach  Vertiefung  strebte.  Die  groBen  Mittel, 
die  durch  jene  Verbindung  mit  dem  Auslande  zur  Verfugung 
gestellt   wurden,    sollten   rasch   und   gewtnnbringend    angelegt 

528 


werden.  Wie  lcicht  cs  der  Frankel-Bank  noch  im  vergangenen 
Jahre  gemacht  wurdet  bcwcist  die  Grtindung  dcr  Internatio- 
nalen  Bodencreditbank  in  Basel.  Leider  hat  man  auch  dieses 
auf  Kreugers  Initiative  zuriickzufuhrende  Institut  weniger  fur 
langfristige  Placierungen  van  Pfandbriefen  aus  dem  Stock  der 
Deutschen  Zentralboden-Kreditbank  als  -fur  die  Ablagerung  von 
Kommunalobligationen,  die  Doktor  Frankel  gehorten,  heran- 
gezogen.  Wenn  jetzt  endlich  mit  der  gefahrlichen  Politik 
Frankels  gebrochen  wird,  wenn  sich  die  ;.  Zentralboden- 
Kreditbank  eine  langere  Atempause  gonnen  kann,  dann  wird 
auch  wieder  die  Grundlage  fur  ein  gesundes  Realkreditgeschaft 
vorbereitet  werden  konnen,  Im  Widerspruch  zu  dieser  not- 
wendigen  Konsolidierung  steht  allerdings  die  Ausschiittung 
einer  siebenprozentigen  Dividende  an  die  Aktionare,  die  ent- 
weder  aus  falschen  Prestigegninden  oder  aus  Fiirsorge  fiir  die 
GroBaktionare  vorgenommen  wird,  Bei  den  vorhandenen  Risi- 
ken,  die  durch  Haftung  von  Kapital  und  Reserven  fiir  Pfand- 
briefe  und  Kommunalobligationen  begriindet  sind,  ist  eine 
solche  Dividendenpolitik  schwer  zu  rechtfertigen. 

Hoffentlich  ist  sich  die  Aulsichtsbehorde  bewuBt,  wo 
augenblicklich  der  Krebsschaden  liegt.  Man  hatte  wohl  sonst 
schon  fruhert  als  die  merkwiirdige  Praxis  der  Zentralboden- 
Kreditbank  bei  der  Behandlung  von  Aufwertungsrechten  be- 
kannt  wurdef  ein  Machtwort  sprechen  soil  en.  Leider  aber 
wird  meist  erst  dann  die  notwendige  Konsequenz  gezogen, 
wenn  ein  unabsehbarer  Schaden  fiir  die  deutsche  Wirtschaft 
entstanden  ist. 


Singt  eener  Uffn  Hof  von  Theobald  Tiger 

Ick  hab  ma  so  mit  dir  jeschunden, 

ick  hab  ma  so  mit  dir  jeplacht, 
Ick  ha  in  sieBen  Liebesstunden 
zu  dir  MMein  Pummelchen'*  jesacht, 

Du  wahst  in  meines  Lehms  Auf  un  Ab 

die  Rasenbank  am  Elternjrab. 

Mein  Auhre  sah  den  Hummel  offen, 
ick  nahm  dir  sachte  uffn  SchoG, 
An  nachsten  Tach  wahst  du  besoffen 
un  jingst  mit  fremde  Kerle  los. 

Un  bist  retuhr  jekomm,  bleich  un  schlapp  — 
von  wejen;  Rasenbank  am  Elternjrab  I 

Du  wahst  mein  schonstet  Jluck  auf  Erden, 

nur  du  —  von  hinten  und  von  vorn. 

Mit  uns  zwee  hatt  et  konnen  werden, 

et  is  man  leider  nischt  jeworn. 

Der  Blumentopp  vor  deinen  Fensta 
der  duftet  in  dein  Zimmer  rein ... 
Leb  wohl,  mein  liebes  Kind,  und  wennsta 
mal  dreckich  jeht,  denn  denke  mein  — I 

529 


Bemerkungen 

Zensur  ohne  Hemmung 

r>  ieser  Tage  hat  die  berliner 
^  Filmpriifstclle  den  Film 
„Kuhle,  Wampe"  von  Brecht, 
Ottwalt  und  Dudow  verboten. 
Schon  vor  acht  Tagen  wiesen 
wir  darauf  hin,  daB  ein  solches 
Verbot  nicht  zu  \rechtfertigen 
sein  wtirde,  und  soweit  sich  aus 
den  Mitteilungen  (iber  den  Ver- 
lauf  der  Verhandlung  und  die 
Verbotsgriinde  ein  Bild  ergibt, 
hat  man  sich  diesmal  auch  vor 
den  groteskesten  Argumenten 
nicht  gescheut.  Wieder  scheint 
es  der  in  der  Filmzensurpraxis 
nun  schon  unheimlich  beriihmte 
Vertreter  des  Ministeriums  ge- 
wesen  zu  sein,  der  als  politischer 
Sachverstandiger  in  der  Rolle  des 
advocatus  diaboli  die  Zensur- 
kammer  an  die  Wand  spielte, 
samt  gesundem  Menschenver- 
stand  und  demokratischer  Frei- 
heit.  Das  Innenministerium  ver- 
trat  Herr  Oberregierungsrat  Erbe. 
Immer  deutlicher  wird,  daB 
man  gesonnen  ist,  alle  irgend 
freiheitlichen  und  fortschritt- 
lichen  Filme  zu  verbieten,  koste 
es,  was  es  wolle.  Nicht  aus  den 
Argumenten  folgt  das  Verbot, 
sondern  weil  verboten  werden 
soil,  kratzt  man  die  Verbots- 
griinde aus  den  entfeirntesten 
Ecken  herbei.  Was  soil  man  da- 
zu  sagen,  daB  dem  Film  vor- 
geworfen  wird,  er  betreibe  kom- 
munistische  Propaganda  und  ent- 
halte  schwere  Angriffe  gegen  die 
SPD,  obwohl  er  vor  der  Priif- 
stelle  ausgerechnet  durch  den 
sozialdemokratischen  Reichstags- 
abgeordneten  Landsberg  vertreten 
wurde!  Der  „Kuhle  Wampe"- 
Film  ist,  wie  wir  schon  neulich 
sagten,  von  vornherein  in  Manus- 
kript  und  Regie  so  angelegtwor- 
den,  daB  mit  seiner  Zulassung  zu 
rechnen  war;  denn  niemand  ar- 
beitet  ja  gern  fiir  den  Abfall- 
kasten.  Deshalb  bewegt  sich  alles 
Politische  in  den  allgemeinsten 
Andeutungen :  In  dem  groBen 
Lied  der  Arbeitersportler  wird 
nicht s  gesagt,  als  daB  die  Starke 
in  der  Einigkeit  bestehe,  und  die 
Diskussion  uber  die  ungerechte 
Verteilung    der    Guter    gipfelt     in 

530 


den!  Satzen:  „Wer  wird  die  Welt 
verandern?  Die,  denen  sie  nicht 
gefallt,"  Wenn  man  das  nicht 
mehr  sagen  kann,  wenn  nicht 
mehr  mitgeteilt  werden  darf,  daB 
es  Menschen  gibt,  die  den  Zu- 
stand  der  Welt  zu  verandern 
wiinschen,  dann  ist  damit  erwie- 
sen,  daB  die  Zensurprazis  beim 
nackten  Machtkampf  angelangt 
ist,  in  dem  die  Vernunft  zu 
schweigen  hat  wie  das  Weib  in 
der  Kirche.     A  propos  . . . 

Es  lauten  die  Glocken,  die 
Kirche  ist  da.  Wer  den  Film  ge- 
sehen  hat,  wird  sich  vergeblich 
den  Kopf  zermartern,  was  die 
Stell vertreter  Gottes  diesmal  ge- 
argert  haben  konnte.  Er  wird 
nicht1  darauf  kommen.  Da  sieht 
man  in  einer  Szene,  wie  des  Mor- 
gens  junge  Sports leute  aus  ihren 
Zelten  treten  und  nackt  ins 
Wasser  laufen.  Wahrend  dies  ge- 
schieht,  lauten,  wie  den  Prufern 
aufgefallen  ist,  Kirchenglocken, 
und  im  Hintergrund  ist  ein  Kirch- 
turm  sichtbar,  Mir  sind  bei  der 
Vorfuhrung  weder  Glocken  noch 
Turm  aufgefallen  —  es  bedarf 
dazu  wohl  einer  krankhaften 
Empfindlichkeit  fiir  religiose  Sym- 
bole  — ,  und  auBerdem  sind 
diese  kirchlichen  Zutaten  nicht 
etwa  vom  Regisseur  tiickisch  hin- 
zukomponiert,  sondern  es  handelt 
sich  urn  eine  Freilichtaufnahme, 
bei  der  der  liebe  Gott  es  so  ein- 
gerichtet  hat,  daB  zufallig  die 
Glocken  lauteten,  Ihm  kann  der 
erfreuliche  Anblick  junger  nack- 
ter  Menschen  kaum  unwillkom- 
men  oder  neu  gewesen  sein,  j  a 
fiir  einen  weniger  vermufften  Re- 
ligionskult  konnte  der  nackte 
Mensch  in  der  Natur  geradezu 
ein  erlesenes  Symbol  des  Gottes- 
dienstes  abgeben.  Aber  es  soil 
nicht  sein,  und  we;  kunftig  im 
Film  etwa  zeigt,  wie  eine  Hundin 
Junge  wirft  oder  ein  Liebespaar 
sich  auf  einer  Wiese  kiiBt,  der 
lasse  zunachst  seinen  Regieassi* 
stenten  den  Horizont  mit  dem 
Feldstecher  nach  Kirchtiirmen 
absuchen  und  den  Tonmeister  in 
der  Abhorkabine  auf  etwaigever- 
sprengte  Glockentone  horchen, 
Auf  daB  die  kirchliche  Bann- 
meile   nicht   verletzt   werde. 


Ein  junger  Arbeitsloser,  dem 
durch  die  Notverordnung  die  Un- 
terstiitzung  entzogen  wird,  springt 
aus  dem  Fenster.  DaB  dies  Mo- 
tiv  ausgerechnet  eine  Beleidigung 
des  Reichsprasidenten  sein  solle, 
wird  man  urn  so  schwerer  ver- 
stehen,  als  im  Film  dieser  Selbst- 
mord  keineswegs  nur  auf  den 
Entzug  des  Stempelgeldes  son- 
dern  ganz  eindeutig  auch  darauf 
zurtickgeht,  daB  die  Eltern  des 
jungen  Menschen  ihm  wegen  sei- ' 
ner  angeblichen  Lassigkeit  im 
Arbeitsuchen  die  heftigsten  Vor- 
wurfe  machen.  Bei  einigem  gu- 
ten  Willen  lafit  sich  das  gar  nicht 
iibersehen,  und  ebenso  hinfallig 
ist  die  Behauptung,  der  Arbeiter- 
sportklub  finanziere  in  diesem 
Film  die  Abtreibung.  Denn  die 
drei  jungen  Leute,  die  sich  hier 
gegen  den  Paragraphen  218  ver- 
gehen,  tun  dies  durchaus  privat 
und  nicht  in  ihrer  Eigenschaft  als 
Arbeitersportler,  und  zum  Uber- 
fluB  wird  klar  angedeutet,  wie 
schwer  dem  Madchen  der  Ent- 
schluB  wird  und  wie  gern  sie 
eigentlich  ein  Kind  hatte. 

ttber  einzelne  Ausschnitte  ware 
zu  diskutieren  gewesen.  Man 
konnte  sich  vorstellen,  dafi  die 
Zensur  den  Richter  verbote,  der 
Exmissionsurteile  teilnahmslos 
herunterschnarrt  oder  allenfalls 
die  Exmissions-Szene  des  Roten 
Sprachrohrs.  Auch  aus  solchem 
Verbot  ginge  schon  hervor,  dafi 
es  nicht  erlaubt  ist,  die  Wahrheit 
zu  zeigen,  aber  in  diesen  Fallen 
liefie  sich  wenigstens  eine  ver- 
standliche  Begriindung  geben.  DaB 
aber  der  Film  als  ganzer  geeignet 
sei,  die  offentliche  Ordnung  zu 
storen  und  zur  Gewalttat  aufzu- 
reizen,  kann  nur  behauptet  wer- 
den,  wenn  man  es  nicht  mehr  fur 
notig  halt,  auch  nur  den  Schein 
einer  freiheitlichen  Gerechtigkeit 
zu    wahren. 

Der  Film  „Kuhle  Wampe"  wird 
nun  noch  einmal,  von  der  Ober- 
prufstelle,  beurteilt  werden,  Man 
muB  hoffen,  daB  die  Entschei- 
dung,  die  alle  anstandige  Film- 
kunst  zugunsten  des  verlogenen 
Industriekitschs  endgtiltig  abdros- 
seln  diirfte,  npch  unschadlich  ge- 
macht    werden    wird. 

Rudolf  Arnheim 


Ehrfurcht  vor  der  Vergangenhelt 
F\er  deutschnationale  Oberstu- 
*^  diendirektor  Pflug  in  Frie- 
denau,  dessen  Name  in  recht 
peinlichem  Zusammenhang  mit 
dem  Selbstmord  des  Primaners 
Adler  genannt  worden  ist,  setzt 
sich  mit  „Berichtigungen"  zur 
Wehr.  In  der  an  den  tVorwarts' 
gesandten  Berichtigung  bestreitet 
er,  „bei  Verfassungsfeiern  vor  ver- 
sammelten  Schiilern  parteipoli- 
tische,  gegen  die  Republik  ge- 
richtete  Propaganda  getrieben  zu 
haben,"  Richtig  sei  vielmehr,  daB 
er  „am  11.  August  1931  in  der 
Aula  sich  gegen  eine  Darstellung 
verwahrte,  die  ihm  die  Ehrfurcht 
vor  der  Vergangenheit  zu  ver- 
letzen  schien." 

Ob  Herr  Pflug  als  Hugen- 
bergianer  vielleicht  die  mon- 
archische  Vergangenheit  allzu- 
sehr  auf  Kosten  der  Republik 
herausgestrichen  hat,  bleibt  eine 
offene  Frage.  Ohne  Kenntnis  des 
Textes  der  direktorialen  Rede  ist 
keine  sachliche  Kritik  moglich. 
Aber  auf  diese  Rede  kommt  es 
auch  wirklich  wenig  an.  Wich- 
tiger  ist,  daB  fur  Herrn  Pflug  als 
mbnarchistischen  Direktor  eines 
republikanischen  Gymnasiums 

nach  seiner  eignen  Erklarung  die 
„Ehrfurcht  vor  der  Vergangen- 
heit'4 das  Leitmotiv  seiner  Pad- 
agogik  zu  sein  scheint. 

Die  Republik  hatte  nie  ent- 
stehen  konnen,  wenn  1918  das 
deutsche  Volk  eine  ubertriebene 
Ehrfurcht  vor  der  Vergangenheit 
gehabt  hatte.  Nur  weil  es  die  Ver- 
rottung  des  Hohenzollernregimes 
satt  hatte,  konnte  es  den  Schritt 
nach  vorwarts  tun.  Herr  Pflug 
als  Deutschnationaler  bedauert 
wahrscheinlich,  daB  die  von  ihm 
gepriesene  Ehrfurcht  vor  der  Ver- 
gangenheit nicht  auch  zur  ehr- 
furchtsvollen  Konservierung  Wil- 
helms  II.  auf  dem  Throne  all  sei- 
nen  Siinden  zum  Trotz  gefiihrt 
habe. 

Ehrfurcht  vor  der  Vergangen- 
heit —  naturlich  nur  der  kaiser- 
lich-koniglich-kurfurstlichen  Ver- 
gangenheit Preufien-Deutschlands, 
das  war  j  a  die  Seele  des  Ge- 
schichtsunterrichts  vor  dem 
Kriege.      Aus     dieser     Ehrfurcht 

531 


heraus  wurde  uns  Schiilern  ver- 
schwiegen:  daB  der  GroBe  Kur- 
fiirst  als  Stipendiat  Frankreichs 
und  Friedrich  der  GroBe  als  Frank- 
reichs Bundesgenosse  das  Elsafi  an 
Frankreich  verschachert  hatten; 
daB  Friedrich  Wilhelm  I.  ein  ba- 
nausischer  Rohling  war;  daB 
Friedrich  Wilhelm.  II,  auf  den 
drei  Gebieten  der  Maitressenwirt- 
schaft,  der  Verschwendung  und 
des  Wortbruchs  Rekorde  erzielt 
hat;  daB  Friedrich  Wilhelm  III. 
ein  reaktionarer  Trottel  war,  der 
sein  Volk  zum  Dank  fur  seine 
Blutopfer  in  den  sogenannten  Be- 
f  reiungskriegen  f  iinfundzwanzig 
Jahre  hindurch  um  die  feierlich 
versprochene  Verf assung  betrog ; 
daB  der  gekronte  Narr  Friedrich 
Wilhelm  IV.  schon  langst  ver- 
ruckt  war,  ehe  er  offiziell  dazu 
erklart  wurde. 

Der  ganze  Geschichtsunterricht, 
soweit  er  PreuBen-Deutschland 
betraf,  war  Legendenbildung.  Die 
„Ehrfurcht  vor  der  Vergangen- 
heit" war  Flucht  vor  der  Wahr- 
heit  tiber  die  Vergangenheit.  Um 
uns  Schiiler  hohenzollerntreu  zu 
machen,  wurden  wir  fiber  die 
Hohenzollern  nach  Strich  und 
Faden  belogen. 

Noch  keinen  Franzosen  habe 
ich  gefunden,  der  aus  Ehrfurcht 
vor  der  Vergangenheit  Na- 
poleon III.  zu  verteidigen  unter- 
nommen  hatte.  Alle  gaben  sie  ihn  so 
preis,  wie  ihn  schon  im  September 
1870  das  ganze  franzosische  Volk 
preisgegeben  hatte. 

Die  Deutsche  Republik  hat  es 
leider  unterlassen,  denselben 
deutlichen  Strich  zwischen  sich 
und  der  monarchischen  Vergan- 
genheit zu  ziehen.  Wer  heute  von 
der  Kriegsschuld  Wilhelms  IL  zu 
sprechen  wagt,  wird  wie  eine  Art 
Landesverrater  angesehen. 

Was  wir  in  Deutschland  brau- 
chen,  ist  wahrhaftig  nicht  mebr 
Ehrfurcht  vor  der  Vergangenheit, 
sondern  mehr  Kritik  an  der  Ver- 
gangenheit. Zerstorung  von  Le- 
genden,  Zertriimmerung  von 
Gotzenbildern!  Weniger  Treitsch- 
ke,  mehr  Voltaire! 

Allzuviel  Ehrfurcht  vor  der 
Vergangenheit  fuhrt  zur  Mumifi- 
zierung, 

Hellmui  von  Gerlach 
532 


Wenn  man  vielleicht  •  .  . 

C  s  ist  nicht  ublich.  Aber  schon 
*-*    wars   doch. 

Schon  ware  es,  wenn  Roman- 
figuren  eines  Autors  in  dem 
Buche  eines  andern  Autors  vor- 
kamen,  so  ganz  nebenbei  und 
durchaus  nicht  als  Hauptperson. 
Wenn  also  Hans  Castorp  aus 
dem  Zauberberg  in  einem  Roman 
Wassermanns  auftauchte  und 
Etzel  Andergast  bei  Georg  Kai- 
ser und  so  fort  und  so  weiter. 

Man.  sahe  dann  namlich,  daB 
die  sogenannte  Hauptperson  auch 
nur  „ein  andrer"  ist  —  man  sahe, 
wie.  geschickt  jeder  Roman  den 
Rahmen  um  seine  Hauptfigur 
legt,  legen  muB,  und  wie  das 
doch  kiinstlich  ist.  Hauptperso- 
nen  gibt  es  im  Leben  des  einzel- 
nen  nur  eine:  das  ist  er  selbst. 
Und  keiner  will  vom  andern 
recht  glauben,  daB  auch  der  ein 
Schicksal  habe,  mit  Innenleben, 
Bandwurm,  Liebe  und  dem  gan- 
zen  Komfort.  Na  ja,  er  hat  es, 
aber  so  schon  wie  meins  , . . 

Sinclair  Lewis  hat  das  mit  sei- 
nen  Figuren  oft  gemacht,  da 
wandern  sie  von  einem  Buch  ins 
andre,  und  es  macht  einen  merk- 
wiirdigen,  einen  betnah  unheim- 
lichen  Eindruck,  wenn  im  Elmer 
Gantry  oder  sonstwo  von  Babbitt 
die  Rede  ist.  Balzac  hat  es  getan 
und,  wenn  ich  mich  recht  erinnere, 
Zola  auch,  Es  ist  so,  wie 
wenn  in  einem  Kriegsroman  ein 
osterreichischer  Feldwebel  sagte: 
„Da  habe  ich  mal  einen  Kerl  ge- 
troffen,  der  hiefi  Schwejk  . .  ,'* 
und  weiter  nichts.  Wir  wiiBten 
Bescheid;  fur  den  Feldwebel  aber 
ware  es  nur  eine  fluchtige  Be- 
gegnung  , . .  Hauptpersonen  gibt 
es  nicht.  Von  der  Geschichte 
deines  jeweiligen  Landes  ab- 
gesehn. 

Weil  aber  jeder  Kunstler  seine 
Welt  neu  schafft,  so  braucht  er 
diesen  Gegensatz :  ich  und  die 
andern,  wobei  fast  jeder  angstlich 
vermeidet,  zu  sagen,  daB  der 
Herr  Ich  eben  auch  nur  ein  and- 
rer ist.  Und  um  sich  da  heraus - 
zuhelfen,  schreiben  sie  StoBbriga- 
den-Romane,  wobei  man  die  Bri- 
gaden  untereinander  auswechseln 
kann,   ohne   daB   es   einer  merkt. 


Die  Autoren  kann  man  auch  aus- 
wechseln. 

Verschiebung  der  Pcrspektiven 
aber  ist  immer  gut.  MUnsre  Zeit 
sucht  das  Absolute!  Nieder  mit 
Einstein!  Wir  mtissen  in  das  In- 
nere  der  Dinge  vorstoBen!  Heil! 
Hoch!  Nieder!  Haut  ihn!"  Alle 
Mann  au!  Kaspar  Hauser  los.  Als 
sich  der  Knaul  aufloste,  ergab  es 
sich,  daB  sie  einander  gar  kraftig 
gedroschen  batten,  denn  der  .  re- 
lative Kaspar  war  langst  nicht 
mebr  da. 

Kaspar   Hauser 

Die  jugendliche  Arbeiterin 
Dei  I.C.  B.  Mohr  in  Tubingen  ist 
*■*  ein  Buch  erschienen  (Lisbeth 
Franzen-Hellersberg:  „Die  jugend- 
liche Arbeiterin.  Ihre  Arbeitsweise 
und  Lebensform"),  das  den  ersten 
umfassenderen  Versuch  der  sozial- 
psychologischen  Darstellung  einer 
in  dieser  Hinsicnt  bisher  etwas 
vernachlassigten  Menschenschicht 
unternimmt:  des  weiblichen  Jung- 
proletariats. 

Wer  an  die  Lektiire  des  dan- 
kenswerten  Buches  herangeht, 
mufi  das  gleiche  tun,  was  die  Ver- 
fasserin  tat,  als  sie  sich  an  die 
Arbeit  machte:  namlich  alle  Illu- 
sionen  und  sogar  viele  Theorien 
zuhause  lassen.  Denn  hier  sind 
keine  Bestatigungen  der  Frauen- 
emanzipation  zu  bolen  und  keine 
Propagandafanfaren  fur  die  Sache 
des  klassenbewuBten  Proletariats. 
Hier  ist  eine  Schicht  dargestellt, 
die  sich  im  vormarxistischen  Sta- 
dium befindet,  ja  im  eigentlichen 
Sinn  des  Wortes  noch  gestaltlos 
ist.  (Parallelfall  etwa:  die  Ent- 
wicklungsstufe  der  sudromanischen 
Frau  gegemiber  der  mitteleuro- 
paischen.)      Die    riesige    anonyme 


Masse  der  Fabrikmadchen  ist  den 
mannlichen  Arbeitskollegen  urn 
Jahrzehnte  der  Entwicklung 
unterlegen,    Wie  kommt   das? 

Es  kommt  vor  allem  vom  primi- 
tivsten  Unterscbied  der  Geschlech- 
ter  her,  von  der  korperlichen  Un- 
terlegenbeit  der  Frau.  In  geisti- 
gen  Berufen  gehobener  Klassen, 
wo  Gleichheit  der  Leistung  erzielt 
werden  kann,  spielt  er  keine  Rolle 
mehr  —  im  Bereich  der  Hand- 
arbeit  die  allergroBte.  Physiscb 
versagen,  technisch  au!  den  Mann 
(Vorarbeiter,  Werkmeister)  ange- 
wiesen  sein,  bedeutet  eine  nie  ver- 
siegende  Quelle  des  Minderwertig- 
keitsgefuhls,  aus  der  sich  fur  die 
Arbeiterin  dauernde  Unterbewer- 
tung  ihrer  selbst,  suggestive  Ab- 
hangigkeit  vom  mannlichen  Vor- 
gesetzten,  unsolidarischer  Arbeits- 
eifer  etcetera  ergibt.  Wahrschein- 
lich  ist  es  auch  dieser  primitive 
Urgrund,  auf  den  die  miBachtete 
Stellung  der  Frau  innerhalb  der 
proletarischen  Familie  zuruckgeht, 
wo  die  kleinen  Madchen  meist 
vom  sechsten  Lebensjahr  an  zu 
Hausarbeiten  herangezogen  wer- 
den, die  man  den  Jungen  nicht 
zumutet,  und  wo  die  verdienen- 
den  Tochter,  wenn  sie  abends 
miide  nach  Hause  kommen,  Vater 
und  Briider  bedienen  mtissen, 
ohne  daB  man  ihnen  (bevor  sie 
sich  selbstandig  machen)  den  fur 
Sonne  selbstverstandlichen  Aus- 
gleich  von  Kino,  Klubs  und  Sport 
erlaubt. 

Der  Ausgleich,  den  das  heran- 
wachsende  Proletariermadchen 
braucht  und  sich  schafft,  ist  vi- 
taler  Natur;  die  friihen  sexuellen 
Beziehungen  sind  das  einzig 
sichere  Gegengewicht  objektiver 
Minderwertigkeitsgefiihle,  die  ein- 


Der  1.  Sammelband  von 

K  f  TRT  TT  Tri-TOT  QfcT  Y  (PETER  PANTER  •  THEOBALD  TIGER 
IVUtt  1    1  U^nULdK  I  iGNAZ  WROBEL  •  KASPAR  HAUSER): 

MIT  5  PS 

25-Tau9cnd  .  VerbUligte  Pretee  »  Kartoniert  4.80  ■  Letnenband  6.50 

»  . . .  enthalt  eine  Auswabl  der  ungezahlten  Aufsatze,  Krttlken,  Angriffe,  Satlren,  Paro- 
dicn,  Betraditungen  und  kleinen  fyriedi-polemlsdien  Gedldite,  die  Woche  urn  Wodae 
unersdidpflldi  aus  diesem  heUsten  Hlrn  und  jfrtsdiesten  Herzen  des  Jungen,  des  wirklitfa 
Jungen  Deutsdiland  herrorsprlngrn."  (Berliner  BOrsen-Coarier) 

ROWOHLTVERLAG    BERLIN    W  50 

533 


zige  Befreiung  aus  dem  Jammer- 
komplex  von  Armut,  Schmutz, 
Wohnungselend,  Familienmisere, 
Das  erschiitterndste  Kapitel  des 
Franzen-Hellersbergschen  Buches 
schildert  die  Reifezeit  der  ju- 
gendlichen  Arbeiterin,  diese  Zeit 
grofiter  Verlctzlichkeit  und  Emp- 
findsamkeit,  in  der  in  proletari- 
schem  Milieu  keinem  der  so  not- 
wendigen  Erfordernisse  Rechnung 
getragen  werden  kann:  weder 
dem  Einsamkeits-  noch  dem  Aus- 
sprachebediirfnis,  nicht  der  kor- 
perlichen  noch  der  seelischen 
Schonungsbediirftigkeit  der  Pu- 
bertal 1st  es  zu  verwundern, 
wenn  unter  diesen  Vorbedingun- 
gen  das  proletarische  Madchen 
uberhaupt  nicht  zum  klarenden 
Ich-Erlebnis  kommt,  da  sie  vor- 
zeitig  sichf  wie  die  Verfasserin 
sagt,  hochst  realistisch  im  Andern 
gefunden  hat,  nicht  als  Indi- 
viduum,  aber  als  Geschlechts- 
wesen?  Dafi  sie  unsicher  bleibt, 
Kl  eider,  Schmuck,  Amusement 
iiberbewertet,  ihre  sexuellen  Mog- 
lichkeiten  (die  einzigen,  die  ihr 
bewufit  werden)  in  den  Arbeits- 
kreis,  in  dem  sie  von  Mannern 
abhangt,  iibertragt,  die  Schwierig- 
keiten  des  sozialen  Aufstiegs  in 
den  weitaus  meisten  Fallen  als 
Unmoglichkeiten  ansieht  und  nach 
kurzen  Jugendjahren  fiir  immer 
in  das  dumpfe  Dasein  der  ver- 
brauchten  Proletarierfrau  ver- 
sinkt,  das  schon  Mutter  und 
Grofimutter    gefuhrt   haben? 

Die  vorstehenden  Andeutungen 
eines  sozialen  Tatbestandes  er- 
schopfen  nattirlich  nicht  im  min- 
desten  den  Inhalt  des  angezeig- 
ten  Buches,  das  in  seiner  klaren 
Struktur,  seiner  sorgfaltigen  Ein- 
beziehung  aller  in  Betracht  kom- 
menden  Tatsachen  und  Fragen, 
seiner^  grade  durch  die  Leiden- 
schaftslosigkeit  doppelt  wirk- 
samen  Art  der  Darstellung  —  es 
nimmt  nicht  Partei,  es  ubt  nicht 
Kritik,  es  berichtet  nur  —  auf 
dem  Gebiet  der  sozialpsycholo- 
gischen  Forschung  einen  schonen 
Schritt  vorwarts  tut.  Wer  es  liest, 
begreift  wieder  einmal,  dafi  es 
keine  Brticke  von  der  burger- 
lichen  zur  proletarischen  Welt 
gibt;    dafi   selbst   die   Monate,   die 

534 


etwa  biirgerliche  Helferinnen  in 
Fabriken  verbringen,  nur  Ver- 
standnis  fiir  die  Arbeitsweise  er- 
moglichen,  nicht  fur  die  Lebens- 
form,  der  sich  in  ihrer  ganzen, 
gesundheit-  und  lebengefahrden- 
den  Furchtbarkeit  freiwillig  zu 
unterziehen  auch  dem  franzis- 
kanischsten  Menschen  nicht  zuge- 
mutet  werden  kann  —  ein  Grund 
iibrigens,  aus  dem  auch  die  Settle- 
mentbewegung  letzten  Endes  ein 
Pflasterverfahren  gegen  Krebs 
bleiben  mufi.  Es  gibt  keine  Brticke 
—  es  gabe  nur  Anderung  der  Ge- 
sellschaftsordnung. 

M.  U.  Gehrke 

Sozialabbau 

VV/ohlfahrtspflege  ist  ein  selbst- 
^*  verstandlicher  Bestandteil 
aller  verantwortungsbewufiten 

Kulturpolitik,  das  Geschwatz 
vom  Staat  als  Fiirsorgeanstalt 
nichts  als  purer  Atavismus.  Die 
wohlfahrtspflegerischen  Einrich- 
tungen  des  letzten  Dezenniums 
sind  als  ein  Forschritt  zu  werten, 
aber  niemand  kann  dariiber  im 
Zweifel  sein,  dafi  sie  in  ihrer  heu- 
tigen  Gestalt  nur  ein  Versprechen 
darstellen.  Niemand  gibt  sich 
der  Illusion  hin,  dafi  selbst 
unter  gunstigerer  politischer  und. 
wirtschaftlicher  Konstellation  an 
eine  Einlosung  dieses  Ver- 
sprechens  in  absehbarer  Zeit  zu 
denken  gewesenware.  Und  niemand 
wird  sich  auch  der  Einsicht  ver- 
schliefien,  dafi  die  derzeitige  Lage 
einen  Stillstand  bedingt.  Dafi  man 
aber  Heimlich,  still  und  leise  zum 
Krebsgang  startet,  um  bei  der 
Armenpflege  alten  Stils  zu  lan- 
den,  dafiir  lassen  sich  zwingende 
Grtinde  nicht  vorfinden. 

Was  geht  vor?  Der  Kurs  der 
Regierung  ist  eindeutig:  jede  Not- 
verordnung  hat  an  dem  Bau  der 
Wohlfahrtspflege  Stein  fiir  Stein 
abgetragen,  die  „Vierte"  liefi  nur 
noch  das  blanke  Fundament. 
Alle  Gebiete  sozialer  und  kul- 
tureller  Werte  mufiten  dran  glau- 
ben.  Ob  es  sich  um  Herabsetzung 
der  Richtsatze  fiir  alle  Unter- 
stiitzungskategorien,  der  Leistun- 
gen  der  Krankenhilfe  handelte, 
ob  von  der  Streichung  schwach- 
liche   Kinder,   schwangere   Frauen 


oder  gesellschaftsschadigende  Ele- 
mente  betroffen  wurden,  ob  es  um 
Schliefiung  von  Heimen,  Schulen, 
ob  um  Abbau  ganzer  padagogi- 
scher  und  sozialer  Fachgruppen 
ging,  liberal  1  erscheinen  die  Mafi- 
nahmen  ebenso  rigoros  wie 
planlos. 

v  Als  neuster  Schritt  steht  die 
Verschmelzung  der  Arbeitslosen- 
versicherungt  der  Krisenfiirsorge 
und  der  Erwerbslosenhilfe  zu 
einer  einheitlichen  Institution  be- 
vor.  Herr  Goerdeler  sucht  nach 
glorreicher  Beendigung  seiner 
Preissenkungskomodie  ein  neues 
Betatigungsfeld,  Die  Realisierung 
der  Verschmelzungsplane  ware 
der  Auftakt  zu  einer  sozialen 
Katastrophe  ersten  Ranges, 
Schlimm  genug,  dafi  wohlerwor- 
bene  Rechte  mit  einem  Feder- 
strich  beseitigt  werden  wurden, 
noch  schlimmer,  wenn,  unter  Mifi- 
achtung  von  Treu  und  Glauben, 
Versicherungsleistungen  ohne  Ge- 
genleistung  blieben.  Untragbar 
aber  ware  es,  sechs  bis  sieben 
Millionen  unbescholtener  Staats- 
biirger  zu  Almosenempfangern  zu 
degradieren. 

Mag  finanzieller  Druck  dahin- 
terstecken,  die  Tendenzen  sind  zu 
deutlich,  als  dafi  fiber  den  End- 
effekt  noch  Unklarheit  herrschen 
konnte.  Aus  der  Zusammenlegung 
wiirde  sich  eine  Verlagerung  der 
Erwerbslosenfursorge  vom  Staat 
auf  die  Kommunalverbande  er- 
geben.  Und  wie  wenig  die  Kom- 
munalverbande einer  solchen  ge- 
waltigen  Aufgabe  gewachsen  sind, 
kann  am  Beispiel  der  Berliner 
Wohlfahrtsamter  exemplifiziert 
werden. 

Vielleicht  die  Haupterrungen- 
schaft  der  Fursorgepflichtverord- 
nung  vom  Jahre  1924  war  der  Er- 
satz ehrenamtlicher  Armenpfleger 
durch  geschulte  Fachkrafte.  In 
vom  Staat  subventionierten,  grofi- 


zugig  geforderten  Lehranstalten 
wurden  wahrend  der  letzten  zehn 
Jahre  eine  groOe  Zahl  von  Men- 
schen  herangebildet,  denen  Fiir- 
sorge  ausiiben  nicht  Beruf,  son- 
dern  vielmehr  innere  Berufung 
bedeutete.  Zu  relativ  giinstigen 
Existenzbedingungen  waren  diese 
sozialen  Fachkrafte  ihrer  Aufgabe 
jedenfalls  besser  gewachsen,  als 
Backermeister  und  Griinkram- 
handler,  die  sich  nach  Feierabend 
seufzend  ihrer  Ehrenpflicht  wid- 
meten.  Heute  ist  es  nun  so,  dafi 
durch  ebenso  sinnreich  wie  raffi- 
niert  ausgekltigelte  Praktiken  das  . 
grofie  Heer  der  kostspielig  heran- 
gebildeten  Sozialarbeiter  der  Ar- 
beitslosigkeit  preisgegeben  wird 
und  an  ihre  Stelle  in  aller  Stille 
nach  und  nach  andre,  zum  Teil 
berufsfremde,  sicherlich  aber  we- 
nig geeignete  Elemente  hineinge- 
schoben  werden.  Es  fing  damit  an, 
als  mit  Unterstutzung  der  SPD  die 
patente  Erfindung  der  sogenann- 
ten  „Praktikanten '  ausprobiert 
wurde.  Diese  unbesoldeten  Sozial- 
schtiler  driickten  den  Lohn  und 
statt  zu  lernen,  erledigten  sie  um- 
sonst,  aber  unzulanglich  die  Ar- 
beit der  Fursorger.  Die  Lohn- 
driickereibewegung  wurde  fortge- 
setzt  durch  den  (tfreiwilligen  Ar- 
beitsdienst".  Und  neuerdings  tragt 
man  sich  mit  dem  Gedanken,  Mi- 
litaranwarter,  Versorgungsberech- 
tigte  und  ehemalige  Armenpfleger 
mit  der  Durchfuhrung  der  Fiir- 
sorgepflichtaufgaben  zu  betrauen. 
Um  der  Of  fentlichkeit,  den  betrof  f  e-  ( 
nen  Fiirsorgeobjekten  und  den  er- 
werbslosen  Fachberufen  gegen- 
uber  das  System  zu  tarnen,  wird 
eine  Komodie  aufgefiihrt,  die 
schabig  ist.  Die  Sozialarbeiter  be- 
schwichtigt  man  durch  Nach- 
schulungslehrgange,  denen  angeb- 
lich  Einstellungszwang  der  Kur- 
susteilnehmer  durch  die  Bezirke 
folgen    soil.      Gleichzeitig    laufen 


KE1N   ZWEIFEL,   DASS.VVIR   ES 

mit  elnem   erregend  sch6nen   Buch  zu  tun  haben I 
schrleb  Kurt  Relnhold  Im  f(Tagebuch"  Ober  Georg  Kaisers 

ERSTEN  ROMAN  „ES  1ST  6ENU6I" 


535 


Kurse,  die  in  zehn  Tagen  Gevatter 
Schuster  und  Nachbar  Schupo- 
mann  n1000  Worte  Wohlfahrts- 
pflege"  vermitteln  sollen.  Was  da- 
bei  herauskommt,  bedarf  keiner 
Schilderung:  wer  am  billigsten  ar- 
beitet,  kommt  unter,  der  Rest 
kaut  erst  mat  wochenlang  an 
der  hoffnungsreichen  Beschwich- 
tigungspille. 

Marianne  Lendzian 

Menschen  kleiner  Stadte 

jn  den  kleinen  St  ad  ten  leben  - 

die  Mcntchen  wie  angstliche  Fliegen  — 
oder  wie  Spinnen  am  grauen  Gem&uer, 
Sie  haben  kleine  Augen 
und  Mire  Hauser  sind  eng  und  kalt 

Aus  ihren  Stuben  flieOt  taglich 
Feindschaft  und  HaB  — 
kleiner,  z&nkischer  Groll, 
der  sich  breit  urn  die  Tfiren 
aufpflanzt  und  fruh  verbittert. 

Die  Stahllinien  der  Eisehbahnen  fliehen 
ruhlos  an  ihren  Mauern  vorbei. 
Rings  urn  sie  lauert  dai  Land. 
Nachts  w&chst  die  Ruhe  riesengrofi 
urbdse  und  erstickend  fiber  Mensch  und 
Tier. 

Nur  lose  sind  sie  mit  der  Welt  verknfipft 
und  leiden  an  Gebrechen  l&ngst  vergangner 
Zeiten  —  Fluch  steht  bei  Fluch. 
Die  Aknen  sehen  b6se 
auf  die  En  keif 

Alfred  Frugel 


Der  Ordnungstiebende 

p\ieser  Tage  war  ich  bei  meinem 
^Freund  Gratinger,  dem  Lyriker; 
sprach  ibm  von  einem  seiner  Ge- 
dichte,  Des  Titels  konnt  ich  mich 
nicht  entsinnen.  Es  war  so  voll 
von  Melancholic 

„Warter\  sagte  er,  tfwerden  wir 
gleich  haben." 

Er  schlug  ein  Verzeichnis  seiner 
Werke  auf.  Ich  konnte  einen 
Blick  darein  tun: 

Trauer  hat  mich  befallen  . . . 

Triibsinn  ist  mein  hartes  Los 

Weh,  Grauenvolles 

Wehf  Stummes 

Wehmut?  —  Warum  verfiel  ich 
in, . . 

(tUnd  welches  davon",  sagte  er( 
„meinst  du?" 

Roda  Roda 


W 


Prelsfrage 

o    ist    eigentlich      in  Deutsch- 


land      die 
Gefahr  — ? 


kommunistische 


Das^Trlnkgeld 

AX  arcel  Proust  kam  eines  Tages 
*"  ins  Ritz  und  sagte  zum  Por- 
tier:  ,tLeihen  Sie  mir  funfzig 
Francs  I"  —  „Bitte  sehr,  Herr 
Proust",  sagte  der  Portier,  „Sie 
konnen  das  behalten",  sagte 
Proust.    MDas  ist  fur  Sie." 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Gesellschaft  der  Freunde  der  Sozialistischen  Monatsbeite.  Mittwoch  20.00.  Deutsche 
Gesellschaft,  Schadowstr.  7.  Kontradiktoxische  Diskutsion:  Was  folgt  aus  der 
Reichspr&sidentenwahl  ?  WaJther  Pahl. 

Individnalpsychologische  Gruppe.  M  on  tag  (11.)  20.00.  Clubhaus  am  Knie,  Berliner 
StraBe  27:  Positionsk&mpfe  der  Kinder,  Wilhelm  Gohre. 

Hamburg-AKona 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Donnerstag  20.00,  Volksheim,  Eichenstrafie : 
Revolutionarer  Paxifismus  und  Wehrhaftigkeit  der  Revolution,  F.  Wolffheim, 

Bflcher 

Klaus  Mehnert;  Die  Jugend  in  SowjetruQland.    S.  Fischer,  Berlin. 
Sergej  Tretjakow:  Den  Schi-Chua.    Malik- Verlag,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  16.50.  Graf  KcBler:  Politiiche  BGcher.  —  Munch  en  22.00.  Odfin  von 
Horvath.  -  Mittwoch.  Berlin  17.40.  Studenten  diskutieren.  21.10.  M.  F.  Mendels- 
sohn i  Schicksal  des  Commanders  Kidston.  —  Breslau  18,00.  Meineidseuche.  — 
K5nig«berg  20.15.  Lovia  Corinth.  —  Langenberg  20.45.  Alfred  Muhr:  Oberst  Cha- 
bert  —  Donnerstag.  Berlin  20.00.  W.  Gronostay :  Gartenlaube.  —  Kdnigswuster- 
hausen.  21.20.  Vierhundert  Millionen  durchbrechen  die  Mauer.  19.00.  Rudolf  Mirbt: 
Verneinung  der  Persanlichkeit  in  RuBland.  —  Breslau  2135.  Walter  von  Molo.  — 
Frankfurt  21.00.  Gorki:  Grischka.-—  Freitaff.  Berlin  20.00.  Werther.  —  Ham- 
burg 18.30.  Stunde  der  Werktatigen.  —  Leipzig  19.00.  Wolfg.  Schumann:  Sozio- 
logie.  —  Muhlacker  18.50.    H.  Iheriog:    Wert  des  Theaters. 

536 


Antworten 


Hamburger*  Ihre  sozialdemokratischen  Organe,  mit  denen  wir  tins 
schon  ein  paarmal  beschaftigt  haben,  zeichnen  sich  wirklich  durch  be- 
sonders  vornehme  journalist ische  Methoden  aus.  Neulich  druckten 
wir  hier  abf  was  das  .Hamburger  Echo*  zu  dem  ReichswehrprozeB 
gegen  die  ,Weltbuhne*  zu  sagen  hatte,  Wenige  Tage  spater  zitiert 
das  Schwesterorgan,  die  Sonntags-Iilustrierte,  genannt  .Echo  der  Woche\ 
einen  langen  Absatz  aus  einer  Glosse  von  Hans  Glenk  „Die  wirkliche 
Internationale1',  nattirlich  ohne  die  Quelle  anzugeben.  So  sehen  diese 
Organe  aus.  Erst  mochten  sie  uns  am  liebsten  anspucken,  schimpfen 
uns  „Gift  verspritzende  Literaten",  mit  denen  sie  nicht  die  geringste 
Sympathie  hatten,  machen  sich  bei  Herrn  Groener  beliebt,  indem  sie 
sagen,  daB  ibr  Abscheu  vor  uns  nicht  geringer  sein  konne  als  der  seine 
—  und  dann  offerieren  sie  ihren  Lesern  geistige  Nahrung,  die  sie  sich 
aus  ebenderselben  vor  wenigen  Tagen  beschmutzten  Quelle  holen,  ohne 
zu  erwahnen,  woher  die  zustimmend  zitierten  Satze  stammen.  Eine 
saubere  Gesellschaft. 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Sie!  haben  am  2.  April  nach- 
stehenden  Brief  an  den  PreuBischen  Minister  des  Innern  gesandt:  „Die 
unterzeichnete  Gruppe  halt  es  fur  ihre  Pflicht,  Ihnen  bekanntzugeben, 
daB  laut  Nr.  16,  Seite  4  der  franzdsischen  kriegsgegnerischen  Wochen- 
zeitung  fLa  Patrie  Humaine'  vom  19.  Marz  1932  (17,  Rue  Grange* 
Bateliere,  Paris)  die  angesehene  pazifistische  Vorkampferin  Marcelle 
Capy  auf  einer  Redetournee  durch  Nordfrarikreich  offentlich  erklart 
hat:  Herr  Hitler  werde  von  Schneider,  dem  Inhaber  von  Le  Creusot 
und  von  Skoda-Pilsen,  nicht  nur  subventioniert,  sondern  auch  mit 
Sprengstoffen  versorgt  (Artillerie-Geheimpulver  BM  11  und  BM  13), 
und  zwar  im  Einverstandnis  mit  der  Regierung  Tardieu-Laval.  (,Mar* 
celle  Capy  precise  ses  accusations  en  montrant  que  Hitler  est,  noh 
seulement,  subventionn6  par  Schneider,  proprifitaire  du  Creusot  et  de 
la  Skoda  de  Pilsen,  mais  encore  arme"  en  explosivs  —  poudre  d'artille- 
rie  secretes  BM  11  et  BM  13  —  par  le  meme  Schneider  avec  l'autori- 
sation  du  gouvernement  Tardieu-Laval.'  ,La  Patrie  Humaine*  an  der 
angegebenen  Stelle.)  Marcelle  Capy,  eine  unzweifelhaft  seriose  Per- 
sonlichkeit,  aufierte  dies,  unter  Berufung  auf  eine  Kammerrede  des 
sozialistischen  Abgeordneten  Paul  Faure,  in  Versammlungen  jener 
,Ligue  Internationale  des  Combattants  de  la  Paix',  deren  Ehrenprasi- 
dent  Romain  Rolland  ist  und  mit  der  die  unterzeichnete  Gruppe 
freundschaftlich  zusammenarbeitet.  Die  ,Ligue  Internationale  des 
Combattants  de  la  Paix\  in  scharfstem  Gegensatz  zti  gewissen  schein- 
pazifistischen  Kreisen  Frankreichs,  bekampft  die  These  von  der 
Alleinschuld  Deutschlands  am  Weltkrieg,  tritt  fiir  Revision  des  Ver- 
sailler  Vertrags  ein  und  lehrt,  daB  totale  Abriistung  die  beste  Sicher- 
heit  ist  Wir  konnen  nicht  annehmen,  daB  eine  so  ernsthafte  Qrgani- 
sation  wie  die  ,Ligue  Internationale'  und  eine  so  bedeutende  Fuhrerin 
wie  Marcelle  Capy  derart  ungeheuerliche  Anklagen  ohne  griindliche 
Prtifung  erheben.  Der  Abgeordnete  Paul  Faure  aber,  unsrer  In- 
formation nach,  hat  seine  Behauptungen  durch  die  Photographie  eines 
ministeriellen  Briefs  an  Herrn  Schneider-Creusot  erhartet,  die  er  am 
11.  Februar  auf  den  Tisch  der  Kammer  niederlegte.  Widerspruch 
ist  nicht  erfolgt,  Der  franzosische  Kriegsminister  hat  zugegeben,  daB 
es  sich  um  geheimes  Artilleriepulver  handelt.  Nach  §  1  des  Spreng- 
stoffgesetzes  vom  9.  Juni  1884  ist  ,der  Besitz  von  Sprengstoffen  sowie 
die  Einfiihrung  derselben  aus  deni  Auslande'  ,nur  mit  polizeilicher 
Genehmigung  zulassig\  (Die  Einschrankung  durch  Absatz  3  kommt 
nicht  in  Frage.)  Es  erscheint  uns  ausgeschlossen,  dafi  Herr  Hitler 
oder  seine  Hintermanner  zur  Einfuhr  franzosiscjier  Sprengstoffe  die 
Genehmigung  der  preuBischen  Polizei  oder  der  Polizei  eines  der 
andern  deutschen  Lander  nachgesucht  und  erhalten  haben.     Wir  ge- 

537 


statten  uns  gleichwohl,  anzufragen,  ob  sie  erteilt  wurde;  wenn  dies, 
wie  wir  keinen  Augenblick  zweifeln,  nicht  der  Fall  war;  was,  sehr 
geehrter  Herr  Minister,  gedenken  Sie  dann  zu  tun?  Mehrfach  sind 
letzthin  Arbeiter,  bei  denen  nur  ganz  geringe  Mengen  Sprengmaterial 
gefunden  worden  waren,  zu  langjahrigen  Zuchthausstrafen  verurteilt 
worden;  wir  konnen  nicht  annehmen,  dafi  Herr  Hitler  heute  schon 
als  unverantwortlich  tiber  dem  Gesetz  steht  Empfangen  Sie,  Hen- 
Minister,  die  Versicherung  unsrer  ausgezeichneten  Hochachtung," 
Uhterzeichnet  von  Kurt  Hiller,  Eugen  Brehm,  Alfons  Goldschmidt, 
Walther  Karsch,  Rudolf  Leonhard-Paris,  Walter  Mehring-Paris,  Kurt 
Zornig-Hamburg, 

Walther  Victor.  Die  beim  Reichsgericht  eingelegte  Revision  gegen 
das  Gefangnisurteil  in  Ihrem  Gotteslasterungsprozefi,  tiber  den  wir  be- 
reits  mehrmals  berichteten,  ist  dieser  Tage  endgultig  verworfen  wor- 
den.   Sie  miissen  nun  also  wirklicb  die  vierzehn  Tage  absitzen. 

Nero-Film  A.-G.  Sie  schreiben  uns;  „In  Nummer  13  Ihrer  ge- 
schatzten  Wochenschrift  bringen  Sie  unter  der  Uberschrift  auf  Seite 
492  ,Das  verbietet  keiner!'  einen  Artikel  iiber  einen  Vortrag  des  Herrn 
Joseph  Delmont  im  Nationalhof,  BiilowstraBe.  Im  Rahmen  dieses 
Yortrages  hat  Herr  Delmont  u,  a,  ausgeftihrt:  ,So  werde  zur  Zeit  ein 
deutscher  Film  gedreht  fAtlantide\  in  dem  verhungernde  Kamele  in 
einer  belgischen  Kolonie  gezeigt  wtirden;  die  Filmleitung  sei  so  weit 
gegangen,  die  Kamele  tatsachlich  dem  Hungertode  preiszugeben.  Der 
belgische  Tierschutzverein  verfolge  aber  die  Angelegenheit"  . , .  Wir 
stellen , .  .  fest,  dafi  in  unserm  Film  ,Die  Herrin  von  Atlantis',  nach  dem 
Buch  .Atlantide'  von  Pierre  Benoit,  wir  kein  Kamel  oder  sonstiges 
Tier  weder  hungern  noch  dursten  lieBen.  Es  kommt  iiberhaupt  in 
dem  ganzen  Film  auch  keinerlei  Aufnahme  vor,  zu  der  derartige 
Mafinahmen  notwendig  gewesen  waren,  Wenn  Herr  Delmont  sich  bei 
uns  erkundigt  hatte,  bevor  er  in  der  Offentlichkeit  in  leichtfertiger 
Weise  derartige  Erklarungen  abgibt,  hatten  wir  ihn  dariiber  aufklaren 
konnen,  dafi,  angeblich  vor  zehn  Jahren,  als  der  franzosische  Re- 
gisseur  Feyder  den  Film  ,Atlantide  bereits  einmal  gedreht  hat,  man 
ein  totes  Kamel  zeigen  mufite  und  zu  dies  em  Zwecke  ein  Kamel  ver- 
giftet  hat.  Als  wir  mit  den  Aufnahmen  zu  unserm  Film  ,Die  Herrin 
von  Atlantis'  begannen,  veroffentlichte  die  brtisseler  Zeitung  ,Etoile* 
die  Zuschrift  eines  Lesers,  in  der  derselbe  anregte,  man  moge  Pabst 
bitten,  bei  der  Neuaufnahme  des  Films  nichts  Ahnliches  zu  unterneh- 
men.  Aua  dieser  Veroffentlichung  sind  die  dann  von  Herrn  Delmont 
mit  viel  Phantasie  und  Bosartigkeit  gemachten  Ausfuhrungen  ent- 
standen," 

Auf merksamer  Leser.  In  dem  Artikel  von  H.  G.  Kahle  „Fuhk  in 
Fesseln"  aus  der  vorigen  Nummer  stand  auf  der  Seite  484,  Absatz  2, 
Zeile  6,  daB  „nationalsozialistische  Kundgebungen"  im  Funkprogramm 
viel'  Raum  einnahmen.  Soweit  ist  es  denn  doch  noch  nicht,  es  muB 
naturlich  heiBen::  „nationalistische  Kundgebungen".  Ebenso  enthielt 
ein  Teil  der  Auflage  in  dem  Leitartikel  auf  Seite  465,  Absatz  2,  eine 
falsche  Formulierung  des  Hammerstein-Zitats.  Dieses  heiBt:  nDie 
Maftnahmen,  die  die  Schreiberei  im  Heere  verringern  sollen,  schlieBen 
den  hohern  Zweck  in  sich,  die  Verantwortung  der  einzelrien  Personen 
zu  scharfen  und  die  Personlichkeitswerte  zu  heben." 

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktfon  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  153,  iu 
ricriteo;  es  wire!  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegea,  da  sons!  ketne  Rucksendung  erfo'gen  kann. 
Dmm  Auf  fUhnuvrsrecht,  die  Verwertung  von  Titelnu.  Text  im  Rahmen  dei  Films,  Hie  musik- 
mechaniftcbe  wicdergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortragen 
bleibea  fttr  aile  in  der  Weltbuhne  erecheinenden  BeitrSge  ausdrttcklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  yon  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkun;   von    Kurt  TucbolsKy  geleitet.  —  Veront wortlich :   Carl  v.  Ossietzky,   Berlin; 

Venag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenbunr. 

Telephon:  Cl,  Stein  pi  aU  7767.  —  PosUdiedckonto :  Berlin  11968. 
Bankkonto:    Dannstadter    u.    Nationalbank.       Depo*itenkasie    Charlottenburg,    Kantatr.    US, 


XXVUL  Jatirgang  12.  April  1932 Nummer  Ifr 

Die  Besiegteil  von  Hanns-Erlch  Kaminski 

r\as    Endergebnis    stand    fest.      Trotzdem    haben    Zehntau- 

send©  den  mitunter  weiten  Weg  von  dcr  neuen  Wohnung 
zum  alten  .Wahllokal  nicht  gescheut,  und  die  Zahl  der  Ab- 
stimmenden  war  nur  wenig  kleiner  als  am  13.  Marz.  Das  ist 
die  crstc  Oberraschung  dieses  -Sonntags. 

Hugenberg  hatte  den  Wahlern  Duesterbergs  Wahlenthaltung 
empfohlen.  Trotzdem  haben  Deutschnationale  und  Stahl- 
helmer  geschlossen  abgestimmt,  zum  kleinern  Teil  fur  Hinden- 
burg,  zum  groBern  fiir  Hitler.  Der  EinfluB  Hugenbergs  auE 
seine  Anhanger  ist  also  noch  geringer  als  man  annehmen 
durfte.     Das  ist  die'  zw«ite  Oberraschung, 

Duesterberg  hatte  im  ersten  Wahlgang  2,5  Millionen  Stim- 
men  auigebracht.  Trotzdem  haben  Hindenburg  und  Hitler  zu- 
sammen  3  Millionen  Stimmen  mehr  erhalten  als  beim  letztert 
Mai,  und  dasf  ofcgleich  die  Wahlbeteiligung  im  ganzen 
schwacher  war,  Woher  kommt  diese  halbe  Million  zusatz- 
licher  Stimmen?  Die  Ergebnisse  aus  den  einzelnen  Wahlkrei^ 
sen  lassen  keinen  Zweifel  dariiber;  sie  kommen  von  den  Kom- 
munisten,  Mindestens  eine  halbe  Million  Stimmen,  die  vor 
drei  Wochen  Thalmann  erhielt,  sind  jetzt  Hitler  zugefallen,  Und 
das)  ist  die  dritte  und  grofite  Oberraschung  dieses  Wahlgangs. 

Der  MiBerfoig  der  KPD  im  ersten  Wahlgang  ist  §o  zu 
einer  offenen  Niederlage  geworden.  Hoffentlich  wird  die  Par- 
tei  jetzt  wirklich  „bolschewistische  Selbstkritik"  uben  und  die  Ur- 
sachen  ihres  Debakels  nicht  nur  in  mangelnden  Hinweisen  auf 
die  bedrohte  Lage  .RuBlands  und  Chinas  suchen.  Fiir  den 
Kampf  gegen  den  Fascismus,  der  in  den  nachsten  Monaten  erst 
mit  seiner  ganzen  Scharfe  beginnen  wird,  ist  eine  bessere 
Politik   der  Kommunisten   eine   unumgangliche  Notwendigkeit. 

Denn  Hindenburg  hat  gesiegt  Aber  wer  ist  eigentlich  ge- 
schlagen?    Der  Fascismus  gewiB  nicht. 

Man  muB  es  gegeniiber  den  lllusipnen,  die  die  Wiederwahl 
Hindenburgs  hervorrufen  wird,  mit  aller  Deutlichkeit  sagen: 
dieser  Wahlkampf  war  kein  Kampf  zwischen  der  Demokratie 
und  der  Diktatur.  Es  war  vielmehr  ein  Kampf  zwischen  zwei 
konkurrierenden  Firmen,  die  um  die  Quote  ringen,  bevor  sie 
sich  vertrusten.  Die  ganze  Art,  in  der  der  Wahlkampf  fiir 
Hindenburg  gefiihrt  wurde,  macht  das  klar. 

Sonst  pflegt  man  den  Wahlern  aller  Kategorien  das  Blaue 
vom  Himmel  herunter  zu  versprechen.  Der  Reichsprasident, 
seine  Regierung  und  seine  Propagandisten  jedoch  haben  den 
Republikanern  nicht  nur  nichts  versprochen,  sie  haben  nicht 
einmal  um  sie  geworben,  sie  haben  grade  noch  ihre  Stimmen 
angenommen  und  ihnen  im  iibrigen  gezeigt,  daB  sie  nur  Objekt 
der  Regierung  sind  —  diesen  Republikanern,  die  dabei  den 
weitaus  grSBten  Teil  der  Hindenfourgmehrheit  bilden. 

Das  Material,  das  die  preuBische,  die  bayrische  und  andre 
Regierungen  iiber  den  nationalsozialistischen  Miiitarismus  ver- 
offentlichten,     war     gewiB     sehr     eindrucksvoll.      Oberraschen 

1  539 


konnte  es  niemand,  und  die  Polizeiminister  haben  sich  wohl 
auch  kaum  eingebildet,  Hitler  durch  diese  Enthiillungen  Wah- 
ler  abzutreiben.  Dies  Material  sollte  fraglos  in  erster  Linie 
dem  Kampf  dienen,  der  heute  beinahe  die  gesamte  deutsche 
Politik  ausmacht,   dem  Kampf  nm  die  Seele   Groeners. 

Aber   Groener   ist   keine   isolierte   Erscheinung.     Er   paBt 

ausgezeichnet    in unsre    Regierung,    deren    LandwirLschafts- 

minister  Mneutral"  blieb  und  sich  uberhaupt  nicht  am  Wahl- 
kampf  beteiligte,  und  deren  Chef  die  ihm  leider  aufgezwungene 
Kampagne  urn  jeden  Preis  ritterlich  fuhren  wollte,  obgleich  er 
in  alien  seinen  Reden  erklarte,  die  Verleumdungen  Hinden- 
burgs  durch  die  Nazis  trieben  ihm  die  Schamrote  ins  Gesicht. 

Ritterlich?  Ach  neint  das  ailes  ist  Politik,  die  Politik  Brii- 
nings,  Groeners  und  Schieles,  die  gleiche  Politik,  die  die  Mi- 
nister veranlaBte,  wenn  sie  nicht  wie  Schiele  vollig  auf  Wahl- 
versammlungen  verzichteten,  dann  nur  zusammen  mit  Reaktio- 
naren  aufzutreten,  etwa  mit  dem  Graf  en  Westarp,  der  sich 
weigerte,  in  einem  mit  schwarzrotgoldnen  Fahnen  geschmiick- 
ten  Saal  zu  sprechen.  Es  ist  die  gleiche  Politik,  die  die  Pro- 
paganda fur  Hindenburg  so  gestaltete,  daB  man  glauben  sollte, 
«r  sei  eigentlich  ein  besserer  Nationalsozialist  als  Hitler.  Zu 
dieser  Politik  und  dieser  Ritterlichkeit  paBt  es,  daB  Carl  von 
Ossietzkys  Begnadigung  ausgerechnet  wahrend  des  Wahl- 
kampfes  abgelehnt  wurde,  und  daB  man  ihn, '  damit  ja  kein 
Zweifel  an  der  Behandlung  linksstehender  Publizisten  auf- 
kommen  konnte,  auch  gleich  aufforderte,  seine  Gefangnis- 
strafe  sofort  anzutreteri. 

Hitler  wollte  die  Regierung  niederkonkurrieren,  statt  die 
Macht  mit  ihr  zu  teilen,  Es  war  echter  Schmerz  dariiber,  der 
aus  Briining  sprach,  als  er  in  Konigsberg  erklarte:  ,,Die  Herren 
batten  andre  Mdglichkeiten  gehabt,  wenn  sie  wollten,  an  die 
Verantwortung  zu  kommen,"  Aber  werden  die  Herren  auch 
jetzt  nicht  wollen,  nachdem  das  Wahlergebnis  den  Anspruch 
der  Halbrechten  auf  ihre  Quote  bestatigt  hat? 

Die  Arme  der  Reichsregieruntf  sind  immer  noch  geoffnet. 
Aus  der  ,B.  Z.1  klang  schon  vor  der  Wahl  die  Stimme  Groe- 
ners: „Schon  heute  die .  Aufnahmestellungen  vorzubereiten, 
denen,  die  enttauscht,,  verbittert,  mutlos  zurtickkehren  und 
eine  neue  Heimstatte  suchen,  nicht  mit  dem  kalten  Trotz  des 
Alters  entgegenzutreten."  Und  der  Reichskanzler  schlofl  seine 
letzte  Wahlrede  mit  der  Hoffnung,  ,,daB  wir  nach  der  Wahl 
vielleicht  alle,  die  wir  zusammengehoren,  in  diesen  auBenpoli- 
tiscben  Kampf  en  und  Nervenproben,  die  uns  bevorstehen  wer- 
den, uns  zusammenfinden,  urn  dann  vielleicht  unter  Hinden- 
burg als  Reichsprasidenten  endiich  einmal  einig  zu  sein,  wenig- 
stens  in  dem,  was  uns  alle  beseelen  solltef  in  dem  Ringen  um 
Deutschlands  Freiheit  und  Zukunft", 

Wie  es  iiblich  ist,  wird  die  Regierung  dem  wiedergewahl- 
ien  Reichsprasidenten  ihre  Portefeuilles  zur  Verfiigung  stellen. 
In  der  Regel  ist  das  nur  eine  Formsache,  doch  in  Deutschland 
ist  alles  moglich,  und  vielleicht  wird  man  schon  diese  Gelegen- 
heit  benutzen,  um  das  Kabinett  noch  ein  biBchen  mehr.nach 
rechts  zu  erweitern  und  den  Republikanern  definitiv  zeigen, 
daB  die  wahren  Besiegten  des  10.  April  sie  sind. 

540 


Der  Hellseher  von  ignaz  wrobei 

,Weltbuhne'f  1.  April  1930 

—  MSie  . . ,  sind  Hellseher?" 

—  „Ich  bin  von  Haus  aus  eigentlich  Schwarzseher  —  nun 
verbinde  ich  diese  beiden  Berufe  ,  , ." 

—  „Erfolge?M 

—  „Im  Mai  des  Jahres  1914  notierte  ich  im  Buchelchen: 
,Was  ware,  wenn .  . .'  und  wollte  dartun,  was  sich  begabe, 
wenn  es  zu  einem  Kriege  kame.  Begeisterung  Unter  den  Lin- 
den, allgemeiner  Umfall . .  ." 

—  „Ich  habe  Ihre  Arbeit  nirgends  gelesen." 

—  „Ich  war  zu  faul,  sie  niederzuschreiben." 

—  ,fDas  kann  jeder  sagen.  WuBten  Sie  denn,  daB  es  einen 
Krieg  geben  wurde?*' 

—  „So  wenig  wie  ich  sechs  Tage  vor  Rathenaus  Tod 
wuBte,  daB  er  gekillt  werden  wurde.  Trotzdem  stieB  ich  am 
22.  Juni  1922  einen  Kassandra-Ruf  aus:  Was  ware,  wenn . . ." 

—  „Und  —  wie  sehen  Sie  heute . . .  hell?  Schwarz?  Hell? 
Bitte  setzen  Sie  sich.  Aber  legen  Sie  nicht  die  Hand  auf  die 
Augen . . .  mit  mir  miiBten  Sie  das  nicht  machen,  Sagen  Sie 
nur,  was  Sie  wissen.   Putsch?'* 

—  , .Putsch  trocken.  Ich  sehe  kein  Biut.  Ich  sehe  die  auf- 
geregte  Insel  Deutschland.    Fascismus  Lagerbrau." 

—  „Erklaren  Sie  sich  naher." 

—  „Wozu  ein  Putsch?  Die  Herren  haben  ja  beinahe  alles, 
was  sie  brauchen:  Vcrwaltung,  Richter,  Militar,  Schule,  Uni- 
yersitat  —  wozu  ein  Putsch?  Immerhin...  es  ist  Friihling... 
in  Deutschland  geschieht  nie  etwas,  aber  in  den  Kopfen  stent: 
es  muB  etwas  geschehen.  Es  kann  schon  etwas  geschehen. 
Was  ware,  wenn . . ." 

—  „Nehmen  Sie  etwas  Kaffee.  Es  ist  gar  kein  Kaffee,  aber 
nehmen  Sie  nur  etwas  Kaffee.  Also;  der  deutsche  Fascismus. 
Was  ware,  wenn...?'* 

—  nDer  Stahihelm,  sorgsam  gepflegt  unter  dem  freund- 
1  ich  en  Patronat  einer  Regierung,  in  der  die  Sozialisten  stets 
auf  die  Koalition.  hinwiesen  und  in  der  die  Rechten  so  taten, 
als  waren  sie  ganz  allein . . .  der  Stahihelm  wird  aufmarschie- 
ren,    Geld  hat  er.    Gedrillt  ist  er.   Passieren  kann  ihm  nichts." 

—  „Warum  nicht  — ?" 

—  t,Weil  er  die  Verwaltung  wachsen  h6rt.  Weil  er  alles, 
was  jemals  eine  Behorde  gegen  ihn  unternimmt,  wenn  es  eine 
wagte,  etwas  zu  unternehmen,  achtundvierzig  Stun  den  vorher 
weiB." 

—  „Durch  wen?" 

—  1(Durch  seine  Leute,  die  die  Verwaltung  durchsetzen 
wie  der  Schimmel  den  Kase." 

■—  „Die  Regierung?" 

—  „Die  Regierung  weiB  es,  will  nichts  wissen,  ahnt  es, 
mochte  nichts  ahnen . , ,  der  Stahihelm  weiB." 

—  „Die  Hitlerieute?" 

541 


—  „Haib  so  schlimm.  Furchtbar  viel  Geschrei;  Brutali- 
taten;  Freude  an  organisiertem  Radau;  Freude  an  dcr  Uni- 
form, den  Lastwagen  und  dcm  StraBenaufmarsch , . .  halb  so 
schlimm.  Vorspann  —  wenn  sie  den  ersten  Ruck  gegeben 
haben,  wird  man  sie  bremsen,  die  armen  Kerle.  Es  wird  da 
groBe  Enttauschung  geben." 

—  ,,Und  was  wird  geschehen?" 

—  „AuBerlich  nicht  so  sehr  viel,  Kleine  lokale  Wider- 
stande  der  Arbeiter;  die  sind  aber  gespalten,  desorgasisiert, 
waffenlos,  niedergebugelt  von  einer  jahrelangen  Vorbereitungs- 
arbeit  der  Justiz.  Die  Besten  sind  nicht  mehr.  Die  Zweit- 
besten  hocken  in  den-  Zellen.  Der  Rest  steht  auf  —  und  legt 
sich  gleich  wieder  hin.  Miide,  Enttauscht.  Ausgehungert- 
Stempeln,  stempeln,  stempeln." 

—  „Ausrufung  der  Diktatur?  Absetzung  des  Reichsprasi- 
denten?" 

—  „Wo  denken  Sie  hin!  Mussolini  hat  seinen  kleinen 
Konigj  die  hier  haben  ihren  breiten  Hindenburg,  Der  bleibt. 
Der  Reichstag  wird  so  gut  wie  nach  Hause  geschickt , . , 
niemand  wird  ihn  vermissen.  Denn  was  die  da  in  den 
letzten  Jahren  getrieben  haben:  so  etwas  von  Leerlauf , 
Selbstzweck,  von  Insicharbeit . .  t  so  etwas  war  noch  nicht  da. 
Eine  Karikatur  des  Parlamentarismus.  Es  ging  wo  hi  nur  noch 
die  Herren  selbst  etwas  an.  Der  ist  fertig.  Ein  Direktorium, 
ein  AusschuB,  irgend  etwas  mit  harmlos-hochtonendem  Namen, 
das  wird  regieren," 

—  „Wie?" 

—  „Immer  verfassungstreu,  oho!  Druck  mit  staatsfeind- 
lichen  Mitteln  auf  den  Staat  —  und  dann  verfassungstreu,  Wie 
sie  regieren  werden?  Viel  harmloser,  als  die  maBlos  ent- 
tauschten,  aber  bald  gebandigten  Stahlhelmkleinbiirger  glau- 
ben,  Deren  radikale  Fliigel  werden  rasch  unterdriickt;  auch 
Herr  Hitler  hat  seine  Schuldigkeit  getan  und  kann  gehen,  Es 
wird  zunachst  nicht  viel  geschehen.  Aufhebung  einiger  kleiner 
verfassungsmaBig  garantierter  Freiheiten . . .  aber,  du  lieber 
Gott,  die  waren  ja  auch  schon  vorher  nicht  mehr  da,  Es  wird 
keine  Revolution  sein,  so  wenig  wie  die  von  1918  eine  gewesen 
ist  —  Personalboen  werden  sie  machen . . ." 

—  ,,Bitte  —  klarer.     Was  sind  Personalboen?" 

—  nSturme  in  den  Wasserglasern  der  Ressorts.  Absagung 
der  unbequemen  Regierungssozialisten;  Pensionierting  von  ein 
paar  hundert  Konzessionsschulzen,  die  sich  schlecht  und  recht 
durchgebuttert  hatten,  bis  zu  diesem  Augenblick  —  und  die 
kindlich  erst  aunt  waren,  als  es  nun  so  weit  war.  Die  Bruder 
hatten  nie  etwas  anders  gesehen  als  ,Realitaten*  —  also  gar 
nichts.  Von  der  wahren  Krafteverteilung  im  Lande  fiihlten  sie 
nichts;  hier  muBten  ihre  Inf ormationen  versagen,  denn  statistisch 
laBt  sich  dergleichen  nicht  erfassen.  Die  werden  verschwin- 
den.     Nun  wird  Deutschland  stramm  nationalliberal" 

—  MMehr  nicht?" 

—  „Mehr  nicht.  Mehr  ist  gar  nicht  zu  erzielen.  Das  wuB- 
ten  Schacht,  Nicolai,  selbst  Seldte  langst,  ein  paar  Nazis  wuB- 

542 


ten  es  auch,  brullten  aber  um  des  lieben  Kriegcs  willen  mil: 
den  andern  mit.  AuBenpolitisch:  eine  Art  Friede  mit  denen 
da  drauBen;  verklausulierte  Weiterzahlung  der  Schmach- 
tribute,  natiirlich  ■„ . .  wer  kann  denn  auf  den  Mond  fliegen? 
Platonische  Liebe  zu  Italien,  vergessen  Sudtirol;  vage  Noten 
an  Frankreich,  da  geht  Briand;  Hin  und  Her;  Verhandlun- 
gen  mit  England,  mit  Genf . . ,  und  an  alle:  Versprechen  der 
absoluten  Bolschewisten-Feindschaft  Das  beruhigt  ungemein. 
Was  glaubenSie:  Deutschland  als  Hort  gegen  RuBland!  Eine 
sehr  schone  Melodic" 

—  MAlso  . . .  innenpolitisch?" 

—  ,,Nicht,  was  Sie  demken.  Ein  paar  Zuchthausstrafen . .  . 
ein  paar  Roheiten  gegen  die  Juden  . . .  gegen  eine  Handvoll  Re- 
publikaner  . . ,  Beschrankung  des  Reichsbanners  . .  .  Verbot  der 
KPD  —  weiter  nichts.  Ja,  und  die  Beamten  werden  wieder 
flegelhaft." 

—  MSozialversicherungen?" 

—  ,,Zeitweiser  Abbau  —  aber  auch  der  halb  so  schlimm  in 
seiner  Auswirkung.  Das  ginge  ja  gar  nicht.  Man  wird  einiges 
plakatieren  und  vieles  stehen  lassem.  Was  wirklich  abgebaut 
wird,  das  wird  die  Kampfkraft  der  Arbeiter  sein.  Auch  die 
zahmsten  Gewerkschaften  werden  nichts  zu  lachen  haben." 

—  „Also,  nehmen  Sie  noch  etwas  Kaffee»  also  Jubel 
im  Lande?" 

—  „Gott,  ja.  Zunachst  die  iibliche  Verwirrung,  an  der 
Borse.  Ach,  diese  Nase  der  Borse!  Sie  riecht  alles,  was  in 
der  Luft  Hegt  —  nachher.  Obrigens  ist  es  lhnen  gleich.  Die 
Borse  wird  nicht  geschlossen  werden,  und  der  Kurfursten- 
damm,  dessen  Bewohner  sich  ein  paar  Tage  angstlich  zu  Hause 
halten  oder  verreisen,  wird  nicht  gestiirmt.  Pogrome?  Nein .  . . 
Dann  atmen  sie  wieder  auf,  Und  alles  geht  weiter.  Eigentlich, 
werden  sie  sagen,  eigentlich  ist  ja  alles  gar  nicht  so  schlimm.*' 

—  „Die  Zeitungen?" 

— i  „Alle  Obrigkeit  kommt  von  Gott.  Man  muB  sich  nicht 
gegen  das  Gegebene  auflehnen  —  das  bekommt  dem  Inseraten- 
geschaft  nicht.  Es  sind  Musterschiiler;  sie  werden  eine  gute 
Zensur  bekommen.  Nach  vier  Wochen  ist  Ruhe  im  Lande . . . 
,Wenn  wir  auch  an  dieser  und  jener  MaBregel  des  Direktoriums 
Kritik  igeiibt  haben,  so  darf  andrerseits  doch  gesagt 
werden  .  . .'  " 

—  „Schlafen  Sie  nicht  ein!" 

—  ,,Verzeihen  Sie:  ich  sah  im  Geiste  Leitartikel.  Geben 
Sie  mir  bitte  noch  etwas  Kaftee.  Ja  . .  .  die  Burger . . .  Auch 
in  den  Provinzstadten  wird  man  auf  die  Dauer  nicht  zufrieden 
sein.  GewiB,  die  Jugend  ist  verhetzter  als  je,  die  Studenten 
hochfahrender,  die  Umziige  zaihlreicher . . .  aber  die  Jugend  hat 
im  Grunde  andre  Sorgen.  Und  dann  eben . .  ,  langsam . . .  die 
Enttauschung  ..." 

—  HWoruber?'* 

—  „DaB  Berlin  nicht  dem  Erdboden  gleichgemacht  ist. 
DaB  die  Not  andauert.  DaB  auch  jetzt  nicht  die  Arbeitsge- 
legenheiten  aus   der  Luft  geflogen  kommen.     DaB  die  Butter 

2  543 


nioht  billiger  wird.     Leise,  ganz  leise  kommt  die  Unzuf ricden- . 
heit.     Davon  spricht  abcr  kaum  einer." 
.—  „Die  offentliche  Meinung?" 

—  „BewuBt  entpolitisiert,  bci  einem  HochstmaB  von  poll- 
tischen  Schlagworten.  Bihidisclier  Unfug . . ,  Demonstrations 
. . .  Fahnen  . . .  im  iibrigen  lcnkt  uns  cine  hochwohlweise  Regie- 
rung.  Das  haben  die  Deutscheni  immer  so  gehalten.  Verloren 
ist  allerdings,  wer  in  dieset*  Jahren  der  Justiz  in  die  Finger 
fallt.  Mit  dem  ist  es  dann  aus.  Die  Richter  werden  zwar  nioht 
finanziell,  aber  moralisch  auigebessert.  Man  wird  ihnen 
geben,  was  sie  brauchen,  und  wen  sie  'brauchen,  Kurz:  es  ist 
eine  Nachahmung  des  Fascismus  —  so,  wie  sie  alles  nach- 
ahmen . . ,  wie  sie  nicht  einmal  fahig  sind,  sich  eine  Bewegung 
fur  sich  und  aus  sich  heraus  zu.schaffen,  Der  Marsch  auf  Rom! 
Das  war  ein  faszinierender  Filmtitel.  Auf  Berlin  marschieren 
sie  gar  nicht.  Nach  Berlin  werden  sie  nur  fahren,  wenn  sie  sich 
von  der  Mittelstadt  erholen  wollen.  In  Berlin  sieht  man  sie 
nicht  so,  wenn  sie  auf  die  Weiber  gehen.  Widerstand — ?  Ver- 
zeihung  . . .  ioh  f iihle,  daB  Sie  das  fragen  wollen  . . .  Wider- 
stand?  Nein,  den  finden  sie  wohl  kaum.  Vonwem  denn  auch? 
Von  dem  biBchen  Republik?  Die  hat  in  zwolf  Jahren  nicht 
verstanden,  echte  Begeisterung  zuwecken,  Menschen  zurTat 
zu  erziehen,  nicht  einmal  in  ruhigen  Lagen,  wie  denn,  wenn  es 
Kopf  und  Kragen  zu  riskieren  gilt?  Widerstand?  LieberHerr, 
das  Land  ist  so  weit  entfernt  von  jeder  Revolution!  Dies  ist 
ein  Volk,  das  noch  nicht  einmal  liberal  ist.  Die  vielgelasterte 
Verwestliohung  ist  gar  nicht  so  tief  eingedrungen . . .  sie  halten 
mildubertunchte  Korruption  fur  Parlamentarismus,  wirres  Ge- 
schwatz  aller  fiir  Selbstbestimmungsrecht,  Ressortstank  fiir 
Politik,  Vereinsmeierei  fiir  Demokratie  , . ,  sie  sind  nie  liberal 
gewesen,  auch  48  nicht.  Sie  spiiren  nicht,  daB  die  Welt  urn 
sie  herum  anders  denkt  undanders  ftihlt...  sie  spielen  ihren 
politischen  Skat  auch  ohne  Partner.  Wirft  der  andre  die 
Karten  hin,  dann  glauiben  sie,  sie  hatten  gewonnen.  Es  ist  ein 
Inselvolk." 

—  i.Die  deutsohen  Briider  im  Ausland?" 

— ^„Werden  sich  ein  paar  Unannehmlichkeiten  mehr  zu- 
ziehen,  Und  das  biBchen  Kulturfassade,  das  kieine  biBchen 
deutscher  Freiheit  —  es  ist  zum  Teufel." 

—  „Das  ist  alles?" 

—  „Das  diirfte  alles  sein.  Ob  es  geschieht,  weiB  ich  nicht. 
Wenn  aber  — :  dann  so.  Obrigens  . . .  ich  bin  Hellseher . . .  ich 
hatte  eine  Vision . . .  Sie  werden  mir  diese  Sitzung  honorieren 
.  , .  Ich  dachte  an  hundert  Mark?" 

—  ,,Hier  haben  Sie  ein  Bildnis  Hindenburgs.  Und  lassen 
Sie  sich  drauBen  in  der  Kiiche  ein  paar  Butterbrote  geben . . . 
Gott  befohlen,  junger  Mann!" 

—  „HeiBen  Dank,  gnadiger  Herr.  Wenn  Sie  wieder  etwas 
brauchen:  Nepomuk  Schachtel,  Hellseher  und  Original- Astro- 
loge  mit  ft.  indischen  Erkenntnissen.  Taglich  von  9  bis  8, 
Sonntags  geschlossen.  Und  empfehlen  Sie  mich  in  Ihrem  wer- 
ten  Bekanntenkreise!" 

544 


Peykar  von  Bruno  Frei 

F*\  ie  Bureaukratie  des  ,  Auswartigen  Amtes,  vom  Schicksal 
-  nicht  grade  mit  Erfolgen  verwohnt,  war  nach  einem  Erfolg 
hungrig.  Man  kanns  verstehen.  Zollunion  ging  nicht,  Auf- 
riistung  ging  nicht.  Von  Genf  bis  London  nichts  als  Nieten  und 
Niederlagen.  Vicllcicht  bringt  Teheran  die  Wendung  durch 
Allahs  Fiigung.  Die  Persische  Gesandtschaft  hatte  in  einer 
Verbalnote  das  Auswartige  Amt  ersucht,  die  Ehre  seiner  Ma- 
jestat  Risa  Khan  vor  den  Angriffen  subversiver  Elemente 
zu  schiitzen.  Die  zustandigen  Herren  des  Auswartigen  Amtes 
flogen  vor  Begeisterung.  Wann  ist  je  einer  hohen  Diplomatic 
eine  leichtere  Aufgabe  gestellt  gewesen!  Wie  billig  war  hier 
Ruhm  und  Erfolg  zu  holen.  Die  kaiserlich-persische  Regierung 
moge  beruhigt  zur  Kennntnis  nehmen,  die  deutsche  Regierung 
werde  sich  der  Ehre  seiner  kaiserlichen  Majestat  energisch 
annehmen,  Weit  und  breit  kein  Gegner  zu  sehen.  Ein  paar 
schmutzige  Auslander  auszuweisen,  ihr  Sudelblattchen  zu  ver- 
bieten  —  eine  Angelegenheit  fiir  das  zustandige  Polizeirevier. 
Gesetz?    Recht?    Wiirde?   Bagatellen! 

Die  Sache  nahm  vorerst  den  vorgesehenen  Verlauf .  Das 
Auswartige  Amt  verstandigte  das  PreuBische  Innenministerium, 
das  PreuBische  Innenministerium  das  berliner  Polizeiprasidium 
und  dieses  das  zustandige  Polizeirevier,  Die  persische  Zeit- 
schrift  ,Peykar'  wurde  erst  beschlagnahmt,  dann  verboten,  ihr 
Herausgeber  Doktor  Karl  Wehner  mit  einigen  Haussuchungen 
begliickt,  der  persische  Student  Alawi  aus  PreuBen  ausgewie- 
sen.  Der  Apparat  der  Bureaukratie  funktionierte  mit  gewohn- 
ter  Prazision,     Da5  Auswartige  Amt  war  zufrieden. 

Da  geschah  etwas  Unvorhergesehenes.  Am  22.  April  1931 
erschien  in  der  Zeitung  .Berlin  am  Morgen'  ein  Artikel  „Liegt 
Berlin  in  Persien?".  In  diesem  Artikel  wurde  das  Vorgehen 
der  preuBischen  Verwaltungsbehorden  gegen  die  persischen 
Emigranten  als  gesetzwidrig  gebrandmarkt  und  die  Liebediene- 
rei  der  deutschen  Regierung  gegeniiber  dem  „orientalischen 
Despoten"   Risa  Khan  gegeiBelt. 

Damit  beginnt  die  Betriebsstorung  in  der  bureaukratischen 
Apparatur,  Die  persische  Gesandtschaft  schickt  eine  neue  Ver- 
balnote an  das  Auswartige  Amt,  die  sich  mit  diesem  Artikel 
beschaftigt  und  die  Ausdehnung  der  Verfolgung  auch  auf  diese 
Zeitung  verlangt.  Damit  vollzieht  sich  ein  verhangnisvoller 
Gleiswechsel.  In  der  Verhandlungf  die  dieser  Tage  vor  dem 
Schoffengericht  Berlin-Mitte  gegen  fiinf  Majestatsbeleidiger 
durchgefiihrt  wurde,  erklarte  der  Verteidiger  Rechtsanwalt 
Doktor  Apfel  mit  Recht:  Die  persische  Regierung  hat  mit  ihrem 
Strafantrag  nicht  im  entferntesten  an  ein  Gerichtsverfahren  ge- 
dacht.  Sie  wollte  mit  ihrem  Ersuchen  an  das  Auswartige  Amt 
um  Strafverfolgung  selbstverstandlich  nur  PolizeimaBnahmen 
erwirken.  Rad,  Galgen,  Deportation  oder  so  etwas  ahnliches* 
Aber  daB  die  persische  Regierung  jemals  angenommen  hatte, 
ein  Schoffengericht  in  Moabit  werde  daruber  zu  Recht 
sitzen,  ob  der  im  Jahre  1925  durch  einen  Staatsstreich  zum 
Schah  gewordene  Diktator  Risa  Khan  als  orientalischer  Despot 
angesehen  werden  kann,  ist  vollig  ausgeschlossen. 

545 


Aber  das  Verhangnis  lieB  sich  nicht  mehr  aufhalten,  denn 
nun  muBte  das  cinmal  eingeleitcte  Gerichtsverfahren  seincn 
Fortgang  nehmen.  Ein  kluger  Richter  glaubte  die  abenteuer- 
lichc  Angelegenheit  am  bestcn  aus  dcr  Welt  zu  schaf f en,  in- 
dent er  die  Sache  verjahren  lieB.  Weit  gefehlt.  Die  Bureau- 
kratie,  die  noch  nicht  begriffen  hatte,  daB  vor  den  Richtern  die 
geschriebenen  Gesetze  gelten  und  nicht  die  ungeschriebenen 
Interessen  der  AEG-  in  Persien,  verharrte  auf  ihrem  Schein. 
Man  muB  ihr  zugute  halten,  dafi  ihr  der  Riickzug  von  einer 
ebenso  hartnackigen  Publizistik  auBerst  erschwert  wurde.  An 
dem  Tage,  an  dem  das  Amtsgericht  Berlin-Mitte  den  Einstel- 
lungsbeschluB  verkundete,  wiederholte  die  Zeitung  .Berlin  am 
Morgen'  die  Behauptung,  daB  Risa  Khan  ein  „orientalischer 
Despot"  sei.  Darauf  blieb  dem  republikanischen  Staatsanwalt 
nichts  andres  iibrig,  als  Beschwerde  einzulegen,  der  die  Straf- 
kanxmer  stattgab. 

So  kam  es  schlieBlich  zu  der  denkwiirdigen  Gerichtssitzung 
vom  4.  April  1932,  in  der  ein  famoser  Richter  der  hohen 
Bureaukratie  ihre  Dummheit  vordemonstrierte.  Einem  ge- 
schickten  Schachzug  des  Verteidigers  ist  gelungen,  aus  dem 
Dunkel  der  Geheimsitzung  die  Beweisantrage  fiir  die  Offent- 
lichkeit  zu  retten,  die  vorbereitet  warenf  um  die  gegen  Risa 
Khan  erhobenen  Beschuldigungen  zu  beweisen  und  damit  straf- 
irei  zu  machen,  Diese  Beweisantrage  seien  hier  zum  ersten 
Mai  wenigstens  skizziert. 

Der  Verteidiger  gruppiert  die  Vorwiirle,  in  denen  die 
^taatsanwaltschaft  die  zu  suhnenden  Majestatsbeleidigungen 
erblickt,  nach  drei  Gesichtspunkten.  Zur  Stiitzung  des  Vor- 
wurfes,  Risa  Khan  sei  ein  despotischer  und  rauberischer  Cha- 
rakter,  schildert  die  Verteidigung  einige  der  krassesten  Terror- 
akte  der  blutigen  Despotie*  Da  ist  der  Fall  Waez*  Jahja  Waez 
war  Redakteur  der  Zeitung  ,Nassihat\  Er  wurde  im  Jahre  1925 
auf  offener  StraBe  in  Teheran  ermordet,  weil  er  in  seiner  Zei- 
tung gegen  die  Ausrufung  Risa  Khans  als  Konig  und  fiir  eine 
persische  Republik  geschrieben  hatte.  Der  Morder  ist  bekannt. 
Er  hat  sich  off entlich  seiner  Tat  geruhmtt  ohne  daB  er  zur  Ver- 
antwortung  gezogen  worden  ware.  Zwei  Tage  vor  der  Ermor- 
dung  hatte  Risa  Khan  Waez  zu  sich  bestellt,  um  ihn  fiir  sich 
zu  gewinnen.  Waez  blieb  standhaft  Risa  Khan  entlieB  ihn  mit 
der  Drohung:  in  zwei  Tagen  werde  sich  herausstellen,  was  mit 
ihm  zu  geschehen  habe,  Zwei  Tage  spater  wurde  Waez  er- 
mordeti  Die  Verteidigung  legt  zum  Beweise  der  Wahrheit  ihrer 
Behauptungen  die  Photographie  der  verstummelten  Leiche  vor. 
In  der  Stadt  Ghom  erlaubte  sich  ein  Priester  wahrend  einer 
Predigt,  der  die  Konigin  beiwohnte,  an  dem  Luxusaufwand,  den 
die  konigliche  Famiiie  betrieb,  Kritik  zu  iiben,  Risa  Khan  ver- 
prugelte  den  Priester  eigenhandig  mit  einer  Reitpeitsche  bis 
zur  BewuBtlosigkeit.  Einer  der  demokratischen  Journalisten 
Persiens,  der  den  Mut  hatte,  gegen  Risa  Khan  zu  schreiben, 
war  der  Chefredakteur  der  Zeitung  ,Tufan'  Farokhi.  Risa  Khan 
drohte  mit  einer  Erklarung,  die  in  der  persischen  Presse  ver- 
offentlicht  wurde:  ,,Wer  gegen  mich  schreibt,  dem  wird  die 
Feder  aus  der  Hand  geschlagen  und  die  Zunge  abgeschnitten/' 
Als   Farokhi   in   einer   Parlamentssitzung  vom   August    1930   in 

546 


seiner  Eigenschaft  als  oppositioneller  Abgeordneter  einige 
Worte  iiber  die  Auswtichse  der  Despotie  sprach,  wurde  er 
blutig  gepriigelt.  Der  Verteidiger  beruft  sich  zum  Beweis  der 
Wahrheit  auf  diesen  Farokhi  selbst,  der  hier  in  Berlin  als  Emi- 
grant lebt  und  an  Gerichtsstelle  erschienen  war,  um  unter  sei- 
nem Eid  auszusagen.  Im  Juli  1924  wurde  der  Chelredakteur 
Eschghi  von  der  persischen  Tageszeitung  ,Gharn  Biston* 
(20.  Jahrhundert)  in  seiner  Wohnung  ermordet,  weil  er  Risa 
Kahn,  der  sich  eben  zum  Konig  ausrufen  lassen  wollte,  einen 
Despoten  genannt  hatte.  Der  Morder  erhielt  zwei  Monate  Ge- 
fangnis.  Im  Jahre  1927,  als  Risa  Khan  in  feierlichem  Aufzug 
zur  Parlamentseroffnung  fuhr,  ereignete  es  sich,  dafi  der  Stu- 
dent Mahdawi  beim  Vorbeifahren  des  koniglichen  Wagens  die 
Hand  in  der  Hosentasche  lieB.  Risa  Khan  spuckte  ihm  von 
seinem  Wagen  aus  ins  Gesicht  und  griff  nach  seinem  Revolver, 
Der  Vater  des  jungen  Mannes  warf  sich  vor  dem  Schah  auf  die 
Knie  und  bat  um  Gnade.  Die  Verteidigung  beruft  sich  zum  Be- 
weis der  Wahrheit  auf  die  Zeugenaussage  von  dem  in  Deutsch- 
land  studierenden  Bruder  des  Studenten  Mahdawi,  Im  Jahre  1923 
wurden  auf  Befehl  von  Risa  Khan  zwei  Frauen  vor  dem  Poli- 
zeiprasidium  von  Teheran  offentlich  ausgepeitscht.  Beweis: 
Zeugnis  des  Schriftstellers  Doktor  Colin  RoB.  Die  Verteidi- 
gung zahlt  noch  eine  Reihe  ahnlicher  Falle  von  Auspeitschun- 
gen  und  Hinrichtungen  auf,  beruft  sich  auf  das  Zeugnis  leicht 
erreichbarer  Personen  und  legt  Briefe  und  Zeitungsausschnitte 
in  ungewohnlicher  Fiille  vor. 

Zur  Stiitzung  des  Vorwurfs  der  Selbstbereicherung  schil- 
dert  der  Beweisantrag  der  Verteidigung,  wie  Risa  Khan,  bevor 
er  Ministerprasident  wurde  (Februar  1921),  ein  vollig  mittel- 
loser  Offizier  war,  wahrend  er  jetzt  vielfacher  Millionar,  einer 
der  groBten  asiatischen  Grundstiicksbesitzer  ist.  Die  Methode 
war  einfach.  Nach  der  Niederwerfung  der  aufstandischen 
Stammeshaupter  eignete  er  sich  ihr  gesamtes  Privatvermogen 
an,  das  von  Rechts  wegen  dem  persischen  Fiskus  hatte  zufallen 
miissen.  In  der  nordpersischen  Provinz  Hasendra  besitzt  Risa 
Khan  Latifundien  so  groB  wie  der  Freistaat  Sachen.  Die  Ver- 
teidigung beruft  sich  auf  amtliche  Mitteilungen  des  Grundbuch- 
amtes  in  der  offiziellen  persischen  Regierungszeitung  , Iran'. 

Um  den  Vorwurf  der  lakaienhaften  Unterstiitzung  des  eng- 
lischen  Imperialismus  zu  stiitzen,  schildert  die  Verteidigung  das 
enge  Verhaltnis  zwischen  der  Anglo  Persian  Oil-Company  und 
der  Regierung  Risa  Khans.  Die  Verteidigung  beruft  sich  auf 
eine  Fiille  von  persischen  Zeitungsnachrichten  und  vor  allem 
auf  das  Zeugnis  von  Reginald  Bridgmann,  einem  ehemaligen 
Gesandtschaftssekretar  der  britischen  Gesandtschaft  in  Tehe- 
ran, Im  iibrigen  sei  hier  festgestellti  daB  das  offentlich  ver- 
kiindete  Urteil  des  Schoffengerichts  Berlin-Mitte  vom  4.  April 
feststellt,  daB  die  in  der  Nummer  6  vom  .Peykar1  enthaltenen 
Vorwurfe  gegen  Risa  Khan,  obwohl  sie  zu  einer  Zeit  erschienen 
sind,  in  der  die  Gegenseitigkeit  bereits  verbiirgt  war,  dennoch 
straffrei  bleiben  miissen,  weil  sie  eine  durchaus  zulassige  Kritik 
enthalten.  In  dieser  Nummer  hatte  die  Staatsanwaltschaft  als 
Majestatsbeleidigung  den  Vorwurf  inkriminiert,  daB  Risa  Khan 
„die  Interessen  Persiens  zu  einem  Spielzeug  der  Imperialbank 

547 


und  Englands  gemacht  habe"  und  daB  ,,dic  Machthaber  Per- 
siens  Tag  und  Nacht  nur  daran  denken,  Grundbesitz  zu  erwer- 
ben  und  niemals  an  das  Wohl  des  Landes  denken/' 

Die  Angeklagten  sind  freigesprochen.  Die  Bureaukratie 
des  Auswartigen  Amtes,  die  auszog,  einen  leichten  Sieg  zu  er- 
ringen,  hat  eine  schwere  Niederlage  erlitten.  Sie  hatte  sich 
daran  erinnern  sollen,  daB  im  kaiserlichen  Deutschland  der 
Schah  von  Persien  ungestraft  ein  Masiatischer  Despot"  genannt 
worden  ist,  und  zwar  von  niemand  anderm  als  vom  fBerliner 
Lokalanzeiger'  am  29.  Mai  1902. 

Die  republikanische  Majestatsbeleidigung  starb,  bevor  sie 
geboren  wurde,  an  ihrer  eignen  Lacherlichkeit. 

Der  Fall  Remarque  von  cari  v.  ossietzky 

T*\  ie  heutige  Bliite  des  Nationalismus  in  Deutschland  hat  zwar 

nicht  den  allgemeinen  Geist  gehoben,  wohl  aber  die  Tech- 
nik  der  Ehrabschneiderei  vervollkommnet.  Das  ist  eine  Kunst, 
die  aus  dem  Nichts  viel  hervorzaubert;  sie  glanzt  am  stark- 
slen  dort,  wo  gar!  kein  Stoff  vorhanden  ist,  wo  ihre  Anwtirfe 
unklar  bleiben,  von  den  Beweisen  ganz  zu  schweigen,  und  wo 
der  Verdachtigte  trotzdem  als  ein  Abgestempelter  herumlauft, 
unfahig,  sich  zu  verteidigen.  Gegen  einen  korperlichen  AngriH 
kann  man  sich  wehren,  nicht  gegen  ein  Odium,  nicht  ge- 
gen ein  Achselzucken,  nicht  gegen  die  vielwissende  Miene: 
,fMan  weiB  ja  . .  ."■ 

Seit  Jahr  und  Tag  wird  mil  aller  Energie  gegen  den  SchriH- 
steller  Erich  Maria  Remarque  gehetzt,  dem  nicht  verziehen 
wird,  daB  er  einen  Frontroman  in  den  unfreundlichen  Farben 
<ler  Wahrheit  geschrieben  hat,  Seitdem  ist  man  unablassig 
bemiiht,  ihm  etwas  anzuhangen.  Da  er  nachweislich  keine 
£roben  Kriminalverbrechen  begangen  hat,  versucht  man  es  mit 
Kleinigkeiten.  Remarque  soil  nicht  Remarque  heiBen,  son- 
dern  anders.  Aus  dem  Recht  des  Schriftstellers  auf  ein  Pseu- 
donym wird  plotzlich  eine  suspekte  Sache.  Auf  dieser  Linie 
bewegte  sich  lange  Zeit  der  sogenannte  Kampf  um  Remarque. 

Jetzt  hat  man  endlich  einen  letteren  Happen.  Remarque 
soil  Kapital  verschoben  haben.  Wenigstens  sind  auf  eine  De- 
nunziation  hin  Vermogenswerte  von  ihm  bei  der  Danatbank 
beschlagnahmt  worden.  Zwar  dampfte  eine  Erklarung  seines 
Rechtsbeistandes  den  Sensationswert  dieser  Nachricht  etwas, 
aber  sogleich  war  doch  ein  neues  Schlagwort  da:  ,, Remarque 
iebt  im  Ausland,  er  zieht  es  vorf  das  mit  seinem!  Buche  ver- 
diente  Geld  anderswo  zu  verzehren,  anstatt  es  seinem  notlei- 
denden  Vaterland  zukommen  zu  lassen."  Lebte  Remarque 
hier  in  Deutschland,  so  wiirde  es  gewilj  heiBen:  Re- 
marque praBt,  wahrend  Hitler  im  Kaiserhof  darbt!  Wahrschein- 
lich  wird  sich  auch  die  Sache  mit  dem  verschobenen  Kapital 
am  Ende  als  Verleumdung  herausstellen,  aber  wenn  die  Luge 
auch  zerplatzt,  ihr  Geruch  bleibt,  und  er  bleibt  nicht  an  dem 
haften,  der  sie  aufgebracht  hat. 

Kapitalverschiebung,  das  hort  sich  nicht  schon  an,  und  ist 
Remarque  schuldig,  so  wird  ihn  das  Gesetz  zur  Ader  lassen 
miissen.     Aber  rechtfertigt  das  eine  groBe  Pressehetze?     Han- 

548 


delte  es  sich  nicht  um  eincn  bekannten  und  erfolgreichen 
Schrif tsteilcr  sondern  um  den  schwerreichen  Kommerzienrat  Xf 
so  wiirde  man  lachelnd  sagen:  ,,Ahaf  dcr  kleine  Verkehrs- 
unfall  eines  sonst  tiichtigen  Geschaitsmannes!"  und  zur  Tages- 
ordnung   iibergchen. 

Eine  bestimmte  idealistisch  verkitschte  Auffassung  sieht 
den  Kiinstler  noch  immcr  crhaben  iiber  die  materiellen  Not- 
wendigkeiten  des  Lebens.  „Willst  du  in  meinem  Himmel  mit 
mir  leben,  so  oft  du  kommst,  er  soil  dir  of  fen  sein!",  so  dich- 
tete  der  selige  Schiller,  und  er  hat  damit  namenloses  Unheil 
angerichtet.  Denn  unsre  Klassiker,  deren  Geist  so  hoch  flog, 
waren  im  Leben  durchweg  arme  verpriigelte  Untertanen,  die 
sich  in  den  reinen  griechischen  Ather  schwangen,  um  zu  ver- 
gessen,  da6  sie  schlieBlich  von  der  Laune  eines  Gonners  oder 
von  einem  tristen  Professorengehalt  existieren  muBten.  Des- 
halb  war  Schiller  nur  konsequent,  wenn  er  den  Kiinstler  end- 
giiltig  aus  der  Welt  verbannte,  in  der  die  Prozente  verteilt 
werden.  '  Und  deshalb  gibt  es  immer  ein  so  grofies  und1  pein- 
liches  Erstaunen,  wenn  der  Kiinstler  plotzlich  wie  ein  hungri- 
ger  Spatz  aus  dem  Blauen  geflattert  kommt  und  sich  ein  Stuck 
Torte  vom  Tische  holt. 

.  Der  Kiinstler  hat  jedoch  das  gleiche  Anrecht  auf  die  all- 
gemeinen  Gebrechen  wie  ein  jeder  in  andrer  Branche  tatige 
Mitmensch.  Man  veriibelt  es  einem  Maler,  wenn  er  rechnen 
kann  wie  ein  Bankier,  man  ist  enttauscht  von  einem  Dichter, 
der  fur  seine  Auslandskonten  sorgt,  als  ware  er  ein  national 
gesinnter  Wirtschaftsfuhrer.  Da  zerbricht  man  sich  den  Kopf 
iiber  einen  ehrenwerten  alten  Schriftsteller  von  streng  konser- 
vativer  Anschauung,  der  sein  Haus  angeziindet  hat,  um  die 
Versicherungssumme  zu  erlangen,  und  well  kerne  Anzeichen 
sichtbar  sind,  daB  er  plotzlich  Bolschewik  oder  Antimilitarist 
geworden  ist,  sagt  man  einfachf  er  konne  nicht  mehr  bei  ge- 
sundem  Verstande  sein.  Wirkiich  geisteskrank?  Der  Armste 
handelte  nicht  anders  als  ein  kleiner  Geschaftsmann,  der  sich 
am  Ende  weiB,  keine  Hilfsmittel  mehr  sieht  und  in  einem  de- 
speraten  Anfall  das  Gliick  mit  einem  torichten  Gewaltstreich 
zu  korrigieren  versucht.  Friiher  lag  die  Siindendomane  des 
Kiinstlers  in  den  weiten  Gebieten  der  Erotik,  Heute  ware  ein 
Fall  Oscar  Wilde  nicht  mehr  moglich,  und  zwar  nicht,  weil 
wir  freiheitlicher  oder  toleranter  geworden  sind,  sondern  weil 
wir  andre  Sorgen  haben.  Die  Siinden  dieser  Zeit  sind  okono- 
mische.  Auch  der  Kiinstler  wird  nur  seiner  sozialen  Kate- 
^orie  entsprechend  reagieren,  Es  ist  Dummheit  und  Heuchelei, 
ihn  harter  zu  beurteilen,  nur  weil  er  von  Berufs  wegen  gleich- 
sam  der  Menschheit  Wtirde  zu  vertreten  hat, 

Niemand  wird  jemals  entratseln  konnen,  warum  grade 
Erich  Maria  Remarque  in  der  Agitation  der  Rechten  zu  einer 
Art  von  Plakatscheusal  geworden  ist.  Sein  Kriegsroman  ist 
gewiB  eine  glanzende  Leistung,  vo}l  von  wirklichkeitsnahen 
Schilderungen  —  aber  um  Tat  zu  werden,  dazu  fehlt  der  Rest, 
auf  den  es  ankommt.  Auch  ohne  mit  dem  Spachtel  aufgetra- 
gene  Tendenz  muB  ein  Roman,  der  das  starkste  Erlebnis  einer 
Generation  behandelt,  aus  der  Literatur  in  die  Politik  hinein- 
wirken.    Das  ist  nicht  geschehen,  das  Buch  ist  nur  eine  inter- 

5*9 


essante  isolierte  Leistung  geblieben.  Seine  ungeheure  Verbrei- 
tung  hat  dem  Nationalisms  keinen  Abbruch  getan,  Es  ist  im 
Grunde  effektlos  voriibergerauscht,  Es  ist  als  eine  Modesache 
aufgenommen,  so  gelesen  und  wieder  weggelegt  worden. 

Vielleicht  ist  das  Verhalten  des  Autors  daran  nicht  un- 
schuldig.  Es  war  von  Remarque  gut  und  geschmackvoll,  daB 
er  dem  fatalen  Tagesruhra  auswich,  der  mit  einem  solchen 
Erfolg  unvermeidlich  verkniipft  ist,  Es  war  verhangnisvoll, 
daB  er  vor  den  Kampfen  kniff,  die  eine  ebenso  unausweich- 
bare  Konsequenz  seines  Erfolges  waren.  Den  Angriffen  auf 
den  Roman,  auf  den  Film,  der  danach  gedreht  wurde,  setzte 
er  ein  beharrliches  Schweigen  entgegen.  Wahrend  alles  Stel- 
lung  nahm1  zog  er  sich  selbst  in  eine  bequeme  Neutralitat  zu- 
riick,  Freunden  und  Widersachern  die  Streitfrage  iiberlassend, 
wie  der  Roman  nun  eigentlich  gemeint  sei.  Die  Haltung,  die 
einem  ruheliebenden  Astheten  neidlos  gegonnt  sein  mag,  wird 
einem  Schriftsteller  nicht  leicht  durchgehen,  der  an  das  erre- 
gendste  Thema  unsrer  Tage  geriihrt  hat,  der  kiinstlerisch  ge- 
staltend  an  das  geriihrt  hat,  was  Deutschland  bis  heute  in  zwei 
Teile  spaltet:  —  an  den  Krieg. 

Es  ist  eine  Albernheit,  Remarque  vorwerien  zu  wollen,  er 
verzehre  sein  Geld  nicht  in  Deutschland.  Das  kommt  aus  der 
Begriffswelt  von  Kasehandlern,  die  bose  sind,  wenn  bei  der 
Konkurrenz  gekauft  wird,  Es  ist  kein  besseres  Argument  ge- 
gen  Remarque,  ihm  nachzuschreien,  er  ware  aus  Deutschland 
geflohen,  Demi  Deutschland  ist  heute  eine  Gasse,  in  der 
dumme  Jungen  mit  Steinen  und  Dreck  werfen.  Wer  es  nicht 
notig  hat,  macht  einen  Umweg.  Remarque  ist  nicht  aus 
Deutschland  geflohen,  sondern  aus  der  Zeit.  Er  hat  die  Ver- 
pflichtung  ignoriert,  die  in  seiner  Arbeit  und  in  seinem  Erfolge 
lag.  Das  ist  der  ernste  Einwand  gegcn  ihn.  Das  ist  der  wirk- 
liche  Fall  Remarque. 

Das  Buch  ist  heute  schon  vergessen.  Sein  Verfasser  ware 
es  auch,  wenn  nicht  die  rachsiichtige  Bosheit  der  Chauvini- 
sten  ihn  immer  wieder  in  Erinnerung  brachte.  Warum  dieser 
HaB  gegen  den  Autor  von  „Im  Westen  nichts  Neues"?  Das 
ist,  wie  gesagt,  kaum  zu  beantworten.  Vielleicht  fiihlen  die 
auf  der  andern  Seite,  welch  gewaltige  Waffe  dieses  eine  Buch 
hatte  werden  konnen  mit  einem  Marine  dahinter,  Aber  dieser 
Mann  war  nicht  da  sondern  nur  ein  GKickskind,  das  einen  Zu- 
fallstreffer  gemacht  und  sich  daraufhin  sofort  ins  Privatleben 
zuriickgezogen  hat. 

DaS  neUe  Spanien  von  Ernst  Toller 

I 

L'Espana  es  Republica 

f}as  spanische  Volk,    das  die  RepubHk  nach  der  monarchisti- 
schen   Mifiwirtschaft,    den   kostspieligen   Marokko-Kriegen 

mit  unendlichen  Hoffnungen,  in  einem  Rausch  chiliastischer  Be- 

geisterung  begriiBte,  ist  heute  unzufrieden. 

Der  Capitalist  hat  Angst,   er  fiirchtet  den  EinfluB  der  so- 

ziaLdemokratischen   Minister,    die  Kontrolle  der  Banken    und 


Gewinne,  den  Druck  der  Gewerksehaften,  Tarifrecht  und  So- 
zialversicherung.  Am  angstlichsten  gebarden  sich  jene  Libe- 
ralen,  die  mit  dem  Sozialismus  ftsympathisierten>'f  solange  die- 
ser  cine  ,, scheme  Idee"  war. 

Der  GroBgrundbesitzer  fiirchtet  Aufteilung  seines  Bodens 
und  hohe  Grundsteuern. 

Der  Arbeiter  fiihlt  sich  getauscht,  er  hat  rasch  eingesehen, 
daB  politische  Demokratie  ohne  soziale  nicht  geniigt,  er  sieht 
eine  neue  Fahne(  aber  die  alten  kapitalistischen  Gewalten.  Ein 
Arbeiter  im  Gefangnis  zu  Barcelona  gab  mir  auf  meine  Frage 
nach  der  Republik  die  btindige  Antwort:  „Der  alte  Hund  mit 
einem  neuen  Halsband", 

Die  Regierung  hat  in  einem  halben  Jahr  siebentausend 
staatliche  Schulen  eroffnet,  Presse-,  Versammlungs-  und  Or- 
ganisationsrecht  geschaffen,  diese  Rechte  durch  das  Republik- 
schutzgesetz  illusorisch  gemacht,  das  Fundament  zu  vielen 
kulturellen  und  sozialen  Reformen  gelegt,  die  auf  dem  Papier 
groBarlig  wirken,  in  der  Praxis  fehlen  und  erbitterte  Luft- 
kampfe  zu  bestehen  haben.  Das  Volk  will  Taten,  Gesten  wie 
die  Achtung  des  Konigs  als  Hochverrater,  seine  Verurteilung 
zu  lebenslanglicher  Zwangsarbeit  und  die  Beschlagnahme 
seines  Vermogens  geniigen  nicht,  das  Volk  weiB  zu  gut,  daB 
Alphons  XIII.,  gleich  andern  Potentaten,  langst  vor  der  Revo- 
lution  sein  Vermogen   bei  auslandischen  Bank  en  angelegt   hat 

In  den  ersten  Tagen  einer  Revolution  sind  die  herrschen- 
den  Schichten  bereit,  die  Halfte  ihres  Vermogens  und  ihrer 
Rechte  freiwillig  zu  opfern,  wenn  ihnen  die  andre  verbleibt, 
Als  die  deutsche  Novemberrevolution  an  den  LitfaBsaulen  an- 
ktindigte,  die  Sozialisierung  marschiere,  erklarte  die  GroB- 
industrie,  sie  werde  einen  Teil  ihrer  Habe  dem  Staat  schenken. 
Als  der  Sturm  der  Revolution  voriiber  war  und  die  wirklich 
revolutionaren  Krafte  aufgerieben  schienen,  wurde  das  Ange- 
bot  rasch  zuriickgezogen  und  heute  ist  es  vergessen. 

Ahnlich  war  es  in  Spanien,  heute  kampfen  GroBgrundbe- 
sitz  und  Industrie  um  jeden  FuBbreit  Boden  —  und -mit  Erfolg. 

Was  eine  Revolution  in  den  ersten  Tagen  versaumt,  kann 
sie  spatcr  nicht  mehr  einholen.    Der  Verangstigte  erholt  sich. 

Die  spanische  Republik  tritt  in  die  FuBstapfen  der  deut- 
schen.  Resolutionen  und  Gesetze  miissen  Wirklichkeit  wer- 
den,  son«t  entmutigen  sie  die  Anhanger  und  starken  die  Geg- 
ner.  Spanien  entwickeJt  sich  zu  einer  biirgerlichen  Republik, 
aber  manche  herrschenden  Politiker  mochten  sich  das  nicht 
eingestehen  und  die  Illusion  aufrechterhalten,  es  sei  anders. 
So  geraten  sie  in  Sackgassen,  aus  denen  kein  Weg  heraus- 
ftihrt,  verargern  ihre  wahren  Auftraggeber  und  erregen  das 
Hohngelachler  des  Volkes.  Die  Konflikte,  die  sie  nicht  losen 
konnen,  verscharfen  die  soziale  Situation  und  rufen  die  Fas- 
cisten  auf  den  Plan. 

Das  Agrarproblem  ist  die  brennendste  Frage.  Was  die 
deutschen  und  franzosischen  Bauern  in  langwierigen  Re- 
volutionen  erkampften,  ist  in  Spanien  noch  Wunsch  und 
Traum,  das  Elend  der  kleinen  Bauern,  Landarbeiter  und  Pacht- 
bauern  ist  unbeschreiblich,  aber  was  geschieht?  Man  beginnt 
in  groBen  Versprechungen  und  endet  in  Diskussionen. 

3  551 


Spaniens  Wirtschaft  konnte  von  den  Folgen  der  kapi- 
talistischcn  Weltkrise  unbenihrt  blcibcn,  die  Konsumkraft  des 
Volkes  ist  so  gering,  daB  die  kleinste  Lohnerhohung  eine  deut- 
liche  Absatzsteigerung  vieler  Industriewerke  hervorruft,  Aber 
die  Arbeiterschaft  muB  in  Streiks  um  jeden  Centimo  kampfen. 

Heute  verkundet  die  Regierung,  daB  fiinfzig  Prozent  aller 
Beamten  abgebaut  werden,  Kenner  sagen,  es  blieben  immer 
nock  zu  viel,  morgen  beschwichtigt  sie  die  Aufgeregten,  es  sei 
nicht  so  ernst  gemeint,  jeder  Minister  werde  von  Fall  zu  Fall 
entscheiden.  Dabei  beklagea  sich  alle,  daB  die  Zahl  der  Be- 
amten nicht  vermmdert  sondern  vermehrt  wird.  Jeder  neue 
Beamte  weiB  irgendeinen  Frettnd,  irgendeinen  Beamten,  den 
er  unterbringen  muB.  Man  hat  fur  dieses  System  im  Spa- 
nischen  einen  drolligen  Ausdruck,  man  nennt  das  „enchuf e'\ 
Steckkontakt,  wer  vom  Strom  profitiert,  schafft  schnell  eine 
Nebenleitung. 

Das  Heer,  das  in  der  Monarchic  eine  bedeutend'e  Rolle 
spielte  —  Offiziersrevolten  gehorten  zum  guten  Ton,  OHiziers- 
rate  wurden  schon  1917  gebildet  —  ist  als  politische  Macht  aus- 
geschaltet.  Die  Republik  hat  aber  keine  republikanischen  Ba- 
taillone  formiert,  als  Schutztruppe  dient  die  alte  Guardia-Civil, 
ein  Gendarmenheer  von  25  000  Unteroff izieren.  Die  Guardia- 
Civil  war  friiher  die  Schutztruppe  der  Monarchic,  oft  kam  es 
zu  blutigen  ZusammenstoBen,  Die  ZusammenstoBe  haben  nicht 
aufgehort  in  der  Republik,  ob  die  Gesinnung  der  Guardia-Civil 
sich  gewandeit  hat,  weiB  nicht  einmal  die  Regierung.  Man  hat 
der  Guardia-Civil  sogar  die  alte  Operettenuniform  mit  dem 
hinten  abgeplatteten  Glanzleder-Dreispitz  gelassen  und  nicht 
eingesehen,  daB  Uniformen  ebenso  wie  Denkmale  und  Farben 
Symbole  sindt  darin  sich  gesammelt  haben  die  Traditionen  der 
herrschenden  Klasse  und  gegen  die  sich  richtet  der  HaB  der 
Unterdruckten.  Es  gab  die  Moglichkeit,  wenn  man  schon  die 
Guardia-Civil  nicht  auilosen  wolite,  sie  zu  einem  Instrument 
der'  Republik  zu  machen,  indem  man  die  reaktionaren  Offiziere 
verjagle  und  aus  den  Reihen  der  Truppe  neue  Offiziere  wahlte. 
Nichts  ist  geschehen. 

Unamuno  sagte:  „Leider  haben  nicht  die  Republikaner  die 
Republik,  sondern  die  Republik  hat  Republikaner  geschaffen/' 

Cum  grano  salis. 

Die  Monarchic  ist  zerstort,  Perioden  der  Diktatur  werden 
wiederkehren. 

In  Spanien  wohnen  dreiundzwanzig  Millionen  Menschen, 
Die  erstaunliche  Zahl  von  vierhundertdreiundsiebzig  Abgeord- 
netens  ist  ins  Parlament,  die  Cortes,  eingezogen.  Jeder  Abge- 
ordnete  bekommt  tausend  Pesetas  und  ein  Eisenbahnbillett 
erster  Klasse,  Bose  Zungen  behaupten,  man  konne  auf  die 
auslahdischen  Touristen  verzichten,  man  habe  jetzt  seine 
eignen,  die  Abgeordneten.  Ich  kann  nur  sagen,  daB  in  den 
verschiedenen  Provinzen  des  Landes  die  Leute  erzahlten,  sie 
hatten  ihre  Volksvertreter  noch  nie  gesehen,  allerdings  wohn- 
ten  die  Befragten  nicht  in  den  schonen  Zentren  des  Tourismus. 
Wen  diese  Abgeordneten  vertreten,  wissen  manche  selber 
nicht,  die  republikanischen  Parteien,  alte  und  neue,  haben  ge- 
meinsame   Wahllisten    aufgestellt,    das    Volk   wahlte   als    Pro- 

552 


gramm  die  Republik,  und  so  wird  es  Fraktionen  geben,  die  den 
stolzen  Statisten  eines  Dramas  gleichen,  im  ersten  Akt  sagen 
sie  ,rDie  Pferde  sind  gesattelt"  und  verschwinden  dann  fiir 
Jmmer  in  der  Versenkung.  Das  gilt  besonders  fiir  jene  Pro- 
fessoren,  die  aus  den  Debattierklubs  in  die  rauhe  Luft  der 
Politik  sich  verse tzt  sahen,  sie  wuBten  setbst  nicht  wiet  und 
die  heute  mit  Schaudern  konstatieren,  dafi  die  Republik  kein 
Ende  sondern  ein  Anfang  ist,  die  schone  Staatsform  noch  kein 
Ziel,  und  die  Forderungen  der  proletarischen  Massen  mit 
asthetisch-lyrischen  Geluhlen  sich  schlecht  vertragen, 

Es  liegt  im  sturmischen  Wesen  jeder  Revolution,  dafi  ihr 
im  Beginn  die  Zeit  fehlt,  Ttichtige  von  Hochstaplern,  Idealisten 
von  Geschaftemachern  zu  sondern.  Man  braucht  sich  darum 
nicht  zu  wundern,  daB  die  Revolutionsspekulanten  die  Kon^ 
junklur  ausnutzen.  Aber  das  Volk  hat  dafur  ein  feines  Gefiihl, 
und  es  merkt  sich  die  Leute,  die  neben  dem  Abgeordneten- 
mandat  auf  ihre  breiten  Schultern  gleich  fiinf  oder  sechs  Amter 
laden,  von  denen  sie  nicht  eines  verstehen,  fiir  die  sie  aber 
fiinf-  oder  sechsmal  Gehalt  beziehen. 

Keine  Partei  kann  sich  beklagen,  auch  die  sozialdemo- 
kratische  nicht,  neben  erfahrenen  Mannern  sitzen  die  Mneuen 
Reichen".  Ich  traf  irri  Zug  einen  Abgeordneten,  der  MacDo- 
nald  fiir  den  theoretischen  Vater  des  Sozialismus  hielt  und  von 
Marx  meinte,  er  sei  ein  russischer  Bolschewik, 

Eines  Nachmittags  besuchte  ich  die  Cortes<  Als  Petreiak- 
ten  der  koniglichen  Tage  sind  die  Parlamentsdiener  geblieben, 
sie  tragen  vornehme  Fracke,  bewegen  sich  wie  kastilische 
Herzoge,  blicken  voll  unsaglicher  Verachtung  auf  den  Piebs, 
der  hier  sein  Unwesen  treibt,  und  haben  nur  die  eine  Hoffnung, 
daB  der  Spuk  bald  verschwinden  moge  und  die  Krone  wieder 
iiber  dem  leeren  Thronhimmel  ira  Sitzungssaal  leuchte.  Dort 
wird  grade  ein  Verfassungsparagraph  beraten.  Die  Regierungs- 
parteien  fordern,  daB  kein  Geistlicher  President  der  Republik 
werden  diirfe.  Ein  katholischer  Abgeordneter  spricht  mit 
weitschwingenden  Gesten  gegen  den  Antrag,  auch  der  spa- 
nische  Geistliche  sei  ein  Sohn  des  Volkes,  der  durch  die  Ein- 
schrankung  zum  Burger  zweiten  Ranges  gestempelt  werde.  Ihm 
antwortet  Madariaga,  der  Vertreter  Spaniens  beim  Volkerbund, 
jetzt  Botschafter  in  Paris,  der  ein  ausgezeichnetes  Buch  iiber 
Spanien  (deutsch  bei  der  Deutschen  Verlaganstalt,  Stuttgart, 
erschienen)  geschrieben  hat.  Er  erinnert  an  den  Erzbischof 
von  Sevilla,  der  einmal  offentlich  die  Berechtigung  der  Re- 
publik anerkannte,  und  der  dann  gezrwungen  wurde,  diese  An- 
sicht  zu  revidieren.  „Von  wem  wurde  er  gezwungen",  ruft  er, 
,,von  einer  fremden  Macht.  Wie  kann  der  Herr  Kollege  be- 
haupten,  der  Geistliche  sei  unabhangig  und  gehorche  nur  sei- 
nem  Vaterland?" 

Aile  Redner  sprechen  mit  grofiartiger  Rhetorik,  die  besten 
Redner  Europas  sind  hier  versammelt.  Aber  da  der  Redner- 
star  nur  sich  horen  kann,  horen  die  andern  niemals  zu. 

Vollzahlig  ist  das  hohe  Haus  selten  versammelt,  selbst  bei 
wichtigen  Verfassungsparagraphen  fehlt  manchmal  die  Halfte. 
Bonavente  meinte,  die  Herren  hatten  viel  Ahnlichkeit  mit  fei- 
nen  Damen,  die  ein  Theaterstiick  besuchen,  schon  in  der  zwei- 

553 


ten  Szene  chokicrt  sind,  Icisc  munneln  (,Ncinf  das  nicht" 
und  davongehen. 

Drei  Fraucn  sitzen  im  Parlament,  eine  von  ihnen,  die  Pra- 
sidentin  des  spanischen  Strafvollzugs,  Victoria  Kent,  hat  sich 
fur  die  Befnedigung  der  sexuellen  Bedurfnisse  der  Gefangenen 
und  gegen  das  Stimmrecht  der  spanischen  Frauen  erkjart,  sie 
befiirchtet,  daB  die  Republik  sich  ein  Kuckucksei  ins  Nest 
legt.  Sie  mag  so  unrccht  nicht  haben,  Wenn  ich  an  die  Frau 
in  Burgos  denke,  die  mir  sagte:  f,Die  Republik  hat  uns  das 
Wahlrecht  gegeben,  diese  Idioten  inv  der  Regierung  werden 
schon  sehen,  was  wir  dam  it  anfangen". 

An  dem  Abend,  an  dem  ich  in  den  Cortes  war,  saB  ich 
im  Cafe  Granja  El  Heuar,  dem  Cafe  der  Boheme  von  Madrid. 
Ich  brauche  as  nicht  zu  beschreiben,  wer  das  Romanische  Cafe, 
das  Cafe  du  Dome  kennt,  wird  alle  Hoffnung  fahren  lassen. 
Seine  Gaste  haben  nur  eine  nationale  Eigentiimlichkeit,  sie 
tragen  stets  Visitenkarten  bei  sich,  schwarz  timrandert, 
weiB  der  Himmel,  um  wen  jeder  Spanier  jedes  Jahr  trauert, 
und  sie  teilen  darin  mit,  daB  sie  Advokaten  sini 

Plotzlich  dringt  Larm  von  der  StraBe.  Wir  springen  auf 
und  eilen  hinaus.  Eine  monarchistische  Demonstration.  Zwei- 
hundert  Studenten  ziehen  durch  die  StraBe  und  schreien  t,Es 
lebe  der  Konigl"  Die  Cafegaste  schreien  noch  lauter:  l(Es 
lebe  die  Republik!"  In  Automobilen  rast  die  Guardia-Civil 
heran,  zerstreut  mit  harten  Zurufen  die  Monarchisten  und  zer- 
sprengt  mit  sanften  Gummikniippelhieben  die  Republikaner,  die 
nicht  aufhoren  wollen,  die  Republik  hochleben  zu  lassen. 

Wo  habe  ich  das  doch  schon  gesehn? 

Nahe  Waldf riedhof  von  Erich  KSstner 

\4anner  stolperten  stumm  durch  den  Wald. 
iV*   Kiefernadeln  Helen  auf  ihre  Zylinder. 
Die   Gehrocke   glanzten.    Sie   waren  alt. 
Manner  stolperten  stumm  durch  den  Wald 
wie  zu  groB  geratene  Kinder. 

Der   schwarze   Leichenwagen   fuhr 
zwischen  den  Baumen  langsam  nach  Haus. 
Nun  lag  der  Leichnam  in  der  Natur 
und   der   leere   schwarze   Wagen  fuhr 
wieder  aus  ihr  heraus. 

Ein  Mann  blieb  an  einem  der  Stamme  stehen, 
Schuld   trug   die  viel  zu  lange  Predigt 
Er  wippte  verlegen  auf  seinen  Zehen 
und  konnte  sich  selber  nicht  recht  verstehen. 
Dann  war  auch  Das  erledigt. 

Er  rannte  hinter  den  Andern  her, 
jenem  Baumstamm  zu  entfliehn. 
Als   ob  gar  nichts   gewesen  war 
und   tief  bekummert   sagte   er: 
,fSchade  um  ihn.M 

Die   Andern  nickten  streng  und  alt. 
In  ihren   Ohren   klang  Choralgesang. 
Der  Himmel  sah  aus  wie  feuchter  Asphalt. 
Die  Manner  stolperten  stumm  durch  den  Wald 
ins   Restaurant. 
554 


Rand  urn  den  Funk  von  Radoif  Amheim 

CLregor  Jarchos  Tuberkulose-Horspiel  „Das  weiBe  Sterben" 
^  (Berliner  Sender,  Regie:  MaxBing)  klart  in  zuverlassigster 
Weise  auf,  lehrt  VorsichtsmaBregeln,  zerstreut  falsche  Angst- 
vorstellungen  und  zeigt  den  Zusammenhang  zwischen  Seuchen- 
bekampfung  und  Sozialwirtschaft.  Der  Lokaljargon  eines  Lun- 
gensanatoriums  ist  haargenau  und  liickenlos  getroffen.  Kleine 
Schallplattenvortrage  bekannter  Facharzte  sind  in  die  Hand- 
lung  eingefiigt,  als  waren  sie  ein  Stuck  von  ihr.  Fur.  die  Ver- 
wendung  „echtenM  Materials  (Reportageaufnahmen,  Briining- 
reden,  aber  auch  schon  Zitate  aller  Art)  gibt  es  noch  die  Mog- 
lichkeit,  sie  auch  formal  deutlich  als  Fremdkorper  heraus- 
zuheben.  Das  ware  dann  wirkliche  Montage,  in  der  Art,  wie 
in  den  literarischen  Querschnitten  Zitatcnmaterial  ohne  Schau- 
platzbindung  aneinandergereiht  wird.  Es  besteht  da  nur  ein 
gedanklicher,  begrifflicher  Zusammenhang.  Fragt  aber  der 
Schauspieler  Herrn  His,  was  er  iiber  die  Tuberkulose  denke, 
und  antwortet  dann  der  Geheimrat  leibhaftig  auf  der  Schall- 
platte,  so  ist  das  „unbemerkte  Montage",  wie  sie  im  Film  etwa 
fur  Doppelgangeraufnahmen  Verwendung  findet:  die  Naht  zwi- 
schen dem  Zusammengeklebten  wird  nicht  bewufit  betont  son- 
dern  mbglichst  unsichtbar  gemacht. 

Funk  lehrt  besser  als  Film,  weil  er  sich  des  Wortes,  nicht 
des  Bildes  bedient,  Der  Film  soil  stets  in  der  kiinstlerischen 
Sphare  des  sinnlichen  Symbols  bleiben;  der  Funk  darf  aus 
der  Kunst  herausgehen  und  rein  zum  Verstand,  rein  vortrags- 
maBig  sprechen.  Es  entsteht  weniger  leicht  als  auf  der  Sprech- 
buhne  ein  StiLbruch,  wenn  man  Lehren  in  eine  Spielhandlung 
eingliedert,  Nur  ist  es  ndtig,  die  Kolleg-Partien  dann,  bei  aller 
Sorge  urn  Verstandlichkeit,  besonders  lebendig  sprechen  zu  las- 
sen,  damit  sie  nicht  als  Einlagen  in  den  Dialog  wirken.  Sehr 
eindrucksvoll,  wenn  auch  besser  fur  eine  abstraktere  Darstel- 
lungsform  geeignet,  war  der  Versuch,  die  Musik  aller  Komponi- 
sten,  die  an  Tuberkulose  gestorben  sind,  durcheinander  tonen 
zu  lassen.  Sinnlicher  Vertonung  eines  ganz  unsinnlichen  Tat- 
bestands  —  funkgemafies  Symbol. 

* 

Die  Opern  des  Oratorienkomponisten  Handel,  die  nach 
der  Biihne  streben,  ohne  sich  ihr  doch  recht  zu  fugen,  erschei- 
nen  im  Rundfunk  wie  von  den  Schlacken  des  Optischen  ge- 
reinigt.  Ihr  musikalischer  Sinn  erschliefit  sich  eindringlich.  Die 
Aufteilung  in  Musiknummern,  in  Arien  und  Rezitative,  ver- 
wischt  sich  bei  der  Buhnenauffiihrungi  weil  sich  optisch  eine 
entsprechende  Gliederung  nicht  erzielen  Iafit:  dieselben  Men- 
schen  stehen  auf  der  Biihne  und  benehmen  sich  auf  dieselbe 
Weise,  und  so  entsteht  vom  Auge  her  eine  unerwiinschte  An- 
gleichung  der  kontrastierenden  Musikformen  aneinander.  Und 
ebenso  arbeitet  das  Buhnenbild  gegen  die  Musik,  indem  es  den 
musikalischen  Sinn  des  Pausierens  abschwacht:  wer  nicht  zu 
singen  hat,  ist  trotzdem  zu  sehen,  spielt  also  eine  dem  Musi- 
kalischen kontrare  Rolle.  Erst  wenn  man  blind  hort,  ergibt 
sich  der  zwingende  Eindruck  einer  eindimensional  ablaufenden 

555 


Aktion,  in  der  alles  hintereinander  geschicht  und  echtes  Ne- 
beneinander  nur  in  den  Augenblicken  des  Zugleichsingens  als 
besondre  Wirkung  entsteht  Auch  die  rein  instrumentale  Zwi- 
schenmusik,  etwa  Vor-  und  Nachspiel  der  Arien,  wirkt  im 
Rundfunk  nicht  mehr  als  bloBe  Begleitung,  als  Untermalung  im 
Souterrain,  sondern  ist  als  den  Sangern  gleichberech^igter  Ak- 
teur  in  die  eindimensionale  Ablaufreihe  eingegliedert.  Sie  ist 
nicht  handlungshemmendes  Fiillsel,  das  den  Sanger  zum  War- 
ten  verdammt,  sondern  kein  Sanger  existiert,  so  lange  sie  dran 
ist,  sie  ist  allein  auf  der  Welt  und  im  Vordergrund,  wie  es 
dem  Sinn  der  Musik  entspricht.  Das  Besondre  der  Musik  als 
einer  mit  starkem  Zeitcharakter  hintereinander  ablaufenden 
Aktion  wird  beeintrachtigt  dadurch,  dafi  man  auf  der  Biihne 
einen  Zustand,  herumstehende  Menschen,  sieht.  Dem  hiipfen- 
dcn  Dreivierteltakt-Ablauf  einer  Freudenarie  etwa,  der  eine 
,,Handlung"  ist  im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes,  entspricht 
auf  der  Biihne  yollige  Leere,  gestikulierende  Figuren,  bei  denen 
nichts  vorwarts  geht    sondern  die  Zeit  ruht. 


Oft  hort  man,  das  Einschalten  eines  Ansagers  in  eine  Hor- 
spielhandlung  sei  eine  blofie  Eselsbriicke,  urn  Mitteilungen  an 
den  Horer  zu  bringen,  die  unmittelbar  aus  der  Handlung  her- 
vorgehen  zu  lassen  dem  Autor  nicht  gelungen  sei.  Solche 
eingelegten  Beschreibungen  von  Schauplatzen  und  Begeben- 
heiten  seien,  ahnlich  wie  die  Zwischentitel  im  stummen  Film, 
als  unkiinstlerisch  und  stilwidrig  zu  verwerfen.  Diese  Mei- 
nung  ist  sicherlich  falsch;  denn  wenn  man  das  Horspiel  auf 
seine  Materialeigenschaften  hin  untersucht,  erkennt  man,  daB 
es  nicht  wie  der  Film  vom  realen  Schauplatz  sondern  vom 
gesprochenen  Wort  her  kommt.  Der  Ansager  ist  gradezu  das 
funkische  Urelement  (wahrend  gedruckte  Zwischentitel  in  den 
stummen  Film  ein  artfremdes  Gestaltungsmittel  brachten),  und 
ihn  zwischen  *  Spielszenen  einzufugen,  entspricht  durchaus  dem 
eigentlichen  Reiz  des  Rundfunks:  dafi  er  namlich  nicht  wie  das 
Theater  an  einen  festen  Buhnenschauplatz  gebunden  ist.  Je- 
doch  wird  nur  dann  eine  brauchbare  Form  zustandekommen, 
wenn  die  Aufgaben  des  Ansagers  und  des  Spieldialogs  folge- 
richtig  verteilt  sind.  Gibt  der  Ansager  nur  Schauplatzbezeich- 
nung  und  allgemeine  Daten,  der  Dialog  dagegen  die  individuelle 
Spielszene,  so  darf  nicht  mittendrin  auch  der  Ansager  einmal 
Lust  am  Fabulieren  bekommen  und  mit  den  Stilmitteln  eines 
Romanschriftstellers  der  eigentlichen  Spielhandlung  Konkur- 
renz  machen.  Das  tat  er  zuweilen  in  M.  Felix  Mendelssohns 
Horspiel  ,,Das  Schicksal  des  Commanders  Kidston"  (Regie: 
Alfred  Braun),  beispielsweise  in  der  Schilderung  einer  Lowen- 
jagd  oder  eines  todlichen  Absturzes.  Auch  muB  der  Ansager 
sich  aller  rezitatorischen  Ausdrucksmittel  enthalten,  wie  sie 
beim  Vorlesen  einer  Novelle  angebracht  sind,  und  sich  wie 
eine  Sprech-Maschine  auf  deutlichen  Textvortrag  beschran- 
ken;  denn  nur  so  bringt  er  den  Charakter  einer  reinen,  kor- 
perlosen  Stimme  und  damit  den  notwendigen  Gegensatz  zum 
handelnden,  Mkorperlichen"  Schauspieler.  Der  Versuch,  den 
Ansager  aus  seiner  Anonymitat  zu  befreien  und  ihm  irgend  eine 

556 


irdischc  Rolle,  etwa  die  eines  erzahlenden  Zeitungsredakteurs* 
aufierlich  aufzupappen,  ist  iiberfliissig  und  unfunkisch. 

Einc  ahnliche  abstrakte  Funktion  wie  der  Ansager  kann 
die  Musik  im  Horspiel  iibernehmen.  Aber  auch  ihr  Part  war 
im  „Commander  Kidston"  nicht  eindeutig  genug  charakteri- 
siert.  Zumeist  war  sie  als  reine  Zwischenaktmusik  gemeint, 
gelegentlich  aber  gehorte  sie,  etwa  als  Tanzmusik  in  einer  Bar, 
in  den  Schauplatz  hinein.  Dadurch  entsteht  Unsicherheit  im 
Horer.  Alle  Architektur  gerat  ins  Wackeln,  wenn  die  Saule 
Deckenbalken  spielen  will. 

Die  wahre  Geschichte  eines  englischen  Offiziers,  der  un- 
aufhorlich  ins  Wasser  und  aus  dem  Flugzeug  und  unter  wilde 
Tiere  fallt,  ohne  daB  ihm  etwas  geschieht,  ist  schon  als  Thema 
keineswegs  ein  t,SchicksalM  sondern  ein  recht  undramatisches 
Potpourri  verpaBter  Verkehrsunfalle.  Da  ist  keine  Steigerung 
und  Entwicklung  moglich,  der  Regisseur  muB  immer  wieder 
Marsche  und  Geknatter  auffahren;  und  die  mittelmaBige  Ge- 
dankenlyrik  zum  Thema  Tod  und  Todesfurcht  kann  iiber  den 
Mangel  an  einer  Grundidee  nicht  hinwegtauschen.  Alles  ist 
Zufall,  wenngleich  nichts  erfunden  sein  mag.  Too  true  to  be 
good.  So  lieB  Commander  Kidstons  Betatigung  im  Kriege  und 
andern  lebensgefahrlichen  Sportarten  den  Horer  gleichgiiltig. 
Zumal  die  Hauptrolle,  fur  deren  sparlichen  Text  Fritz  Kortner 
die  Stimme  einer  zartlichen  Wildkatze  mitbrachte,  als  be- 
herrschtes  Temperament  (etwa  von  Ernst  Busch)  und  nicht 
pomadig-ironisch  hatte  gesprochen  werden  miissen.  Und  zumal 
die  Akustik  eines  Rennbootes  oder  Rennautos  nicht  die  einer 
Fernsprechkabine  ist.    Da  hilft  kein  eifriges  Motorengebrumm. 

Goethe 

eine  Groteske  in  2  Bildern  von  Alfred  Polgar  und  Egon  Friedell 

Diese  Groteske  wurde  (abgesehen  von  dem  aktuali- 
sierten  SchluB)  zum  ersten  Mai  vor  dem  Kriege  im  wie- 
ner Kabarett  „Die  Fledermaus"  aufgefiihrt,  Im  ersten 
Bild  ist  Goethe  dem  schlechten  Schuler  Ztist  erschienen 
und  hat  sich  bereit  erklart,  an  dessen  Stelle  (und  in  des- 
sen  Gestalt)   die  Priifung  iiber  Goethe  zu  bestehen. 

//.  Bild 
Prufungszimmer.    An  der  Wand  eine  Photographie  des  wiener  Goethe- 
denkmals,    Schulrat,    Professor   der    Literatur,    Beisitzer,    FleWig,    ein 
&uter  Schiiler,  Ziist,  ein  schlechter  Schiller,  spater  Goethe,  der  PedelL 

Professor:  Also,  Sie  wissen,  in  bezug  auf  Goethe  verstehe  ich 
keinen  SpaB.    Goethe  ist  ein  Heiligtum. 

Schulrat:  In  das  man  nur  durch  eisernen  FleiB  sich  den  Eintritt 
erwirbt. 

Professor:  Wir  haben  noch  den  FleiBig  und  den  Ziist.  Ziist,  Sie 
sind  der  Schwachere,  stehen  Sie  auf!...  (Spricht  leise  mit  der  Kom~ 
mission.  Wdhrenddessen  geht  die  Verwandlung  Zust-Goethe  vor  sich.) 
Goethe  ist  eine  Erscheinung  von  so  gigantischer  Bedeutung,  daB  sie 
jedem  Gebildeten  aufs  genaueste  vertraut  sein  muB.  Nur  der  kann 
mit  Aussicht  auf  Erfolg  in  den  Ernst  des  Lebens  hineintreten,  der 
Goethes  Leben  und  Schaffen  zu  seinem  taglichen  Brot  gemacht  hat. 

Goethe  (bescheiden  abwehrend):  Bitte,  bitte  — 

557 


Professor  (scharf):  Sagten  Sie  ctwas?  fblickt  in  sein  Notizbuch) 
Wir  beginnen  mit  der  Familiengeschichte.  Wie  hieBen,  was  waren  und 
wo  lebtcn  Goethes  GroBeltern,  a)  vaterlicherseits,  b)  rautterlicherseits? 
Goethe:  No,  dcr  Vattersvatter  war  der  alt'  Scborsch  Friedricb 
Goethe,  der  war  scho  Schneider  in  Frankfort,  na,  un  sei  Fraa  war  e 
geborne  Schallhorn,  das  war  de  Tochter  vom  Weidewirt,  die  hat  von 
Neckergemind'  'eriibergemacht,  un  der  B ruder,  das  war  der  Kaschper 
Schallhorn  — 

Professor  (befriedigt):  Nun,  ganz  schon.  Das  ware  ja  soweit 
memoriert. 

Goethe  (unbeirrt):  No  un  dem  sei  Fraa,  de  Bisemerskathrin,  das 
war  doch  de  erschte  Hebamm,  die  vom  GroBherzog  e  beeidichtes 
Diplom  gehabt  hat,  aber  sonscht  war  se  e  bees  Weib;  der  attest'  Sohn 
hat  auch  weche  dem  nach  Bensheim  niwwergeheirat,  er  hat  den  Krach 
net  mehr  ausgehalte,  der  Ulrich . . . 

Professor:    Nun   ja,   sehr  gut,   das  geniigt! 

Goethe  (nicht  aus  dem  Konzept  zu  bringen):  Der  Ulrich  Franz 
Theodon 

Professor:  Sie  scheinen  sich  {a  soweit  in  die  Materie  vertieft  zu 
haben. 

Goethe:    Dei  glaab  ichf 

Professor:  Aber  nun  zum  Dichter  selher.    Er  wurde  geboren? 
Goethe:  28.  August  1749. 
Professor:  In? 

Goethe:  Frankfort,  GroBer  Hirschgrawe  12.  (Professor  will  wetter - 
sprechen)  in  dem  blaue  Zimmer  im  zweite  Stock  links  fin  Erinnerung 
ver sunken):  Da  ware  aach  die  zwaa  Pendeluhre  vom  Onkel  Rettich 
mit  die  nette  Amorettcher  druff,  die  oin  hat  de  Schorsch  kaputt  ge- 
macht,  wie  er  mit  erne  Klicker  roigeschosse  hat . . . 

Professor    (gereizt   durch   Goethes    Mehrwissen):      Verlassen    wir 
Goethes  Geburtszimmer  . . .  Er  bezog  wann  die  Universitat? 
Goethe:  Mit  sechzeh'  Jahr*. 

Professor:  Er  studierte  in  welchen  Stadten  zu  welchen  Behufen? 
Goethe:  No  in  Leipzig,  dann  in  StraBburg. 
Professor:  Was  studierte  er  dort? 
Goethe:  Erscht  nix  , . . 
Professor:  Hm? 

Goethe:  Und  nachher  die  Rechtswissenschaft  und  Kunstgeschichte 
un  e  biBche  Philosophie. 

Professor  (zornig):  Wie?  Ein  biBchen? 
Goethe:  Na  fs  war  net  viell 
Professor:    Wann  verlieB   Goethe  Wetzlar? 
Goethe:  Ei,  no  so  um  die  71  oder  72. 

Professor  (triumphierend);  Ich  frage,  wann  Goethe  Wetzlar  ver- 
lieB? 

Goethe  (unsicher,  nachdenklich):  72,  ja,  ja  *s  wird  scho  so  gewese 
soi,  m  Winter  72. 

Professor:  Mit  diesem  inhaltlosen  Herumgerede  werden  Sie  Ihre 
Unwissenheit  nicht  verbergen!  In  welchem  Monat  verlieB  Goethe 
Wetzlar? 

Goethe:  In  welchem  Monat?  Warte  Se,  das  werd*  ich  Ihne  gleich 
sache.  (Denkt  verzweifelt  angestrengt  nach.)  Ei,  wann  war's  denn  nur? 
Ei,   das   hab'   ich  doch  gewiBt , . , 

Professor:  Ja,  das  ist  Ihre  standige  Redensart!  Sie  haben  immer 
nur  gewuBtl  Aber  Sie  wissen  nichts.  FleiBig,  wann  verlieB  Goethe 
Wetzlar? 

FleiBig:  Selbstverstandlich  am  23,  September  1772,  5  Uhr  nach- 
mittags  mit  der  Fahrpost, 

Goethe  (erfreut):  Ja,  richtig,  im  September,  mit  der  Fahrpost . . . 

Professor  (mit  scharfem,  strafendem  Blick  auf  Goethe):  Jawohl, 

mit  der  Fahrpost.  (Kleine  Pause,  wahrend  der  Goethe  FleiBig  freund- 

558 


lich-anerkennend  anblickt.)     Aus  welchem  AnlaB  schrieb  Goethe  die 
„Laune  des  Verliebten"? 

Goethe:  No,  da  war  er  noch  e  junker  Mensch,  dem  so  allerlci 
durch'n  Kopp  gegange  is.  Da  hat  er  wohl  viel  geschriwwe,  wo  ihm 
spater  Hewer  gewese  war,  er  hatt's  net  geschriwwe, 

Schulrat:  Ihnen  ware  freilich  am  liebsten,  wenn  er  gar  nichts  ge- 
schrieben  hatte,   (FleiBig  meckert,  Goethe  sieht  ihn  strafend  an.) 

Professor:  Wann  las  Goethe  zum  erstenmal  Gottsched? 

Goethe  (unwillig):  Ei,  das  weifi  ich  net 

Professor:  Wie? 

Goethe:  Das  weiB  ich  net.  Das  werd  doch  alles  net  so  wichtig  soil 

Professor:  In  Goethes  Leben  ist  nichts  unwichtig!  Merken  Sie  sich 
das,  Sie  Grunschnabelf 

( Goethe  blickt  den  Professor  erstaunt  an.) 

Professor  (im  Litaneiton):  Alles  hat  seine  Bedeutung  als  orga- 
nischer  Tragbalken  in  dem  tektonischen  Geftige  dieser  in  ihrer  har- 
monischen  Gegeneinanderwertung  von  Kraft  und  Last  einzig  dastehen- 
den  Biographic. 

Goethe  (jovial):  No,  so  arch  harmonisch  war's  ja  gar  net. 

Professor:  Ich  denke,  diese  Frage  ist  bereits  von  kompetenteren 
Kopfen  entschieden  worden,  als  Sie  es  sind.  Eine  andre  Frage: 
Wann  besorgte  Goethe  die  erste  Umarbeitung  der  „Stella"? 

Schulrat:  Das  wird  doch  hoffentlich,  mit  Ihrer  Erlaubnis,  wichtig 
genug  sein? 

Goethe:  Die  Stella?  Warte  Se  mal.  (Ftir  sich:)  E  was!  (Dann 
laut  und  dreist:)  No,  1804, 

FleiBig  (entsetzt):  Bsssl 

Professor:  Ich  bin  starr.  Sie  wissen  wirklich  nicht,  daB  die  erste 
Umarbeitung  der  „StelIa"  1806  stattfand?  Ja,  sagen  Sie,  was  haben 
Sie  denn  eigentlich  in  Ihrem  Kopf?  Wann  erschieri  ,tHermann  und 
Dorothea"  ? 

Goethe  fnach  kurzer  tfberlegung):  1796. 

Professor  (hohnisch):  Ich  wurde  an  Ihrer  Stelle  gleich  95  sagen  I 

Schulrat:  Oder  94!  / 

Professor  fbriillt):  ..Hermann  und  Dorothea"  erschien  im  Jahre 
1797,   Sie  Ignorant! 

Goethe  ffest):  Noi,  *s  war  96! 

Professor:  971 

Goethe  (unerschutterlich):  961 

FleiBig  (Ubergibt  durch  Goethe  dem  Professor  ein  aufgeschla- 
genes  Bach.) 

Professor:  Hier!  Sie  obstinater  Burschef 

Goethe:  Ja,  wirklich...  ich  hatt'  doch  druff  geschwore,  's  war 96! 

Professor:  Dafl  ein  deutscher  JungHng  derartige  Daten  nicht  gegen- 
wartig  hat,  konnte  einem  wirklich  den  Glauben  an  die  Jugend  nehmen! 
Da  muB  sich  ja  Goethe  im  Grabe  umdrchcn. 

Schulrat:  Pedell,  drehen  Sie  die  Goethebuste  urn,  damit  ihr  dieser 
Anblick  (er  zeigt  auf  Goethe)  erspart  wird.  (Es  geschieht.) 

(Goethe  lacht) 

Professor:  Nun,  ich  sehe  schon,  Daten  darf  man  Sie  nicht  fragen. 
Also  etwas  iiber  Goethes  Innenleben.  Welche  seelischen  Erlebnisse 
veranlaBten  Goethe  zur  Fortfiihrung  des  Wilhelm  Meister? 

Goethe:  No,  da  hat  er  doch  schon  vom  Verleger  die  200  Taler 
VorschuB  uff'n  zweite  Band  gehabt,  da  hat  er'n  doch  aach  schreiwe 
musse. 

Professor:  Es  ist  unerhort!  Sie  behaupten  also,  daB  schnode  Geld- 
gier  die  Triebfeder  von  Goethes  genialer  Dichtung  war? 

Goethe:  Ei  wieso  dann  Geldgier?  fs  Geld  hat  er  doch  langst  net 
mehr  gehabt. 

Professor:  Nun,  das  sieht  wohl  ein  jeder:  Goethes  Leben  hat  Sie 
nicht  beschaftigt.  (Goethe  blickt  ihn  erstaunt  an.)  Jetzt  will  ich  sehcn, 

559 


ob  Sie  wenigstens  bci  meinen  Vortragen  aufgemerkt  haben.  Was  wissen 
Sic  iiber  den  Charakter  des  Tasso? 

Goethe:  No,  das  is  e  kindischer,  hysterischer  Mcnsch,  der  sich 
net  recht  ausgekennt  hat  im  Lewe,  halt  so  e  Dichter . . , 

Professor  (schlagt  auf  den  Tisch,  starr):  Ich  trauc  meinen  Ohren 
nicht.  (Automatisch,  im  lehrhaften  Ton,  der  darch  parallele  Bewegun- 
gen  der  beiden  Zeigefinger  unterstiitzt  wird:)  Tasso  zeigt  den  Karapf 
des  Subjekts  und  seiner  Gebundenheit,  das,  indem  es  sich  in  die 
Objektivitat  auseinanderlegt,  notwendig  an  der  inneren  Zerrissenheit 
des  Subjekt-Objekts,  das  heifit  der  nach  auflen  projizierten  Individuali- 
ty, scheitern  muB.  (FleiBig  hat  die  Definition  mit  Kopfnicken  skandie- 
rend  mitgesprochen;  die  letzten  Worte  spricht  er  schon  fast  laut  mit 
und  schlagt  gleichzeitig  mit  dem  Professor  auf  den  Tisch.  Goethe  er' 
schrickt  und  ist  zornig  auf  FleiBig.) 

Schulrat:  Wissen  Sie  vielleicht  zufallig,  was  Goethes  Hauptwerk 
war? 

Goethe  fstotz):  No,  die  Farwelehr'!  (Gelachter.)  Was  is  denn  da 
zu  lache? 

Schulrat:  Da  ist  allerdings  nur  zu  weinen. 

Professor:  Wann  entstand  der  Tancred?  (Goethe  weiB  es  nicht, 
dreht  sich  fragend  zu  FleiBig  urn.) 

FleiBig  (einsagend):  1800. 

Goethe  (befreit):  1800. 

Professor:  Ein  Wunder,  daB  Sie  einmal  etwas  wissen. 
(Goethe  blickt  dankbar  auf  FleiBig.) 

Professor:  Welche  Werke  entstanden  noch  in  diesem  Jahr? 

Goethe:  No,  e  paar  Gedichtcher,  denk*  ich. 

Professor:  Das  ist  keine  Antwort.  Gedichte  fallen  in  jedes  Jahr. 
Aber  im  Jahr  1800  entstand  vor  allem  Pala  —  Pala  — 

Goethe  (wendet  sich  wieder  fragend'  zu  FleiBig). 

FleiBig  (einsagend):  Palaophron  und  Neoterpe. 

Goethe  (will  erfreut  nachsprechen):  Palaophron  — 

Professor  (scharf):  Genugl  Ich  habe  jedes  Wort  gehort.  Meine 
Ohren  reichen  bis  in  die  letzte  Bank.    Was  waren  Goethes  letzte  Worte? 

Goethe:  No,  Milch  hat  er  gewollt. 

Professor:  W — a — as?    Ich  verstehe  immer  Milch. 

Goethe:  No  ja,  Milch  in  sein  Kaffee,  weil  er  ihm  zu  dunkel  war. 
Und  da  hat  er  gesacht:  mehr  licht! 

Professor  (entsetzt):  Es  zeigt  die  auBerste  Niedrigkeit  der  Ge- 
sinnung,  annehmen  zu  wollen,  daB  ein  Genius  wie  Goethe  sich  ein  so 
triviales  Thema  fur  seine  letzten  Worte,  hatte  wahlen  konnen! 

Schulrat:  Wissen  Sie  vielleicht  zufallig,  wer  die  Frau  von  Stein 
war? 

Goethe:  No,  soi  Geliebte. 

Professor  (erhebt  sich):  Derartige  Ausdrticke  sind  an  einerStaats- 
anstalt  absolut  unstatthaft.  Der  Dichterheros  schatzte  Frau  von  Stein 
viel  zu  hoch,  als  daB  er  sie  zu  seiner  Geliebten  erniedrigt  hatte. 
Lachen  Sie  nicht,  Sie  frecher  Burschel  Warum  loste  Goethe  sein 
Verlobnis  mit  Lili? 

Goethe  (unwillig):  Das  kann  ich  doch  net  sache.  Das,  war'  doch 
indiskret. 

Schulrat:  Diskretion  ist  allerdings  die  Haupteigenschaft*  die  Sie 
in  bezug  auf  Goethe  entwickeln. 

(FleiBig  meckert  Goethe  sieht  ihn  strafend  an.) 

Professor:  Wissen  Sie  wenigstens,  warum  er  die  Beziehungen  zu 
Friederike  abbrach? 

Goethe  (zornig):  Jaf  das  weiB  ich  schon,  aber  das  geht  doch 
niemande  was  anf 

Professor:  Was  behaupten  S!e?  Goethe?  Beziehungen  zur  Blume 
von   Sesenheim,    1770 — 72,    gingen    die   Wissenschaft   nichts  an? 

Goethe:  Noi,  das  gent  niemande  was  an. 

560 


Schulrat:  Wisscn  Sie  vielletcht,  wer  der  Herr  dort  ist?  (Zeigt  auf 
die  Reproduktion  des  wiener  Goethedenkmals.) 

Goethe  (ahnungslos):  Noi,  das  weiB  ich  net. 

Der  sdchsische  Bei&itzer  (der  bisher  ganz  stupid  dagesessen  ist, 
mtt  tiefer  BaBsiimme):  Also  jetz'  weifi  des  blede  Luder  nich  amal, 
daB  das  den  Gathe  vorstelltl 

Goethe:  Was,  des  soil  der  Goethe  soi?  fmit  der  Faust  auf  den 
Professorentisch  schlagend):  Jetzt  werd  mersch  awwer  zu  dummf 
Erscht  frache  Se  mich  Sache,  die  koi  Mensch  wisse  kann,  und  die 
ganz  wurscht  sinn,  nachher  erzahle  Se  mir'n  Blddsinn  iibern  Tasso, 
dann  mache  Se  mer  de  Farwelehr'  schlecht,  dann  wolle  Se  iwwer  die 
Weiber  Sache  wisse  (Professor  will  remonstrieren),  die  Ihne  en  Dreck 
angehn,  un  jetz'  wolle  Se  mer  gar  den  Toppsitzer  da  als  Goethe  uff- 
schwatzel  Da  mufi  ich  schon  de  Gotz  zitiere:  Ihr  konnt  mich  alle 
mitennanna  . . .  (Will  wiitend  ab). 

Professor:  Halt!  Jetzt  sollen  Sie  Zeuge  Ihrer  Beschamung  sein! 
(Tempo  von  jetzt  ab  sehr  rapid) :  FleiBig !  Stehen  Sie  auf !  So 
stehen  Sie  doch  auf  I 

FleiBig:  Ich  stehe  doch  schon! 

Professor:  Wann  verliefi  Goethe  Rom? 

FleiBig:  22.  April   1788, 

Professor:  Welche  Orte  beruhrte  er  noch  in  diesem  Jahr? 

FleiBig:  Pempelfort,  Minister,  Stichroda* 

Professor:  Wann  wurde  Eckermann  geboren? 

FleiBig:   14.   November   1790. 

Professor:  Was  schrieb  Goethe  im  Friihling  dieses  Jahres? 

FleiBig:  Urpflanze,  Amyntas,   der   Sanger. 

Professor  (immer  erfreuter):  Was  iibernahm  er  in  diesem  Jahre? 

FleiBig:  Die  Oberaufsicht  iiber  die  Landesanstalten. 

Professor:   Fur? 

FleiBig:  Kunst  und  Topographic 

Professor:  Wie  hieB  Goethes  SchwerUr? 

FleiBig:  Cornelia. 

Professor:  Geboren? 

FleiBig:  1765. 

Professor:  Gestorben? 

FleiBig:  1814. 

Professor  (ist  in  freudiger  Erregung  ganz  aufgesprungen):  Ver- 
heiratet  an? 

FleiBig:  Schlosser. 

Professor:  Geboren? 

FleiBig:  1754. 

Professor:  Gestorben? 

FleiBig:  1829. 

Professor:  Kinder? 

FleiBig:  Franz,  Georges,  Marie,  Theophil. 
Professor:      FleiBig: 
Geboren? 
Gestorben? 
Wo? 


(Gleichzeitig  im 
raschesten  Tempo) 


Wann? 
Wie  oft? 

Warum? 

Wo? 

Mit  wem? 

Erkrankt? 

Genesen? 

Woran? 

(Das  Kollegium  gibt  Zeichen  der  hochsten  Zufrtedenheit  Goethe  hat 

erst  unwillig  und  erstaunt,  dann  immer  vergniigter  zugehort;  am  SchluB 

schiittelt  er  sich  vor  Lachen.) 

561 


1780. 

1824. 

In  Magdeburg. 

November. 

Dreimal. 

Wegen  Herder. 

In  den  „Horen" 

Mit  Schiller. 

Am  vierzehnten. 

Am  neunten. 

An  Darmverschlingung. 


Professor:  Der  Mensch  lacht  noch  fiber  seine  Blamagef  (Zu 
Goethe):  Zur  Strafe  fiir  Ibre  Unwissenheit  diirfen  Sie  an  der  Feier 
anlafilich  Goethes   lOOsten  Todestag ... 

Goethe:  Hundert  Jahr  is  das  scbo  her!  (Nachdenklich)  Noi,  wie 
die  Zeit  vergehtl 

Professor:  ....  nicht  teilnehmen.  Sie  haben  bei  einer  deutscben 
Goethe-Feier  nichts  zu  suchen! 

(Vorhang) 


Der  Richter  Kefiner  von  oabrieie  Tergit 

f)  er    Richter   Kefiner,    Vorsitzender,    viel   angegriffener  Vor- 

sitzender  im  Sklarekprozefi,  ist  das  Gegenteil  eines  typi- 
schen  preufiischen  Richters.  Schon  das  Aufierel  Er  ist  mittel- 
grofi,  schmal,  und  von  einer  unauffalligen  Eleganz.  Sehr  dun- 
kel,  schwarz  von  Haaren,  Augen  und  Hautfarbe,  hat  eine 
grofie  Nase,  ein  mageres,  von  sehr  vielen  Linien  zerfurchtes 
Intellektuellengesicht.  Man  konnte  ihn  fiir  einen  Franzosen 
halten.     Aber  er  ist  ein  berliner  Kind. 

Und  atich  die  ubrige  Personlichkeit,  wie  stark  unterschie- 
den,  wie  auffallend  unter  der  bewuBten  Unauffalligkeit  der 
meisten  Richter!  Ich  erinnere  mich,  wie  Sling,  als  er  noch 
lebte,  oft  durch  Moabit  gewandert  ist,  und  in  keinemSaal  war 
etwas  fiir  den  Journalisten  zu  finden.  Oberall  war  ein  kleiner 
Diebstahl,  eine  iibliche  Hehlerei,  iiber  die  er  schon  tausendmal 
geschrieben  hatte,  wobei  hinzukam,  daB  alk  wirkten,  als 
kamen  sie  aus  der  Abteilung  Normalmensch.  Der  Angeklagte, 
der  Vorsitzende,  der  Anklager,  niemand  sagte  einen  Satz,  den 
nicht  auch  hundert  andre  Angeklagte,  hundert  andre  Richter, 
hundert  andre  Staats-  oder  Amtsanwalte  hatten  sagen  konnen. 
„Wissen  Sie  was",  sagte  dann  Sling,  „gehen  wir  zu  Fritze." 
„Fritze"  war  Amtsgerichtsrat  Fritz  Refiner  und  fiir  den  Jour- 
nalisten Sling  war  er  die  ultima  ratio,  denn  bei  ihm  bekam 
jede  Verhandlung  ein  Gesicht,  wurde  jeder  Angeklagte  ori- 
ginell,  geschah  etwas,  war  wirkliches  Leben,  nicht  die  Ode 
der  Amtsstube,  in  der  es  nur  zufallig  urn  Menschenschicksale 
und  nicht  urn  Strafienverlegung  ging. 

Kefiner  ist  Berliner,  schlagfertig,  witzig,  geistvoll  und  un- 
gewohnlich  weltkundig.  Sling  sagte  von  ihm,  aus  seinen  Sar- 
kasmen  spiire  man  den  Hauch  der  groBen  Welt.  Er  ist  nicht 
humorvoll,  aber  witzig.  Er  ist  nicht  breit,  aber  spitz.  Die 
Pragung  einer  schlagkraftigen  und  schlagfertig  en  Sentenz,  diese 
typische  berliner  Begabung  ist  seine  Starke.  Eine  davon  war: 
„Geschafte  per  Du  sind  Geschafte  perdu".  Oder:  in  einem 
Prozefi,  wo  zwei  merkwiirdige  Leute  sich  durch  eine  Frau  um 
zweihunderttausend  Mark  betrogen  fiihlten,  sagte  er  das  wirk- 
lich  klassische  Wort:  „Wo  die  Liebe  anfangt,  hort  die  Ruck- 
zahlung  auf",  wogegen  sich  der  junge  Staatsanwalt  ereiferte: 
„Auch  durch  die  Liebe  wird  der  Tatbestand  des  Betruges  nicht 
aufgehoben  \    Was  ihm  gar  nichts  niitzte.    Kefiner  sprach  frei. 

Wie  angenehm  benahm  er  sich  immer  in  Prpzessen  wegen 
aller  menschlichen  Vergehen,  so  Bigamie.  „Warum  haben  Sie 
sich  denn  blofi  damals  nicht  scheiden  Lassen?"  fragte  er  einen 

562 


Bigamisten,  Der  antwortete:  „Ach,  durch  den  Krieg  ist  man 
xnit  dem  Kopf  vollkommen  heruntergekommeiL"  Und  Kefiner: 
„Aber  trot zd em  trostet  man  sich  doch  nicht  gleich  mit  einer 
rweiten  Frau,  und  keinesfalls,  indem  man  sie  heiratet."  Und 
dann  gab  er  ihm  die  Mindeststrafe  von  sechs  Monaten  Ge- 
fangnis  und  Bewahrungsfrist,  so  da3  wieder  alles  gut  in  Ord- 
nung  kommen  konnte. 

Dabei  war  er  nie  einer  von  den  Richtern,  die  Witze  auf 
Kosten  des  Angeklagten  fur  das  Publikum  machen.  Aber  er 
kannte  das  Leben,  unterwarf  es  nicht  dem  Formelkram,  nahm 
Dinge  nicht  wichtig,  die  unwichtig  sind,  war  den  kleinen  Die- 
ben  geneigt  und  keinesfalls  dafiir,  sie  zu  hangen.  Er  hat  aber 
auch  ein  Gefiihl  fur  die  Abgninde  des  Verstehens.  Er  fuhlt, 
wichtigste  Sache  fiir  einen  Richter,  wie  schwer  das  Verstehen 
zwischen  Mensch  und  Mensch  ist,  schon  im  Grobsten,  wie 
schwer  zu  wissen,  was  ein  Mensch  ausdriicken  will,  wenn  er 
etwas  sagt. 

Dem  deutschen  Richter  wird  vorgeworfen,  daB  er  eng  sei, 
lebensfremd,  keine  Personlichkeit.  KeOner  ist  nun  einmal  ein 
Beispiel  fiir  das  Gegenteil.  Seine  Weltkenntnis  ist  umfassend 
und  seine  Personlichkeit  scharf  gepragt,  Wie  sehr  dieses  hochste 
Gliick  der  Erdenkinder  ein  Fehler  bei  einem  Richter  sein 
kann,  sieht  man  jetzt  im  SklarekprozeO.  Denn  plotzlich  im 
SklarekprozeO  ist  alles  anders.  Plotzlich  wurde  aus  diesem  ge- 
scheiten  Mann,  der  fiir  jeden  Gaunerhumor  Verstandnis  hatte, 
aus  einem  nuchternen  berliner  Kind  ein  Inquisitor,  ein  so  boser 
Inquisitor.  Fassungslos  steht  vor  dieser  Verhandlungsfiihrung, 
wer  Kefiner  sonst  gekannt  hat.  Er  kann  im  SklarekprozeO  alle 
nicht  leiden,  die  Angeklagten  nicht  und  die  Zeugen  auch  nicht 
und  den  ganzen  Prozefl  vor  allem  nicht.  Es  ist  ihm  alles  wider- 
lich.  Sie  sind  ihm  alle  zu  dumm.  Aber  das  ist  ja  ein  unmog- 
licher  Standpunkt  fur  einen  Richter.  Ein  Richter,  der  weniger 
Personlichkeit  ware,  mehr  Verwaltungsbeamter,  konnte  genau 
so  fiihlen.  Aber  erstens  hatte  er  weniger  Gefuhle,  und  merken 
wurde  man  sie  iiberhaupt  nicht.  Hier  im  Sklarekprozefi  ware 
weniger  mehr.  So  stark  darf  nie  und  nirgends  die  Person  des 
Richters  im  Vordergrund  stehen.  Hier  kreuzt  sich  dauernd 
das  Prinzip  des  Rechts,  das  der  objektiven  Wahrheitsfindung 
dienen  soil,  mit  einer  Personlichkeit  von  hochster  Subjektivi- 
tat  Er  hat  demutig  die  Wahrheit  zu  suchen,  aber  mit  des 
ganzen  Kraft  seines  Temperaments  nimmt  er  immerzu  Stellung. 
Seine  kleinen  Schnoddrigkeiten,  die  so  urberlinisch  sind,  wir- 
ken  in  den  kurzen  Zweistundenprozessen  erfrischend,  tragen 
zur  Vermenschlichung  der  Atmosphare  bei.  Beim  Sklarek- 
prozeB aber  klingt  jede  kleine  Nuance,  jede  fallengelassene 
Nebenbeibemerkung  wie  durchs  Megaphon  gesprochen.  Nichts 
ist  in  dieser  politisch  vergifteten  Atmosphare  harmlos,  alles 
wird  vergroBert,  erweitert  und  in  andre  Dimensionen  trans- 
poniert. 

Man  weiB,  dafl  er  wegen  einer  solchen  Bemerkung  von  der 
abersten  Behorde  gerugt  wurde;  wegen  der  Bemerkung,  die 
er  in  einer  Sitzung  iiber  Brolat  fallen  lieB:  ftNa,  ich  kann  ihn  ja 
nicht  absetzen".    Das  ist  seine  Ansicht.   Und  wenn  es  tausend- 

563 


mal  seine  Ansicht  istf  er  durfte  sie  nicht  aussprechen,  seine 
Ansicht  nicht  in  den  Vordergrund  stellen,  Es  handelte  sich 
nicht  um  Meyer  oder  Lehmann,  sondern  um  eine  umstrittene 
Person  des  offentlichen  Lebens,  Wenn  irgendeiner,  dann  darf 
eben  der  Richter  nicht  urteilen,  bevor  er  alle  Umstande  aufs 
genaueste  gepriift  hat.  DaB  dieses  Vorurteil  gegen  Brolat  auch 
bei  dessen  Vernehmung  weiterzuspiiren  war,  ist  vielleicht  ein 
Zeichen  fiir  die  innere  Freiheit  des  Mannes  KeBner,  den  selbst 
eine  Vorgesetztenriige  in  seiner  Haltung  nicht  beirrt.  Aber 
derartiges  laut  werden  zu  lassen,  festzuhalten  an  einem  Vor- 
urteil, das  ist  zugleich  eine  unmogliche  Eigenschaft  von  einem 
Richter.  Dieser  Fall  Brolat  war  einer  von  vielen,  das  meiste 
viel  harmloser  natiirlich,  aber  dennoch  von  einer  Meinung  zeu- 
gend.  Willi  Sklarek  erklarte  neulich  wieder  einmal,  daB  das 
Lager  einen  viel  hohern  Wert  gehabt  habe  und  verschleudert 
worden  sei.  Das  ist  nun, mal  sein  Glaube  und  er  ist  Angeklag- 
ter  und  beharrt  auf  diesem  Glauben.  KeBner  erwiderte  in 
wegwerfendem  Ton  und  indem  er  sofort  auf  etwas  aiidres 
iiberging:  „Na  ja,  Sie  kommen  ja  nicht  davon  los,  von  Ihrem 
zehnfacnen  Wert  und  Ihrem  verschleuderten  Lager-  Bitte, 
Herr  Staatsanwalt . . ."  Brolat  sagte  bei  seiner  Vernehmung, 
er  habe  gleichsam  nur  als  Bote  ausstehende  Rechnungen  der 
Beamten  bezahlt.  KeBner  muBte  schlagf ertig  sein,  muBte  einen 
Witz  machen:  „Sie  sind  zwar  Verkehrsdirektor,  aber . .  /' 
Schallendes  Gelachter  im  Zuhorerraum.  In  einem  kleinen  Pro- 
zefl  hatte  das  anders  geklungen,  und  KeBner  hatte  es  auch 
anders  gesagt,  humorvoll  vielleicht,  jedenfalls  anders.  Hier 
aber  war  es  Hohn  und  Spott,  Hohn  und  Spott  ist  bose  bei 
einem,  der  sowieso  schon  die  Macht  hat.  Er  hat  gar  kein  Ver- 
standnis  fiir  die  Sklarcks,  gar  keins  fiir  die  niveaulose,  klein- 
biirgerliche,  schmierige,  in  jedem  Sinne  schmierige  Korruption, 
Amtsgerichtsrat  KeBner,  den  Sling  einen  der  feinsten  Kopfe 
von  Moabit  genannt  hat,  ist  eiserner  Besen  geworden.  Aber 
die  Verachtung  fiir  den  Gegenstand  dieses  Prozesses,  die  er 
vom  ersten  Tage  an  deutlich  kundgab,  bringt  ihn  der  Gefahr 
nahe,  daB  sein  Urteil  aussieht  wie  ein  Vorurteil  und  daB  seine 
Scharfe  die  Angeklagten  sympathischer  macht,  als  sie  es  ver- 
dienen. 


ArbeitsbeSChaffling  von  Bernhard  Citron 

T\  ie  Not  von  sechs  Millionen  Erwerbslosen,  das  Defizit  der 
offentlichen  Kassen  und  der  drohende  Zusammenbruch  der 
kapitalistischen  Wirtschaft  haben  den  Wunsch  nach  groB- 
ziigiger  Arbeitsbeschaffung  in  den  verschiedensten  politischen 
und  wirtschaf tlichen  Lagern  wach  werden  lassen.  Ober  die 
Wege,  die  zur  Erfiillung  dieses  berechtigten  Wunsches  einzu- 
schlagen  sind,  herrschen  je  nach  der  politischen  Gesinnung 
und  der  wirtschaftlichen  Lage,  in  der  sich  die  einzelnen  Pro- 
jektemacher  befinden,  verschiedene  Auffassungen.  Die  Rechts- 
parteien,  vor  allem  die  Nationalsozialisten,  rufen  nach  Autarkic 
weil  ihnen  die  Abschmirung  vom  Ausland  als  Erfiillung  poli- 
tischer    Forderungen    erscheint.      Ahnlichen    Gedankengangen 

564 


huldigt  aus  andern  Griinden  auch  ein  Tcil  dcr  Industrie,  zu 
desscn  Wortfiihrer  sich  kiirzlich  dcr  wandlungsfahige  President 
dcs  Statistischen  Reichsamts  Professor  Wagemann  gemacht 
hat.  Der  ubrige  Teil  der  Industrie  hat  sicli,  wie  die  Entschlie- 
fiungen  des  Handelspolitischen  Ausschusses  im  Reichsverband 
der  deutschen  Industrie  "beweisen,  mit  jenen  Autarkie-Planen 
nicht  identifizieren  konnen,  Anscheinend  g clang  es  der  Export- 
industrie,  noch  einmal  die  Oberhand  zu  gewinnen.  Fest  urn- 
rissene  Arbeitsbeschaffungsplane  hat  aber  die  Industrie  nicht 
aufzustellen  vermocht. 

Die  bisher  bekannt  gewordenen  Projekte  entstammen  teils 
privater  Initiative,  teils  den  Oberlegungen  der  Gewerkschaften. 
Eines  der  ersten  Arbeitsbeschaffungsprojekte,  der  sogenannte 
Lauterbach-Plan,  sieht  sein  Hauptziel  lediglich  in  der  Wieder- 
beschaftigung  von  Arbeitslosen,  Lauterbach  ist  der  Ansicht, 
daB  die  psychologischen  Vorteile,  die  aus  einer  Verringerung  der 
Arbeitslosigkeit  zu  erzielen  waren,  und  die  Anregung,  die  sich 
fur  die  Wirtschaf t  durch  denWiedereintritt  der  Arbeitslosen 
in  das  Erwerbsleben  bietet,  schon  allein  von  ungeheurem  Wert 
sein  wiirde.  Der  Verfasser  dieses  Planes  hat  sich  sogar  zu  der 
Behauptung  verstiegen,  daB  man  auch  Pyramiden  bauen  konnte, 
um  Arbeitsiose  zu  beschaftigen,  Bekanntlich  ist  es  eine  histo- 
rische  Entdeckung  der  jiingsten  Zeit(  daB  der  Bau  der  Pyra- 
miden eine  MaBnahme  der  Pharaonen  zur  Beseitigung  der  Ar- 
beitslosigkeit dargestellt  hat.  Lauterbach  und  mit  ihm  die 
Verfechter  einiger  andrer  Theorien  sind  also  der  Meinuhg, 
daB  es  nur  aul  die  Tatsache  der  Arbeitsleistung,  aber  nicht  au! 
den  erzielten  Effekt  dieser  Tatigkeit  ankomme. 

Eine  grundsatzlich  andre  Haltung  haben  die  Gewerk- 
schaften cingenommen,  Bei  ihnen  stehen  sich  zwei  Richtun- 
gen  g€geniiber(  die  Anhanger  des  sogenannten  W.T.B.-Plans 
(Woytinsky-Tarnow-Baade)  und  die  Gruppe  um  Aufhauser,  den 
Vorsitzenden  des  Afa-Bundes.  Beiden  Prbjekten  ist  aber  die, 
Forderung  gemeinsam,  daB  die  Arbeitsbeschaffung  nur  ren- 
tablen  Zwecken  dienen  diirfe.  Das  heiBt,  es  sollen  solche  Ar- 
beiten  verrichtet  werden,  die  entweder  positiven  Gewinn  brin- 
gen  oder  aber  volkswirtschaftliche  Schaden  verhtiten.  Woy- 
tinsky  rechnet  zum  Beispiel,  daB  der  jahrliche  Aufwand  fiir 
StraBenbau  nbrmalerweise  800  Millionen  Mark  betragt,  daB 
aber  fiir  das  Jahr  1932  in  den  offentlichen  Etats  nur  90  Mil- 
lionen Mark  hierfur  angesetzt  sind,  Es  ist  selbstverstandlich, 
daB  bei  einer  Vernachlassigung  der  notwendigen  Reparatur- 
arbeiten  auch  der  StraBenunterbau  leiden  mufi  und  somit  die 
diesjahrigen  ,,Einsparungen"  spaterhin  groBe  Aufwendungen 
erforderlich  machen  werden.  Ahnlich  verhalt  es  sich  mit  Ar- 
beiten  zur  Verhinderung  von  Hochwasserschaden.  Die  Mittel, 
die  durch  Errichtung  von  Staudammen  investiert  werden  miiB- 
ten,  konnen  sich  durch  die  Vermeidung  von  Hochwasserscha- 
den allmahlich  rentieren.  Der  fundamentale  Gegensatz  zwischen 
den  beiden  Gewerkschaftsrichtungen  beruht  darin,  daB  Woy- 
tinsky  sein  Arbeitsbeschaffungsprogramm  fast  beziehungslos  in 
das  herrschende  Wirtschaf tssystem  hineinstellen  will,  wahrend 
Aufhauser  eine  planwirtschaftliche  Umgestaitung  mit  dem  So- 

565 


zialismus  als  Endziel  vorschlagt.  Ein  Meinungsaustausch  fiber 
diese  grundsatzliche  Frage  wird  auf  dem  KrisenkongrcB  der 
Gcwcrkschaften  am  13.  April  stattfinden.  Die  beiden  wich- 
tigsten  Thesen  des  W.T,B,-Planes  (siehe  ,Arbeit\  Jahrgang  1932, 
Heft  3)  lauten: 

1,  Bei  der  gegenwartigen  Wirtschaf  tslage  Deutschlands  ist  dieAr- 
beitsbeschaffung  grofien  Umfanges  im  nationalen  Rahmen  ohne  Kre- 
ditausweitung  undenkbar, 

2.  Eine  Kreditausweitung  als  Grundlage  der  Arbcitsbeschaf fung 
ist  mir  insofern  zu  verantworten,  als  sie  eine  fiihlbare  Entlastung  des 
Arbeitsmarktes  und  eine  Belebung  der  Wirtschaft  obne  jede  In- 
flationsgefahr   verspricht. 

Es  wird  berechnet,  dafi  die  Einstellung  von  1  Million  Ar- 
beitsloser  in  den  ProduktionsprozeB  einen  Lohnaufwand  von 
1,5  Milliard  en  und  weitere  Kosten  in  Hohe  von  0,5  Milliarden 
Mark  erfordern  wird.  Davon  konnen  600  Millionen  Mark 
durcb  die  Ersparnisse  an  Arbeitslosenunterstiitzung  aufgebracbt 
werden.  100  Millionen  Mark  zablen  die  Wiederbeschaftigten 
als  Beitrag  zur  Arbeitslosenversicherung,  und  200  Millionen 
Mark  betragen  die  von  ibnen  nunmebr  aufzubringenden 
Steuern.  Daruber  hinaus  wird  nocb  auf  verschiedene  Vor- 
teile  hingewiesen:  Mehreinnahmen  aus  Verkehrsbetrieben,  Ge- 
winne  der  Reichsbahn  durch  Beforderung  yon  Baumateria- 
lien  sowie  Scbuldenabzablung  durch  die  wieder  erwerbstatig 
gewordenen  Arbeiter  und  die  mit  der  Durchfiihrung  der  Ar- 
beitsbeschaffung  betrauten  Unternehmer.  Indessen  bleibt  trotz 
dieser  anscheinend  so  reichlichen  Deckung  die  Frage  off  en, 
wie  der  Plan  tatsachlich  zu  finanzieren  ist,  Der  Reichswirt- 
schaftsrat,  dessen  moglichst  allgemein  gehaltenen  Vorschlage 
die  Verfasser  des  W.T.B.-Planes  als  Bestatigung  ihrer  Ansicht 
auffassen,  wtinscht  keinesf alls  in  einen  Gegensatz  zur  bisherigen 
Reichsbankpolitik  zu  tretenu  Damit  wiirde  aber  wohl  das 
ganze  Finanzierungsprogramm  in  seiner  gegenwartigen  Form 
hinfallig  werden.  Woytinsky  will  eine  Anleibe  aufnehmen,  die 
bis  zur  endgultigen  Plazierung  von  den  Banken  lombardiert 
werden  soil.  Dieser  „Anleihe"-Gedanke  ist  selbst  eine  Anleihe, 
die  Woytinsky  bei  Aufhauser  und  dessen  Freunden  aufgenom- 
men  hat.  Der  W.T.B.-Plan  nimmt  es  mit  der  Durchfiihrung  der 
Finanzierung  uberhaupt  nicht  sehr  genau:  „Statt  ,Anleihen* 
konnte  ich  ,Kredite*  oder  JCrcditausweitung'  sagen.  Das  eine 
Wort  bedeutet  so  viel  wie  das  andere.  Die  jiingste  offentliche 
Diskussion  hat  aber  gezeigt,  wie  wichtig  es  ist,  den  Begriff 
,Kreditausweitung*  zu  prazisieren,  um  MiBverstandnisse  zu  ver- 
meiden".  Die  MiBverstandnisse  beruhen  in  der  Gefahr,  fur 
einen  Inflationisten  gehalten  zu  werden.  Man  kann  zu  diesem 
Vorwurf  verhaltnismaBig  leicht  gelangen:  erstens  dann,  wenn 
die  Kreditausweitung  selbst  bereits  inflationistische  Wirkun- 
gen  zeitigt  und  zweitens,  wenn  der  erste  Versuch  zur  Arbeits- 
beschaffung  keine  wirkliche  Belebung  der  Wirtschaft  hervor- 
ruft,  das  heiBt,  wenn  das  Experiment  noch  einmal  wiederholt 
werden  mfiBte.  Die  Gruppe  Aufhauser  plant  eine  konkrete 
Form  der  Anleihe,  die  auf  Grund  ihres  Pramiencharakters  in 
weiten  Kreisen  des  Volkes  untergebracht  werden  konnte.  Viel- 
leicht    ware    es    auch    moglich,    eine    solche,    mit  besondern 

566 


Sicherhciten  versehene  Anlcihc  wahrend  des  Fortschreitens  dcr 
Arbeitsbeschaffung  in  kleinen  Serien  zu  emittieren*  Greift  man 
aber  —  wic  Woytinsky  vorschlagt  —  vorerst  nur  auf  die  Ban- 
ken  respektive  die  Reichsbank  zuriick,  so  konnten  lediglich 
Handelswechsel  der  mit  der  Durchfuhrung  der  Arbeiten  betrau- 
ten  Firmen  diskontiert  werden,  wodurch  die  zentrale  Finan-^ 
zierung,  vielleicht  sogar  die  zentrale  Kontrolle  erschwert  wird. 
Aber  auch  Woytinsky  stellt  die  planmaBige  —  nicht  planwirt- 
schaftliche  —  Arbeitsbeschaffung  in  den  Vordergrund.  Ledig- 
lich neue  Kreditmoglichkeiten  zu  schaffen,  fiihrt,  wie  die  Grim- 
dung  der  Finance  Reconstruction  Corporation  in  den  U.S.A. 
beweist,  noch  langst  nicht  zu  neuen  Arbeitsmoglichkeiten  und 
zur  Ankurbelung  der  Wirtschaft.  Die  gegenwartig  sehr  iliis- 
sige  Lage  des  deutschen  Diskontmarktes  bringt  der  Wirtschaft 
nicht  die  geringste  Anregung. 

Im  Verlauf  einer  Unterredung  mit  Herrn  Woytinsky  warf 
ich  die  Frage  auf,  ob  der  W.T.B.-Plan  in  irgend  einer  Form  die 
Sanierungen  und  Subventionen,  die  der  Privatwirtschaft  ge~ 
wahrt  worden  sind,  erfassen  wolle.  Diese  Frage  wurde  ver- 
neint.  Die  Indifferenz  gegenuber  alien  bisherigen  Verbindun- 
gen  und  Verbindlichkeiten  zwischen  Staat  und  Wirtschaft  ist 
aber  der  Kardinalfehler  jenes  Planes.  (Unbestritten  fallt  den 
Verfassern  das  hohe  Verdienst  zu,  zum  ersten  Male  die  Ar~ 
beitsbeschaffungsfrage  wirklich  durchdacht  und  seine  Losung 
zielbewuBt  angepackt  zu  haben.)  Wenn  das  System  nicht  ge- 
andert  wird,  muB  aber  auch  der  schonste  Arbeitsbeschaffungs- 
plan  fruchtlos  bleiben,  Aufhauser  legt  im  Gegensatz  zu  Woy- 
tinsky grade  das  groBte  Gewicht  auf  die  Anderung  des  Sy- 
stems —  kurz  gesagt  auf  die  Sozialisierung.  Er  wunscht,  daft 
Subventionen  nicht  a  fonds  perdu  gegeben  sondern  in  Be- 
teiligungen  umgewandelt  werden  sollen,  nachdem  bei  den  be- 
treffenden  Unternehmungen  erst  eine  Herabsetzung  des  Kapi- 
tals  vorgenommen  worden  ist.  In  den  meisten  Fallen,  wo 
Schulden  an  den  Staat  als  Beteiligungen  stabiliert  werden, 
wird  uber  sozialistische  Raubwirtschaft  geklagt  —  so  geschehen 
zum  Beispiel  im  Falle  der  Sanierungsversuche  fiir  die  Ober- 
schlesischen  Hiittenwerke.  Aber  dieser  Vorwurf  schreckt  nicht. 
einmal  mehr  tmsre  konservative  Regierung.  Aufhauser  er- 
hebt  die  Forderung,  die  monopolisierten  Grundstoffindustrieen 
in  die  Hand  des  Staates  zu  tiberfuhrea.  Er  erwahnt  Kohle, 
Eisen,  Zement  und  Diingemittel.  Wahrend  es  in  der  Kaliindu- 
strie  noch  machtige  Konzerne  gibt,  die  nach  dem  Alleinbesitz. 
des  Kalimonopols  streben,  sind  die  drei  andern  Grundstoff- 
industrieen ohne  staatliche  Hilfe.  iiberhaupt  nicht  mehr  le~ 
bensfahig.  Derartige  Monopole  eignen  sich  aber  meines  Erach- 
tens  vorzuglich  zur  Deckung  von  Arbeit sbes chaff unganleihen,. 
Auch  auf  dem  Hohe  punk  t  der  Inflation  schenkte  man  einem 
Blatt  Papier,  auf  dem  nicht  1  Milliarde  oder  1  Billion  sondern 
1  Dollar  Goldanleihe  zu  lesen  war,  wieder  Vextrauen.  Warum 
also  sollte  nicht  heute  eine  Pramien-Monopolanleihe  volkstiim- 
lich  werden  konnen?  Die  Verpfandung  der  staatlichen  Mono- 
pole  verleiht  der  Anleihe  Sicherheit,  und  moglichst  kurz,  auf- 
einander  folgende  Gewinnauslosungen  machen  den  Ankauf  be- 
sonders  reizvoll.     Eine  weitere  Voraussetzung  ist  gute  Kurs- 

567 


pfiege,  so  daB  man  bei  wirksamer  Propaganda  mit  einem  recht 
erfreulichen  Absatz  rechnen'  konnte. 

Die  Organisation  dcr  Arbeitsbeschaffung  erfordert  lang- 
fristige  Firianzierung  und  planwirtschaitlichen  Ncubau  unsres 
Wirtschaftssystems.  Die  Stabilitat  der  Wahrung  zu  opfern, 
ist  ein  kuhnes  und  gewagtes  Spiel;  sie  nutzlos  zu  opfern,  ware 
eine  wirtschaftliche  Katastrophe. 


FrfihlingSheil!  von  Walter  Mehring 

Mun  stromt  die  Scholle  Erdgeruch,  Und  harsch  und  rauh 

"    Mobilisiert  April  zwei  Fruhlingssturme  — 

Der  Auslandsdeutsche  Storch  besetzt  die  Turme  — 

Und  Pirol,  Amsel,  Drossel  schlagt  im  Gau: 

Wahlthitler! 

Wahlthitler! 

Wahlthitler! 

Weithin  deckt  sich  mit  Griin  der  Aufmarschplan  — 
Gen  West  und  Ost  steht  strammer  Eichwald  Wache  — 
Veilchen!   sei   deutsch!    Orientgewachsen  Rachel 
Wolln  Sie   jefalligst   Haltung  annehm,   Sie  Schwan! 
Fruhling  erwache! 
Frfihling  erwache! 

Auf  mein  Kommando  horen  Wald  und  Fluren! 
Schlagt  dort  dem  Judenpack  die  Schadel  ein! 
Der  Acker  prangt  von  Fahnen  und  Monturen! 
Und  Deutschlands  Zukunft  wird  gewonnen  sein! 
Autarkisch  wachse  Roggenbrot 
Blutig  gefarbt  vom  MorgenroU 
Sturmt  die  Natur  im  gleichen  Schritt, 
DaB  von  der  Erde  schwindet, 
Was  volkisch  nicht   empfindet  — 
Macht  endlich  SchluB  damit! 

Wenn  es  der  Osaf  fordert,  daB  es  lenze, 

Pflanzt  jedes  Rosenbeet  im  Hakenkreuzl 

LaBt  keine  Sonne  fiber  Deutschlands  Grenze! 

Vernichtung  rings!    Zum  Heil  der  Mannen  Teuts! 

Das  Erdreich  dftngt  mit  fremdem  Blut! 

Wachst  auch  kein  Halm  —  wachst  doch  der  Mut! 

Durch  Brache  auf  gen  Ost  zum  Ritt! 

Gott  schenkt  nicht  FrUhlingsgaben, 

DaB  sich  Marxisten  laben! 

Macht  endlich  SchluB  damit! 

Fragt  nicht,  wer  diesen  Kampf  gewann! 
Wenn  langst  verhaucht  das  Heilgekeuch, 
Rauscht  Wald  noch  auf.   Ihr  geht  voran, 
Baum,  welsch  und  deutsch,  setzt  Fruchte  an 
Auch  ohne  Euchl    Auch  ohne  Euch! 
Hauft  fur  die  Zukunft  Stein  auf  Stein 
Fur  Deutschlands  Zuchthausmauern! 
Saat  senkt  ins  dritte  Reich  sich  ein 
Und  wird  es  uberdauernf 

568 


Bemerkungen 

Zu  einem  sechzlgsten  Geburtstag 

Lieber  Roda  Roda, 
daB  du  der  Meister  der  deut- 
schen  Anekdote  bist,  weiBt  du, 
und  das  wissen  auch  deine  Gra- 
tulanten,  und  sic  werden  dir  diese 
Erkenntnis  mit  schonen  Blumchen 
auf  den  Geburtstagstisch  legen,  Ich 
mochte  dir  einen  andern  Straufi 
binden. 

Ich   gratuliere   dir    schon. 

Und  ich  bedanke  mich  bei  dir, 
denn  ich  habe  sehr  viel  bei  dir 
gelernt.  Ich  schame  mich  nicht, 
das  zu  sagen;  gutes  Deutsch 
darf  man  bei  j  edermann  lernen. 
Ich  habe  es  —  unter  anderm  — 
-auch  bei   dir   gelernt. 

Und  dann,  nach  langen  Jah- 
ren,  als  ich  dich  schon  langst 
aus  deinen  Biichern  kannte,  da 
habe  ich  dich  auch  kennen  ge- 
lernt,  wie  du  da  bist,  und  da 
habe  ich  etwas  gemerkt,  und 
aus  dem  Grunde  schatze  ich  dich 
hoch   ein, 

Du  hast  viele  Male  etwas  ge- 
schildert,  was  es  nicht  mehr  gibt: 
das  alte  Oesterreich,  dieses 
bunte  Tuch  voller  Flicken.  Du 
bist  Soldat  gewesen;  diese  Zeit 
liegt  hinter  dir.  Die  Tage  dei- 
ner  aktuellen  Tagesfrechheit  lie- 
gen  hinter  dir  —  und  du  weiBt 
das.  Du  hangst  nicht  an  der 
alten  Zeit.  Du  weifit,  wie  Iitera- 
rischer  Ruhm  kommt  und  geht, 
und  du  machst  dir  nichts  draus. 
Du  uberschatzt  das  nicht.  Du 
bist    beinah    weise. 

Altere  Leute  pflegen  gern  die 
Zeit  ihrer  mannlichen  Kraft  mit 
dem  Zeitalter  der  Vollkommen- 
heit  zu  identifizieren  (,.Zu  mei- 
ner  Zeit...!"),  und  sie  machen 
dann  jener  Epoche,  in  der  sie 
die  Magenbeschwerden  bekom- 
men,  ein  saures  Gesicht.  Aber 
sie  glauben  immer,  es  liege  an 
der  Epoche  und  nicht  an  ihrem 
Magen.  Das  hast  du  nie  getan 
—  und  auch  das  habe  ich  von 
dir  gelernt,  wie  man  auf  anstan- 
dige  Art  alt  werden  kann,  ohne 
<eine  komische  Figur  abzugeben. 

Und  so  lafi  mich  denn  auf 
deinen     Geburtstagstisch,     gUich 


neben  den  Dank  vom  Hause 
Habsburg,  eine  kleine  Geschichte 
legen.  Du  wirst  sie  wahrschein- 
lich  kennen,  weil  du  alle  Ge- 
schichten   kennst,    aber   laB   mich. 

Auf  einer  wiener  Opernredoute 
gingen  zwei  angeschwipste  Ko- 
kotten  auf  die  Damentoilette,  um 
sich  die  Hande  zu  waschen. 
Und  wahrend  sie  sich  da  zu- 
rechtmachten  und  puderten  und 
schminkten,  erzahlten  sie  sich 
reichlich  unanstandige  Dinge 
iiber  ihre  Liebhaber.  In  der 
Ecke  safi  still  und  bescheiden 
die  letzte  Frau.  Und  in  ihrem 
Obermut  wandte  sich  die  eine 
der  beiden  Damen  an  die  Alte 
und  sagte:  „Na,  Mutterl,  was 
sagst  du  denn  dazu?" 

Da  hob  diet  alte  Frau  den 
Kopf   und   sprach: 

—  ,tDu  mei.  Geliebt  hat  man 
in   die  achtziger  Johrl" 

MGeliebt"   hat   sie   nicht   gesagt. 

Siehst  du,  Roda,  und  weil  du 
ein  kluger  Mann  bist  und  nie 
zuriicksiehst,  sondern  immer  ins 
Leben  hinaus:  deshalb  gratuliere 
ich  dir  schon  und  wunsche  dir 
alles   Gute. 

Peter  Panter 

Heraufselzung  des  Wahlatters? 

\/on  den  Parteien  der  Mitte  war 
v  anger egt  worden,  das  Wahl- 
alter  von  21  auf  24  Jahre  her- 
aufzusetzen.  Die  Ursache  ist  er- 
sichtlich:  der       Radikalismus, 

rechts  mehr  noch  als  links,  wird 
meist  von  der  Jugend  getragen* 
und  gegen  ihn  sol  He  der  Schlag 
gehen.  Der  Anttag  hat  keine 
Mehrheit  gefunden  —  mit  Recht. 
DaB  das  Lebensalter  eines  Men- 
schen  kein  zureichender  Grund 
ist  fur  oder  gegen  die  Meinung, 
die  er  vertritt,  diirfte  eigentlich 
selbstverstandlich  sein.  Jugend- 
liche  Nazis  haben  nicht  deswegen 
Unrecht,  weil  sie  jung  sind,  son- 
dern weil  sie  Nazis  sind.  Im 
iibrigen  gibt  es  Ja  wohl  auch  alte 
SpieBer,  die  Hitler  nachlauf en.  Wer 
eine  revolutionar-sozialistische 

Meinung  verficht,  hat  Recht,  sei 
er  jung  oder  alt.  Nur  Vernunft 
kann  Grunde  geben,  nur  ein  Soil 
die    MaBstabe   liefern,    nicht     die 

569 


Tatsache,  wer  einer  ist.  Die 
kann  hochstens  die  Motive  auf- 
zeigen,  warum  jemand  zu  dieser 
oder  jener  Anschauung  gekom- 
men  ist.  AuBerdem:  wieviele,  an 
Jahren  jung,  sind  greisenhaft  alt, 
wieviel  Alte  jung.  Gehort  Kerr, 
bloB  weil  er  die  Sechzig  iiber- 
schritt,  zu  den  Alien?  Und  wie 
vergreist  beispielsweise  ist  Klaus 
Mann,  der  sich  so  gern  als  Ver- 
treter  der  Jugend  aufspielt,  Ubri^- 
gens  konnte  man  gradezu  eher 
die  Beschrankung  des  Wahlalters 
nach  oben  bin  fordern,  urn  die 
KompromiBpolitik,  die  greisen- 
haft  sanfte  Verteidigung  der  Re- 
publik  gegen  ihre  Feinde,  das 
heiBt  nur  gegen  die  von  recbts, 
abzuwehren.  Einige  Prominente 
auBerten  sich  in  einer  Montags- 
zeitung  iiber  diese  Frage  der  Er- 
hohung  des  Wahlalters,  darunter 
Heinrich  Mann  — :  er  ist  fur  die 
Heraufsetzung.  Wie  schade!  Hein- 
rich Mann,  der  stets  auf  der 
Seite  der  Jugend  war,  der  den 
Elan,  der  die  Unbedingtheit  — 
auch  die  querkopfige  —  jugend- 
lichen  Wollens  fast  zu  sehr  pries 
(so  noch  in  seinem  letzten  Ro- 
man „Die  grofie  Sache"),  ist  ge- 
gen die  Jugend,  Er,  der  in  sei- 
nen  herrlichen  Essays  radikal, 
namlich  bis  an  die  Wurzel  der 
Fragen  hinabreichend  schrieb,  ist 
gegen  den  Radikalismus.  Weil 
er  den  rechten  Radikalismus,  den 
Nationalsozialismus,  bekampft,  ist 
er  generell  gegen  den  Radikalis- 
mus. Und  weil  er  diesen  Radi- 
kalismus bei  der  Jugend  findet, 
ist  er  gegen  die  Jugend.  Aber 
wie  kann  man  einer  zufalligen 
aktuellen  politischen  Situation 
wegen  eine  Erkenntnis  umstofien? 
Nein,  so  kann  man  nicht  gegen 
den  Nationalsozialismus  kampfen, 
man  wurde  damit  nur  den  linken 
Radikalismus,  den  revolutiona- 
ren  Sozialismus,  schadigen,  und 
das  kann  Heinrich  Mann  nicht 
wollen.  Im  Gegenteil:  denn  nur 
dieser  kann  jenen  schlagen. 

Ernst  Hirschlatf 

Deutsch  far  Deutsche 

P  s  wurde  urn  dringende  Ver- 
"  bescheidung  der  Beschwerde 
ersucht ... 

fVolkischer  Beobachter' 

570 


Pflug,  der  Unschuldige 

VV7eil  er  das  Abiturientenexamen 
**  nicht  bestanden  hat,  erschoB 
sich  der  Schtiler  Josef  Adler  aus 
Friedenau,  (Hellmut  v.  Gerlach 
hat  sich  hier  vor  acht  Tagen  mit 
einer  Aufierung  des  Schuldirek- 
tors  befaBt.)  Die  Presse  griff  den 
Fall  auf,  Kerr  im  ,B.  TV  und  Pro- 
fessor Hildebrandt  in  der  ,Voss 
nahmen  sich  besonders  des  Jun- 
gen  gegen  seinen  Direktor  an. 
Pflug  und  die  Seinen  setzten  sich 
in  Rechtsblattern  zur  Wehr,  und 
immerhin  wurde  soviel  erreicht, 
daB  eine  Unteisuchung  schwebt. 

Der  Tatbestand  ist  kurz  der: 
Adler,  der,  nach  seinen  Abschieds- 
aufzeichnungen  zu  urteilen,  ein 
iiber durchschnittlich  begabter  jun- 
ger  Mensch  war,  ging  mit  einer 
Vier  in  der  Mathematik  ins  Ex- 
amen  und  fiel  durch,  weil  er  sich 
in  der  mundlichen  Priifung  noch 
eine  Vier  in  der  Geschichte  holte. 
DaB  er  in  Deutsch,  Franzosisch, 
EngHsch,  Erdkunde  und  Musik 
gut  hatte,  konnte  ihn  nicht  retten. 
Daraufhin  nahm  er  sich  das  Le- 
ben,  was  gewiB  nicht  der  richtige 
Ausweg  ist.  Der  deutschnationale 
Direktor  hielt  nun  in  der  Schul- 
aula,  auf  Drangen  der  Mutter  und 
gegen  den  letzten  Willen  des 
Verstorbenen,  eine  Leichenrede, 
in  der  er  die  Anstalt  von  jeder 
Schuld  reinzuwaschen  bemiiht 
war.  Mit  Recht  wurde  der  Kon- 
trast  zwischen  dieser  Rede  und 
einem  Empfehlungsschreiben  fest- 
gestellt,  das  Pflug  wenige  Tage 
vorher  dem  Jungen  mitgegeben 
hat.  In  diesem  wird  von  Adlers 
„praktischem  Sinn  und  Fahigkeit 
zu  organisieren"  gesprochen,  wah- 
rend  derselbe  Herr  ihm  in  der 
Leichenrede  netwas  Unstetes  und 
Gehetztes"  nachsagte.  Mit  ein- 
undzwanzig  Punkten  verteidigte 
sich  Pflug  gegen  Hildebrandt,  in 
einer  „Berichtigung",  der  die  ,Voss* 
loyalerweise  Raum  gab;  was  sie 
bis  auf  Kleinigkeiten  gar  nicht 
notig  hatte.  Konnte  Hildebrandt 
doch  nachweisen,  daB  der  von 
christlichen  Redensarten  uberlau- 
fende  Herr  es  mit  der  Wahrheit 
in  manchen  Punkten  nicht  allzu 
genau  genommen  hat. 


Was  uns  in  erster  Linie  hieran 
interessiert:  der  Fall  zeigt  ganz 
kraB  und  eindeutig  auf,  was  fur 
einen  Irrsinn  auch  heute  noch 
Schule  und  Examen  in  den  mei- 
sten  Fallen  darstellen.  Damit  dem 
berichtigungswiitigen  Pauker  die 
bequeme  Waffe  des  §  11  aus  der 
Hand  genommen  werde,  wollen 
wir  uns  nur  an  das  halten,  was 
eindeutig  feststeht.  Da  hat  es  also 
dieser  Junge  in  Deutsch,  Fran- 
zosisch,  Englisch,  Erdkunde  und 
Musik  zu  mehr  als  durchschnitt- 
lichen  Leistungen  gebracht,  sein 
Begabungsgebiet  durfte  damit  fur 
jeden  einsichtigen  Padagogen  ab- 
gegrenzt  sein.  Nein:  man  muB  den 
Jungen,  der  sich  mit  seinem  Ge- 
schichtslehrer,  sagen  wir,  nicht 
gut  stand,  auch  noch  in  der  Ge- 
schichte  rannehmen,  und  da  ging 
es  dann  munter  her.  Wer  das 
durchgemacht  hat,  der  wird  be- 
statigen,  daB  man  bei  einem  sol- 
chen  Dauerlauf  durch  die  Historie 
leicht  den  Atem  verliert,  noch  da- 
zu,  wenn  man  zweiundzwanzig 
Minuten  lang  dem  Trommelfeuer 
manchmal  speziellster  Fragen 
ausgesetzt  wird,  Adler  versagte 
und  fiel  durch.  War  das  notig? 
Der  Junge  pflegte  das  Tageblatt 
zu  lesen,  und  Herr  Pflug  ebenso 
wie  der  Geschichtslehrer  sagen 
von  sich,  sie  seien  „vaterlandisch 
und  christlich",  also  auf  gut 
deutsch  rechtsradikal.  Nach  alien 
Aiifierungen  des  Direktors,  und 
besonders  nach  seiner  peinlich  bi- 
gotten  Leichenrede  zu  urteilen, 
wird  sich  diese  Geschichtspriifung 
ganz  im  „vaterlandischen"  Sinne 
abgespielt  haben,  also  mit  mog- 
Uchst     viel    Schlachtendaten    und 


dem  ganzen  auflerlichen  Krims- 
krams  der  schon  nach  Verwesung 
stinkenden,  von  Treitschke  ge- 
nahrten   Geschichtsauffassung. 

Kurz  vor  seinem  Tode,  erst 
recht  aber  vor  dem  selbstgewahl- 
ten,  pflegt  keiner  die  Unwahrheit 
zu  sagen:  der  Schiiler  Adler 
schrieb,  er  habe  seinen  Lehrern 
nicht  viel  zu  verdanken,  und 
warnte  seinen  Freund:  „Gehe  um 
Gottes  willen  nicht  wieder  auf 
unsre  Schule",  Er  gab  also  der 
Schule  oder  vielmehr  dem  Schul- 
system  die  Schuld  an  seinem  Frei- 
tod.  Dafi  der  Vertreter  dieses 
Systems  sich  gegen  den  Vorwurf 
wehrt,  ist  sein  gutes  Recht.  Aber 
wie  macht  er  das?  Unter  der 
Maske  einer  aufdringlichen  Reli- 
giositat  walzt  er  die  Schuld  auf 
das  durch  den  friihen  Tod  des 
Vaters  notgedrungen  unruhige  Fa- 
milienleben  ab  (als  ob  ein  Fami- 
lienleben,  an  dem  der  Vater  teil- 
hat,  eo  ipso  harmonisch  verlau- 
fen  muBte);  der  Schiiler,  mit 
dem  er  erst  gut  stand,  habe 
ihm  spater  das  Vertrauen  ent- 
zogen;  „seine  eigenwillige  Art 
lehnte  fremde  Hilfe  ab".  Braucht 
es  noch  eines  weitern  Be- 
weises,  daB  der  Direktor 
Adler  gegeniiber  voreingenommen 
war?  Wenn  das  nicht  genugt, 
dann  wollen  wir  dea  Herrn  wei- 
ter  horen:  „Andre  Grunde  per- 
sonlicher  Art,  die  mir  bekannt 
sind  und  iiber  die  zu  sprechen  ich 
nicht  das  Recht  habe,  kamen  hin- 
zu",  namlich  zu  den  iibrigen 
Grtinden,  die  den  Jungen  in  den 
Tod  trieben.  Schones  Christentum, 
das  vor  Sextanern  solche  dunk- 
len    Andeutungen    von    sich    gibt. 


Der  neue  JACK  LONDON 


Meuterei  auf  der  Elsinore 


,,Diese  Geschichte  der  Kap-Horn-Umsegelung  der  , Elsinore'  ist 
ein  Musterbeispiel  eines  Londonschen  Romans  und  einervoli- 
endeten  Reportage,  ist  der  groSe  Schwanengesang  der  Segel- 
schiffahrt  und  ein  Gedicht  vom  Meer,  ein  Lied  von  der  Lieoe  und 
ein  Heldengesang  vom  Mann.  Ein  betcrend  schOnes  Bucn,  voM 
Salz.Sonneund  Wind,  voll  Mannestumund  Blut.ein  Buch,dasdie 
Gesamtausgabe  Londons  glanzend  rechtfertigt."    Kurt  MUnzer. 

Brosch.  M  2.70  /  Leinen  M  4.25  /  Unlversitas-Verlag,  Berlin 


^ 


571 


Wie  vertragt  sich  das  mit  der  so 
penetrant  plakatierten  Religio- 
sity? Professor  Hildebrandt  be- 
merkt  hierzu,  daft  alle  Mitschuler 
Adlers  diese  Aufierung  so  aufge- 
faftt  haben,  als  wollte  der  Pflug 
damit  sagen,  Adler  habe  „zu 
einem  seiner  Freunde  in  unerlaub- 
ten  Beziehungen  gestanden".  Daft 
dem  Herrn  Direktor  der  Gedanke 
an  solche  Beziehungen  ein  Greuel 
sein  mufite,  versteht  sich  —  der 
Schluft,  daft  seine  Haltung  dem 
Jungen  gegeniiber  dadurch  beein- 
flufit  wurde,  liegt  also  nahe,  Wer 
derartige  auch  noch  so  verklausu- 
lierte  Schmahungen  einem  jungen 
Menschen  ins  Grab  nachwirft,  hat 
seine  Unfahigkeit  zum  Padagogen 
enthullt.  Die  Geschichtsprufung 
bot  die  er'wiinschte  Gelegenheit, 
die  Antipathie  abzureagieren. 
Mag  Herr  Pflug  zehnmal  bestrei- 
tenf  sich  gegen  den  Sinn  jener 
Bestimmungen  vergangen  zu  ha- 
ben,  die  den  Unsinn  des  bisheri- 
gen  starren  Priifungssystems  mil- 
dern  sollen:  er  hat  nichts  getan, 
den  Jungen  seiner  Begabung  ge- 
maft  zu  prufen  und  ihm  das  zu 
ersparen,  was  ihm  nicht  lag. 
Daran  andert  auch  eine  noch  so 
salbungsvolle  Trauerrede  nichts, 
Herr  Pflug  hat  zu  verschwinden, 
die  Aufsichtsbehorde  sollte  ihm 
das  Schulhandwerk  legen.  Diese 
Sorte  „vaterlandischer  und  christ- 
licher"  Pauker  hat  nicht  das 
Recht,  durch  starres  Festhalten 
an  dem  Buchstaben  einer  Bestim- 
mung  ein  Menschenleben  zu  ver- 
nichten. 

Walther   Karsch 

Der  KSmpfer  Arthur  Schnltzler 
rjer  sanfte  Arthur  Schnitzler  — 
*-^  dieser  Lobsanger  des  milden 
Oesterreichertums  und  der  in  ihm 
liegenden  philosophischen  Werte 
—  hat  sein  ganzes  Leben  lang 
darum  kampfen  muss  en:  seinen 
Lobgesang  iiberhaupt  anstimmen 
zu  durfen.  Denn  die  klerikal- 
groftdeutsche  Reaktion,  die  auch 
vor  dem  Kriege  schon  das  grofte 
Wort  (freilich  kein  so  lautes  wie 
heute)  in  Oesterreich  zu  fiihren 
versuchte,  horte  stets  in  Schnitz- 
lers  Werk  das .  „Nicht-Bodenstan- 
dige"  hinein.  Im  Jahre  1903  hatte 

572 


die  nach  dem  altosterreichischen 
Lustspieldichter  Eduard  von 
Bauernfeld  benannte  Stiftung 
Schnitzler  fur  seinen  Einakter- 
Zyklus  „Lebendige  Stunden"  den 
Preis  verliehen.  Kuratoren  dieser 
Bauernfeld-Stiftung  waren  keine 
Geringern  als  der  bekannte  Schil- 
ler-Forscher  Jakob  Minor  und 
der  spatere  Burgtheater-Direktor 
Baron  Alfred  von  Berger.  Dar- 
aufhin  hatte  der  Parteiganger 
Liiegerst  der  christlichsoziale 
Ftihrer  Doktor  Pattai,  dieFreph- 
heit,  in  offner  Haussitzung  dem 
Unterrichtsminister  Hartl  die  fol- 
gende  Interpellation  auf  denTisch 
zu  legen: 

„Wie  rechtfertigt  das  k.  k.  Un- 
terrichtsministerium  die  Ver- 
leihung  des  Bauernfeld-Preises 
an  den  Schriftsteller  Arthur 
Schnitzler  fur  seinen  Einakter- 
Zyklus  .Lebendige  Stunden'?  Die 
ausdriickliche  Rangerhohung  eines 
Werkes,  das  bei  den  Auffuhrun- 
gen  nicht  einmal  fur  Oberflach- 
liche  den  Eindruck  eines  Dich- 
terwerkes  gemacht  hat,  muft  im 
Ausland  die  falsche  Vorstellung 
erwecken,  als  hatte  das  oster- 
reichische  Schrifttum  tatsachlich 
keine  bessern  Produkte  aufzuwei- 
sen.  Die  Meinung  des  Auslan- 
des  iiber  die  heimische  Literatur 
wird  aber  durch  das  Vorgehen 
des  Bauernfeld-Kuratoriums  auch 
noch  in  weiterer  Hinsicht  konse- 
quent  irregefiihrt,  da  die  Preise 
der  Stiftung  in  ganz  kurzer  Zeit 
einer  unverhaltnismaflig  grofien 
Zahl  von  jiidischen  Literaten  zu- 
gewiesen  wurden.  Unter  diesen 
Umstanden  muft  im  Ausland  die 
irrige  Anschauung  entstehen,  daft 
einerseits  die  deutsche  Literatur 
in  Oesterreich  fast  nur  von  Ju- 
den  geschrieben  wird,  andrerseits 
ihre.Qualitat  eine  niedrige  ist . . ." 

Der  Unterrichtsminister  des  Kai- 
sers parierte  diesen  Streich  mit 
den  historischen  Worten:  „Ich  bin 
nicht,  wie  die  Herren  Interpellan- 
ten  zu  glauben  scheinen,  in  mei- 
ner  Eigenschaft  als  Unterrichts- 
minister in  das  Kuratorium  der 
Bauernfeld-Stiftung  berufen  wor- 
den;  vielmehr  habe  ich  die  Ehre 
auf  Grund  des  Stiftungsbriefes 
demselben   arizugehoren.      Obwohl 


ich  mich  demnach  nicht  ver~ 
pflichtet  fiihle,  fur  meine  Hand- 
lungen  als  Privatmann  Rechen- 
schaft  zu  geben,  stehe  ich  doch 
nicht  an,  hier  offentlich  und  mit 
Nachdruck  zu  aufiern,  dafi  unter 
meiner  Tcilnahme  Gerechte  und 
Sunder,  Christen  und  Juden,  Aus- 
lander  und  Inlander  durch  Ehren- 
preise  ausgezeichnet  wurden,  in- 
dem  nach  dem  Worte  und  Geiste 
des  Stiftungsbriefes  hierbei  nicht 
der  Taufschein,  sondern  litera- 
rische  Leistungen  mafigebend 
waren." 

•  So  sprach  zur  Kaiserzeit  ein 
osterreichischer  Unterrichtsmini- 
ster.  Im  Jahre  1903.  Als  im 
Jahre  1920  der  Kampf  urn  den 
Reigen  losbrach,  da  hat  der  Kul- 
tusminister  der  Republik  den 
Dichter  Arthur  Schnitzler  vor  der 
volkischen  Haflflut  nicht  schiitzen 
konnen.  Schnitzler  litt  unter  den 
osterreichischenNachkriegszustan- 
dent  obwohl  er  scheinbar  heitere, 
j  a  spielerisch  scheinende  Stiicke 
schrieb,  mehr  als  mancher  Publi- 
zist,  der  die  Freiheit  taglich  im 
Munde  fuhrt,  Er  hatte  die  Huma- 
nitat  im  Herzen,  und  ihr  Schwin- 
den  aus  der  osterreichischen  Welt 
tat  ihm  unsaglich  weh.  Schon  in 
der  Vorkriegszeit  hatte  er  das  ge- 
nial hellsichtige  Schauspiel  , .Pro- 
fessor Bernhardt'  geschrieben: 
ein  humanerArzt  —  der  das  pri- 
vate Pech  hat,  Jude  zu  sein  — 
tritt  einem  Priester  entgegen,  der 
einen  in  euphorischen  Traumen 
liegenden  Totkranken  mit  dem 
Sakrament  aiifwecken  will;  unter 
der  Lawine  „Gotteslasterung" 
wird    die     soziale     Existenz     des 

Arztes    begraben.      Als    bei    der 


letzten  berliner  Auffuhrung  des 
..Professor  Bernhardt"  Felix  Hol- 
lander schrieb,  dies  seien  doch 
wohl  Vorkriegszustande,  diese  In- 
trige  der  Unduldsamkeit  habe  sich 
doch  langst  uberlebt,  da  hielt  Ar- 
thur Schnitzler  mich  auf  der  Strafle 
an  und  sagte  die  erschtitternden 
Worte:  „Teiien  Sie  Hollander 
mit,  daC  er  sich  irrt!  Es  ist  alles 
schiechter  geWorden  bei  uns!  Nur 
die  Preufien,  welche  die  immer- 
hin  duldsame  Zentrumspartei  in 
der  Regierung  sitzen  haben,  kon- 
nen   es    sich   nicht    vorstellen  . . ." 

Heinrich  Eduard  Jacob 

Moment  beim  Lesen 

lUf  anchmal,  o  gliicklicher  Augen- 
*"  blick,  bist  du  in  ein  Buch  so 
vertieft,  daB  du  in  ihm  versinkst 
—  du  bist  gar  nicht  mehr  da, 
Herz  und  Lunge  arbeiten,  dein 
Korper  verrichtet  gleichmafiig 
seine  innere  Fabrikarbeit,  —  du 
fuhlst  ihn  nicht.  Du  fuhlst  dich 
nicht.  Nichts  weiGt  du  von  der 
Welt  urn  dich  herum,  du  horst 
nichts,  du  siehst  nichts,  du  liest. 
Du  bist  im  Banne  eines  Buches. 
(So  mochte  man  gern  gelesen 
werden.) 

Doch  plotzlich  laBt  die  stah- 
lerne  Bindung  urn  eine  Spur  nach, 
das  Tau,  an  dem  du  gehangen 
hast,  senkt  sich  um  eine  Winzig- 
keit,  die  Kraft  des  Autors  ist  viel- 
leicht  ermattet,  oder  er  hat  seine 
Intensitat  verringert,  weil  er  sie 
sich  fur  eine  andre  Stelle  auf- 
sparen  wollte,  oder  er  hat  einen 
schlechten  Morgen  gehabt . . . 
plotzlich  lafit  es  nach.  Das  ist, 
wie  wenn  man  aus  einem  Traum 


der  neueste  sammelband  von  kurt 

TUCHOLSKY    PETER  PANTER  •  THEOBALD 
TIGER  •  IGNAZ  WROBEL  •  KASPAR  HAUSER 

Lerne  lachen  ohne  zu  weinen 


15-  TAUSEND  •  NEUE  VERBILLIGTE  PREISE 
KARTONIERT  4.8O  •  LEINENBAND  6.50 

ROWOHLT    VERLAG    BERLIN  W  50 

573 


aufsteigt.  Rechts  und  links  an 
den  Buchseiten  tauchen  die  Kon- 
turen  des  Zimmers  auf,  noch  liest 
du  weiter,  aber  nur  mit  dreivier- 
tel  Kraft,  du  fuhlst  dumpf,  daB 
da  auBerhalb  des  Buches  noch 
etwas  andres  ist:  die  Welt,  Noch 
liest  du.  Aber  schon  schiebt  das 
Zimmer  seine         unsichtbaren 

Krafte  an  das  Buch,  an  dieser 
Stelle  ist  das  Werk  wehrlos,  es 
behauptet  sich  nicht  mehr  gegen 
die  AuBenwelt,  ganz  leise  wirst 
du  zerstreut,  du  liest  nun  nicht 
mehr  mit  beiden  Augen ...  da 
blickst  du  auf* 

Guten  Tag,  Zimmer.  Das  Zim- 
mer grinst,  unhorbar.  Du  schamst 
dich  ein  bifichen.  Und  machst 
dich,  leicht  verstort,  wieder  an 
die  Lekture, 

Aber  so  schon,  wie  es  vorher 
gewesen  ist,  ist  es  nun  nicht  mehr 
—  drauBen  klappert  jemand  an 
der  Kuchenttir,  der  StraBenlarm 
ist  wieder  da,  und  fiber  dir  geht 
jemand  auf  und  ab,  Und  nun  ist. 
es  ein  ganz  gewohnliches  Buch, 
wie  alle  andern. 

Wer  so  durchhalten  konnte : 
zweihundert  Seiten  langl  Aber 
das  kann  man  wohl  nicht. 

Kaspar  Hauser 

Das  wahre  budapester  Madchen 

Orief  eines  budapester  Madchens 
*-*an  die  christlich-nationale  buda- 
pester Nationalzeitung  ,Nemzeti 
Ujsag'.  Die  Obersetzung  hat  den 
Ehrgeiz,  wortgetreu  zu  sein. 

Sehr  geehrte  Redaktion! 
Mit  Interesse  las  ich  das 
Feuilleton  in  der  am  5.  Februar 
erschienenen  Nummer  der  Nem- 
zeti  Ujsag.  Der  Schreiber  des 
Feuilletons  zollt  eine  gewisse  An- 
erkennung  jener         judischen 

Schriftstellerin,  weil  sie  die  Figur 
des  pester  judischen  Madchens 
geschrieben  habe.  Wir  ungarischen 
und  christlichen  arbeitenden 
Madchen,  die  wir  den  ganzen 
Tag  im  Amt  roboten  und  unser 
Brot  mit  schwerer  Arbeit  ver- 
dienen,  freuen  uns  selber,  daB  der 
Schriftsteller  selbst  darauf  hinge- 
wiesen  hat,  daB  Manci  Rado  nicht 
ein  christHches  Madchen  sei,  also 
nicht  zu  uns  gehore  und  den  Typ 

574 


der  ungarischen  christlichen  buda- 
pester Madchen  nicht  vertreten 
konne.  Es  gibt  unser  viele,  die 
namenlos,  jedoch  in  Ehren  arbei- 
ten,  und  nie  jene  moralischen 
Grundsatze  vergessen,  die  die  Fa- 
milie,  die  Kirche  und  die  Schule 
uns  gegeben  haben.  Diese  Ele- 
mente  fehlen  den  Radomancis,  die 
ebendeshalb  zu  Falle  kommen. 
Die  Radomancis  nehmen  das  Le- 
ben  sehr  leicht  und  sie  rendez- 
vousn  sich  eins,  zwei,  drei  in  die 
Arme  eines  ihnen  ahnlichen  jun- 
gen  Mannes,  ohne  daB  sie  dafur 
die  moralische  Verachtung  oder 
der  moralische  Tod  treffen  wurde. 
In  unsrer  Welt  ist  dergleichen  un- 
bekannt.  Wir  konnen  uns  niemals 
zu  dergleichen  hinreiBen  lassen, 
wir  sind  nicht .  geneigt,  Wunder- 
wesen  zu  erblicken  in  jenen  Jam- 
petzen  (Superlativ  von  Schlieferl), 
die  vor  allem  uns  vom  Pfade  der 
Anstandigkeit  abbringen  wollen. 
Wir  protestieren  aber  dagegen, 
daB  Manci  Rado  und  Genossinnen 
die  budapester  Madchen  vertreten 
sollen.  Wir  christlichen  Madchen 
sind  unser  noch  immer  mehr,  und 
wenn  wir  auch  nicht  wimmeln, 
und  wenn  wir  auch  nicht  zu  den 
Schonheitskonigin  -  Wettbewerben 
mit  affektierter  Arroganz  und 
Selbst-Zurschaustellung  erschei- 
nen,  so  sind  wir  trotzdem  noch 
immer  etwas  Besseres  als  die  Ra- 
domancis, die  sich  nur  ganz  ein- 
fach  vor  uns  gedrangt  haben  mit 
dem  Anspruch,  die  wahren  Buda- 
pesterinnen  zu  sein.  Sehr  geehrter 
Herr  Redakteur,  es  gibt  auch  ein 
andres  Budapest,  Das  arbeitende 
Budapest,  das  Budapest  der 
Christen  und  der  Ungarn.  In  die- 
sem  Budapest  gibt  es  keine  die 
Schamrote  insGesicht  jagenden 
Abenteuer,  keine  unmoralischen 
Rendezvous,  keine  Weekends  und 
kein  Mulatieren,  dieses  Budapest 
arbeitet,  lebt  das  Leben  des  Fa- 
milienlebens  und  der  Ehrsamkeit. 
Dieses  christliche  Budapest  ar- 
beitet,  robotet,  kampft  gegen  die 
Leiden  des  Alltags  an,  ist  mit 
seiner  Arbeit,  seinem  Schweifi, 
seinen  Sitten  Erhalter  des  unga- 
rischen Geistes  und  des  christ- 
lichen Glaubenslebens*  Und  von 
diesem   Budapest   hat   uns    Frau- 


Icin  Lily  Brody,  die  Schreiberin 
der  judischen  Damonen,  nichts  zu 
sagen?  Vicllcicht  ist  sie  gar  nicht 
geneigt,  die  grauen,  schabigen, 
kleinburgerlichen,  ordcntlichcn 
Wohnungen  aufzusuchen,  wo  sor- 
genbeschwerte  alte  Eltern  Abend 
fiir  Abend  bangend  ihre  in  Arbeit 
gebiickte  Tochter  erwarten.  Dieses 
Budapest  wohnt  nicht  in  glanzen- 
den  Palasten  und  Sechszimmer- 
wohnungen,  hochstapelt  nicht, 
borgt  sich  weder  Pyjamas,  noch 
Rougestifte,  noch  irgendwelche 
andern  Verfuhrungsrequisiten  aus, 
sondern  arbeitet,  und  wenn  es 
sich  amusiert,  dann  amiisiert  es 
sich  unter  seinesgleichen.  Dieses 
Budapest  entbloBt  sich  nicht  in 
Strandbadern  und  seine  Tochter 
spielen  nicht  den  Damon  in  buda- 
pester  Kaffeehausern,  in  die  sie 
gar  nicht  den  Fufl  setzen,  Ja, 
nicht  einmal  im  kleinen  Kino 
haben  sie  ihren  Stammplatz,  und 
wenn  sie  sich  hin  und  ■  wieder 
doch  einmal  in  ein  Kino  ver- 
irren,  so  geschieht  das  unter  elter- 
licher  Aufsicht,  und  nicht  in  Ge- 
sellschaft  eines  Sport  jampetz, 
dessen  Absichten  so  klar  sind, 
daB  sie  gar  nicht  ehrlich  sein 
konnen.  Die  leichtbliitigen  und 
leichtwiegenden  Frauen  liefern 
nicht  wir  christlichen  arbeitenden 
Beamtenmadchen,  Wir  haben 
keine  eignen  Schriftsteller,  denn 
wir  bilden  keine  Welt  fiir  uns 
allein,  wir  gehoren  zu  den 
Ungarn,  wir  gehoren  zu  den 
Christen,  wir  gehoren  zu  ihnen 
kraft  unsrer  Seele,  unsres  Her- 
zens,  unsrer  £rziehungf  unsrer 
Sprache  und  unsres  Glaubens. 
Wir  wollen  gar  nicht  von  einer 
besonderen  Schriftstellerin  ent- 
deckt  werden,  der  zum  Zeichnen 
unsres  Gesichtes  die  Farben  feh- 
len,  Wir  sind  einfache,  hiibsche, 
ordentliche  Beamtenmadchen,  die 
uns  von  unserm  Verdienst  erhal- 
ten(  oft  unsre  Eltern  unterstutzen, 
unsre  jungern  Brtider  studieren 
lassen  und  unsre  Pflicht  gegen- 
iiber  unsrer  Familie  erfullen.  Hei- 
raten  wir,  dann  ist  unsre  Mad- 
chengeschichte  abgeschlossen,  eine 
Geschichte,  die  mit  einer  Ver- 
lobung  beginnt  und  mit  einer  Hei- 
rat  endet  Wir  streben  nicht  auf- 
zufallen,  sondern  unterstutzen  als/ 


gute  Gattinnen  unsern  Gatten  in 
den  Kampfen  seines  Lebens,:  und 
auch  wir  sind  Budapesterinnen. 
Biidapesterinnen  im  schonern,  ed- 
lern  und  wahrern  Sinne  des 
Wortes:  wir  meiden  die  Formen, 
die  die  Radoraancis  erfunden  und 
in  die  Spalten  der  Tagespresse 
geschmacklost  haben. 

Wir  sind  auch  da,  jaf  wir  sind 
in  der  Uberzahl,  und  worauf  wir 
stolz  sind,  ist,  daB  man  una  nicht 
bemerkt,  daB  keiner  uns  schildert, 
weil  wir  keinerlei  schreiendes 
und  geschmackloses  Element  bil- 
den, weil  wir  die  christliche  Ar- 
beit und  den  ungarischen  Geist 
vertreten,  Ich  schreibe  diese  Zei- 
len,  damit  nur  gewifi  nicht  je- 
mand  glaube,  daB  es  in  Budapest 
nur  die  Radomancis  gebe,  und 
daB  nur  die  Radomancis  die 
Budapesterin  bedeuten.  Wir  sind 
auch  noch  da,  wenn  auch  stiller, 
wenn  auch  bescheidener,  Wir  le- 
ben,  wir  arbeiten,  wir  verrichten 
eine  anstandige  Arbeit  im  Amt 
und  in  der  Familie,  wir  sind  be- 
strebt,  all  das  Gute,  das  wir  von 
unsern  Eltern  empfangen  haben, 
ins  Leben  zu  ftbertragen, 

Wir  wtinschen  nicht  zu  glanzen, 
unser  ganzer  Anspruch  besteht 
darin,  zufrieden  zu  sein  und  die, 
die  in  unsrer  Umgebung  sind,  zu- 
frieden zu  machen,  Wir  erreichen 
dies  nicht  durch  Entgleisungen, 
sondern  durch  stille  und  be- 
scheidene  Arbeit,  die  die  Lite- 
ratur  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  gar  nicht  schatzen  kann. 
Mit  vorzfiglicher  Hochachtung 
ein  budapester  Madchen 

Vertraullch,  generell  und  staats- 
polHische  Grfinde 

15  etriebsanwalt     Gustav     Winter 
*-*    hat    an    den   Reichswahlleiter 
folgendes   Schreiben  gerichtet; 
„Zur   Zeit   Bautzen, 
20.  Marz  1932. 

Es  wird  mir  vertraulich  mitge- 
teilt,  daB  die  fanatiscksten  mei- 
ner  Anhanger  beabsichtigen,  un- 
ter alien  Umstanden  eine  neue 
Kandidatur  meinerseits  fur  den 
zweiten  Wahlgang  durchzusetzen. 
Ich  erklare  deshalb  generell,  daB 
ich  aus  staatspolitischen  Griin- 
deri      nicht     wieder     kandidiere. 

575 


Schon  die  erstc  Kandidatur  war 
ja,  weil  an  sich  unbedeutcnd  und 
nicht  storend,  nur  als  eine  Ver- 
trauensdemonstration  eines  Tei- 
les  meiner  Anhanger  zu  betrach- 
ten,  die  die  meisten  in  der  poli- 
tischen  Betatigung  nicht  beein- 
trachtigt  hat.  Mit  ausgezetchne- 
ter  Hochachtung  gez.  Betriebs- 
anwalt  Gustav  Winter,  GroB- 
jena,  Sachsische  Gefangenen-' 
anstalt    I." 

Alraune  auf  Kundenfang 

Berlin,  den  2.  Marz  1932 
W   10,  HohenzoliernstraBe  21 

Sehr  geehrter  Herr! 
TUfit  gleicher  Post  geht  Ihnen 
1V*  mein  soeben  im  Cotta'schen 
Verlage  erschienener  Roman  „Rei- 
ter  in  deutscher  Nacht"  zu,  Ich 
glaube  annehmen  zu  durfen,  dafi 
dies  Buch,  das  das  Wieder- 
erwachen  des  deutschen  Gedan- 
kens  zur  Grundlinie  hat,  Ihrer 
besondern  Aufmerksamkeit  wert 
ist,  Es  schildert  die  Entwicklung 
dieses  Gedankens  in  der  Nach- 
krjegszeit,  heraus  aus  der  Ar- 
beit der  Freikorps  bis  zum  Jahre 


1932,  gibt  in  romanhafter  Form 
dennoch  alle  Geschehnisse,  wie 
sie  wirklich  vor  sich  gingen  — ■ 
Dinge,  die  wir  in  unserer  schnell- 
lebigen  Zeit  bald  vergafien  oder 
die  geflissentlich  von  der  Presse 
unterdruckt  tind  entstellt  wur- 
den.  Ich  bitte  Sie,  das  Buch  zu 
lesen;  sollte  es,  wie  ich  hoffe, 
in  Ihrem  Herzen  anklingen,  dann 
bitte  ich  Sie,  in  Ihrem  Kunden- 
kreis  sich  ganz  besonders  dafur 
einzusetzen.  Da  ich  annehme,  dafl 
Sie  Wert  darauf  legen,  in  Ihrer 
Privatbiicherei  ein  vom  Verfasser 
gezeichnetes  Stuck  zu  besitzen, 
habe  ich  Ihnen  eine  Widmung 
hineingeschrieben.  Sie  wurden 
mich  sehr  verbinden,  wenn  Sie 
nach  der  Lektiire  mir  Ihren  Ein- 
druck  mitteilen   wollten. 

Mit  deutschem  GruB  bin  ich 
Ihr 
Hanns- Heinz  Ewers 

Der  Glpfel  der  Verzwefflung 

P)as  Gebot  der  Stunde  wird  da- 
iS  her    fur     den     Theaterleiter, 
der  die  Situation  erkennt,  lauten 
miissen:    Selbstbeschneidung, 
.Darmstddter   Tagblatt',   Nr.   201 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Liga  fur  Menechenrechte,  Montag  20.30.  Herrenhaus,  Leipziger  Str.  3:  Protest- 
kundgebuog  gegen  die  Strafvollstreckung  an  Carl  v.  Ossletzky. 

Bund  Geistiger  Berufe.  Dienttag  20.00.  Schubertsaal,  BttlowstraBe  104:  Widerstand 
gegen  Verelendung  und  Kulturabbau.  Es  sprechen :  Frani  Boening,  Hermann  Bud- 
zislawski,  Richard  Linneke  und  Gustav  Wyneken. 

Bund  proletarisch-revolutionarer  Sch  rifts  teller.  Mlttwoch  20.00.  Nationalhof,  Btilow- 
straBe  37    International  er  Abend. 

Schutzverband  Deutscher  Schrifts teller.  Ortsgruppe  Berlin.  Freltag  20.00.  Kammer- 
sale,  Teltower  Str.  1—4:  Beginnt  in  Deutschland  die  Barbaret?  (Diskussion  fiber 
Bernard  v.  Brentanos  neues  Buch.)    Fur  Mitglieder  und  von  diesen  eingefuhrte  Gaste. 


Werner  Turk:  Konlektioa. 


Bilcher 

Agia-Verlag,  Berlin. 

Rundfunk 


Dienatag.  Berlin  14.00:  Berliner  Theater  von  fie  stern  (Schallplatten).  —  Konlgewuster- 
bausen  15.15:  Erziehung  oder  Abscbreckung  im  Strafvollzug  7  K.  Fink e!n burg-  and 
Maretzki.  —  Leipzig  21.00:  Gegenw  arts  frag  en  der  Kunst,  Haul  Westheim.  —  Berlin 
21.10:  Beethovens  Missa  solemnis.  —  22.20:  Querschnitt  durck  die  Weltabrtistungs- 
konferenz  in  Genf.  —  MHtwoch.  Leipzig  19.20:  Der  andre-  Schiller.  —  Mublacker 
21. (JO  Arno  Nadel,  Felix  Stdssinger.  —  Donnerstag.  Langenberg  18.15:  Peter  Hille, 
H.  Roslieb.  —  K6nigswu6terhausen  18.55:  Gegensatze  der  neusten  Entwicklung  der 
Sowjetunion,  Michael  Ansky.  —  Mublacker  20.00:  Oberst  Chabert,  Horspiel  nach 
Balzac  von  Alfred  Muhr.  —  Freltag.  Breslau  18.35:  Staats-  und  Wirtschaftstheorten 
der  Romaptik,  Gerhart  Gleifiberg.  —  Leipzig  19.00:  Soziologie  der  Literatur,  Anna 
Siemsen.  —  Berlin  21.00:  Zu  Wilhelm  Buschs  100.  Geburtstag,  Ferdinand  Bonn 
und  Resi  Langer. 

576 


Antworten 

Amerikaverehrer.  Die  acht  Negerknaben  aus  Alabama  schweben 
erneut  in  der  Gefahr,  dafl  die  gegen  sie  verhangte  Todesstrafe 
vollzogen  wird.  Sie  soil  en  sich  an  zwei  weiBen  Madchen  vergangen 
haben,  die  sich  nachher  als  Prostituierte  entpuppten,  Vor  wenigen 
Monaten  rettete  die  Verurteilten  der  Protest  der  ganzen  Welt  vor 
dem  elektrischen  Stuhl,  aber  die  Rassenhetze  will  ihre  Opfer  haben, 
die  Negerknaben,  von  denen  der  al teste  einundzwanzig  Jahre  und  der 
jungste  vierzehn  zahlt,  sollen  einer  staatlich  konzessionierten  Lynch- 
justiz  verfallen,  weil  sie  das  Verbrechen  begangen  haben, 
Neger  zu  sein.  Es  muB  noch  einmal  versucht  werden,  einen  zweiten 
Fall  Sacco/Vanzetti  zu  verhindern.  Hoffentlich  gelin&t  es  dem  in- 
zwischen  gebildeten  Komitee  auch  diesmal,  und  zwar  endgiiltig,  die 
Neger  vom  elektrischen  Stuhl  zu  retten, 

Scheringer-Komitee.  Sie  tibermitteln  uns  nachstehenden  Aufruf: 
,,Der  fruhere  Reichswehroffizier  Richard  Scheringer  wurde  am  4.  Ok- 
tober  1930  wegen  nationalsozialistischer  Propaganda  in.  der  Reichs- 
wehr  zu  einer  Festungsstrafe  von  einem  Jahre  sechs  Monaten  und 
zur  Dienstentlassung  verurteilt.  Wahrend  seiner  Festungshaft  trat 
er  nach  einer  innern  Entwicklung  aus  Griinden  der  Oberzeugung  zum 
Kommunismus  uber,  Scheringer  setzte  sich  energisch  fur  seine  Ge- 
sinnung  ein  —  in  einer  Broschure,  in  Zeitungsaufsatzen  und  in  Pri- 
vatbrielen,  Der  Oberreichsanwalt  sah  darin  eine  .Vorbereitung  zum 
Hochverrat*.  Am  19.  September  1931  wurde  Scheringer  aus  der 
Festung  nach  Berlin-Moabit  uberfuhrt.  In  den  sechs  Monaten  der  Vor- 
untersuchung  war  er  einer  Behandlung  ausgesetzt,  die  aus  der  ,Unter- 
suchungshaft'  eine  vorausgenommene  Zuchthausstrafe  machte.  Sche- 
ringer steht  wieder  vor  dem  Reichsgericht  in  Leipzig.  Wiederum  droht 
eine  lange  Freiheitsstrafe*  Hier  wird  ein  Mann  verfolgt  und  hinter 
Gefangnismauern  gehalten,  weil  er  ehrlich  fur  seine  Oberzeugung  ein- 
getreten  ist.  Die  Unterzeichneten  protestieren  —  unabhangig  von 
ihrem  politischen  Standort  —  gegen  die  Verfolgung  eines  von  seiner 
Oberzeugung  getragenen  Volksgenossen,  Wir  verlangen  die  Freilas- 
sung  Scheringers."  Unter  anderm  unterzeichnet  von  Alfons  Paquet, 
Ernst  Toller,  Paul  Oestreich,  Herwarth  Walden,  Helene  Stoecker, 
Gerhart  Pohl,  Herbert  Ihering,  Justizrat  Broh,  August  Siemsen,  Otto 
Corbach,  Max  Hodann,  Kurt  Hiller,  Veit  Valentin,  A.  M.  Frey,  Erich 
Weinert,  Balder  Olden,  Berta  Lask,  Georg  Ledebour,  Schapke,  Otto 
StraBer,  Buchrucker,  H.  F.  Wendt,  Rechtsanwalt  Samter,  Kurt  Klaber, 
H.  Martin  Elster,  Alfred  Wolfenstein,  Odori  Horvath.  Wir  schlieBen 
uns  diesem  Aufruf  an  und  betonen  noch  einmal  unsern  Standpunkt, 
da£  Scheringer  fiir  nichts  andres  bestraft  werden  soli,  als  ftir  seinen 
aus  Uberzeugungsgrtinden  get&tigten  Obertritt  zur  KPD.  Solange  er 
hitlertreu  war,  konnte  er  von  der  Festung  schreiben,  was  er  wollte. 

Franzosenf resser.  Die  Pariser  sind  ja  gewiB  muntere  Leute.  Aber 
sich  vorzustellen,  dafi  die  pariser  Polizei  militarisch  mit  Musike  durch 
die  Stra£en  zieht,  ohne  ausgelacht  zu  werden  — :  das  ist  nicht  gut 
tndglich.  So,  genau  so,  ist  die  Reklame  fur  den  vorigen  Krieg  gemacht 
word  en;  die  Massenbesoffenheit  vom  August  14  ist  nicht  anders  zu 
erklaren,  Es  werden  viele  bunte  Proben,  sagen  wir:  Generalproben 
abgehalten,  ehe  im  Ernst  blutig  gestorben  wird. 

C  D.  in  Schwelm,  Westfalen.  Sie  machen  uns  zu  unsrer  Zensur- 
Nummer  (Heft  13)  eine  Mitteilung,  die  wir  unsern  Lesern  nicht  vor- 
enthalten  wollen.  Da  hat  der  Forschungsreisende  Doktor  BaBler  einen 
Expeditionsfilm  f,Unter  den  Indianern  Siidamerikas"  hergestellt,  und 
dieser  Film  wurde  vor  einigen  Tagen  im  wuppertaler  Thalia-Theater 
zur  Auffuhrung  gebracht.  Doktor  BaBler  zeigt  uhter  anderm  die  Le- 
bensgewohnheiten  eines  bisher  ziemlich  unbekannten  Stammes,  der  im 
<3ran-Chaco  (Bolivien)  lebt.   Dieser  Stamm  bekennt  sich  noch  zu  einer 

577 


Art  urkommunistischer  Wirtschaftsordnung,  und  Einrichtungen  wie  die 
unsrer  Ehc  sind  ihm  vollig  fremd,  Eine  Szene  des  Films  zeigt  nun 
das  Liebeswerben  der  jungen  Generation,  man  sieht  die  hierbei  fib- 
lichen  Bemalungen  und  Tanze,  Im  Zwischentext,  bevor  sicb  auf  der 
Leinwand  die  jungen,  geschlechtsreifen  Madchen  in  ihren  Bemalun- 
gen prasentieren,  heifit  es  auf  einmal:  ,.Die  heiratsfahigen  Madchen 
schmucken  sicb . ,  /'  per  anwesende  Expeditionsleiter  bemerkte  dazu, 
dafi  dies  naturlich  sinnwidrig  sei,  es  habe  aucb  ursprunglich  da  gestan- 
den;  „Iiebesdurstige  Madchen",  durch  die  Filmzensur  sei  das  als  „un- 
sittlich"  abgelehnt  und  geandert  worden,  Sie  schreiben  uns,  dafi  das 
Publikum  diese  Erklarung  Doktor  Bafilers  gebiihrend  belacht  habe. 
Wir  sind  ja  schon  allerlei  gewdhnt,  wir  wissen,  dafi  diese  Zensur  zu- 
gunsten  verlogenen  Ufa-Kitsches  Filme,  die  Wahrheiten  enthalten,  un- 
terdruckt  —,  dafi  sie  aber  soweit  geht,  durch  Eingriffe  ethnographische 
Tatsachen  zu  falschen,  haben  wir  denn  doch  nicht  fur  mdglich 
gehalten.  Weil  den  weiblichen  und  mannlichen  alten  Jungfern 
der  Prufstelle  „liebesdurstige  Madchen"  ein  Greuel  sind,  verbieten 
sie  einfach  deren  Existenz  und  zwingen  den  Hersteller,  seinem  Publi- 
kum vorzulugen,  diese  Madchen  seien  heiratsfahig.  Da  brustet  sich 
diese  Gesellschaft  immer  so  mit  ihrer  Moral,  faselt,  so  jetzt  wieder 
im  Verbot  des  Kuhle-Wampe-Films,  von  bewtffiten  Entstellungen  der 
Wahrheit  und  scheut,  wenn  es  notwendig  ist,  nicht  davor  zuriick,  dem 
Publikum  Lugen  fiber  das  Leben  fremder  Volker  vorzusetzen*  Bla- 
miert  euch  nur  immer  weiter,  aber  glaubt  nur  nicht,  ihr  kdnntet  eure 
Arbeit  im  Dunkeln  verrichten,  jeder  eurer  Streiche  soil  festgenagelt 
werden,  Nicht  weniger  grotesk  ist,  was  sich  die  Polizei  dieser 
Tage  wieder  leistete,  Sie  erschien  bei  der  Universal-Edition  in 
Leipzig  und  beschlagnahmte  auf  Grund  -des  §  2  der  Notverordnung 
voin  10,  August  1931  ein  paar  Kompositionen  von  Harms  Eisler,  dar- 
unter  die  „Bauernrevolution",  jenes  Lied  von  Florian  nGeyers  schwar- 
zen  Haufen",  das  407  Jahre  alt  werden  mufite,  ehe  eine  hochweise 
Polizei  dahinter  kam,  dafi  es  geeignet  ist,  die  „6ffentHche  Ordnung 
und  Sicherheit  zu  gefahrden",  Der  scharfen  Pressekampagne  gegen 
diese  Mafinahme,  besonders  einem  auffallend  geharnischten  Artikel 
im  sozialdemokratischen  ,Abend\  ist  es  zu  verdanken,  dafi  die  Be- 
hftrde  wenige  Tage  darauf  die  Beschlagnahme  aufgehoben  hat.  Es 
war  auch  die  hdchste  Zeit. 

Leser  in  Sao  Paulo.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Herrn  Emil 
Zappe,  Caixa  Postal  3268,  der  regelmafiige  Zusammenktinfte  der  dor- 
tigen  Weltbuhnenleser  in  die  Wege  zu  leiten  beabsichtigt. 

Leser  in  Essen  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Herrn  Rudi  Josephs, 
Kaupenstrafie  6,  der  regelmafiige  Zusammenktinfte  der  essener  Leser 
in  die  Wege  leiten  will. 

Leser  in  Montevideo.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Fraulein  Lilli 
Kellermann,  Montevideo,  Avda.  General  Flores  2672,  damit  die  dor- 
tigen  Weltbuhnenleser  sich  regelmafiig  treffen  konnen. 

Einsenderv  Bitte  geben  Sie  auf  Ihren  Briefen  und  Manuskripten 
Ihre  Adresse  an  Briefumsehlage  landen  zumeist  im  Papierkorb.  Da- 
durch  kommt  es,  dafi  sich  in  unsrer  Redaktion  einige  Briefe  und 
Manuskripte  angesammelt  haben,  die  nicht  erledigt  werden  konnen, 
weil  uns  die  Adressen  der  Absender  nicht  bekannt  sind. 

Manuskripte  sind  our  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne.  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten ;  es  wird  gebeten,  ibnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgep  kann. 
Das  Auf  f  Uhrungsrecbt,  die  Verwertung  Ton  TUeln  u.  Text  Im  Rabmen  des  Films,  die  musik- 
mechanUcbe  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rabmcn  von  Radiovortragen 
bleiben  fur  alle  in  der  Wettbtthne  erschelnenden  Beitragc  ausdrttcklicb  Torbebalten. 

Die  Weltbfihne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Oisietzky 
unter  Mitwirkun;  von   Kurt  Tuchohtky  gdeitet  —  Vcrantwortlich:   Carl  v.  Ossietrky,  Berlin; 

Verlag  der  Weltbiihne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  C  1,  Steinplatz  7767.  —   Postschedtkonto :  Berlin  11958. 
Bankkonto:     Darmstadter    u.    Nationalbank.      Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.   112. 


XXVIII.  Jahrgang  19.  April  1932  Nummcr  16 

DaS  Yerbot  der  SA.  von  Carl  v.  Ossietzky 

rjurch     einc     Notverordnung     des     Reichsprasidenten     vom 

13. .April  sind  „samtliche  militarahnlichen  Organisationen 
der  NSDAP.,  insbcsondcre  die  Sturmabteilungen,  die  Schutz- 
staffeln,  rait  alien  dazugehorigen  Stab  en  und  sonstigen  Ein- 
richtungen"  verboten  worden.  Die  Auf  losung  ging  in  aller  Ruhe 
vor  sich,  ohne  Meutereien,  ohne  spontane  Widerstande.  Die 
formidablen  Hitlersoldaten,  der  Kinderschreck  der  Republik, 
trollten  sich  schimpfend  unter  Zuriicklassung  unflatiger  Kritze- 
leien  an  den  Wanden.  Zwar  gab  es  Feuersaulen  und  Aschen- 
regen,  aber  in  Stidamerika  und  nicht  in  Miinchen,  wo  bayrische 
Polizei  die  Heiligtiimer  des  Braunen  Hauses  durchstoberte. 
Deutschland  blieb  so  ruhig  wie  es  war. 

Das  Verbot  der  SA.  bringt  die  Deutsche  Republik  dem 
Wesen  des  Rechtsstaats  einen  Schritt  naher.  Vorbereitung  zum 
Biirgerkrieg  gilt  wieder  als  unerlaubte  Handlung,  auch  wenn 
sie  sich  national  drapiert.  Aber  das  Verbot  setzt  nur  der 
frechen  Gewaltdrohung  ein  Paroli  entgegen,  es  beseitigt  nicht 
die  mehr  oder  minder  verschamte  Begonnerung  des  National- 
sozialismus  durch  manche  Organe  von  Justiz  und  Verwaltung. 
Im  Reich  und  in  den  Landern  werden  auch  weiterhin  viele  und 
nicht  nur  untergeordnete  Amtspersonen  sich  bemuhen,  daB 
Hitlers  Schlappe  nicht  zur  Katastrophe  ausartet. 

Bei  alledem  wird  man  sich  noch  fragen,  was  eigentlich 
zwischen  Morgen  und  Mitternacht  die  Stimmung  der  Reichs- 
regierung  gegen  die  Nationalsozialistische  Partei  so  griindlich 
gewandelt  hat.  Anstelle  der  Nachsicht  plotzlich  die  Faust,  an- 
stelle  des  Augenzwinkerns  der  Blitz  imBlicke.  Der  Umwor- 
bene,  der  Fruhstiicksgast  von  gestern  umvermittelt  ein  Objekt 
der  Politischen  Polizei,  vom  Verdacht  des  Hochverrats  und 
Landesverrats  umwittert. 

In  riihrender  Obereinstimmung  mit  pariser  Chauvinisten- 
blattern  hat  die  Hakenkreuzpresse  sofort  auBenpolitische  Mo- 
tive unterstellt.  Briining  imisse  in  Genf  des  Vorwurfs  gewar- 
tig  sein,  er  dulde  zu  Haus  eine  milizahnliche  Truppe  von  drei- 
malhunderttausend  Mann,  womit  die  deutsche  Abriistungsior- 
derung  an  den  franzosischen  Nachbarn  ihre  Ernsthaftigkeit  ver- 
liere.  Aber  auch  unter  Linksoppositionellen  hort  man,  das 
ganze  Verbot  sei  nur  Camouflage.  Obgleich  Riicksichten  auf 
Genf  gewiB  mitgespielt  haben,  darf  doch  der  auBenpolitische 
Flair  der  Regierung  Briining  nicht  iiberschatzt  werden.  Wir 
wissen  auch,  wie  kiihl  die  Aufdeckung  der  Putschplane  nach 
dem  13.  Marz  im  Reichsministerium  des  Innern  behandelt 
worden  ist.  Es  muB  also  inzwischen  etwas  sehr  Alarmieren- 
des  geschehen  sein,  um  Beschliisse  reifen  zu  lassen,  deren 
bloBe  Andeutung  vor  zwei  Wochen  noch  ganz  abwegig  ge- 
wesen  ware. 

Der  preuBische  Ministerprasident  hat  in  seiner  Rede  im 
Sportpalast  vom  11.  April  auf  einige  Ausfuhrungen  Hitlers  hin- 
gewiesen,  die  dieser  einige  Tage  vorher  in  Lauenburg  in  Pom- 

1  579 


mern  gemacht  hatte.  Was  hat  Hitler  gesagt?  „Wenn  man  sei- 
ner Partei  vorwerfe,  daB  sie  sich  einstweilen  weigere,  die 
deutschen  Grenzen  zu  schiitzen,  so  miisse  er  allerdings  sagen, 
daB  er  seine  Kampfer  nicht  fur  das  System  opfern  wolle,  Er 
werde  die  Grenze  erst  dann  schiitzen,  wenn  die  Trager  des 
gegenwartigen  Systems  beseitigt  waren,"  In  diesem  Zusam- 
menhang  betonte  Otto  Braun,  das  in  den  Nazitresoren  be- 
schlagnahmte  Material  zeuge  fur  die  Verratsplane  des  Fascis- 
mus,  Man  kann  daraus  folgern,  daB  die  NSDAP  vorhatte,  eine 
etwaige  kriegerische  Verwicklung  zu  einem  Putsch  zu  benut- 
zen,  jedenf  alls  ergab  sich  daraus,  daB  sie  nicht  geneigt  war,  sich 
in  die  von  der  Bendler-Strafie  betriebene  Wehrpolitik  einzu- 
gliedern.  Ihre  SA.  sollten  eine  selbstandige  Macht  bleiben, 
nur  den  Parteizielen  dienstbar,  keine  Miliz,  kein  Appendix 
der  Armee,  Und  als  endlich  der  Verdacht  rege  wurdef 
daB  SA.-Leute  Wafienlager  der  Reichswehr  im  Osten  ausbal- 
dowert  hatten,  da  war  auch  fur  Groener  die  Grenze  erreicht, 
die  es  funbedingt  zu  schiitzen  gait,  wenn  er  nicht  sehenden 
Auges  in  ein  zweites  Kiistrin  schlittern  wollte.  Da  muBten 
auch  die  diplomatischen  Bureaugenerale  die  Fruhstiickstafel 
umstoBen  und  dem  angenehmen  Plaudergast  die  Pasteten  ins 
Gesicht  werfen.  Es  hat  seinen  eignen  Witz,  daB  die  erste 
burgerliche  Tat  der  Republik  seit  langem  vornehmlich  von 
militarpolitischen'  Erwagungen  diktiert  wan  Niemals  ist  der 
Reichsinnenminister  mehi  Reichswehrminister  gewesen  als  in 
dem  Augenblick,  wo  er  das  Dekret  zur  Aufhebung  der  SA, 
und   SS.    unterschrieb. 

Die  Hitlerarmee  existiert  nicht  mehr.  Wo  aber  werden 
die  mehreren  hunderttausend  Mann  bleiben,  die  bisher  von 
einer  Hand  nicht  nur  armiert,  sondern  auch  bekleidet,  be- 
kostigt  und  ibehanst  wurden?  Das  ist- die  andre  Frage,  die 
der  Verbietende  nicht  leicht  wird  losen  konnen. 

Eins  ist  sicher:  ohne  eine  groBziigige  Arbeitsbeschaffungt 
ohne  einen  planmaBigen  VorstoB  von  der  wirtschaftlichen  Seite 
her  muB  sich  bald  ein  grauenhaftes  Marodeurtum  entwickeln 
Das  Land  wird  uberschwemmt  werden  von  Leuten,  die  nichts  ge- 
lernt  haben  als  Strammstehen  und  Schadeleinschlagen,  Wir 
haben  das  alles  schon  einmal  erlebt,  und  zwar  bei  dem  Zusam- 
menbruch  der  Landsknechtstruppen  Ehrhardts  und  RoBbachs. 
Damals  handelte  es  sich  um  kleinere  Mengen  von  Freischar- 
lern,  die  sich  hauptsachlich  auf  Giiter  im  Norden  und  Osten 
verteilten,  wo  sie  als  Landarbeiter  verkleidet  ihr  Soldaten- 
spiei  fortsetzten.  Heute  konnen  sich  auch  die  GroBagrarier 
keine  eigne  Garde  mehr  leisten.  Eine  furchtbare  Aufgabe 
lastet  auf  dem  Staat,  der  allzu  spat  zugegriffen  hat,  anstatt  das 
Unwesen  in  seinen  Anfangen  zu  bekampfen. 

Ein  Teil  der  enttauschten  und  verbitterten  Braunhemden 
diirfte  politisch  zweif ellos  zu  den  Kommunisten  stoBen,  was  bei 
den  PreuBenwahlen  schon  spiirbar  sein  wird.  Man  kann  der 
KPD  zu  diesem  Zuwachs  nicht  gratulieren.  Der  Stalinismus, 
in  seiner  Unfahigkeit,  die  demokratisch-republikanischen  Tra- 
ditionen  Europas  zu  verstehen,  hat  iiberall  auf  den  fascistischen 
Nationalisms  gesetzt   und  namentlich  fur  Deutschland  wurde 

580 


mit  dessen  vollkommenem  Siege  gerechnet.  Jetzt  ist  die  be- 
waffnete  Armee  des  Nationalismus  zersprengt  —  wie  aber  will 
die  KPD  die  fascistischen  Kombattanten  verdauen,  die  ihr  zu- 
laufen  werden? 

Es  ist  unwiderleglich,  dafl  am  10.  April  zahlreiche  Kommu- 
nisten  fiir  Hitler  gestimmt  haben.  Das  zeugt  nicht,  wie  ein 
kommunistisches  Blatt  meint,  von  „revolutionarer  Ungeduld" 
sonde rn  von  innerer  Inkongruenz  der  Partei  und  von  verdreh- 
ten  Kopfen,  die  rechts  und  links  nicht  mehr  unterscheiden 
konnen,  Im  iibrigen  lehnen  wir  mit  aller  Deutlichkeit  die  wut- 
kollernden  sozialdemokratischen  Kommentare  dazu  ab,  grade 
die  Presse  der  SPD  ist  am  allerschwachsten  zu  einem  Priva- 
tissimum  iiber  Prinzipientreue  legitimiert,  sondern  balten 
uns  lieber  an  die  ruhige  Feststellung  der  , Frankfurter  Zeitung' 
vom  14.  April:  ,,.  .  ,  wir  glauben  nicht . .  .,  daB  Moskau  eine 
andre  Parole  als  ,Thalmann'  ausgegeben  hat  Aber  wir  wissen 
aus  einer  Reihe  von  Mitteilungen,  daB  in  einer  ganzen  Zahl  von 
kommunistischen  Ortsgruppen  unter  der  Hand  (und  wo  das  be- 
merkt  wurde,  von  den  Zentralstellen  aus  bekampft)  zur  Wahl 
Hitlers  aufgefordert  wurde/1  Man  darf  also  die  Lesart,  es 
waren  bestimmte  Wahlerschichten  bewuBt  fiir  Hitler  abkom- 
mandiert  worden,  als  Unsinn  betrachten. 

Ein  bitterer  Geschmack  bleibt  dennoch  zuriick.  Die  KPD 
hat  in  ihrer  Agitation  grade  wahrend  der  letzten  Jahre  dem 
Nationalismus  eine  Konzession  nach  der  andern  gemacht,  unter 
MiBachtung  der  sozialistischen  und  demokratischen  Arbeiter- 
schichten,  die  zu  ihrer  Gewerkschaft  halten.  Das  hat  dem  Eini- 
gungsgedanken,  der  doch  immer^  latent  bleibt,  schwere  Choks 
versetzt,  denn  die  rote  Einigung  wird  ganz  gewiB  nicht  im  Zeichen 
des  Opportunisms  und  des  Wirtschaftsfriedens  vor  sich  gehen, 
aber  sie  ist  auch  nicht  denkbar  ohne  jenen  beriihmten  Zusatz 
demokratischen  01s,  ohne  den  kein  auf  europaischem  Bo-den 
gewordener  Organismus  leben  kann.  Die  KPD  steht  heute  sehr 
isoliert,  aber  sie  hat  alien  andern  Parteien  das  eine  voraus, 
noch  immer  eine  reine  Klassenpartei  zu  sein.  Alle  andern 
Parteien  sind  nicht  klassenmafiig  gefiigt,  sondern  frisch  neben- 
einander  g^esetzte  Farbkleckse,  von  einem  schwachen  ideolo- 
gischen  Fixativ  miihsam  gebunden.  Von  dem  groBmachtigen 
Hindenburgblock,  der  ohne  Programm  und  Geist  durch  nichts 
zusammengehalten  wurde  als  durch  die  gemeinsame  Verehrung 
fiir  den  Herrn  Reichsprasidenten,  ist  zum  Beispiel  heute  nichts 
mehr  iibrig;  jetzt,  im  preuBischen  Wahlkampf,  schlagen  sich 
schon  die  einzelnen  Konsorten  munter  die  Pantoffel  um  die 
Ohren. 

Die  KPD  ist  noch  keine  Partei  der  Gestaltung  sondern  der 
Erwartung.  Wann  sie  an  die  Spitze  treten  und  die  historische 
Mission  der  Arbeiterklasse  weiterfiihren  wird,  kann  bei  den 
flieBend'en  und  stiirzenden  Wirtschaftsverhaltnissen  dieser 
Epoche  niemand  voraussagen.  Es  soil  in  diesem  Augenblick 
nicht  mit  ihr  gerechtet  werden,  daB  sie  alien  denen,  die  von 
links  zu  ihr  streben,  die  starre  Miene  einer  iiberalterten  und 
nirgends  bewahrten  Orthodoxie  ent^egengesetzt.  Es  soil  hier 
nur  der  Wunsch  ausgesprochen  werden,  daB  die  Partei  gegen 
die  hellen  Haufen  der  von  ihren  Fiihrern  verlassenen  Fascisten, 

581 


wenn  sie  mit  der  glanzlos  gewordenen  entmachteten  Lands- 
knechtsfahne  des  Nationalisms  an  ihre  Tore  pochen,  die 
gleiche  Harte   aufbringt. 

* 

Das  Verbot  der  SA.  befreit  Hitler  von  einer  schweren 
finanziellen  Burde.  Es  ware  ihm  auf  die  Dauer  unmoglich  ge- 
worden,  seine  Arraee  weiter  zu  unterhalten,  denn  die  Mittel 
flieBen  nicht  mehr  wie  friiher,  Er  ist  damit  aber  auch  seine 
Pratorianer  losf  deren  sozialrevolutionare  Impulse  ihn  angstig- 
ten  und  deren  hungriges  und  gewalttatiges  Sansculottentum  oft 
seine  Plane  durchkreuzte,  Er  konnte  es  nicht  wagen,  sie  heim- 
zuschicken  —  schon  im  April  EinunddreiBig  nach  der  Sten- 
nesrevolte  hatte  ers  gern  getan.  Jetzt  haben  es  andre  fur  ihn 
besorgt.  Das  geschmahte  ^System"  hat  Hitler  vor  der  SchluB- 
abrechnung  mit  seinen  eignen  Gurgelabschneidern  bewahrt, 

Mit  dem  Verbot  der  SA,  mindert  sich  aber  auch  -der  Ein- 
fluB  der  ehrgeizigen  und  herrischen  Satrapen,  der  , .Gauleiter" 
vom  Kaliber  Goebbels,  die  ihren  erhabenen  Fuhrer  in  MiLnchen 
als  Operettendiva  verlachten  und  ihm  mehr  als  eine  Perle  aus 
der  Krone  holten.  Die  Herren  Gaugrafen  stiitzten  sich  weit 
mehr  auf  die  Parteitruppen  als  auf  die  Partei  selbst.  Sie  waren 
die  eigentlichen  Trager  des  Antisemitismus  und  der  Box- 
heimerei;  ihre  Versammlungen  waren  blutriinstiges  Theater, 
das  die  gemeinsten  und  rohesten  Instinkte  herauskitzelte.  Sie 
vor  allem  haben  Hitler  und  das  munchner  Hauptquartier  ver- 
hindert,  aus  der  Agitation  in  die  praktische  Politik  einzu- 
brechen.  Jetzt  birst  diesen  Gangsters  und  Fuselschiebern  des 
Nationalismus,  diesen  deutschen  Al  Capones  und  Jack  Dia- 
monds, das  Podium  unter  den  FiiBen.  Ohne  Fahnen,  ohne 
Musik  und  Bockbier  werden  sie  bald  aussortiert  sein  oder 
irgendwo  anders  unterkriechen.  Ein  absurder  Zeitabschnit^  in 
dem  der  Pferdehandler  sich  wie  ein  Prophet  gebardete,  der 
Seifenreisende  wie  ein  Messias,  nahert  sich  dem  Ende, 

Zweif  ellos  wird  Hitler  ohne  das  gewohnte  Brimborium  auch 
manches  einbiiBen,  Wenn  er  in  ein  Versammlungshaus  kommt, 
von  einigen  ernsten  Herren  mit  der  Mappe  unterm  Arm  be- 
gleitet  wie  andre  politische  Redner  auch,  wird  die  Phantasie 
seiner  Anhanger  zuriickschweifen  miissen  in  die  vergangene 
braune  Herrlichkeit.  Dafiir  ist  Hitler  seiner  iilegalen  Janit- 
scharen  los  und  ledig,  Er  ist  ein  streng  legaler  Parteifuhrer, 
mit  dem  man  sich  an  einen  Tisch  setzen,  den  man  zur  Koalition 
einladen  kann.  Er  hat  einigen  Nimbus  verloren,  aber  auch 
ernsten  Krankheitsstoff.  Er  muB  sich  heute  fiihleh  wie  ein 
Hypochonder,  dem  man  soeben  mit  Erf olg  den  Blinddarm  weg- 
operiert  hat.  Eines  bestimmten  hohen  Prozentsatzes  der  Wah- 
lerschaft  ist  Hitler  ohnehin  sicher.  Der  Osten  hat  fiir  ihn 
optiert,  der  agrarische  Osten,  nationalistisch  und  miiitaristisch 
von  alters.  Was  bleibt,  ist  der  fascistische  Grundzug  der  Na- 
tionalsozialistischen  Partei,  was  dahinschmilzt,  ist  das  in  den 
westlichen  Industrierevieren  und  den  groBen  Stadten  ange- 
schwemmte  Element  roter  Rebellion.  Das  Gesicht  der  Partei 
verandert  sich,  bald  wird  tins  statt  des  rauhbartigenWotans- 
kopfes  die  alte  Reaktion  preuBischen  Couleurs  anblicken. 

532 


Die  heute  regierenden  Machte  werden  sich,  dieser  Ent- 
wickhing  nicht  entgcgcnstemmen,  sic  werden,  im  Gegenteil, 
<Iie  Zahmung  der  Hitlerpartei  sich  als  groBes  staatsmarmisches 
Verdienst  ankreiden.  Si©  haben  sich  schon  so  langc  an  dem 
Nationalsozialismus  gebildet,  daB  die  Ahnlichkeit  immer  groBer 
geworden  ist.  Was  unterscheidet  Briining  und  Groener  von 
einem  Hitler,  der  nicht  grade  mit  Schaum  vor  dem  Munde  die 
Massen  anfeuert,  sondern  politisch  zu  argumentieren  versucht? 
Exeunt  SA,  Der  Wall  zwischen  Reichsregierung  und  NSDAP 
ist  gefallen.  Der  Begegnung  steht  nichts  raehr  im  Wege  als  die 
Erinnerung  an  vergangene  Unstimmigkeiten.  Hitler  hat  Deutsch- 
land  von  einem  End'e  zum  andern  mit  Nationalismus  gefiillt,  er 
hat  in  die  Wirt schaft spoil tik  den  Gedanken  der  Autarkie  einge- 
ftihrt.  Die  Briiningregierung  wird  sorgen,  daB  da  kein  leerer  Rauxn 
entstebt,  daB  namentlich  auflenpolitisch  der  Chauvinismus 
keine  Enttauschung  erlebt  und  die  Politik  der  Wilhelm-StraBe 
dort  einruckt,  wo  die  Demagogie  so  heftig  vorgearbeitet  hat 

Trotz  diesen  skeptischen  Erwagungen  feleibt  das  Verbot 
der  foraunen  Privatarmee  das  denkwiirdigste  Ereignis  seit  dem 
14,  September  1930,  Angesichts  der  Ruhe,  mit  der  alles  klappt, 
iragt  man  sich,  wie  es  moglich  war,  so  lange  zu  zogern,  Wie 
hat  man  den  Popanz  doch  iiiberschatzt!  Vor  anderthalb  Jahren 
wurde  an  dieser  Stelle  die  Ausweisung  Adolf  Hitlers  gefordert. 
Was  ware  dehn  geschehen,  wenn  man  damals  schon  zugepackt 
hatte?  Heute  wird  das  Haus  in  der  Hedemann-StraBe  ver- 
siegelti  im  miinchner  Parteipalais  stobert  die  Polizei,  Zwar  gibt 
es  Feuersaulen  und  Aschenregen,  aber  weit  weg  —  in  Siid- 
amerika.    Deutschland  ist  so  ruhig  wie  es  war. 


Hitlers  Finanzen  von  Quietus 

7um  Kriegfuhren  gehort  Geld  und  dreimaihunderttausend 
"  SA.-Leute  wolien  ernahrt  sein.  Es  ist  kein  Geheimnis 
raehr,  daB  viele  Erwer.bslose  nur  deshalb  den  Weg  zu  dem 
Prasidentschaftskandidaten  a,  D,  gefunden  haben,  weil  die  Zu- 
gehorigkeit  zur  SA,  mit  dem  Empfang  eines  wenn  auch  kleinen 
Gehalts  verkniipf t  war.  Bis  zum  ersten  Wahlgang  ist  alles  ganz 
gut  gegangen,  die  Gelder  der  Industrie  flossen  reichlich,  auBer- 
dem  machte  man  Schulden  und  vertrostete  die  Glaubiger  da- 
mit,  dafl  Hitler  als  Reichsprasident  schon  fiir  die  Begleichung 
der  ansehnlichen  Rechnungen  sorgen  werde.  Aber  am  13,  Marz 
klappte  das  nicht  so  wie  es  sollte,  und  die  Industrie  zuckte 
zuriick,  Besonders  zugeknopft  soli,  sich  Herr  Kirdorf  verhal- 
ten  haben,  diese  Quelle  versiegte  wie  schon  einmal.  Am  Mon- 
tag,  dem  4.  April,  erklarte  der  nationalsozialistische  Abgeord- 
nete  Hinkel  in  einer  Versammlung  der  berliner  Vertrauens- 
manner,  daB  sich  die  Wahlunkosten  bereits  auf  sechs  Millionen 
Mark  foeliefen,  von  denen  nur  zweiundeinviertel  Millionen  ge- 
deckt  seien.  So  muBte  das  Ireiburger  Nazi-Blattchen,  ,Der 
Alemanne',  damit  nicht  Wechsel  platzteri,  sofort  mit  30  000 
Mark  saniert  werden;  die  Parteiorganisation  in  Hessen  ver- 
Itigt  iiber  das  beachtliche  Defizit  von  325  000  Mark;  in  den 
iibrigen  Bezirken  sieht  es  nicht  anders  a  us.     Da  sich  die  In- 

583 


dustrie  abcr  trotz  alien  Vorstellungen  auf  den  Geldsack  setzte 
und  erst  einmal  a'bwarten  wollte,  wie  der  zweite  Wahlgang 
auslief,  muBte  krampfhaft  Ausschau  nach  neuen  Geldgebern 
•gehalten  werden.  Die  einzigen  Menschen,  die  in  Deutschland 
auch  heute  nach  auBer  den  Schlotbaronen  iiber  fliissige  Mittel 
verfiigen,  sind  die  so  groBziigig  von  der  Republik  gespeisten 
Hohenzollern  und  die  iibrige  furstliche  Gesellschaft  220000 
Mark  bekam  der  Verlag  Franz  Eher  durch  die  Vermittlung 
der  Hohenzollern,  und  im  ganzen  ist  es  ibisher  eine  halbe  Mil- 
lion, die  von  dieser  Seite  der  Hitlerbewegung  zugeflossea  ist. 
Nicht  geringer  wird  die  Summe  sein,  an  deren  Aufbringung  der 
Herzog  von  Koburg,  der  GroBherzog  von  Oldenburg,  der  GroB- 
herzog  von  Mecklenburg  und  vor  allem  der  ehemalige  Herscher 
im  Reiche  <les  Herrn  Klagges,  der  Herzog  von  Braunschweig* 
beteiligt  sind.  DaB  die  ho'hen  Herren  derartige  Summen  nicht 
aus  lauter  Idealismus  in  dem  Geschaft  investiert  haben,  sondern 
nur  auf  Grund  von  Gegenleistungen,  ist  klar.  Nur  darum  steht 
Auwi  in  der  ersten  Reihe  Derer,  die  nach  dem*  24,  April  die 
nationalsozialistischen  Banke  im  preuBischen  Landtag  driicken 
werden;  ebenso  wird  uns  nach  der  Machtiibernahme  durch 
Hitler  der  zur  Zeit  abwesende  summus  episcapus  der  preuBischen 
Landeskirche  wieder  begliicken  diirien;  auch  ist  Hitler  gar  nicht 
abgeneigt,  eine  Restauration  der  Erbmonarchie  herbeizufuhren* 
als  deren  Anwarter  schon  heute  der  alteste  Sohn  des  wort- 
briichigen  Herrn  von  Oels  zu  gelten  hat;  und  nicht  zuletzt  hat 
der  Oberosaf  eine  Neuregelung  der  Abfindungsfrage  zugesagt, 
weil  die  Furs  ten  bekanntlich  zu  schlecht  weggekommen  sind. 
Diese  Tendenzen  lauien  oflenkundig  darauf  hinaus,  die  bauer- 
lichen  und  die  biirgerlichen  Kreise  noch  fester  an  die  NSDAP 
zu  binden.  Die  Nazis  als  Erneuerer  des  Kaisertums!.  Und  die 
Arbeiter,  deren  Zahl  ja  nicht  unbetrachtlich  ist  und  als  deren 
Vertrauensleute  wir  Goebbels  und  Gregor  StraBer  bezeichnen 
diirfen,  werden  sie  den  monarchistischen  Kurs  mitmachen? 
Der  Widerstand  der  SA,  gegen  die  Kandidatur  Auwis  laBt 
das  Gegenteil  vermuten.  Goebbels,  der  seinem  Meister  ohne- 
hin  nicht  griin  istt  und  Gregor  StraBer,  der  durch  seinen  Bin- 
der Otto  sowieso  in  den  Augen  Hitlers  belastet  ist,  haben  sich 
auch  mit  aller  Energie  dagegen  gewandt,  daB  der  Aufruf  des 
Kronprinzen  fur  die  Wahl  Hitlers  veroffentlicht  wurde,  Ihr 
Hinweis,  daB  die  noch  heute  revolutionaren  Elemente  in  der 
Partei  keine  Liebe  zum  Hatise  der  Hohenzollern  hegen,  nutzte 
nichts.  Es  scheint  so,  als  wolle  Hitler  seinen  hier  von  mir 
schon  mehrmals  aulgezeigten  EntschluB,  sich  dieser  revolutio- 
naren Elemente  mit  alien  Mitteln  zu  entledigen,  auch  auf  diese 
Weise  so  schnell  wie  moglidh  in  die  Tat  umsetzen.  Auf  dem 
Wege  zu  der  groBen  deutschen  antisemitischen  Wirtschafts- 
partei  sind  die  Arbeiter  nur  Hemmnisse. 

Aber  schlieBlich  ist  es  kein  ausreichendes  Aquivalent  fiir 
groBere  Subventionen,  wenii  man  nur  die  Genugtuung  haben 
soil,  daB  Auwi  demnachst  zu  seinen  sonstigen  Einkiinften  auch 
noch  die  Diaten  eines  Landtagsabgeordneten  beziehen  wird. 
Es  ist  also  zu  verstehe^  wenn  angesichts  des  Umstamcks,  daB 
der  Braunhausler  immer  nur  Wechsel  auf  die  Zukunft  ausstellt, 
die  abgetakelten  Fiirstlichkeiten  nicht  so  reichlich  mit  Geldern 

584 


um  sich  werfen,  wie  das  notig  ware,  urn  den;  Pleitegeier  von 
den  Kassen  der  Nazis  zu  vertreiben.  Es  ist  aUgemein  aufge- 
fallen,  daB  vor  etwa  einem  halben  Jahr,  als  Gertichte  von 
einer  Vergebung  des  Benzinmonopols  an  Shell  auftauchten,  die 
ganze  Nazipresse  wie  aui  Ko  mm  an  do  schwieg.  Der  Syndikus 
der  Nordwest  deutschen  Erdottndustrie  in  Hannover,  der  voller 
Unruhe.zu  den  Nazis  lief,  um  Auskunft  iiber  ihre  Stellung  zu 
der  beabsichtigten  Monopolvergebung  zu  erlangen,  konnte  von 
Hitler  keine  beruhigenden  Erklarungen  entgegennehmen;  der 
Herr  des  Braunen  Hauses  war  alien  Fragen  gegeniiber,  ob  er 
etwas  zum  Sohutze  der  deutschen  Erdolindustrie  zu  unterneh- 
men  gedenke,  taub  —  wahrscheinlich  weil  der  Abgesandte 
nicht  mit  der  ansehnlichen  Summe  von  anderihalb  Millionen 
englischer  Valuta  aufwarten  konnte,  Genau  soviel  namlich  hat 
Herr  Deterding  dem  deutschen  Arbeiterftihrer  versprochen, 
wenn  dieser  ihm  nach  der  Machtubernahme  das  deutsche  Ben- 
zinmonopol  verschachere.  Eine  laufende  GewinnbeteiHgung 
von  zwanzig  Prozent  sollte  hinzukommen.  Das  ist  gar  nicht 
so  phantastisch,  wie  es  scheinen  mag,  wenn  wir  uns  daran  er- 
innern,  daB  die  englische  Rechtspresse  — besonders  die  Beaver- 
brook-Blatter  —  die  Nazis  hochst  wohlgefallig  betrachtet,  daB 
die  Blatter  der  Nazis  spaltenlange  Ausztige  aus  diesen  eng- 
lischen  Zeitungen  bring  en,  Der  Herzog.  von  Koburg,  den  ver- 
wandtschaftliche  Beziehungen  mit  der  englischen  Aristokratie 
verkniipfen,  war  es,  der  die  Verbindungen  anbahnte;  Alfred 
Rosenberg,  designierter  AuBenminister  im  Dritten  Reich,  und 
Herr  Doktor  Nyland,  Leiter  der  nationalsozialistischen  Aus- 
landspropaganda,  dessen  Spitzelmethoden  die  .Weltbiahne'  vor 
kurzem  dem  Auswartigen  Amt  zur  Kenntnis  gab  —  diese  bei- 
den  Herr  en  wurden  als  Bo  ten  ausgesandt.  Rosenbergs  Audienz 
bei  Chamberlain  ist  bekannt,  seine  und  Nylands  Verhandlun- 
gen  mit  Deterding  gediehen  schlieBlich  bis  zu  dem  oben  skiz- 
zierten  Abkommen. 

Der  schone  Traum,  binnen  kurzem  werde  Hitler  imReichs- 
tag  als  President  der  Republik  seinen  Eid  ablegen,  ist  geplatzt; 
Sir  Henry  Deterdings  Benzinmonopol  ebenfalls;  und  die  andert- 
halb  Millionen  Pfund  sind  auch  nicht  da.  Hitler  wird  sich  also 
noch  heftiger  dem  deutschen  Adel  verkaufen  miissen,  um  seine 
Schulden  loszuwerden.  Das  wird  aber  nicht  ganz  einfach  sein. 
Er,  den  ich  noch  vor  einem  Jahr  mit  Recht  als  Kitt  der  Partei 
bezeichnen  konnte,  steht  heute  keineswegs  mehr  so  fest  da. 
Das  letzte  Mittel,  an  der  Macht  zu  bleiben,  versagte:  Hitler 
unterlag  im  Wahlkampf.  Unvermeidlich  werden  nun  die  in- 
ternen  Auseinandersetzungen  beginnen.  Die  SA.  revoltiert 
schon  wieder  einmal,  ihr  paBt,  wie  gesagt,  die  ganze  Liebe- 
dienerei  vor  den  Hohenzollern  nicht,  und  auch  der  Benzinduft 
der  Sache  mit  Shell  ist  ihr  schon  lange  peinlich  in  die  Nase 
gestiegen.  DaB  die  Absichten  der  Herren  Goebbels  und  Gre- 
gor  StraBer,  Hitler  vom  Throne  zu  s  to  Ben,  ihn  zum  „Ehrenvor- 
sitzenden4'  avancieren  zu  lassen  und  Gregor  StraBer  zum  Par- 
teifiLhrer  zu  machen,  sich  nicht  so  schnell  werden  verwirk- 
lichen  lassen,  verdankt  Hitler  diesmal  der  Regierung  Briining. 
Sie  hat  durch  die  Auflosung  der  SA.  Goebbels*  und  StraBers 
scharfste  Waffe  stumpf  gemacht. 

585 


Die  zudringliche  Vergangenheit  Bronovoleuig 

In  Ungarn  haben  sich  StraBenkundgebungen  ereignet.  Die  Re- 
igierung  hatte  das  einzigc  Blatt  dcr  Sozialdemokraten,  die 
tapfere  ,Nepszava\  verboten,  deshalb  kam  es  zum  Proteststrcik 
alfcr  ungarischen  Arbeiter,  man  demonstrierte  vor  dem  Parla- 
ment,  Dem  von  Budapest  gegeibenen  Beispiel  folgten  Bauern- 
proletarier  in  den  ostlichen  Gebieten.  Polizei  und  Gendarmerie 
wurden  mohilisiert,  zwei  Menschen  wurden  erschossen,  und 
der  Draht  konnte  melden,  daB  die  ungarische  Regierung  wie- 
der  Herr  der  Lage  ist. 

In  Ungarn  hat  man  demonstriert!  In  Budapest  und  sagar 
in  Debreczfci  und  in.  Balmazujvaros.  Seit  dreizehn  Jahren  lag 
das  Land  in  hoffnungsloser  politischer  Starre,  erdriickt  vom 
brutalen  Apparat  der  Diktatur,  Das  Werk  des  Grafen  Bethlen 
war  solide  aufgebaut,  niemand  wagte  zu  mucken.  Es  ist  das 
er sternal,  daB  Arbeiter  und  Bauern  aul  die  StraBe  gingen  und 
der  Staat  sich  zu  verteidigen  hatte.  Wenn  die  Sache  auch  mit 
einigen  Salven  rasch  erledigt  werden  konnte,  es  waren  doch 
symptomatische  Ereignisse,  Das  Verbot  der  ,Nepszava*  war 
ein  Zeichen  der  hochgradigen  Nervositat  und  des  innern 
Schwachegefuhls  einer  Diktatur,  die  sich,  solange  sie  lest  im 
Sattel  war,  mit  der  gelegentlichen  Einsperrung  allzu  laut  ge- 
wordener  sozialistischer  Journalisten  begniigt  hatte,  heute  aber 
das  Erscheinen  einer  Linkszeitung  tiberhaupt  nicht  mehr  er- 
tra,gen  zu  konnen  scheint,  Und  daB  Arbeiter  und  Bauern  sich 
aul  die  StraBe  wagten,  zeugt  vom  Schwinden  der  allerwichtig- 
sten  Grundlage  der  Diktatur,  der  Furcht  der  Massen,  Man 
wird  aus  Ungarn  vielleicht  bald  wieder  Neues  horen, 

Es  hat  sich  dort  unter  der  erstarrten  Oberllache  in  den 
letzten  Jahren  eine  tiefgreifende  innere  Umwalzung  zugetragen. 
Das  Zeitalter  des  Natiomalheroismus  geht  seinem  Ende  zu, 
weiteste  Volkskreise  haben  wieder  zur  eignen  Vernunft  und 
zu  den  eignen  Interessen  zuriickgelunden.  Bis  in  die  besten 
Burgen  des  Nationalismus  sind  die  neuen  alten  Ideen  gedrun- 
gen.  Die  Studenten,  einst  das  Hauptreservoir  fur  die  Bewegung 
der  „Erwachenden  Magyaren",  stehen  links  und  fordern  Pressed 
Koalitiohs-,  Versammlungs-  und  Demonstrationsireiheit,  radi- 
kale  Bodenreforai  und  andre  ganz  und  gar  unnationale  Sachen. 

Die  neue  ungarische  Bewegung  hat  ein  gutes  Schlagwort: 
Schiitteln  wir  die  zudringliche  Vergangenheit  ah!  Ungarisch 
ist  das  vie!  pragnanter  gesagt;  Razzuk  le  a  tolakodo  multat! 
Wenn  der  Ungar  „zudringlich"  sagt,  klingt  es  viel  zudringlicher, 
lastiger  als  im  Deutschen  und  es\  liegt  alle  Verachtung  darin, 
die  solcher  Eigenschaft  .gebuhrt.  In  dem  Satz  ist  alles  gesagt, 
was  iiber  den  letzten  Abschnitt  der  ungarischen.  Geschichte  zu 
sagen  ist.  ,,Unsre  tausendjahrige  Vergangenheit  gebietet  uns" 
. . ,  ,,Tausend  Jahre  ruhmvollen  Staatslebens  verpllichten  jedes 
einzelne  Glied  der  Nation"  . . .  „Die  Helden  eines  tausend'jahri- 
gen  Reiches  blicken  auf  euch,  Volksgenossen" . , .  ,,Sankt 
Stefans  Geist"  , . .  „Das  ruhmvolle  Volk  Axpads"  ,  . ,  Davon  hat 
die  Diktatur  dreizehn  Jahre  lang  gelebt,  das  hat  sie  dem  Volk 
statt  Brot  gegeben,  Ungarn  war  eine  einzige  grofie  Siegesallee, 

586 


Los  von  der  zudringlichen  Vergangenheit:  Das  Wort  ist  zu- 
gleich  Abrechnung  und  Programm,  es  sagt  mehr  als  mancher 
end  lose  Parteikatechismus.  Ware  das  nicht  auch  etwas  fur 
eine  neue  deutsche  Linke?, . . 


Konnte  man  nicht  uberhaupt  in  Deutschland  einiges  lernen 
aus  dem  Ablauf  dcs  ungarischcn  Diktaturregiments  und  seiner 
Krise?  Parallelitaten  drangen  sich  iiberall  auf.  Mit  einer  Ver- 
spatung  von  einigen  Jahren  kommt  in  Deutschland  alles  so, 
wie  es  in  Ungarn  gewesen  ist.  Bis  vor  drei  Jahren  konnte  ich 
als  Zeitungskorrespondent  an  Ort  und  Stelle  die  Wege  des 
magyarischen  Nationalisraus  unmittelbar  beobachten.  Seitdem 
erlebe  ich  in  Deutschland  eine  groteske  Wiederholung  der 
Dinge,  die  ich  dort  unten  schon  einmal  mitgemacht  habe, 

Dort  Bethlen,  hier  Braining:  die  Ahnlichkeit  des  politischen 
Charakters  der  beiden  und  die  Gleichheit  der  Mission,  die  sie 
auf  sich  genommen  haben,  springt  in  die  Augen.  Fester  Glaube 
an  die  eigne  Retterpersonlichkeit,  gepaart  mit  starkem  Willen 
und  groBen  taktischen  Fahigkeiten;  christlich-nationales  Un- 
garn, katholisch-nationales  Deutschland;  Parole  der  Einigung 
aller  „Vaterlandischen"  rechts  Mitte;  Bethlen  hatte  seine  Er- 
wachenden  Magyaren,  die  seine  vaterlandischen  Schlagworte 
mit  noch  vaterlandischeren  iibertonten,  Briining  hat  seine 
Nazis;  die  Reaktion  beider:  konsequentes  Gleiten  nach  rechts 
und  immer  weiter  nach  rechts.  Zugleich  scharier  Kampf  gegen 
die  Radikalen  und  fortgesetzte  Bemuhungen,  sie  in  irgendeiner 
Weise  vor  den  eignen  Wagen  zu  spannen,  eindringliches  Zu- 
reden,  sie  sollten  sich  doch  endlich  besinnen  und  regierungs- 
fahig  werden.  In  Ungarn  war  die  Frage  schon  vor  Jahren  ge- 
lost.  Die  Regierung  riickte  einfach  so  weit  nach  rechts,  daB 
rechts  von  ihr  kein  Platz  mehr  blieb.  Jetzt  waren  die  Er- 
wachenden  Magyaren  gezahmt . .  .  Wie  wird  es  in  einigen  Mo- 
naten  in  Deutschland  sein? 

Bethlen  hatte  ein  groBartiges  finanzielles  Sanierungspro- 
gramm  im  Portefeuille.  Damals  war  das  Wort  noch  nicht  im 
allgemeinen  Gebrauch,  jetzt  weiB  man,  daB  die  Method e  „De- 
flation"  heiBt.  Die  Welt  schwelgte  noch  in  prosperity,  Ungarn 
aber  hatte  schon  seine  Wirtschaftskrise.  Bethlen  kann  sich 
ruhnien,  nicht  nur  die  erste  europaische  nationale  Diktatur 
sondern  auch  die  erste  Wirtschaftskrise  organisiert  zu  haben. 
Als  die  Pleite  offenbar  wurde,  fliichtete  die  Reaktion  in  den 
Friedensvertrag.  Trianon  sei  an  a  11  em  Elend  und  auch  am  Ver- 
sagen  des  groBen  Planes  schuid.  Es  sei  auch  weiter  nichts  zu 
machen,  Trianon  stehe  jeder  Gesundung  im  Wege.  Ungarn 
muB  international  gleichberechtigt  werden,  seine  Freiheit  wie- 
der  gewinnen.  Rustungsfreiheit  nattirlich  vor  all  em,  Also; 
auBenpolitische  Aktivitat!  Bethlen  sturzte  sich  auch  gleich 
Hals  iiber  Kopf  hinein.  In  Deutschland  hat  man  das  letzte  All- 
heilmittel  erst  jetzt  entdeckt. 

Man  kennt  die  Geschichte  von  Bethlens  Aktivitat:  Die 
gloriose  Verbriiderung  mit  Mussolini  unter  gleichzeitiger  hoff- 
nungsloser  Verzankung  mit  den  Nachbarn.  Es  ist  alles  so  wie 
bier.    Die  Tschechoslowakei  ist  Ungarns  Frankreich,  Rumanien 

2  587 


sein  Polen*  mit  Belgrad  vertragt  sich  Budapest  recht  und 
schlecht,  abcr  auch  hu  Qui  vive-Zustamd,  wie  etwa  Berlin  mit 
Prag,  Es  liegt  ebenso  zentral  mitten  in  seinem  „Feindbund" 
wie  Deutschland  in  dem  seinen.  In  andern  GroBenverhaltnissen 
dasselbe. 

Das  Ergebnis?  Ein  wirtschaftliches  Elend,  von  dem  man 
sich  selbst  in  diesem  verelendeten  Deutschland  heute  noch 
kerne  Vorstellung  machen  kann.  Nicht  nur  in  den  Arbeiter- 
vierteln,  auf  dem  budapester  Kurfurstendamm  sieht  man  den 
Menschen  den  Hunger  an.    Im  Dorf  womoglich  noch  schlimmer. 

Bethlen  ist  nach  zehnjahriger  Diktatur  plotzlich  abge- 
treten.  Hinter  den  Kulissen,  als  parlamentarischer  Fiihrer  der 
Regierungspartei,  dirigiert  er  aber  auch  die  Politik  seines 
Nachfolgers,  des  Graf  en  Josef  Karolyi.  Er  hat  ein  Triimmer- 
feld  von  Staat  hinterlassen.  Die  Finanzen  in  undurchdring- 
licher  Verwirrung,  die  Verwaltung  desorganisiert  und  korrupt, 
liickenlose  auflenpolitische  Isolierung,  Wenn  die  Tschechen 
wollten,  sie  konnten  Ungarn  jetzt  mit  einem  Griff  den  At  em 
abschniiren,  ihm  ein  zweites  Trianon  bereiten,  ein  wirtschaft- 
liches, schlimmer  als  das  erste.  Bethlen  selbst,  der  Heros  und 
presumptive  Wiederhersteller  des  tausendjahrigen  Reiches 
Sankt  Stefans,  begann  als  auBerordentlicher  Emissar  seines 
Nachfolgers  mit  Rumanen  und  Serben  Verhandlungen,  Er  ware 
jetzt  gern  in  freundschaitlichem  Sinne  Maktiv"  geworden.  Nach 
Prag  wurden  private  Bittsteller  geschickt.  Auf  einmal  las  man 
Artikelserien  in  den  Zeitungen,  daB  nur  Zusammenarbeit  mit 
den  Nachbarn  das  Heil  bringen  kann,  Zu  dieser  Erkenntnis 
hatte  man  auch  schmerzloser  gelangen  konnen.  Und  geht  es 
heute  iiberhaupt  noch?    Geht  es  mit  den  Bethlen  und  Karolyi? 

* 

In  Ungarn  hat  es  dreizehn  Jahre  gedauert,  bis  man  aus  der 
ruhmreichen  Vergangenheit  zur  nuchternen  Gegenwart  erwacht 
ist.    Deutschland  lebt  in  schnellerem  Tempo. 


KHeg  gleiCh  Mord  von  Ignaz  Wrobel 

La  guerre,  ce  sont  nos  parents. 
V\  er   Studien- Assessor   Hein   Herbers   in  Kassel  hat   Kummer 

mit  seiner  Schulbehorde,  weil  er  im  , Andern  Deutschland' 
einen  volkstiimlichen,  klaren  und  wirksamen  Pazifismus  ge- 
trieben  hat.  Das  konnen  sie  ihm  nicht  verzeihn.  Was  hat 
er  gesagt  — ? 

Ja,  er  hat  ein  paar  bose  Dinge  gesagt.  Er  hat  vor  allem 
das  Verniinftigste  getan,  was  sich  iiberhaupt  tun  laBt:  er  hat 
den  Krieg  entehrt.  Das  ist  ein  altes  Rezept;  es  wird  aber 
viel  zd  wenig  befolgt.  Im  Gegenteil:  wenn  Hitler  die  blodsin- 
nigsten  patriotischen  Parolen  ausgibt,  dann  verteidigen  sie  sich 
noch  auf  der  andern  Seite;  statt  ihn  auszulachen,  wollen  sie 
sich  an  Patriotismus  weder  von  ihm  noch  Von  einem  andern 
iibertreffen  lassen.  Grade  darin  aber  siegt  er  —  und  mit  Recht. 
Man  lasse  ihn  mit  seiner  Staatenvergotzung  allein,  lache  ihn 
aus  und  gehe  zur  Tagesordnung  iiber. 

588 


Auf  der  andres  stent.  Namlich:  wie  bewahrt  man  die 
nachste  Generation  davor,  sich  ftir  ein  Nichts  abschieBen  zu 
lassen  — ? 

Eben  das  hat  Herbers  getan:  er  hat  das  Nichts  aufgezeigt, 
und  er  hat  die  militarische  Religion  gelastert,  indem  er  dartat, 
da8  ein  General  eigentlich  kein  Soidat  mehr  sei,  (Das  ,Tage- 
buch'  nanntc  diesen  Stand  einmal  sehr  gut;  Schlachtendirekto- 
ren.  Groener  muB  glatt  vergessen  zu  haben,  zu  klagen.)  Her- 
bers hat  den  Wahirwitz  dieses  modernen  Krieges  aufgezeigt: 
hinten  die  Dirigenten,  die  gar  nicht  in  die  Lage  kommen,  Hel- 
denmut  zu  zeigen,  Und  hier  ist  zu  sagen,  daB  es  auf  den 
Mechanism  us   ankommt,   nicht   darauf,   daB   zahllose   Generale 

—  darunter  bestimmt  Hindenburg  —  genau  so  tapfer  und  brav 
in  den  Tod  gegangen  waren  wie  der  Ackerknecht  des  Todes, 
der  unbekannte  Soidat.    Was  in  unsern  Augen  kein  Vorzug  ist. 

Herbers  wies  auf  das  hohe  Alter  der  meisten  Generale  hin 

—  und  gleich  fanden  sich  Leisetreter  des  Pazifismus,  die  ihm 
das  verubelten.  Man  konne  doch  nicht  . . .  und  das  sei  doch  . .  , 
kurz;  Gerechtigkeits-Kasperles,  die  dem  Militar  nicht  nur  das 
Soldbuch,  sondern  die  ganze  schongeistige  Bibfliothek  hin- 
hielten, 

Boser  waren  die  amtlichen  Feinde  von  Herbers. 

Wer  da  weiB,  unter  welchen  Opfern  dieser  Mann  sett  Jah- 
ren  seinen  Kampf  durchfiihrt;  wer  weiB,  daB  ihm  auch  der 
argste  Feind  nicht  nachsagen  kann,  er  habe  seinen  Pazifismus 
etwa  —  Gottbehiite!  —  in  die  Schulstunde  getragen,  wo  es 
flott  imperialistisch  und  militaristisch  zuzugehn  hat,  der  ver- 
steht  vor  allem  nicht,  Wie  der  Elternrat  der  Schule,  an  die  er 
anlaBlich  dieser  Angelegenheit  versetzt  wurde,  sich  gegen  ihn 
hat  aussprechen  konnen.  Die  Herren  Eltern  wiinschen  eben 
ihre  Kinder  in  den  Schiitzengraben  —  es  sind  feine  Leute. 

Herbers  hat  den  Krieg  angeklagt,  und  nun  haben  sic  ihn 
selber  angeklagt.  Es  ist  auch  sehr  gut  moglich,  daB  ich  ihm 
noch  damit  schade,  wenn  ich  mich  hier  seiner  annehme. 

Der  Geisteszustand  in  den  kleinen  Stadten  und  vor  allem 
in  den  amtlichen  Kreisen  ist  schlechteste  Metternichzeit:  ver- 
mufft,  borniert,  bose  reaktionar  und  das  alles  ganz  und  gar 
ungeistig.  Siegreich  hat  Frankreich  sie  geschlagen,  und  daran 
denken  sie  Tag  und  Nacht.  Statt  Manner  zu  unterstutzen, 
die,  wie  Herbers,  mit  einer  heiBen  Liebe  zu  Deutschland  das 
schlimmste  aus  der  Welt  ausrotten  mochten^  was  es  gibt:  den 
organisierten  Massenmord,  propagieren  sie!  diesen  Mord.  Der 
Krieg  wird  von  den  besten  Denkern  in  den  Anklagezustand 
versetzt:  Herbers  hat  nichts  weiter  getan,  als  ihnen  zu  folgen. 
Und  das  darf  er  nicht.  Und  tuts  doch.  Und  ist  im  Begriff, 
Stellung,  Verdienst,  Arbeitsplatz  zu  verlieren,  nur,  weil  er 
auBerhalib  der  Schule  durchsetzen  mochte,  daB  Menschen  sich 
nicht  deshalb  ungestraft  toten  diirfen,  weil  sie  sich  vorher  ctazu 
einen  Schlachterkittel  anziehn.  Denn  der  macht  nicht  straflos. 

Es  tgibt,  besonders  im  deutschen  Westen,  weiteKreise  von 
alten  und  jungen  Leuten,  denen  Krieg  eine  Abscheulichkeit:  be- 
deutet,  Leute,  die  deshalb  weder  „schlechte  Deutsche"  noch 
,tbezahlte  Agenten"  sind,  Man  sollte  sich  gegen  solche  torich- 
ten  Vorwiirfe  gar  nicht  verteidigen. 

589 


Wovon  wird  Deutschland  geschiittelt?  Von  dem  Wunsch, 
den  Frieden  zu  organisieren?     So  schn  wir  aus, 

Weder  cine  Schulbehorde  noch  sonst  einc  Behorde  hat  das 
Recht,  fur  Deutschland  zu  sprechen.  Deutschland  sind  auch 
wir.     Wems  nicht  paBt,  dcr  sehe  nicht  hin, 

Wer  da  ahntf  auf  welche  unermeBlichen  Schwierigkeiten 
die  pazifistische  Kleinarbeit  auf  dem  Lande  stofit,  der  wird 
dem  tapfcrn  Friedenssoldaten  Hein  Herbers  wtinschen,  daB  er 
ctwas  sehr  Seltenes  findet:  faire  Beamte,  die  sein  Stffcben 
nach  Wahrheit  und  Sauberkeit  und  seinen  Kampf  fur  denFrie- 
den  so  aufnehmen,  wie  er  gemeint  ist  Es  gibt  viele  Arten, 
pazifistisch  tatig  zu  sein  —  und  ich  will  meine  Art,  unsre 
Kriegsminister  zu  beurteilen,  keinem  aufdrangen.  Aber  uber 
eines  sollte  es  unter  anstandigen  Menschen  nur  Einstimmigkeit 
geben: 

Deshonorons  la  guerre!     Eritehren  wir  den  Krieg. 

Ein  Padagoge,'  der  da  mithilft,  verdient  Forderung,  aber 
keine  Verfolgung. 

LaBt  euch  nicht  narren:  Militarismus  sei  keine  Religion. 
Er  ist  eine  Bestialitat, 


Die  Herren  Eltern  von  Theobald  Tiger 

1st  ein  Schullehrer  Pazifist 

*•  und  sa^t,  wic  es  in  Wahrheit  im  Kriege  ist  — ; 
daB  Generale  Kriegsinteressenten  sind, 
ganz  gleich,  wer  verliert;  ganz  gleich,  wer  gewinnt 
dann  —  sollte  man  meinen  —  freun  sich  die  Eltern  fur  ihr  Kind? 
Jawoll! 

Dann  erhebt  sich  ein  ungeheures  Elterngeschrei: 
r,Raus  mit  dem  Kerll    Das  ist  Giftmischerei! 
Unser  Junge  soil   lernen,  wie  schon  die  Kriege  sind! 
Wir  warten  schon  drauf,  wann  wiedcr  ein  neuer  beginnt  — 
und  dazu  lief  em  wir  gratis  und  franko  1  Kind! 
Jawoll!" 

Die  Elternbegeisterung  ist  ganz  enorm. 
Die  Mutter;   aus  Liebe  zur  Unifprm. 
Die  Vater,   die  Lief eranten  fur  den  Schiitzengraben, 
denken:   warum  sollen  denn  diese  Knaben 
es   besser  als  unsereiner   haben? 
Nicht  wahr? 

Die  Fabrikation  eines  Kindes  ist  nicht  sehr  teuer. 

Aber   erhoh  mal  ein  biBchen  die  Umsatzsteuer  — : 

dann   kreischen   die  Herren   Eltern,   daB  der   Ziegel  vom  Dache  fallt. 

Man  trennt  sich  leicht  vom  Kind. 

Aber  schwer  vom  Geld, 
Bekommt  das  Kind  einen  BauchschuB?  Das  macht  ihnen  keine 

Schmerzen, 
Doch  ihr  Geld  —  das  lieben  die  Herren  Eltern  von  Herzen, 
Jawoll! 

Mitleid  mit  den  Opfern,  die  da  fallen  fur  Petroleum,  fur  Fahnen,  fiir 

Gold  — ? 
Die  Herren  Eltern  haben  es  so  gewollt. 

590 


Moskail  1932  von  E.  J.  Guinbel 

III 

Meben  den  Valutaschwierigkeiten  und  dcr  Aufgabe,  den 
Waren-  und  Wohnungsmangel  zu  beheben,  ist  die  wich- 
tigste  Frage  der  nachsten  Zukunf  t,  wie  die  Qualitat  der  Pro- 
duktion  zu  verbessern  ist.  Denn  vielfach  ging  eine  quantitative 
Erfullung  der  Planvorschriften  auf  Kosten  der  Qualitat.  Hier- 
durch  wird  die  Lebensdauer  der  Maschinen  und  die  kommende 
Wirtschaft  bedroht.  GroBes  ist  bereits  in  der  Bekampfung  der 
Schlamperei  erreicht.  Im  taglichen  Leben  spiirt  man,  daB  die 
Korrektheit  zugenomraen  hat.  Aber  Ungeheures  muO  noch  ge~ 
leistet  werden,  urn  das  technische  Niveau  der  Arbeiter  zu 
heben,  damit  die  neuen  Maschinen  ebenso  viel  produzieren  wie 
in  Europa;  damit  die  Produkte  ebenso  gut  sind  und  vor  allem 
ebenso  lang  halten.  Heute  ruinieren  die  neuen  Lastkraftwagen 
die  StraBen  und  die  StraBen  die  Autos.  Denn  man  kann  mit 
dem  Bau  der  Autos  nicht  so  lang  wart  en,  bis  die  StraBen  gut 
sind.  Die  Traktoren  miissen  hergestellt  werden,  obwohl  es 
noch  nicht  geniigend  Traktorfuhrer  gibt.  So  wird  die 
Frage,  wie  die  Qualitat  der  Produktion  zu  verbessern  ist,  zu 
einer  Erziehungsfrage,  die  sich  wiederum  am  Mangel  an  be- 
reits qualifizierten  Arbeitern,  Instrukteuren  und  Spezialisten 
stoBt.  Die  Heranziehung  von  auslandischen  Spezialisten  ist 
duroh  den  Valuta-  und  Wohnungsmangel  gefahrdet. 

Das  Verschwinden  der  Arbeitslosigkeit  wirkt  auf  yeden 
europaischen  Besucher  wie  ein  Wunder.  Denn  sie  ist  heute 
zur  zentralen  Frage  unsrer  Wirtschaft  geworden.  Diesen  Vor-  • 
gang  haben  aber  wahrend  bestimmter  Zeiten  auch  kapi- 
talistische  Lander  gekannt.  In  der  Vorkriegszeit  war  die  Ar- 
beitslosigkeit iiberall  relativ  gering,  Auch  wahrend  der  In- 
flation hat  diese  Frage  bei  uns  nicht  existiert. 

Oberall  und  zu  alien  Zeiten  war  die  Entf altung  der  Pro- 
duktivkrafte  und  speziell  die  Ausnistung  der  Volkswirtschaft 
mit  neuen  Maschinen  zunachst  mit  einer  Verlangerung  der  ge- 
sellschaftlicheA  Arbeitszeit  verbunden;  sei  es  individuell,  sei  es 
durch  Mehreinstellung  von  Arbeitern.  So  ist  auch  in  RuBland 
das  Verschwinden  der  Arbeitslosigkeit  auf  den  gleichen  auBern 
AnstoB  zuriickzufiihren.  Allerdings  spielt  sich  dieser  Vor- 
gang  dort  unter  bisher  einzigartigen  Bedingungen  ab.  Denn 
zum  ersten  Mai  in  der  Menschheitsgeschichte  wird  versucht, 
eine  ganze  Volkswirtschaft  rational  zu  bauen,  Schon  weil 
RuBland  das  letzte  groBe  Land  ist,  das  bisher  industrialisiert 
wurde,  weil  es  von  den  Erfahrungen  aller  Lander  profitieren 
und  viele  der  Fehlinvestitionen  vermeiden  kann,  die  in  andern 
Landern  gemacht  werden  muBten,  ist  sein  Entwicklungstempo 
heute  groBer  als  jedes  bisher  bekannte.  So  gleichen  die  in- 
dustriellen  Gebiete  einer  einzigen  groBen  Baustelle. 

Licht  wie  Schatten  existieren  im  kapitalistischen  Europa 
wie  in  der  Sowjet-Union.  Aber  sie  sind  ganz  verschieden  ver- 
teilt.  Europa  steht  in  kulturell-technischer  Beziehung  auf  einem 
relativ  hohen  Niveau,  RuBland  auf  einem  tiefen.  Wir  ersticken 
an  der  Oberproduktion,  RuBland  hat  WarenmangeL  Bei  una 
findet  das  Angebot  keine  zahlkraf tige  Nachfrage,  in  RuBland 

591 


uberschreitet  die  zahlkraftige  Nachfrage  jedes  Angebot.  Wir 
schranken  die  Produktion  ein,  RuBland  dehnt  sie  aus,  Hicr 
UberfluB,  dort  Mangel  an  Fachleuten,  Bei  uns  rosten  die  Ma- 
schinen, dort  zerbrechen  sie  vor  Uberlastung,  Bei  uns  zer- 
storen  iiberfeinerte  Maschinen  das  Leben  der  Menschen,  dort 
ruinieren  grobe  Menschen  die  feinen  Maschinen.  Wir  sehen  in 
der  Technik  den  Fluch,  Rufiland  den  Weg  in  ein  Paradies. 
Wir  versuchen,  die  Industrie arbeiter  in  Kleinstbauern  zu  ver- 
Wandeln,  dort  wandert  die  Bauernschaft  in  die  Industrie.  Wir 
ersticken  in  der  Bildung,  haben  Angst  vor  mehr  Kenntnissen 
und  warnen  vor  deni  Besuch  der  Hochschulen,  dort  erwachen 
Millionen  aus  dem  Dunkel  des  Analphabetismus  und  streben 
zur  Bildung.  Wir  schlieBen  die  Schulen,  RuBland  baut  sie  auf. 
Nach  alien  Kriterien  ist  der  Kapitalismus  zum  Hemmnis  der 
Produktion,  die  russische  Industrialisierung  zum  Hebel  des 
Fortschritts  geworden, 

Man  konnte  einwenden,  daB  all  dies  mit  dem  sozialen 
Ziel  des  Landes  nichts  zu  tun  hat  und  daB  ein  solcher  Fort- 
schritt  bei  jedem  groBen  Agrarland  mit  reichen  Bodenschatzen 
eintreten  wiirde,  wenn  es  nur  zuruckgeblieben,  potentiell  reich 
genug  set  und  mit  Hilfe  einer  Inflation  das  Letzte  aus  seiner 
Bevolkerung  heraushole.  Aber  ein  solcher  Unterschied  in  der 
Entwicklung  kann  zunachst  nicht  nur  die  Folge  einer  Inflation 
sein,  denn  beinahe  die  ganze  Welt  hat  —  und  zwar  vergeblich 
—  den  Goldstandard  verlassen.  Ferner  existieren  genugend 
groBe,  zuruckgebliebehe  und  fiir  den  technischen  Fortschritt 
geeignete  Agrarlander  mit  Inflation.  Und  nirgends  sehen  wir 
auch  nur  die  geringsten  Anzeichen  fiir  diese  heute  spezifisch 
russische  Entwicklung.  Es  muB  also  zu  diesen  Bedingungent 
auch  soweit  sie  fiir  diese  Entwicklung  notwendig  sind,  noch 
etwas  Neues  hinzukommen.  Dieses  Neue  ist  der  Plangedanke, 
der  Versuch,  den  Sozialismus  zu  bauen. 

Es  ist  eine  sehr  gangbare  Darstellung,  die  russischen 
Probleme  seien  somit  im  Prinzip  gel6st.  Man  berichtet  am 
besten  iiberhaupt  nicht  mehr  von  der  tiefstehenden  Wirklich- 
keit  sondern  nur  vom  hochgebauten  Plan.  Der  erste  Fiinf- 
jahresplan  ist  erfiillt,  der  zweite  wird  die  Vollendung  des  So- 
zialismus bringen.  Diese  Betrachtungsweise  unterschatzt  die 
Fragen  und  hierdurch  auch  das  MaB  des  Geleisteten.  Vor 
allem  unterschatzt  sie  die  kommenden  ungeheuren,  vollkom- 
men  neuen  Aufgaben,  bei  denen  Rufiland  keine  Vorbilder 
haben  wird.  Sie  laBt  keineh  Raum  fiir  mogliche  Riickschlage 
und  bereitet  so,  ohne  es  zu  wollen,  Enttauschungen  vor. 

Die  Pharaonen  haben  die  Pyramiden  gebaut,  die  ameri- 
kanischen  Ingenieure  den  Panamakanal,  die  Bolschewisten  die 
neue  russische  Industrie.  Aber  auch  die  deutschen  Kapi- 
talisten  haben  in  der  Inflation  den  zur  GroBe  des  Landes  rela- 
tiv  groBten  Produktionsapparat  der  Welt  geschaffen.  Wenn 
die!  Russen  dies  wiederhoien,  soi  ist  auch  das  angesichts  der 
Tatsache,  daB  sie,  abgesehn  von  kurzfristigen  Wechseln,  keine 
auslandischen  Kredite  hatten,  eine  ungeheure  Leistung.  Aber 
so  groB  dies  Werk  istf  der  Aufbau  des  Sozialismus  ist  keine 
technische  sondern  eine  soziale  Frage.  Entscheidend  ist,  ob  es 
gelingt,    die   kommenden   Plane   richtig   zu   proportionieren,   so 

592 


daB  keine  nennenswerten  Fehlinvestitionen  gemacht  wcrdcn 
und  die  Fortdauer  der  Massenbeschaftigung  verbiirgt  ist;  ob 
es  gelingt,  das  Niveau  der  Arbeiterschaft  derart  zu  heben,  daB 
die  Industrie  fahig  ist,  ihre  Produkte  im  Lande  abzusetzen,  daB 
die  Menschen  von  Sklaven  zu  Herren  der  Maschinen  werden. 

Es  ist  ungeheuer  leicht,  die  russischen  Zustande  von  heute 
schwarz  in  schwarz  zu  malen.  Man  vergleicht  sie  einfach  mil 
denjenigen  westeuropaischen  Arbeiterverhaltnissen,  wie  sie  in 
der  Hochkonjunktur  existieren  konnen  und  nach  dem  Wunsch- 
bild  des  Schreibenden  existieren.  Aber  dicser  MaBstab  ist 
grundfalsch.  Wer  ihn  wahlt,  beweist  nur,  daB  er  keine  Ahniing 
hat,  wie  der  deutsche  Arbeiter  heute  lebt. 

Wer  sich  darauf  beschrankt,  die  ungeheuren  Opfer  autzu- 
zahlen,  die  das  geduldige  und  weiche  russische  Volk  ertragx, 
kann  mit  vollendeter  Wahrheit  ein  Bild  in  dunkelsten  Schatten 
entwerfen.  Und  doch  ist  dieses  Bild  falsch,  weil  darin  die 
Tatsache  fehlt,  daB  die  Arbeit ersc halt  in  den  kapitalistischen 
Landern  seit  Jahren  Lasten  tragt,  die  den  Vergleich  mit  den 
russischen  bald  auinehmen  konnen.  Die  historisch  gegebenen 
Schranken  verschieben  sich.  Vor  Jahren  stand  die  hochstbe- 
zahlte  russische  Arbeiterschicht  noch  weit  unter  der  niedrigst 
bezahlten  deutschen.  Heute  erhebt  sich  langsam  die  oberste 
Schicht  der  russischen  Arbeiter  uber  die  unterste  Schicht  der 
deutschen.  Aber  ein  solcher  echter  Vergleich  von  Land  zu 
Land  kann  nicht  durchgefiihrt  werden,  und  er  ist  auch  nicht 
beweiskraftig,  da  im  BewuBtsein  der  Menschen  doch  nur  die 
eigne  friihere  Klassenlage  und  nicht  die  der  andern  Lander  lebt. 
Als  Kriterium  der  Gute  eines  Systems  konnen  die  historisch 
gewordenen  Zustande  insofern  nicht  verwendet  werden,  als  sie 
auch  von  alien  friihern  Bedingungen  abhangen,  fiir  die  die 
jetzige  Herrschaft   nicht    verantwortlich    gemaoht  werden  kann. 

So  kann  das  Kriterium  des  Vergleichs  nicht  der  Zustand 
sondern  nur  seine  Entwicklungsrichtung  sein-  Von  hier  aus 
gesehn,  erhalten  wir  eine  deutliche  Antwort:  in  RuBland  geht 
es  der  Arbeiterschaft  wesentlich  besser,  bei  uns  wesentlich 
schlechter  als  friiher.  Hinzu  kommt  eine  entscheidende  soziale 
Tatsache.  Die  russische  Arbeiterschaft  tragt  die  Lasten  fiir 
sich.  Sie  weiB,  daB  jede  Entbehrung  von  heute  ein  Verzicht 
zugunsten  kunftiger  Genusse,  ein  echtes  Sparen  ist.  Aus  dem 
SchweiB,  dem  Blut  und  den  Tranen  von  heute  wachsen  die  Fa- 
briken,  die  ihr  gehoren,  die  ihr  morgen  Giiter  lief  em  werden; 
Giiter,  nicht  Ware  zur  Bereicherung  einer  der  Arbeiterschaft 
fremden  Schicht.  Die  Arbeiterschaft  in  Deutschland  aber  ent- 
behrt,  damit  morgen  andrer  Leute  Werke  bluhen. 

Falls  die  Reichswehr  nichts  dagegen  hat 

A  us  cinem  Theaterbericht  uber  „Die  endlose  StraBc": 
**  Die  heute  zwanzig  sind  und  die  Schrecken  des  Krieges  nicht  am 
eigenen  Leibe  erfahren  haben,  gebardeu  sich  vielfach  so  heldenhaft, 
daB  sie  von  Staats  wegen  rudelweise  ins  staatliche  Schiller-Theater 
gefiihrt  werden  sollten,  Vielleicht  gingen  ihnen  dann  die  Augen  auf, 
was  der  Heldentod   fiir  ein  schwieriger,  schmieriger  Tod   ist. 

,Neue  Ziiricher  Zeitung' 

593 


Die  sogenannte  Freiheit  von  Rudolf  Ambeim 

Aus  einem  Referat,  das  in  einer  berliner  Kundgebung  der 
„Deutschen  Liga  fur  Menschenrechte"  gehalten  wurde. 
RAeinc  Damen  und  Hcrren!  Protestkundgebungen  wie  die 
beutigc  scheincn  mir  haufig  ctwas  von  jenen  Regenprozes- 
sionen  zu  haben,  in  denen  man  den  lieben  Gott  um  schlecbt 
Wetter  bittet.  Wir  bitten  nicht,  wir  fordern  —  aber  das  muB 
nicht  unbedingt  wirksamer  sein,  Warum  entsteht  in  uns  so 
leicht  das  Gefiihl,  daB  solche  Unternehmungen  in  der  Luft 
schweben,  nicht  die  geniigende  Wirkungskraft  haben?  Haupt- 
sachlich  deshalb,  weil  Kampfe  gegen  Zensur  und  Unterdriik- 
kung  allzuoft  von  Gesichtspunkten  aus  gefiihrt  warden,  die  das 
folgende  falsche  Bild  der  Sachlage  ergeben:  In  einem  von  frei- 
heitlichen  Gesetzen  regierten  Staat  gibt  es  einigc  bosartige 
Beamte,  die  aus  purem  schlechtem  Willen  oder  Bockigkeit, 
aus  Mangel  an  Vernunft  oder  ruckschrittlich-spieBburgerlicher 
Gesinnung  unsrer  Freiheit  Gewalt  antun,  indem  sie  die  Gesetze 
„miBbrauchen'\  Gegen  diese  Obergriffe  gilt  es  zu  protestie- 
ren,  damit  der  Staat  die  Fehlhandlungen  seiner  Ausfiihrungs- 
organe  schleunigst  riickgangig  mache  und  den  von  der  Wei- 
marer  Verfassung  verbiirgten  Freiheitszustand  wieder  herstellc. 
Wer,  bewuBt  oder  unbewuBt,  von  solchen  Vorstellungen 
besessen  ist,  wird  mit  seinen  Protestkundgebungen  wenig  aus- 
richten.  Denn  es  ist  sinnlos,  Forderungen  ins  Blaue  hinein  auf- 
zustellen,  ohne  sich  zu  iiberlegen,  ob  sie  erfiillbar  sind.  Wenn 
wir  Meinungsfreiheit  fordern,  so  miissen  wir  wissen,  ob  die 
Leute,  von  denen  wir  sie  fordern,  diesen  Anspruch  erfiillen 
konnen,  beziehungsweise:  ob  wir  sie  dazu  zwingen  konnen, 
Durch  die  Weimarer  Verfassung  ist  das  Recht  der  freien  Mei- 
nungsauBerung  verbrieft,  die  Zensur  abgeschafft.  Diese  Be- 
stimmungen  sind  grofiartig  fur  einen  Idealstaat.  Die  Schwache 
der  Verfassung  liegt  ja  grade  darin,  daB  sie  in  alien  ihren 
Punkten,  den  achtundvierzigsten  ausgenommen,  fiir  einen  Ideal- 
staat entworfen  ist.  Recht  auf  Meinungsfreiheit,  das  ist  Recht 
auf  Opposition;  denn  Blumenspcnden  und  Beifallskundgebun- 
gen  brauchen  nicht  erst  durch  Gesetz  zugelassen  zu  werden. 
Wie  aber  steht  es  heute  mit  Opposition  und  Kritik? 

Ein  gesunder  Mensch  kann  sich  mehr  leisten  als  ein  kran- 
ker.  Ein  Kranker  darf  sich  keine  Freiheiten  herausnehmen. 
Und  so  mag  es  sein,  daB  unser  Staat,  weil  er  krank  ist,  sich 
die  Freiheiten,  die  wir  meinen,  nicht  herausnehmen  kann.  Ich 
sage  das  wahrhaftig  nicht,  um  die  Zensur  zu  entschuldigen.  Sie 
wird  sich  fiir  derlei  Anwalte  bedanken.  Denn  indem  man 
ihren  Sinn  auf  solche  Weise  erklart,  stellt  man  den  Staat,  des- 
sen  Werkzeug  sie  ist,  in  ein  ungiinstiges  Licht.  Wir  miissen 
begreifen,  daB  die  Schreckensherrschaft,  die  nachgrade  dazu 
gefiihrt  hat,  daB  man  in  jedem  Rotkehlchen  und  in  jedem  Rot- 
kohl  ein  kommunistisches  Demonstrationsobjekt  sieht  und  daB 
das  verbriefte  Recht  auf  Opposition  auch  nicht  in  den  allge- 
meinsten,  begrifflichsten,  blassesten  Formen  mehr  geiibt  wer- 
den darf  —  wir  miissen  begreifen,  daB  diese  Schreckensherr- 
schaft nicht  Unart  sondern  Notwehr  ist.  Sie  bezeichnet  die 
innere  Briichigkeit  eines  auBerlich  machtigen  Systems.  Jedes 
594 


absterbende,  aber  auch  jcdes  werdende  Gcbildc  bedarf  des 
Schutzes.  Das  Ktiken  im  Dottersack  braucht  eine  hartc  Kalk- 
schale;  das  ausgewachsene  Huhn  kommt  mit  eincm  weichen 
Federkleid  aus. 

Die  Frage  lautet  gar  nicht:  Zensur  odcr  nicht  Zensur? 
Sondern:  Zensur  zu  welchem  Zwcck?  Und  damit  zeigt  sich 
dcutlicher,  warum  Protestkundgebungen  so  haufig  auch  im 
eignen  Lager  unwirksam  sind,  Weil  sie  namlich  allzu  unbe- 
stimmt  im  Namen  der  Freiheit  unternommen  werden.  „Frei- 
hcitl**  ist  eine  rein  negative  Parole,  und  deshalb  kann  sie  nicht 
ziinden.  Denn  sie  besagt  nur,  was  man  nicht  will,  nicht  aber, 
was  man  wilL  Erst  wenn  man  sagt,  fur  welche  Ziele  man  Frei- 
heit des  Handelns  fordert,  gewinnt  die  Forderung  Sinn  und 
SchlagkraEt.  Schon  beim  alten  Diogenes  konnen  Sie  den  Satz 
lesen:  „Das  Schonste  auf  der  Welt  ist  die  Redefreiheit!",  und 
so  habe  ich  den  Verdacht,  daB  diese  Art  Freiheitskult  von 
Leuten  erfunden  worden  ist,  die  als  untatige  Einspanner  in 
einer  Tonne  leben.  Es  mag  sein,  daB  in  der  Meinung  fiber  die- 
sen  Punkt  schon  Generationsunterschiede  vorliegen.  Jeden- 
falls  glaube  ich  nach  dem  Herzen  der  heutigen  Jugend,  ganz 
gleich,  ob  sie  links  steht  oder  rechts,  zu  sprechen,  wenn  ich 
sage:  Hundertmal  lieber  gebunden  in  einem  gut  en  Staat  als 
frei  in  einem  schlechtenf  Und  das  Schonste  auf  der  Welt  ist 
nicht  die  Redefreiheit  sondern  die  Arbeit  fur  das  Wahre  und 
Gute  und  Schone. 

Wir  diirfen  uns  von  unsern  Gegnern  nicht  in  die  Stellung 
drangen  lassen,  als  kampften  wir  gegen  Bindung  fur  bloBe  Un- 
gebundenheit.  Die  Zeit'  fiir  solche  Parolen  ist  vbrbei.  Der  Zen- 
surkampf  ist  Teil  des  Kampfes,  den  die  eine  politische  Welt- 
anschauung gegen  die  andre  fuhrt.  Daraus  folgt  fiir  unsre  Hal- 
tung:  Es  ist  sinnlos,  dagegen  zu  protestieren,  daB  der  Gegner 
Waffen  benutzt.  Vielmehr  muB  man  priifen,  welche  einem  sel- 
ber,  zur  Abwehr,  zur  Verfiigung  stehen.  Welche  Waffen  haben 
wir? 

Die  ganze  Reputation  des  heutigen  Staates,  seine  einzige 
Propagandamoglichkeit  beruht  darauf,  daB  er  ein  iiber  den 
Parteien  schwebendes,  objektives,  gerechtes  Gebilde  sei,  eine 
Staatsform,  die  sich  zwar  gegen  Ausschreitung  und  Gewalt- 
tat  schiitzen  miisse,  im  iibrigen  aber  jeden  nach  seiner  Fa9on 
selig  werden  lasse.  Aufklarung  dariiber  zu  s  chaff  en,  daB  das 
nicht  so  ist,  bedeutet  unsre  starkste  Waffe,  Wir  diirfen  den 
Zensurkampf  nicht  aufziehen  als  einen  Kampf  gegen  Willkiir- 
akte  (denn  es  sind  keine)  sondern  gegen  grade  sehr  durch- 
dachte,  politisch  sinnvolle  AbwehrmaBnahmen  des  einen  poli- 
tischen  Lagers  gegen  das  andre.  Wir  konnen  den  amtlichen 
Sonntagsnachmittagsmantel  liiften,  der  aus  Verfassungsartikeln 
und  Goethezitaten  kunstvoll  gewebt  ist.  Unsre  einzige  Macht- 
chance  liegt  hier:  Es  konnte  den  Regierenden  ratlich  erschei- 
nen#  den  Unterdriickungskampf  gegen  die  Opposition  abzu- 
dampfen,  urn  ihr  nicht  zu  viel  beweiskraftiges  Material  fiir 
ihre  Aufklarungsarbeit  zu  Hefern,  urn  die  brutale  Geste,  hin- 
ter  der  sich  Schwache  verbirgt,  nicht  fiir  allzu  viele  Augen 
sichtbar  zu  machen.  Aufklaren  ist  unsre  Aufgabe,  den  Wider- 
spruch  aufzeigen  zwischen  demt  was  dieser  Staat  tut  und  was 

595 


er  in  Verfassungen  und  Verfassungsfeiern  proklamiert.  Nicht 
aber  liegt  es  uns  ob,  an  die  Freiheitsideen  und  den  Gerechtig- 
kcitssinn  dieses  Staates  zu  appellieren.  Denn  damit  helfen 
wir  die  fur  ihn  lebenswichtige  Fiktion  aufrechterhalten,  als 
ginge  es  um  etwas  andres  als  urn  Machtkampf. 

Meine  Damen  und  Herren!  Im  Lichtspielgesetz  vom  Mai 
1920  steht,  daB  ein  Film  wegen  einer  Tendenz  als  solcher  nicht 
verboten  vverden  darL  Und  so  erweist  sich  die  Praxis  der 
Filmzensur  als  ein  einziges,  jahrelanges  Suchen  nach  Mitteln 
und  Unrwegen,  Filme  dennoch  wegen  ihrer  Tendenz  als  solcher 
zu  verbieten.  Denn  das  ist  ja,  politisch  gesehen,  ihre  eigent- 
liche  Aufgabe;  sie  ist  das  Kampfmittel  einer  ,,Tendenz"  gegen 
eine  andre.  Die  Filmzensur  legt  schon  rein  auBerlich  keinen 
Wert  darauf,  als  ein  ordentliches  Gerichtsverfahren  angesehen 
zu  werden.  Sie  arbeitet  nicht  offentlich,  wie  es  selbstverstand- 
lich  ware,  sondern  streng  geheim.  Es  ist  sehr  lehrreich,  ein- 
mal  mitzuerleben,  wie  Herr  Ministerialrat  Seeger  Pressever- 
treter  mit  einer  Handbewegung  aus  dem  Saal  fegt;  obwohl  ihm 
das  Lichtspielgesetz  keinerlei  Anhalt  dafiir  bietet. 

Man  will  uns  die  Augen  verbinden.  Wir  sollten  uns  das 
nicht  ruhig  gefallen  lassen, 

Expertendatntnerung  von  Gabrieie  Tergit 

r\  er  Van  Gogh-ProzeG  hat  drei  Schichten. 

Im   Vordergrund   stehen  Figur  und   Faischungen  Wackers. 

Im  zweiten  Teil  steht  der  Streit  $er  Kunstgelehrten,  kon- 
zentriert  auf  den  Gegensatz  Bremmer-Justi. 

Vom  Hintergrund  wirf t  ein  gewaltiges  und  banales  Thema 
seincn  riesengroBen  Schatten  uber  den  lacherlichen  ProzeB, 
das  Thema:  Schicksal  des  reinen  Menschen.  Passion,  Ver- 
gottung,  NutznieBung  einer  Kirche. 

So  fangt  es  an:  „An  den  Tagen,  an  denen  ich  eine  Studie 
nach  Hause  bringe,  sage  ich  mir;  wenn  es  alle  Tage  so  ginge, 
konnte  man  vorwartskommen.  Aber  wenn  man  unverrichteter 
Sache  zuriickkommt  und  dann  doch  schlaft  und  iBt  und  sein 
Geld  ausgibt,  ist  man  unzufrieden  mit  sich  und  fiihlt  sich  als 
einen  Narren,  einen  Schurkenf/  einen  Faulpelz/'  Dienst  am 
Werk,  tagiicher  Kampf ,  Jammer  des  MiBHngens,  seltenes  groBes 
Gliick  beim  Gelingen,  Not,  Sorge  um  das  Tagliche,  Krankheit 
und  Sterben  ohne  Ruhm  und  Glanz.  ,,Das  Weiterleben  des 
Kiinstlcrs  dutch  sein  Werk!    Wie  wenig  halte  ich  davon!" 

Aus  den  Leinwanden,  auf  die  ein  Mensch  das  groBe  Mar- 
tyrium  des  Kiinstlers  projizierte,  sind  jetzt,  vierzig  Jahre  nach 
diesem  Tode,  ,,Wertobjekte'*  geworden,  Ware,  fur  die  es  einen 
Markt  gibt,  Handler,  Kaufer,  Preise,  Notierungen.  Das  Hei- 
lige  wurde  materialisiert  und  auf  dem  Marktplatz  vor  dem 
Forum  streitet  man  sich  um  des  Meisters  Ztige,  Es  gibt  Jiin- 
ger,  die  seine  Kunst  von  Anbeginn  kannten,  es  gibt  die  spaten 
Nachfolger  der  Jiinger,  die  schon  Beamte  wurden.  Ringsum 
aber  sitzen  die  NutznieBer.  So  einfach  ist  das.  Jedes  groBen 
Daseins  gleiche  Kurve, 

Und  als  es  so  weit  war,  daB  die  Ware  ,,van  Goghsches 
Bild1'   stieg  bis  auf   100  000  Dollar,   als  Bilder  nicht  mehr  aus 

596 


Liebe  gekauft  wurdea  sondern  als  unverzinslicher  Wert,  als 
Aktie,  als  inflationssichcrer  Ersatz  fur  3>£prozentige 
preuBische  Konsols,  tauchten  dreiunddreiBig  falsche  van  Goghs 
auf  durch  einen  Mann  namens  Wackcr,  um  die  jetzt  der  Streit 
geht,  Wacker  ist  angeklagt  wcgen  Betruges,  Er  ist  Tanzer  und 
der  Jiinglingsliebe  geneigt.  Und  so  sieht  er  auch  aus.  Ist 
Wacker  ein  gerissener  Lump  oder  selber  Opfer?  WuBte  er, 
daB  die  van  Goghs  falsch  waren?  Er  sagt:  „nein".  Nach  sei- 
nem  Tanzabend  im  Bltithnersaal  suchte  seine  Freundschaft  ein 
Russe,  der  in  der  Schweiz  lebte  und  als  Erbe  eines  groBen 
Sammlers  viele  van  Goghs  besaB.  Wacker  verabredete  mit 
ihm,  die  Bilder  nach  und  nach  zu  verkaufen  unter  der  Bedin- 
gung,  daB  Wacker  ehrenwortlich  versprach,  nie  den  Namen 
des  Russen  zu  nennen.  Lebt  der  Russe?  Wacker  zeigte 
Meier-Grafe,  der  foesorgt  um  Verwicklungen  war,  einen  Brief, 
dessen  An-  und  Unterschrift  er  umgebogen  hatte,  Meier-Grafe 
dachte  auf  den  ersten  Blick  „russische  Schrift",  ias  den  Brief, 
in  dem  in  Auslanderdeutsch  von  mehreren  van  Gogbwerken, 
wegen  deren  man  in  Verbindung  steht,  die  Rede  ist.  Meier- 
Grafe  halt  den  Brief  unbedingt  fur  echt,  Wacker  gestand  ihm 
nun  unter  Tranen,  daB  er  die  Bilder  nicht  auf  rechtmaBige 
Weise  bekommen  habe.  Das  Familienmitglied,  das  ihm  die 
Bilder  (ibergeben  haibe,  sei  nicht  zum  Verkauf  der  Werke  be- 
rechtigt  gewesen.     Im  iibrigen  schweigt  Wacker. 

Gibt  es  eitie  Tragodie  Wacker?  Deckt  er,  verfilzt  in  Be- 
ziehungen,  einen,  dem  er  horig  ist  oder  der  ihn  vielleicht  er- 
preBt,  oder  deckt  er  —  in  allergroBter  Vorsicht  sei  es  ausge- 
sprochen  —  seine  eigne  Familie?  Im  Zuhorerraum  sitzen 
Vater  und  Bruder  Wacker,  die  Maler  in  Diisseldorf  sind.  Der 
Vater  hat  ein  fast  damonisches  Gesicht,  auf  dicken  schwarzen 
Locken  thront  ein  mexikanisch  groBer  schwarzer  Kalabreser, 
alter  Kiinstler  der  miinchener  achtziger  Jahre.  Der  Bruder 
ebenso  angetan.  In  seinem  Atelier  wurden  falsche  van  Goghs 
gefunden.  Er  sagt  zum  Zweck  der  Restaurierung.  So  die  Fa- 
milie Wacker. 

Die  Bilder  wurden  vom  Kunsthandel  aufgenommen  und 
weiterverkauft.  Ein  Selbstbildnis  van  Goghs  Wackerscher 
Provenienz  wurde  fur  65  000  Mark  nach  Amerika  verkauft,  wo 
es  sehr  rasch  fur  100  000  Dollar  weiterverkauft  wurde.  Nie- 
mand1  beanstandete  die  Bilder,  Erst  1928  auf  einer  van  Gogh- 
Ausstellung  bei  Cassirer  erkannte  Doktor  Grete  Ring  die  Bilder 
als  gefalscht  und  gab  sie  Wacker  zuriick.  Im  selben  Jahr  noeh 
versammelte  Justi,  der  Direktor  der  Nationalgalerie,  anlafilich 
einer  van  Gogh-Aussteliung  fiinfzehn  van  Goghs  von  Wacker 
in  abseits  gelegenen  Raumen  und  erklarte  sie  fiir  falsch. 

Hat  Wacker,  wenn  er  es  nicht  wuBte,  glauben  konnen,  daB 
die  Bilder  echt  waren?  Handelte  er  bona  fide?  Wacker  hatte 
vorsichtig  kein  Bild  ohne  Echtheitserklarung  eines  anerkann- 
ten  Sachverstandigen  verkauft.  Aber  was  sind  Sachverstan- 
dige,  was  ist  der  Wert  von  Expertisen?  „Ein  ungeheuer  ge- 
ringerw,  sagt  Meier-Grafe,  Uber  das  Kriminelle  hinaus  ist  die- 
ser  ProzeB  der  ProzeB  iiber  Experten.  Der  Hollander  de  la 
Faille  hielt  alle  van  Goghs  von  Wacker  fiir  echt  und  nahm  sie 
in  seinen  Katalog  der  van  Gogh-Bilder  auf.     Ein  Jahr  spater 

597 


erklart  e  er  sie  alle  in  einem  Nachtrag  zum  selfoen  Katalog  in 
Bausch  und  Bogen  fur  falsch.  Jetzt  vor  Gcricht  spricht  er  feier- 
lich  doch  wiedcr  vier  Bilder  dem  Meistcr  zu. 

Meier-Graf  e,  der  bezaubernde  Causeur,  der  viele  der  Bil- 
der als  echt  expertisierte,  sagte  jetzt:  „Ich  muB  gestehen,  mir 
sind  am  alien  Bildern  Zweifel  gekommen." 

Der  Hollander  Bremmer  hat  fiir  sich  den  hochsten  Ruhm, 
Herold  und  Entdecker  van  Goghs  gewesen  zu  sein.  Er  ist  ein 
auBerst  sympathischer  Mensch,  Sammler,  Personlichkeit,  im 
Aussehen  den  guten  Englandern  gleichend,  titellos,  befreundet 
mit  der  Frau  jenes  Theo  van  Gogh,  der  lebte,  litt  und  starb 
um  seines  Bruders  willen,  Ein  freier  Mensch,  plaudert  er  im 
Gerichtssaal  wie  beim  Tee,  Sicher  ein  Original.  Beklagens- 
werter  Mangel  an  Originalen  im  heutigen  knechtseligen  Deutsch- 
land,  dem  alten  Lande  der  Originate.  Aber  ist  Bremmer  ein 
Sachverstandiger?  Er  halt  es  mit  der  Intuition,  dem  Irratio- 
nalismus,  aus  der  Tiefe  des  Gemiits,  ein  hochst  bedenklicher 
Weg,  erklart  er  acht  Bilder  fiir  unzweifelhaft  echt.  „Es  ist  ein 
innerer  Weg,  durch  den  ich  urteile."  Er  setzt  sich  vor  die 
Bilder  und  wartet,  ob  sie  ihn  hypnotisieren  oder  nicht,  Brem- 
mer sagt  gern  ,.,Tiefe  und  Inneres".  Und  das  entziickt  immer 
bei  uns.  Man  kann  sagen  was  man  will,  Justi,  der  langst  nicht 
so  sympathisch  wirkt  wie  er,  nicht  so  aus  der  Fiille  ist,  im 
schwarzen  Rock,  Geheimrat,  Beamter,  Asthet,  offiziell,  Di- 
plomat, der  noch  mit  Wilhelm  IL  verhandeln  konnte  und  muBte, 
Justi  war  der  einzig  wirklich  kiare  Wissenschaftler,  der  iiber- 
zeugend  am  der  Gegeniiberstellung  der  echten  und  unechten 
Bilder  die  grabe  Falschung  nachwies.  Das  Bild,  von  dem  Justi 
erklart,  daB  er  nie  in  seinem  Leben  so  sicher  ein  Bild  als  Fal- 
schung erkannt  hat,  nennt  Bremmer  eins  der  feinsten  Farben- 
experimente,  die  van  Gogh  je  gemacht  habe.  Justis  Meinung 
wird  spater  durch  die  Rontgenaufnahmen  von  Welte  stark 
unterstiitzt,  Diese  Rontgenaufnahmen  zeigen  den  sichernStrich 
der  echten,  den  unsichern  Strich  der  vermutlich  gefalschten 
iiberzeugend. 

Um  ein  Bild  bleiben  noch  Zweifel.  Der  hollamdische  Dak- 
tyloskopist  hat  darin  Finger abdnicke  in  der  frischen  Farbe  ge- 
funden,  die  mit  Fingerabdriicken  in  der  Farbe  der  echten  Bil- 
der in  fiinf  Punkten  tibereinstimmen.  Aber  zur  Feststellung 
der  Identitat  werden  international  acht  bis  zwolf  Punkte  verlangt* 
Hinzukommt,  daB  der  ausgezeichnete  Restaurator  de  Wild  die 
Farben  dieses  Bildes  fiir  etwa  vierzig  Jahre  alt  halt.  Es  kann 
also  echt  sein.  Ungern  beugten  sich  die  Leute  vom  Museum 
diesem  Indiz,  da  die  Qualitat  des  Biides  zu  schlecht  erscheint. 
Alle  technischen  Indizien  gelten  als  mangelhaft.  Man  muBte 
an  das  Wort  Liebermanns  denken:  1tDie  Kunsthistoriker  sind 
da,  um  uns  nach  unserm  Tode  unsre  schlechten  Bilder  abzu- 
sprechen."  Wacker  wurde  langst  Nebenperson,  wahrend  diese 
Komodie  voriiberzog  von  Meinung  und  Gegenmeinung  der 
Sachverstandigen,  von  dem  Tasten  und  den  Versuchen,  einzu- 
dringen  in  die  Geheimnisse  des  genialen  Kiinstlers. 

Dieser  ProzeB  findet  in  der  Weinabteilung  von  Moabit, 
dem  kleinen  Schwur gerichtssaal,  statt.  Er  beginnt  um  zehn  Uhrt 
nicht  wie  andre  simple  Prozesse  um  neun,  und  die  Frau  im  Er- 

598 


irischungsraum  klagt:  „  Wenn  ich  gewuBt  hatte,  daB  wir  so  feine 
Leute  herbekommen,  hatte  ich  doch  mehr  Schinkenbrotchen 
gemacht."  Im  Parkett  sitzcn  scheme  Frauen,  bedeutende  Man- 
ner, Maler,  tcils  Konner  tcils  Wichtigmacher,  und  man  mochte 
in  ein  Lob  der  Falscher  ausbrechen.  Haben  sie  nicht  recht, 
eine  Welt  hopp  zu  nehmen,  die  immer  wieder  das  Genie  ver- 
hungern  laBt,  die  an  alien  Ecken  den  Kitsch  duldet,  der  der 
Kiinstler  eine  zweifelhafte  Person  ist  und  schlieBlich  nur  dazu 
da,  wenn  er  tot  ist,  uber  ihn  Biicher  zu  schreiben? 

Ehrenrettung  wurde  van  Gogh  zuteiL  Der  Glanz  seiner 
Bilder  trieb  wirklich  die  falschen  in  den  Schatten  ihrer  Ent- 
stehung  zuriick.  Und  ein  Kornfeld,  Blick  aus  der  Zelle  des 
Irrenhauses,  letzte  Station  des  Calvarienberges,  geheimnisvoll 
am  lichten  Tag,  war  hoheres  Zeugnis  als  Eide,  Wissenschaft 
und  jeder  Versuch  mit  Hebe  In  und  mit  Schrauben, 

Zum  Gedenken   voa  Peter  Panter 

fSchaubuhne't  /2.  Marx  1914 
P^as  war  damals,  als  sie  bei  Reinhardt  noch  tlWas  ihr  wollt'* 

spielten.  Aus  diesem  Stuck  ist  mir  ein  Augenblick  in  der 
Erinnerung  geblieben  und  wird  wohl  nie  mehr  daraus  ver- 
schwinden. 

Die  Sache  lag  so,  daB  der  ganze  Keller  sternhagelvoli 
war.  Die  Wangel  spielte,  Diegelmann  schnarchte  irgendwo 
unter  einer  Tischplatte,  auch  WaBmann  stand  nicht  mehr  fest 
auf  seinen  diinnen  und  jammerlichen  Junkerbeinen,  und  der 
Narr  Moissi  klknperte  in  dieser  versoffenen  Morgenstimmung 
auf  der  Guitarre.  Es  war  in  jeder  Beziehung  vier  Uhr:  das 
Fest  vorm  Erloschen,  der  Alkohol  vorm  Verdunsten.  DrauBen 
hingen  grau  und  weinerlich  triibe  Morgenwolken  —  und  ob 
sich  das  nun  in  meinem  Gedachtnis  verwischt  hat,  ob  wirklich 
diese  Worte  jetzt  oder  ein  biBchen  spater  gesprochen  wur- 
den  — :  jedenfalls  rissen  sich  alle  erwachend  zusammen,  tor- 
kelten  unfroh  durcheinander  und  brachen  aui.  Vorher,  irgend- 
wann  am  Abend,  hatten  sie  auch  von  der  Liebe  gesprochen, 
und  Teddy  WaBmann  hielt  noch  bei  dieser  Station-  MSeine 
Gedanken  begreiflicherweis«  Dammern  so  weiter  im  alten  Ge- 
leise."  Und  wie  der  dicke  Diegelmann  ihn  fortziehen  will: 
,,Kommt,  Junker!  Kommt!  Wir  wollen  gehen!"  —  da  ist  es 
aus,  die  Riihrung  fallt  ihn  an,  die  blauen  Augen  fiillen  sich  mit 
Wasser,  sein  Blick  hangt  verloren  an  der  Rampe,  und  er  sagt 
ganz  leise,  ganz  geriihrt,  ganz  in  die  Erinnerung  versunken: 
„Mich  , . .  mich  hat  auch  einmal  Eine  geliebt , . .!"  -Der  Chor 
der  Larmer  fiel  dariiber  her,  das  Spiel  ging  weiter,  aber  er 
stand  noch  immer  da,  noch  immer  mit  dem  Kopfe  wackelnd: 
kaum  glaublich,  und  doch  wie  wahr!  doch  wie  schon!  Ihn  — 
ihn  hat  auch  einmal  Eine  ... 

Nachher  kam  noch  sehr  viel  Hubsches,  das  man  gern  sah 
und  doch  wieder  vergaB.  Dies  aber  ist  geblieben.  Das  freund- 
liche  Angedenken  an  einen  armen,  vom  Leben  ausgestoBenen 
Mann,  der  immer  mit  den  Andern,  den  Gliicklichen,  kon- 
trastierte,  der  sich  nicht  zu  halten  wufite,  und  dem  das  Wasser 
in  die  Augen  schoB,  weil  ihn  auch  einmal  Eine  geliebt  hatte. 

599 


Kreuger,  Morgan,  Rockefeller  Bernard  citron 

Ccit  dem  Wallstreet-Krach  vom  Hcrbst  1929  bemiihen  sich 
^  die  Vereinigten  Staaten  vergeblich,  die  vcrlorene  prospe- 
rity wieder  zu  erobern.  Man  kann  nicht  standig  gegen  den 
Strom  schwimmen,  ohne  daB  die  Kraft e  erlahmen.  Alle  groB- 
zugigen  Versuche  des  Prasidenten  Hoover,  die- Wirtschafts- 
konjunktur  wieder  zu  beleben,  mufiten  fehlschlagen,  da  noch 
zuviel  Faules  im  Wirtschaftskorper  Amerikas  unbereinigt  ge- 
blieben  ist.  Die  letzte  grofie  Aktion  war  die  Griindung  der 
Finance-Reconstruction-Corporation  mit  dem  fur  europaische 
Verhaltnisse  unglaublich  hohen  Kapital  von  zwei  Milliarden 
Dollars.  Diese  Griindung  sollte  deri  Zweck  haben,  die  Wirt- 
schaft  anzukur.beln,  die  Industrie  mit  Auftragen  zu  versorgen 
und  den  Banken  neue  Mittel  zuzufuhren,  Aber  es  hat  sich  als 
unmoglich  erwiesen,  die  Wirtschaft  anzukurbeln,  ohne  sie  zu 
sanieren.  Die  Mittel,  die  vorlaufig  in  Anspruch  genommen 
worden  sind,  verniochten  nicht  in  den  WiederbelebungsprozeB 
eingestellt  zu  werden,  sondern  mufiten  lediglich  Banken,  Eisen- 
bahnen  und  Industriegesellschaften  vor  dem  drohenden  Zu- 
sammenbruch  schiitzen,  Ungefahr  achthundert  Bankinstitute 
sind  seit  dem  Herbst  von  der  Finance-Reconstruction-Corpora- 
tion und  der  National-Credit-Corporation  gestiitzt  worden.  Mit 
Ausnahme  eines  einzigen  groBen  Projekts  bei  der  Pennsyl- 
vanien-Eisenbahn-Geseilschaft  sind  auch  die  Untersttitzungen, 
die  den  Eisenbahnen  gewahrt  worden  sind,  lediglich  als  MaB- 
nahmen  zur  Abwendung  des  Konkurses  zu  betrachten.  In  der 
Industrie  ist  die  Gefahr  einer  Katastrophe  gleichfalls  so  groB, 
daB  man  sehr  stark  bezweifeln  mufi;  ob  kiinftig  fiir  andre  als 
1  fiir   Stiitzungszwecke  Regierungsgelder  vorhanden   sind. 

Zum  eisernen  Bestand  der  amerikanischen  Wirtschaft  ge- 
horten  bisher  die  sogenannten  Public  Utilities,  die  Tariigesell- 
schaften,  iiber  deren  wucherische  Politik  sogar  ein  amerika- 
nischer  Botschafter  auf  der  Weltkraft-Konferenz  vor  wenigen 
Jahren  Klage  gefiihrt  hat.  Noch  zu  Beginn  der  Krise  galten 
diese  Tarifgesellschaften,  die  mit  hohen  Elektrizitats-,  Gas- 
und  Wasserpreisen  die  Bevolkerung  auspowern,  als  wirtschaft- 
lich  glanzend  fundiert.  Die  Gesellschaften  haben  noch  zu  einer 
Zeit,  als  man  Auslandsbeziehungen  eher  einzuschranken  als 
auszubauen  gewillt  war,  ihre  Fiihler  nach  Europa  ausgestreckt; 
so  waren  zum  Beispiel  bei  der  Griindung  der  Berliner  Kraft 
und  Licht  AG.  amerikanische  Gruppen  beteiligt.  Aber  auch 
die  Krisenfestigkeit  der  Public  Utilities  hat  auf  die  Dauer 
keinen  Bestand  gehabt,  Vielleicht  war  es  sogar  das  Ungltick 
dieser  Unternehmumgen,  zuletzt  in  die  Krise  eingetreten  zu 
seiri  und  sich  soinit  nicht  rechtzeitig  umgestellt  zu  haben,  Der 
Zusammenbruch  t  des  Insull-Konzerns,  der  nichtfundierte 
Schulden  von  650  Millionen  Dollar  hat,  beleuchtet  schlag- 
lichtartig  die  gefahrliche  Lage,  in  der  sich  die  Tarif- 
gesellschaften befinden,  Wenn  Regierung  und  Parlament  der 
Vereinigten  Staaten  nicht  ganz  und  gar  auf  die  Allmacht  der 
kapitalistischen  Wirtschaft  eingeschworen  waren,  so  miiBten 
sie  an  die  Verstaatlichung  der  subventionierten  Bahnen  und 
Tarifgesellschaften  gehen.  Man  wiirde  da<mit  in  Amerika  einen 
600 


SozialisierungsprozeB  nachholen,  dcr  bei  uns  schon  untcr  der 
Aegide  Bismarcks  begonnen  hat,  Bci  aller  Kritik,  die  in 
den  letzten  Jahren  an  der  offentlichen  Wirtschaft  in  Deutsch- 
land  getibt  worden  ist,  wird  man  dooh  nicht  wegleugneri 
konnen,  daB  die  Tarifgesellschaften  die  wertvollsten  Aktiva 
der  deutschen  Kommunen  darstellen,  und  daB  auch  die  Reichs- 
bahn trotz  ihrera  gegenwartigen  Defizit  den  wertvollsten  Be- 
sitz  der  Nation  darstellt.  Auch  die  private  Wirtschaft  ist  von 
der  Reichsbahn  in  starkem  MaBe  befruchtet  worden.  Es  ist 
sehr  fraglich,  ob  eine  private  Eisenbahn  ihre  Auftrage  mit  so- 
viel  Riicksicht  auf  die  Lebensnotwendigkeit  der  Industrie  ver- 
teilen  wiirde  wie  die  Deutsche  Reichsbahn.  Wenn  Amerika 
die  politische  Konsequenz  der  Verstaatliohung  fiirchtetj  so  ge- 
steht  es  damit  ein,  daB  der  araerikanische  GroBkapitalismus 
keine  Widerstandsfahigkeit  mehr  besitzt,  Als  Bismarck  die 
Eisenbahnen  verstaatlichte,  hat  er  jedenf alls  den  Anbruch  einer 
sozialistischen  Epoche  nicht  zu  ibeiiirchten  gehabt. 

Die  Schwierigkeiten  im  Bankgewerbe  haben  langst  die 
Niederungen  der  mittlern  Unternehmungen  iiiberschwemmt  tnid 
erreichcn  schon  die  Gipfel.  Die  Geriichte,  die  standig  iiber 
die  National  City  Bank  in  Umlauf  gesetzt  werden,  scheinen 
doch  nicht  nur  boswillige  Erfindungen  yon  europaischen 
Baissecliquen  zu  sein.  Nicht  das  MiBtrauen  selbst  pflegt  ein 
Institut  auszuhohlenf  sondern  die  innere  Schwache  erzeugt 
erst  die  Vertrauenskrise.  So  war  es  in  Deutschland,  und  so  ist 
es  in  Amerika  trotz  alien  Beschwichtungen.  Vielleicht  hat 
nichts  so  deutlich  die  Unsicherheit  der  National  City  Bank 
charakterisiert  wie  ein  Berichtf  den  sie  vor  einigen  Wochen 
iiber  die  allgemeine  Lage  der  Wirtschaft  und  der  Banken  er- 
stattet  hat.  Wenn  in  einer  so  kritischen  Periode  von  einer 
Bank  eine  derartige  Schonfarberei  getrieben  wird  wie  in  dem 
Marzbericht  der  National  City  Bank  of  New  York,  so  kann 
man  darin  nur  den  Ausdruck  einer  angstlichen  Vertrauens- 
werbung   erblicken. 

Selbst  der  Name  Morgan,  vor  dem  Jahre  und  Jahrzehnte 
die  Welt  in  Ehrfurcht  erschauerte,  ist  heute  nicht  mehr  un- 
bestritten.  Frankreich  ist  langst  vom  Schuldner  Morgans  zum 
Glaubiger  avanciert,  die  sudamerikanischen  Staaten  aber^  in 
denen  gewaltige  Summen  invcstiert  sind,  miissen  heute  schon 
als  dubiose  Schnldner  gelten.  GroBe  Verluste  erwachsen  dem 
Hause  Morgan  aus  dem  Zusammenbruch  Ivar  Kreugers.  Die 
amerikanische  Bankfirma  Lee  Higgihson  &  Co.  konnte  noch 
unmitteibar  nach  dem  Tode  des  Ziindholzkonigs  erklaren,  daB 
die  Verpflichtungen  Kreugers  nur  wenige  Millionen  Dollars 
betragen.  Die  Falschungen,  die  inzwischen  ans  Tageslicht  ge- 
kommen  sind,  bringen  aber  ganz  unerwartete  Verluste,  die  liir 
Morgan  schwer  ins  Gewicht  fallen  durften.  Auch  in  andrer 
Hinsicht  werden  Interessen  Morgans  durch  die  Vorgange 
beim  Kreuger-Konzern  beruhrt,  Der  groBten  amerikanischen 
Schwachstrom-Gesellschaft,  International  Telephon  and  Tele- 
graph, ist  durch  die  Bilanzfalschungen  Ivar  Kreugers  bereits 
im  vorigen  Jahre  ein  schwerer  Schaden  erwachsen.  In  der 
Bilanz  von  L.  M.  Ericsson,  der  schwedischen  Elektrizitatsge- 
sellschaft,  deren  Majoritat   von   Kreuger  an  die   International 

601 


Telephon  und  Telegraph  verkauf  t  worden  ist,  bef and  sich  ein 
Postcn  von  dreiBig  Millionen  Kronen  Bankguthaben,  die  in 
Wirklichkeit  gar  nicht  vorhanden  warenf  sondern  lediglich  eine 
Verpflichtungvon  Kreuger  &  Toll  darsteliten.  Die  I.T.T.  hatten 
bereits  ihre  Dividends  nicht  ausschiitten  konnen,  weil  dieses 
Guthaben  selbtsverstandlich  nicht  greifbar  war,  Der  Status 
von  Ericsson,  wie -  er  sich  jetzt enthuUt,  entwertetr-  -aber  die 
Ericsson-Beteiligung  der  amerikanischen  Gesellschaft  fast  ganz- 
lich.  In  normal  en  Zeiten  ware  ein  solcher  Verlust  fur  ein 
Unternehmen  wie  die  I.T.T.  verhaltnismaBig  leicht  zu  iiberwin- 
-den  gewesen.  Heute  aber  bedeutet  die  Kreuger- Affare  schon 
eine  ernsthafte  Gefahr  fur  das  Unternehmen, 

Die  zur  Interessensphare  Morgan-General-Electric  Co1, 
gehorende  Holding-Gesellschaft  Electric  Bond  and  Share  Co. 
war  vor  Morgan  genotigt,  zwei  Tochtergesellschaften  —  so  der 
auch  in  Europa  bekannten  American  and  Foreign  Power  Co-  — 
ein  langfristiges  Moratorium  zu  gewahren.  Was  Morgan  fur 
die  Finanzwelt  gewesen  ist,  bedeutete  Rockefeller  fur 
die  Industrie,  Auch  Rockefeller  erleidet  durch  Kreuger 
Verluste,  da  die  International  Match  Corporation  eine 
gemeinsame  Griindung  Kreugers  und  Rockefellers  war.  Auch 
bei  der  Continental  Investment  Co.,  der  Tochtergesellschaft 
dieses  amerikanischen  Ziindholzkonzerns,  haben  sich  Falschun- 
gen  in  der  Buchfiihrung  ergeben.  Die  International  Match  Co- 
war  nicht  in  der  Lage,  ihre  letzten  Zinsfalligkeiten  einzulosen. 
Rockefeller  hat  in  diesem  Falle  nicht  mehr  eingegriffen,  ob- 
wohl  er  erst  vor  wenigen  Wochen  den  Kurs  der  International 
Match  Aktien  an  der  Borse  gestutzt  hat.  Man  kann  daraus 
wohl  entnehmen,  daB  sich  bei  dieser  Gesellschaft  in  allerletzter 
Zeit  Dinge  herausgestellt  haben,  die  auch  Rockefeller,  bisher 
verborgen  waren.  Auch  hier  trifft  das  Gieiche  zu,  was  schon 
bei  Morgan  respektive  der  LT.T.  gesagt  werden  mufite.  Die 
Kreuger-Affare  ware  vor  zwei  oder  drei  Jahren  fiir  ein  Unter- 
nehmen wie  Standard  Oil  von  nebensachlicher  Bedeutung  ge- 
wesen. Der  Konzern  hat  in  seiner  Entwicklung  weit  groBere 
Schwierigkeiten  zu  tiberwinden  gewufit,  Heute  aber  ist  der 
groBte  Petroleum-Konzern  der  Erde  nicht  mehr  auf  dem  Gipfei 
seiner  Macht.  Alle  offentlichen  und  geheimen  Vereinbarungen 
konnten  nicht  verhindern,  daB  seit  den  letzten  Jahren  ein 
morderischer  Kampf  auf  den  Erdolmarkten  gefiihrt  wird.  Der 
Shell-Konzern  hat  in  diesem  Streit  durch  Preisunterbietungen 
sich  selbst  so  geschwacht,  daB  heftige  Zweifel  an  seiner  wei- 
tern  Existenzfahigkeit  geauBert  werden.  Aber  Standard  Oil 
kann  nicht  triumphieren.  In  dem  Augenblick,  da  der  jahre- 
lang  gehegte  Wunsch,  den  groBten  Gegenspieler  am  Boden  zu 
sehen,  vielleicht  erfullt  ist,  hat  Rockefeller  selbst  nicht  mehr 
die  Uberlegenheit,  diesen  Sieg  auszunutzen.  Wahrscheinlich 
wird  ebenso  wie  in  der  Zundholz-Industrie  RuBland  der 
lachende  Dritte  sein.  Die  wirtschaftlichen  Konkurrenten  der 
U.d.S.S.R.  waren  auch  ihre  starksten  politischen  Gegner,  Die 
Entscheidung  in  dem  Kampf  zwischen  privat-  und  staatskapi- 
talistischem  System,  der  auf  zwei  Schlachtfeldern,  dem  poli- 
tischen und  okonomischen,  ausgetragen  wird,  scheint  letzten 
Endes  zugunsten  des  Sowjetstaates  zu  fallen, 

602 


Bemerkuflgen 

Vor  def  Preufienwahl 

rVie  Reichsregierung  hat  die  SA. 
*-*  verboten;  und  es  ist  kein  Zu- 
fall,  dafi  dieses  Verbot  kurz  vor 
den  Preufienwahlen  erfolgte. 
Braun  und  Severing  werden  ver- 
suchen,  .durch  dieses  Verbot  der 
Sozialdemokratischen  Partei  einen 
neuen  Auftrieb  zu  geben, 

Und  diesen  hat  sie  bitter  notig. 
Denn  tfleichzeitig  mit  dem  Verbot 
der  SA,  fand  der  Krisenkongrefi 
der  Freien  Gewerkschaften  statt. 
Und  dort  sprach  an  Stelle  von 
Briining,  der  „verhindert"  war, 
der  Arbeitsminister  Stegerwald. 
Selten  ist  ein  KongreB  so  ge- 
siebt  worden  wie  dieser.  Sogar 
die  zwei  oppositionellen  Delegier- 
tenf  die  beim  frankfurter  ADGB,- 
KongreB  anwesend  waren,  fehlten 
hier,  weil  man  aus  „Sparsamkeits- 
griinden"  zum  Beispiel  aus  Bres- 
lau  nur  einen  Delegierten  schickte 
und  der  Reichstagsabgeordnete 
der  SAP  Ziegler  daher  nicht  fah- 
ren  konnte.  Trotzdem  konnte 
man  nicht  verhindern,  daB  es  bei 
der  Rede  Stegerwalds  >Wider- 
spruch  und  Unruhe  gab,  denn 
Stegerwald  erklarte  hier  klipp 
und  klar,  daB  ein  neuer  Lohn- 
abbau  fiir  zahlreiche  Arbeiter- 
kategorien  bevorsttinde. 

Das  Monopolkapital  will  diesen 
Lohnabbau  noch  im  Sommer  mit 
Tolerierung  durch  die  Sozial- 
demokratie  unter  Fuhrung  der 
Gewerkschaften  durchfiihren  und 
opfert  daher  vorlaufig  Hitlers 
Privatarmee.  So  hat  die  Sozial- 
demokratie  die  Wahlparole,  und 
wenn  sie  bereits  vor  dem  Verbot 
4er  SA.  erklarte,  daB  dank  Seve- 
ring und  Braun  PreuBen  kein 
Braunschweig,  kein  Klaggestan 
sei,  so  wird  sie  in  die  Wahlen 
gehen  unter  der  Parole,  dafi  dank 
Severing  und  Braun  das  Deutsche 
Reich  vor  dem  Fascismus  gerettet 
sei.  Der  neue  Lohnabbau,  die 
neue  Notverordnung,  die  den  wei- 
tern  Abbau  der  Sozialpolitik,  vor 
allem  der  Arbeitslosenversiche- 
rung,  bringen  wird,  wird  die  so- 
,  zialdemokratischen  Arbeiter  dar- 
iiber   aufklaren,   wie   teuer   sie   in 


Wirklichkeit  das  Verbot  der  SA. 
zu  bezahlen  haben, 

Er  wird  sie  aber  auch  dariiber 
aufklaren,  daB  der  Kampf  gegen 
den  Fascismus  sich  nicht  auf  den 
Kampf  gegen  Hitlers  Armee  be- 
schranken  darf,  daB  er  gefuhrt 
werden  muB  gegen  die  okonomi- 
schen  Quellen,  die  den  Fascismus 
gespeist  haben  und  noch  speisen. 
Er  wird  sie  dariiber  aufklaren, 
daB  die  kampflose  Hinnahme  des 
neuen  Lohnabbaus  den  Fascisten 
dutzendmal  so  viel  Anhanger  zu- 
fuhrt,  als  man  ihnen  durch  das 
Verbot  der  SA  wegnimmt. 

Zum  wirklichen  Kampf  gegen 
den  Lohnabbau  wird  die  SPD 
nicht  mehr  kommen,  denn  das  ka- 
pitalistische  System  ist  schon  so 
morsch,  ist  in  seinen  Grundfesten 
so  erschiittert,  daB  jede  wirkliche 
Aktion  gegen  den  Lohnabbau  zu 
einer  Massenaktion  fuhren  miiBte, 
die  an  die  Grundfesten  des  ge- 
samten  kapitalistischen  Systems 
riihren  wiirde.  Dem  wird  die  So- 
zialdemokratie  weiter  ausweichen, 
denn  das  Wort  von  Ebert,  daB  er 
die  Revolution  haBt  wie  die 
Sunde,  gilt  heute  wie  damals. 

Wenn  es  noch  eines  Beweises 
bedurft  hatte,  dafi  die  Kommu- 
nistische  Partei  unf ahig  ist,  die 
vom  Reformismus  enttauschten 
Arbeitermassen  unter  ihrer  Fiih- 
rung zur  wirklichen  Aktion  zu 
sammeln,  so  hat  es  der  Wahl- 
kampf  um  die  Reichsprasidenten- 
wahl  demonstriert.  Die  nationa- 
listische  Ideologie  ist  schon  so 
stark  verbreitet,  daB  komma- 
nistische  Thalmann-Wahler  zu 
Hunderttausenden  fiir  Hitler  ge- 
stimmt  haben,  und  die  ,Welt  am 
Abend'  weiB  dies  nur  damit  zu 
kritisieren,  daB  sie  von  der  re- 
volutionaren  Ungeduld  spricht. 
Unter  dieser  Fuhrung,  die  mit 
nationalbolschewistischen  Gedan- 
kengangen  spielt,  die  durch  ihre 
Gewerkschaftstaktik  sich  immer 
starker  von  den  breiten  Massen 
der  Betriebsarbeiter  isoliert  hat 
und  so  keinen  Streik,  an  dem 
Massen  beteiligt  waren,  fuhren 
konnte  —  unter  dieser  Fuhrung 
wird  die  Loslosung  der  reformisti- 

603 


schcn  Arbeiter  nicht  gliicken,  wird 
es  weiterhin  nicht  gliicken,  die 
Arbeiter,  die  innerlich  mit  dem 
Reformismus  gebrochen  haben,  zu- 
sammenzufassen  und  zu  wirk- 
lichen  Aktionen  zu  fiihren. 

Mit  der  Kritik  der  beiden 
groBen  Arbeiterparteien  sind 
gleichzeitig  die  Voraussetzungen 
aufgezeigt  worden,  die  zur  Griin- 
dung  der  Sozialistischen  Arbeiter- 
partei  gefuhrt  haben,  die  Voraus- 
setzungen, die  gleichzeitig  zeigen, 
wie  schwer  und  dornenvoll  der 
Weg  der  jungen  Partei  ist. 

Jahrzehnte  einer  reformistischen 
Politik,  Jahre  einer  ultralinken 
kommunistischen  Taktik  lassen 
sich  nicht  in  kurzer  Zeit  wieder 
gutmachen.  Und  die  deutsche  Ar- 
beiterschaft  hat  zunachst  einmal 
ein  groBes  MiBtrauen  gegenuber 
einer  neuen  Partei,  nachdem  sie 
durch  die  alten  so  lange  und  so 
bitter  enttauscht  wurde. 

Die  Sozialistische  Arbeiterpartei 
hat  trotz  alledem  bereits  die  Sym- 
pathien  von  vielen  Hunderttau- 
senden,  Sie  muB  durch  ihre  Ak- 
tionen die  Damme  niederreiBen, 
die  die  Bureaukratie  der  alten 
Parteien  zwischen  den  sozial- 
demokratischen  und  kommunisti- 
schen Arbeitern  errichtet  hat.  Sie 
muB  den  Kampf  der  Arbeiter- 
schaft  im  Betrieb  und  in  der  Ge- 
werkschaft  gegen  den  Lohnabbau 
organisieren,  Sie  muB  gegen  den 
Fascismus  uberparteiliche  anti- 
fascistische  Abwehrkartelle  orga- 
nisieren,  weil  der  Kampf  gegen 
den  Fascismus  nicht  dies  Aufgabe 
einer  Partei  allein  sein  kann,  Und 
sie  geht  in  die  PreuBenwahl  ohne 
jede  Oberschatzung  der  Bedeu- 
tung  von  Parlamenten,  allein  mit 
dem  Ziel,  den  Wahlkampf  auszu- 
nutzen  fiir  die  Aktivierung  der 
auBerparlamentarischen  Krafte 
der  Arbeiterklasse. 

K.  L.  Gerstorff 


Roda  Rodas  Selbstgesprach 

f^as  Satirenschreiben  racht  sich  — 
Freund,  du  hasts  nicht  leicht: 
Heute  bist  du  glucklich  sechzig  — 
was  hast  du  erreicht? 

Von  satirischen  Produkten 
halt  die  Forschung   nichts, 
Hinten  nur,  im  Kleingedruckten 
denkt   sie  solchen  Wichts. 

Deine  eigene  Gemeinde 

anerkennt  zuletzt: 

Dein  Humor  „hat  selbst  die 

Feinde 
niemals  roh  verletzt". 

Sieh     dich   um!     Von   Schlangen, 
Kroten 
wimmelt  rings  die  Flur. 
Du    vermeintest,   sie   zu    toten   — 
und  sie  lachten  nun 

Kampe   einst,   du   wutentbrannter ! 
Zahnlos,  ehrenwert    — 
heute  bist   du   als   charmanter 
Plauderer  bewahrt, 

Selbst   der  Hebe  Peter  Panter 
nennt  dich:  abgeklart, 

DaB    auch    gute  Freunde    schnod 

sind, 
Flink  im   Backenstreichl 
Alterweisheit  —  Altersblodsinn 
sehn  einander  gleich. 

Kaum  hat  sich  von  Jugendtorheit 
leis  mcin  Herz  verkiihlt, 
sagt  man  mir;  ich  ware  weise- 
Das  hat  mich  aufgewiihlt. 


KEfN   ZWEIFEL,   DASS  WIR   ES 

mit  elnerri   erregend   schfinen   Buch  zu  tun  haben  I 
schrieb  Kurt  Relnhold  Im  „Tagebuch"  Ober  Georg  Kaisers 

ERSTEN  ROMAN  „ES  IST  6ENU6I" 

604 


Zwei  wichtige  Filme 

Kinofreund,  giirte  deine  schwer- 
gepraften    Lenden    und     eile 
frohgemut   zu  Erich  Engels    zwei- 
tem  Tonfilm  f)Fiinf  von  dcr  Jazz- 
band"*     Scin  erster,  t)Wer  nimmt 
die  Liebe  ernst",  war  bereits  viel- 
versprechend,   aber   doch   nur   ein 
Staket  von  Einf  alien  mit  Zwischen- 
raum    hindurchzuschaun.       Grade 
was  dort  fehlter  Atmosphare  und 
Stimmung,    ist    diesmal    besonders 
gegliickt.      Das     Klangbild     eines 
Tanzlokals,     einer     Biihnenprobe, 
eines   Hotelzimmers  wird  trefflich 
.  gezeichnet.      Erich   Engels    Erfolg 
ist    wichtig    als    ein    Erfolg    der 
verschrieenen         „intellektuellen" 
AuCenseiter,         Eine       gelungene 
Bluttransfusion,      das     Herz     der 
Produktion  klopft  schneller.    Ohne 
kunstgewerbliche         Verschroben- 
heiten,      ohne     krampfhaft      auf- 
gesetzte    Kurfiirstendammpointen, 
volkstumlich  und  belustigend,  und 
doch   mit    der   ganzen   Sprachkul- 
tur    der    Biihne    gemacht.        Das 
Manuskript   (Hermann  Kosterlitz) 
iiefert     eine    dankbare     Situation 
nach    der    andern,    der    Regisseur 
laflt  keine   Figur,   vom  hinkenden 
Artistendirektor    bis    zum    chole- 
rischen   Polizeibeamten,  ohne  den 
Schmuck  einer  besondern  Charak- 
teristik      passieren      und     haucht 
selbst    einem    weiblichen    Erden- 
kloB  und  einem  Schaufensterephe- 
ben  mit  Menjoubartchen  lebendi- 
gen   Odem    ein.      Das   Spiel    mit 
dem  Portierlogenfenster  oder  dem 
Treppenflurfenster,    die    geschickt 
spannun^ssteigernde    Verwendung 
der   Orchestermusik   und    hundert' 
andre   Kleinigkeiten    machen   den 
Film  vorbildlich.     Djese  vier  Mu- 
siker,  weich  im  Gemut,  aber  hart 
im  Nehmen,  schlagen  eine  Bresche 
fur    den    guten   Film,    und    wenn 
am    SchluB     die    Heldin    ebenso 
pldtzlich    ins    Gltick     sturzt     wie 
vorher  in  die  Paukef  verlafit  man 
das    Kino    frischgestarkt    fur    die 
zwolf  nachsten   Tonfilmoperetten* 


Josef  von  Sternberg  und  Mar- 
lene  Dietrich  gehen  wieder  einmal 
unter  die  Soldaten.  Die  antreiben- 
den  Hetzrufe  der  chinesischen  In- 
fanteristen  hallen  einem  noch  im 


Ohr,  wenn  der  Film,  t)Schanghai- 
Exprefi'\  langst  voriiber  ist.  Ein- 
dringlicher  noch  als  in  f)Marokko" 
ist  die  Volkerschau  geraten;  auch 
ist  sie  diesmal  weniger  bloBe 
Staffage,  die  Solofiguren  werden 
aus  dem  Getiimmel  heraus  ge- 
boren,  tauchen  im  Getiimmel  wie- 
der unter  —  wennschon  das  Motiv 
des  chinesischen  Burgerkrieges 
nur  in  allerauflerlichster  Weise 
dazu  dient,  eine  Liebesgeschtchte 
zu  komplizieren.  Wieder  erleben 
wir  bei  Gelegenheit  einer  primi- 
tiven  Spielhandlung  ein  verzau- 
bertes  Lichtmeer,  eine  uberirdische 
Wunderwelt  —  nicht  Abbilder 
wirklicher  Gegenstande  sondern 
aus  Schwarze  und  Helligkeit  ge- 
ronnene  Malerphantasien  glaubt 
man  zu  sehen.  Schatten  schwe- 
ben  uber  den  Gestalten,  iiber  der 
Lokomotive,  Marlene  Dietrichs 
Gesicht  ist  durch  einen  schwarzen 
Schleier  schrag  zuschraffiert,  und 
wenn  die  Maschine  auf  der  Sta- 
tion Wasser  nimmt,  so  wirkt  das 
unheimliche  schwarze  Rohr  zwi- 
schen  Dampfwolken  wie'  ein 
Nachtgespenst.  (Photographie: 

Lee-Garmes.) 

Aber  der  Genufi  an  der  kunst- 
vollen  Verwendung  des  filmischen 
Materials  wird  zur  optischen  Aus- 
schweifung,  weil  der  Auf  wand  fur 
einen  hohlen,  verlogenen  Inhalt 
vertan  wird.  Je  klarer  sich  her- 
ausstellt,  dafi  Sternberg  der  be- 
gabteste  Filmhandwerker  der 
Erde  ist  —  jeder  seiner  Filme 
gabe  Stoff  fur  ein  ganzes  Lehr- 
buch  der  Filmkunst  — ,  um  so  er- 
schreckender  wird  sein  Versagen 
vor  dem,  was  man  Schicksal, 
menschliche  GroBe,  dramatischen 
Gehalt  nennt,  Seine  Vorliebe  fur 
Menschen,  die  mit  Tod  und  Le- 
ben  wie  mit  Zigaretten  herum- 
spielen,  laBt  ihn  eisgekiihlte 
Idealtypen  schaffen,  gansehaut- 
und  zwerchfellerregend  zugleich. 
Militararzt  und  Schanghai-Lili, 
Rebellenfuhfer  und  Chinesin  sind 
von  einer  so  penetranten  Fisch- 
bliitigkeit,  dafi  die  vertrocknete 
Englanderin  in  ihrer  Angst  um  ihr 
Pekinesenhundchen  gradezu  als 
eine  Verkorperung  orientalischer 
Leidenschaft  wirkt,  Im  Interesse 
der    Fahrgaste    bittet    die    Eisen- 

605 


bahndirektion,  Morde  und  Liebes- 
schwiire  tunlichst  gerauschlos  voll- 
ziehen  zu  wollen.  Wenn  einer  die 
Frau,  die  er  liber  allcs  liebt,  nach 
Jahren  plotzlich  wieder  sieht, 
murmelt  er  einige  lustlose  Satze 
durch  die  Zahne.  Die  mimische 
Unbeweglichkeit  dieser  unaufhor- 
lich  von  den  Gefahren  der  Er- 
schieBung,  der  Folterung  und  des 
unfreiwilligen  Beischlafs  bedroh- 
ten  Paramount-Menschen  muB 
Buster  Keaton,  den  Star  der  Kon- 
kurrenzfirma,  vor  Neid  erblassen 
lassen.  Im  Gegensatz  zu  dem  tib- 
lichen  Kitsch  hemmungsloser  Ge- 
fiihlsaufwallung  hat  Sternberg  den 
Kitsch  der  Diskretion  erfunden. 
Er,  der  den  geringsten  Chargen- 
spieler  mit  einer  Behutsamkeit 
und  Zuruckhaltung  fiihrt,  so  daB 
kein  unechter  Ton  durchgeht,  ver- 
auBerlicht  seine  Heldin,  Marlene 
Dietrich,  immer  mehr  zur  wachs- 
bleichen  Eismeernixe.  Sie  gibt 
einerseits  zu  viel(  indem  sie  pau- 
senlos  nervos-ironisch  mit  den 
Augen  rollt,  andrerseits  zu  wenig, 
indem  sie  die  innere  Warme  und 
Leidensfahigkeit  nicht  merken 
laBt,  die  ihre  auBere  Kalte  erst 
sinnvoll  machen  wiirden,  Sie  ist 
ganzlich  erstarrt.  Sie  kann  nicht 
mehr  gehen,  ohne  mit  den  Hiiften 
zu  wiegen,  sie  kann  nicht  mehr 
stehen,  ohne  mit  dem  Arm  hoch 
herauf  zum  Tiirrahmen  zu  langen, 
Sie  sollte  sich  vier  Wochen  am 
kalxfornischen  Strand  erholen  und 
dann  schleunigst  in  einem  Lust- 
spiel  als  sanfte  Hausfrau  mit  zwei 
Kindern  und  Kleinviehzucht  auf- 
treten;  sonst  wird  sie  zwar  eine 
immer  edlere  Kokotte  aber  eine 
immer  schlechtere  Schauspielerin 
werden. 

Rudolf  Arnheim 


Diskretion 

pUmtreundin  Lulle:  Der  von 
*  Ihnen  genannte  Studienrat 
steht  zu  dem  gleichnamigen  Film- 
schauspieler  in  keinem  verwandt- 
schaftlichen  Verhaltnis,  Ober  die 
Konfession  von  Siegfried  Arno 
konnen  wir  keine  Auskunft  geben. 


,Film~Woche' 


Lafit  Padagogen  sprechenl 

VJj/ir  Jungen  von  heute  ruhen 
*^  sicher  und  geborgen  in  der 
Obhut  von  fiirsorglichen  Lehrern 
und  Erzichcrn.  So  sagt  man  I  Und 
wer  diese  MTatsache"  nicht  glaubt, 
der  kann  sich  an  Hand  folgender 
padagogischer  Ausspruche  davon 
uberzeugen: 

„Die    Jugend  hat    die   Aufgabe 
zu  warten,  bis  sie  alter  wird/' 
Lehringenieur 
einer  groQen  Fabrik 

„Sport  ist  Unsinn,  den  hat  es 
friiher  auch  nicht  gegeben/' 

Rektor  einer  Realschule 

,,Ich  erwarte  von  meinen  Schu- 
lern,  daB  sie  in  ihrem  Tanzkurs 
nur  gute  btirgerliche  Madchen 
aufnehmen," 

Rektor  einer  Ober  realschule 
,,Ich  gestatte   es   meinen   Schii- 
lern  nicht,  daB  sie  mit  Volkssehu- 
lern      oder      Realschtilern      ver- 
kehren." 

Rektor  eines  Gymnasiums 

„Man  muB  der  Jugend  oft  be- 
wuBt  Scheuklappen  aufsetzen/' 
Rektor  eines  Gymnasiums 

Mehr  wird  wohl  kaum  notig 
sein?  Jetzt  muB  es  jeder  glauben, 
daB  wir  Jungen  wohl  geborgen 
sind. 

Peter  Ehrlich 

Deutsch  sein>  heifit  eine  Sache  . . . 

Vu  Beginn  des  vorigen  Jahres 
^  hat  die  Underwood  Typewriter 
Company,  die  fuhrende  Gesell- 
schaft  des  amerikanischen  Kon- 
zerns  Underwood-Elliott-Fisher, 
fur  den  Betrag  von  rund  einer 
Million  Dollars  die  Aktienmaio- 
ritat  der  Mercedes-Bureaumaschi- 
nen  Aktiengesellschaft  in  Zella- 
Mehlis  gekauft,  Der  Grund  fiir 
die  Amerikaner  war  weniger  die 
Ubernahme  von  Fabrikation  und 
Vertrieb  deutscher  Schreibmaschi- 
nen  als  der  Erwerb  der  deut- 
schen  Patente  fiir  elektrische 
Schreib-  und  Buchungsmaschinen. 
Man  will,  wie  aus  amerikanischen 
Fachzeitschriften  hervprgeht,  in 
Zella-Mehlis  Underwobd-Schreib- 
maschinen     fiir    den    Verkauf    in 


606 


Dcutschland  und  Mitteleuropa 
herstellen,  Ein  Vorgang  also,  wie 
er  ahnlich  zum  ZusammenschluB 
Opels  mit  General-Motors  gefiihrt 
hat 

Dieser  Verkauf  einer  deutschen 
Finna  an  die  auslandische  Kon- 
kurrenz  wird  von  der  Mercedes - 
Bureaumaschinen  Aktiengesell- 
schaft  in  ganzseitigen  Anzeigen  in 
der  Tagespresse  als  (lbesonders 
fur  Deutschland  von  volkswirt- 
schaftlich  ganz  allgemeinem  In- 
teresse"  hingestellt: 

Mercedes  ist  stolz  darauf, 
dafl  deutsche  (im  Original  fett 
gedruckt!)  Ingenieure,  deutsche 
Kaufleute  und  deutsche  Arbei- 
ter  mit  ihren  Erzeugnissen  das 
Ansehen  erringen  konnten,  das 
den  groBten  Konzern  unsrer 
Branche  in  der  Welt,  die  Un- 
derwood -  Elliott  -  Fisher  -  Com- 
pany, bewog,  mit  Mercedes 
Vereinbarungen  zu  treffen,  die 
uns  die  Moglichkeit  geben, 
deutsche  Produktionsstatten 
weiter  zu  vergroBern,  deut- 
schen Arbeitern  in  steigendem 
MaOe  Beschaftigung  zu' geben. 

DermaBen  stolz  ist  die  Mer- 
cedes -  Bureaumaschinen  -  Aktien- 
gesellschaft  auf  ihre  Leute,  dafi 
sie  am  30.  Juni  rund  50  Prozent 
der  technischen  Angestellten,  etwa 
30  Prozent  aller  Angestellten,  ge- 
kundigt  hat.  Man  hat  weiter,  wohl 
urn  das  „volkswirtschaftlich  ganz 
allgemeine  Interesse"  deutlich 
aufzuzeigen,  in  den  letzten  Mo- 
naten  eine  Menge  Arbeiter  ent- 
lassen  und  die  Arbeitszeit  fur  die 


verbleibenden  auf  vierundzwanzig 
Stunden  in  der  Woche  herab- 
gesetzt. 

Den  Besuch  der  Stempelstelle 
nennt  die  Mercedes-Bureau- 
maschinen-Aktiengesellschaft  dem- 
nach  „Beschaftigung  in  steigendem 
MaBe".  Was  zum  Teufel  haben 
ihre  deutschen  Arbeiter  denn  vor 
ihrer  Entlassung  im  Betriebe  ge- 
macht? 

Martin  Chr.  Sander 

Sittliche  Autarkie 

oder: 

Wir  machen  uns  unsern  Dreck 

alleenel 

\/ereinigung  fur  sittliches  Volks- 
wohl,  Der  22,  Jahresbericht 
der  Kantonalen  Ziircher  Vereini- 
gung  fiir  sittliches  Volkswohl  und 
ihres  standigen  Sekretariats,  das 
der  Vereinigung  unterstellt  und 
vom  Schweizerischen  National- 
komitee  gegen  den  Madchenhan- 
del,  vom  Bunde  gegen  die  unsitt- 
liche  Literatur  und  von  weiteren 
auf  dem  Gebiete  der  Sittlichkeit 
arbeitenden  Vereinen,  Behorden 
und  Privaten  unterstutzt  und 
ihnen  dient,  liegt  vor.  Im  Be- 
richtsjahre  1931  machte  der  Ver- 
einigung die  sexuelle  Anreizungs- 
literatur  viel  zu  schaffen,  die 
massenweise  vom  Auslande  an- 
geboten  wird.  Auch  die  Bundes- 
anwaltschaft  hatte  mit  diesen 
Produkten  zu  tun  und  bemuhte 
sich,  fremdlandisches  Material 
von  der  Grenze  fern  zu  halten. 


I~Sas  von  Unzahligen  langst  erwartete  neue  Buch  von  B6  Yin  Ra, 
L/  J.  Schneidetfranken,  das  unter  dem  Titel  wDer  Weg  meiner 
Schuler*  soeben  erschienen  ist,  hat  die  Bedeutung  eines  Schlfis- 
sels  zum  Gesamtwerk  dieses  einzigartigen  Vermittlers  einer  von 
Tatfreude  erffillten  in  sich  selbst  ruhenden  Lebenssicherheit. 
Mit  kaum  fafilicher  Objektivitat  seinem  eigenen  Werk  gegenuber 
legt  er  das  Wesen  und  die  Absicht  seiner  Bekundungen  klar, 
stellt  sie  vor  Mifiverstandnissen  sicher  und  lafit  die  hemmenden 
Vorstellungen  erkennen^  durch  die  der  Angstversklavte  sich  die 
leuchtende  Einfachheit  der  letzten  befreienden  Wahrheit  ver- 
birgt.  Das  Buch  kostet  gebunden  RM.  6.—  und  ist  durch  jede 
Buchhandlung  zu  beziehen  sowie  durch  den  Verlag:  Kober'sche 
Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 


607 


I 


FOrst  und  Kotiege  Was  es  alles  gibt 

m     elbinger     Hausbesitzerverein,  N.  N,,  Oberstudienrat 

der     alle     zwei     Monate     eine  1,   Vorsitzender    des     Sachsischen 

Sitzung     mit     aufklarenden    Vor- .  Landesverbandes   von  Altschiiler- 

tragen  abhalt,  utn   die  Mitglieder  schaften    an    nichthumanistischen 

nach  Moglichkeit  vor  Schaden  zu  neunklassigen  Schulen, 

bewahren,     gedachte    am    Freitag  _  ,  .      _;  .,._-      , 

abend  im  Gewerbehaus  der  Vor-  L,ebe  Weltbflhnel 

sitzende,     Herr    Lehrer   Schroder,  In  Rufiland  unterhalten  sich  zwei 

des     Dichterfiirsten     Goethe,     der  Ju£en    tiber     <*ic   Aufbauarbeit 

uns    vor  hundert  Jahren    verliefi  der   Sowjets,     Da    sagt    der    erne 

„«j     j        j      i.              o  1.     t  zum    andern:    „25    Janre    mochtc 

und     der    durch    eine   Schenkung  ^    doch    noch   kben  „     (|Warum 

semes  Landesherrn  auch  Hausbe-  denn  grade  25?"     „Nu,   weil   ich 

sitzer  war.  gern  nocn    erleben    mochte,     wie 

,Elbinger   Zeitung  die  Pjatiletka  erfullt  wird," 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Liga  fur  Menschenrechte.  Montag  20.30.  Reichswittschaftsrat,  Bellevuestr.  15:  Welt- 
kriegsbficber  im  Kampf  um  die  Menschenrechte.  Es  spricht:  Walter  A.  Berend- 
sohn-Hamburg,  In  der  Diskussiom  Theodor  PHvier  una  Koniad  Seiffert.  -  Aus- 
stellung  „Der  politische  Terror"  von  Dienstag  bis  Sonnabend  im  Pschorrhaus,  Pots- 
damer  Platz. 

Neue  Filmgruppe.  M  on  tag  20.00.  Sophiensale,  Sophienstrafie:  „Warum  darf  im  Ton- 
film  die  Wirklichkeit  nicht  gezeigt  werden  ?"  Es  sprechen:  Rudolf  Arnheim, 
S.'  Th.  Dudow,  Hanns  EiBler,  Ernst  Ottwalt  und  Hans  Rodenberg. 

IndividualpBychologische  Gruppe.  Mod  tag  (25.)  20.00.  Klubhaus  am  Knie,  Berliner 
Strafie  27.:  Individualpsychologische  Heimerziehung,  Sophie  Freudenberg. 

Gruppe  der  Geistesarbeiter  in  der  I  AH.  Montag  (25.)  20.00,  Alter  Askanier,  Anhalt- 
straBe  11:  Intellektueller  Scheinradikalismus. 

Erfurt 

Weltbfihnenleser.  Montag  (25.)  20.00.  Zusaramenkunft  Konditorei  Horst  Kohl,  Kaiser- 
plat?.  Rauchzimmer,  runder  Ecktisch.  (Wer  verhindert  ist  und  an  spatein  Zii- 
sammenkiinften  teilnehmen  mochte,  hinterlasse  seine  Adresse  in  dem  angegebenen 
Lokal.) 

BOcher 

Paul  Dietrich:  Krieg  in  China,  Intervention,  Weltkrieg,  (0,10  RM.)  Carl  Hoym,  Hamburg. 

Alfred  Doblin;  Giganten.    S.Fischer,  Berlin. 

John  Dos  Passos:  Auf  den  Trummern.     S.Fischer,  Berlin. 

Alexander  Lernet-Holenia:  Ljubas  Zobel.    Gustav  Kiepenheuer,  Berlin. 

Jack  London:  Meuterei  auf  der  Elsinore.    Universitas-Verlag,  Berlin. 

E.  A.  Rheinhardt:  Josephine.    S.Fischer,  Berlin. 

Tscha-De:  Holle  fiber  Schanghai.    (0,10  RM.)    Carl  Hoym,  Hamburg. 

Rundfunk 

Dienstag.  Konigswusterhausen  19.20 :  Wiederkehr  oder  Ende  des  Kapitalismus  ?  Re- 
dakteur  Miks  und  Fritz  Tarnow.  —  Miihlacker  19.30:  Der  Mann  phne  Ausweis,  Er- 
zahlung  von  Bernard  v.  Brentano.  —  Berlin  19.40:  Otto  Bernhard  Wendler  liest.  — 
Konigsberg  20.25:  Kleists  Prinz  Friedrich  von  Homburg  —  Miihlacker  21.00;  Modest 
Mussorgsky.  —  Breslau  21.40:  Der  verschobene  Taktstrich,  Hans  Reimann.  —  Mitt- 
woch.  Langenberg  18.40:  Manfred  Sturm ann  liest  Gedichte.  —  Berlin  20.00:  Wie 
man  einen  Kriminalroman  zu  lesen  hat,  Hans  Reimann.  —  Hamburg  20.45:  Das  mu- 
sikalische  Ringen  um  Goethe.  —  Konigsberg  21.40:  Dichterstimmen  der  Gegenwart. 

—  Berlin  22.30:  Irland  —  Englands  grotte  Sorge,  Zeiibericht  von  Actualis.  — •  Don- 
nerstasr.  Berlin  18.15:  Die  Lebensbedingungen  des  Biibnenautors,  Ludwig  Fulda.  — 
MUnchen  20,50:  Gesprach  vom  Film,  Wolfgang  Petzet.  —  Leipzig  21.30  Bilderbuch 
Mississippi.  —  Freitajp.  Berlin  17.50;  Gustav  Stresemanns  Vermachtnis,  Felix  Hirsch, 

—  Miihlacker  1825:  Fransosische  Menschen,  Hermann  Wendel.  —  Mtinchen  18.45: 
Moden  und  Met  ho  den  der  Heilkunde,  Julian  Ma  re  use.  —  20.45:  Gogols  Revisor.  — 
Leipzig  21.00:  Ernst  Berlachs  Sundflut.  —  Sonnabend.  Berlin  18.00:  Die  Erzahlung 
der  Woche,  Lutz  Weltmann.  —  Montag-.  (25.)  Langenberg:  Raub  der  Sabinerinnen. 
Horspiel  von  Hans  Reimann. 

608 


Antworten 

Jurist.  Es  bestcht  keinerlei  Veranlassung,  das,  was  in  dem  Sche- 
ringer  ProzeB  herausgekommen  ist,  als  ein  HUrtcil"  zu,  refcpektieren. 
Das  ist  kein  Urteil,  sondern  die  Meinung  eines  Clans  von  Reaktio- 
naren.  Das  Reichsgericht,  bestehend  aus  Juristcn,  auf  deren  Wahl 
nur  eine  klcine  Gruppe  von  Menschen  von  EinfluB  ist,  reprasentiert 
nichts  als  die  Interessea  eines  gewissen  Burgertums,  Seine  Sprtiche 
konnen  mit  Gewalt  vollstreckt  werden  —  seine  Sprtiche  konnen  uns 
nicht  beriihren.  Wer  sind  diese  Richter,  die  abgeschieden  von  der 
Welt  leben?  Und  die  nur  dann  Zugang  zur  Welt  haben,  wenn  es  sich 
darum  handelt,  die  boseste  Reaktion  zu  begiinstigen?  t)ber  jeden 
Zettel  Scheringers  wird  des  langen  und  breiten  diskutiert  — :  daB  die 
Nazis  Brunnen  vergiften,  Postgebaude .  besetzen,  Telephone  sperren 
wollten,  das  hat  das  Reichsgericht  bisher  nicht  gesehn.  Es  will  nicht 
sehn.  Es  lohnt  nicht,  sich  mit  diesen  Leuten  ernsthaft  zu  befassen.  Es 
gibt  keine  Reform  dieses  Gerichts,  die  nicht  die  Absetzbarkeit  dieser 
Richter  zur  Voraussetzung  hatte.  Die  Talare  dieser  Richter  sind 
rot,  wie  das  Blut,  das  durch  die  Duldung  des  weifien  Terrors  in 
Deutschland  vergossen  wurde. 

Schriitsteller.  Deine  Kollegen  sprechen  viel  von  gewerkschaft- 
licher  Solidaritat  und  Kollektivgeist.  In  der  Praxis  aber  erblickt  man 
Dauerringkampfe  erboster  Ortsgruppen,  und  vom  kleinste'n  und  ge- 
meinsten  Mann  bis  rauf  zum  Kapitan  mochte  sich  jeder  seinen  Kram 
allein  machen.  In  der  Protestversammlung  der  „Deutschen  Liga  ftir 
Menschenrechte"  wurde  von  einigen  Rednern  auf  die  Leidensgeschichte 
des  Gnadengesuchs  hingewiesen,  das  die  deutsche  Gruppe  des  Pen- 
Klubs  fur  Carl  von  Ossietzky  hatte  einreichen  wollen.  Nach  denVer- 
offentlichungen  des  ,Berliner  Tageblatts'  steht  es  so,  daB  der  Pen- 
Klub,  wie  er  auch  seinerzeit  dem  Anwalt  der  ,Weltbuhne*  schriftlich 
mitteilte,  Anfang  Februar  beschlossen  hatte,  ein  eignes  Gnadengesuch 
an  den  Reichsprasidenten  abzusenden.  Walter  Bloem,  der  Vorsit- 
zende,  der  die  Erledigung  aus  personlichen  und  politischen  Griinden 
verzogert  haben  sollte,  ist  durch  eine  Erklarung  Walther  von  Hollan- 
ders entlastet  worden,  wennschon  die  Tatsache  bestehen  bleibt,  daB 
der  Pen-Klub  ihm  auf  Gruncf  des.  Vorfalls  den  Vorsitz  entzogen  hat. 
Zwei  Monate  lang  hat  der  Brieftrager  das  Gesuch  zwischen  erstem 
Vorsitzendem,  zweitem  Vorsitzendem,  Schriftfuhrer  und  Schatzmeister 
hin-  und  hergetragen,  bis  es  zu  spat  war.  Wichtiger  als  Einzelheiten 
der  Schuldfrage  scheint,  daB  hier  wieder  einmal  aus  Mangel  an  Ge- 
fiihl  dafur,  welche  Starke  im  ZusammenschluB  liegt,  eine  Schrift^ 
stellerorganisation  versagt  hat.  Es  langt  nicht  einmal  zu  der  selbst- 
siichtigen  Oberlegung:  Was  heute  den  andern  trifft,  kann  morgen  dich 
treffen.  Solange  das  so  liegt,  werden  die  Gegner  der  Schriftsteller 
immer  leichtes  Spiel1  haben.  t 

Abgeordneter  Schulz-Wilmersdorf.  Sie  senden  uns  zu  dem  Artikel 
von  W.  Colepepper  in  Heft  10  den  nachstehenden  Brief:  „In  einer  Ihrer 
Nummern  vom  Monat  Marz  bringen  Sie  die  wortliche  Ubersetzung 
eines  Sensationsberichts,  der  hier  in  der  kommunistischen  Zeitschrift 
,Le  Monde  erschienen  war,  Ich  weiB  nicht,  ob  Ihr  Blatt  einen  stan- 
digen  Vertreter  in  Paris  unterhalt  Aber  ich  kann  Sie  begluckwiin- 
sch«n  zu  der  peinlichen  Gewissenhaftigkeit  Ihres  Gewahrsmannes,  der 
eine  an  sich  schon  reichlich  phantasiebegabte  franzosische  ,Erzahlung\ 
die  mehr  ins  Gebiet  der  neuromantischen  Literatur  als  in  das  der 
realen  Politik  gehort,  ohne  eignen  Zusatz,  Kritik  oder  Andeutung 
wortgetreu  ,  an  Sie  weitergereicht  hat,  Ihr  Blatt  schreibt,  daB  der 
Hitlerfreund  Baron  Fabre-Luce  mich  als  Abgesandten  Hitlers  in  jene 
politischen  Salons  habe  einf iihren  wollen,  wo  man  heute  scharfe  Pro- 
paganda fur  die  Habsburger  treibe.  Nun,  ich  darf  dazu  bemerken,  daB 
ich   als    langjahriger  Verfechter   volkischer    Ideen   durch   Oberzeugung 

609 


und  Parteidisziplin  gehalten  bin,  nur  in  solchen  Kreisen  hier  zu  ver- 
kehrcn,  ia  denen  die  volkischen  Ideale  lebendig  sind.  Die  von  Ihnen 
erwahnten  Salons  werden  weder  von  Baron  Fabre-Luce  noch  von  mir 
besucht.  Wo  fossile  Trager  reaktionarer  Weltanschauungen  Gedanken 
feilbieten,  die  scbon  lange  ins  Museum  der  politischen  Gescbichte 
Europas  geh£ren,  waren  wir  beide  als  revolutionare  .Racisten'  nicht 
am  Platze.  Man  findet  uns  nur  in  solchen  Salons,  wo  Jugend  und 
politische  Unvoreingenommenheit  mit  den  Problemen  der  Zukunft 
ringen.  Ferner  trifft  Ihre  Behauptungf  dafi  die  Regierung  Laval  mich 
babe  sondieren  lassen,  nicht  zu*  Derm  erstens  habe  ich  grundsatzlich 
weltanschaulich  mit  der  Regierung  Laval,  die  inzwischen  abgetakelt 
istf  nicht  das  mindeste  zu  tun  gebabt,  Und  zweitens  hatte  ich  mich 
schon  aus  dem  einfachen  Grunde  nicht  sondieren  lassen,  weil  mir  ein 
offizieller  Auftrag,  mit  amtlichen  Kreisen  bier  in  Fuhlung  zu  treten, 
nicht  erteilt  worden  war.  Ich  bedauere  es  aufrichtig,  dafi  Ihr  Blatt 
das  Opfer  einer  kommunistischen  Mystifikation  geworden  ist,  die  da- 
durch  nicht  an  Tatsachenwert  gewinnt,  dafi  sie  im  anmutigen  Stil- 
gewande  nach  Art  Fouquescher  Feenmarchen  einherschreitet."  Wir 
freuen'  uns,  dafi  Herr  Schulz-Wilmersdorf  einen  „racistischen"  Salon 
in  Paris  gefunden  hat.  Er  wiirde  unsre  Genugtuung  vervollstandigen, 
wenn  er  uns  die  Adresse  mitteilte.  Auf  seine  sachlichen  Ausfuhrun- 
gen  durlte  Colepepper  demnachst  zuruckkommen. 

Perser.  Sie  haben  nicht  zuhoren  konnen?  Weil  bei  diesem 
lacherlicben  Prozefi  die  Offentlichkeit  ausgeschlossen  war?  Wes- 
wegen?  Wegen  Gefahrdung  der  Staatssicherheit.  Das  ist  ein  Mifi- 
brauch  dieses  Paragraphen  der  Strafprozefiordnung,  Es  burgert  sich 
jetzt  immer  mehr  ein,  allemal  dann,  wenn  sich  ein  paar  Beamte  bla- 
miert  haben  oder  eine  Blamage  furchten,  den  Staat  vorzuschieben, 
das  mystische  Ding,  Wie  boch  ist  der  gesamte  Aufienhandel  mit 
Persien?  Welche  Staatsinteressen  hangen  davon  ab,  ob  ein  Perser 
zu;  Recht  oder  zu  Unrecht  ausgewiesen  wurde?  Ob  der  Schah  von 
Persien  beleidigt  wurde  oder  nicht?  Mit  der  Staatssicherheit  hat  das 
alles  gar  nichts  zu  tun.  Solange  aber  die  meisten  Deutschen  auf 
den  Gotzen  Staat  schworen,  hinter  dem  sich  ganz  andre  Dinge  ver- 
bergen,  so  lange  wird  das  wohl  so  bleiben,     Es  soil  nicht  so  bleiben. 

Rundfunkhorer,  Was  Ernst  Toller  Ihnen  tiber  Spanien  zu  er- 
zahlen  hatte,  durfen  Sie  nicht  horen,  Obwohl  die  Vortrage  bereits 
genehmigt  waren,  wurden  sie  im  letzten  Augenblick  abgesetzt,  weil 
dem  Auswartigen  Amt  plotzlich  Bedenken  kamen.  Andern  Landern, 
besonders  Rufiland,  gegentiber  pflegt  man  nicht  so  zartfuhlendi  zu 
sein.  Dafi  man  aber,  wie  bei  der  ersten  Veranstaltung,  den  Autor 
vorschiebt  und  sagt,  er  sei  verhindert  zu  lesen,  statt  of  fen  zuzugeben,' 
dafi  politische  Bedenken  den  Vortrag  unmoglich  machen  —  zeigt  zu- 
gleich,  dafi  die  Rundfunkleitung  nicht  einmal  das  biBchen  Mut  auf- 
bringt,  zu  ihren  Zensurmafinahmen  zu  steheri.  Wir  werden  im  nach- 
sten  Heft  mit  der  Veroffentlichung  von  Tollers  Serie  uber  Spanien 
fortfahren. 

Sammler,  Die  ersten  beideni  Artikeli  der  in  dieser  Nummer  ab- 
gescblossenen  Reihe  „Moskau  1932"  von  E.  J.  Gumbel  sind  in  den 
Heften  11   und   14  erschienen. 

Manmkripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  xu 
riehten ;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann. 
Das  Auf  f  Qhrungarecht,  die  Verwertunjr  vonTitelnu.  Text  Im  Rahmen  dee  Films,  die  muaik- 
mechanische  Wiedernbe  aller  Art  and  die  Verwertung  im  Rahmen  Ton  RadiovortrXgen 
bleiben  fur  alle  in  der  Weltbuhne  eracheinenden  BeitrSge  auadracklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrOndet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Oasietzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  Tucholaky  geleitet  —  Verantwortlich :   Carl  v.  Ossietzky,  Berlin; 

Wring  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacob i oh  q  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  CI,  Steinplatz  7767.   —  Pottschedckonto:  Berlin  11958. 
Bankkonto:    Darmstadter    u.    Nationalbank.      Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.   112. 


XXVUI.  Jahrgang  26.  April  1932  Nnmmcr  17 

Preufien  wird  Unordnungszelle 

von  Hellmut  von  Gerlach 

A  m  9.  April  schrieb  die  ,PreuBische  Landeszeitung\  das 
^^  offiziellc   Organ  der  Deutschnationalen  Berlins: 

,,Der  Plan  des  Braun-Systems,  die  Geschaftsfiihrung  fur  die 
Wahl  des  neuen  Ministerprasidenten  noch  im  letzten  Augen- 
blick  zu  andern,  ist  aufgegeben;  dem  Zentrum  wurde  klar,  daB 
die  Deutschnationalen  im  gleichen  Augenblick  mit  scharfsten 
GegenmitteLn,  MiBtrauensaktionen  und  ahnlichen  AbwehrmaB- 
nahmen  antworten  wiirden/' 

Der  Plan  war  nicht  aulgegeben.  Das  deutschnationale 
Organ  war  nur  in  jeder  Beziehung  schlecht  berichtet  und 
schlecht  beraten.  Am  12.  April  wurde  die  neue  Geschaftsord- 
nung  vorgelegt  und  glatt  an  cfemselben  Tage  angenommen/ 
Statt  die  angekiindigten  „scharfsten  Gegeamitter1  zu  ergreifen, 
absentierten  sich  die  Deutschnationalen  im  Geftihl  ihrer  Ohn<- 
macht  samt  ihren  Hilfstruppen.  Die  Regierung  siegte  ohne 
KampL 

Dieser  Sieg  war  von  hochster  Bedeutung, 

Nach  der  alten  Geschaftsordnung  war  bei  der  Walil  des 
Ministerprasidenten  im  zweiten  Wahlgang  nur  relative  Mehr- 
heit  erforderlich.  Eine  Rechtskoalition  ohne  absolute  Mehr- 
heit  hatte  den  neuen  Ministerprasidenten  stellen  konnen. 

Die  neue  Geschaftsordnung  verlangt  absolute  Mehrheit. 

Nach  der  alten  Geschaftsordnung  hatte  das  Wahlergebnis 
vom  24.  April  ohne  weiteres  einen  nationalsozialistischen  Mi- 
nisterprasidenten zur  Folge  gehabt. 

Nach  der  neuen  —  bleibt  das  Ministerium  Jtfraun  als  Ge- 
schaftsministerium.  Natiirlich  nur  unter  der  Voraussetzung, 
daB  die  neue  Geschaftsordnung  nicht  wieder  in  die  alte  zuriick- 
revidiert  wird. 

Das  konnte    nur  mit  Hilfe    der  Kommunisten    geschehen. 

,  Ohne    ihre,    zum    mindesten    duldende,    Mitwirkung    ist    eine 

solche  Riickwartsrevision  nicht  moglich,     Wird  ihr  HaB  gegen 

Braun  soweit  gehn,  daB  sie  einem  braunen  Ministerium  in  den 

Sattel  verhelfen? 

Sie  sind  das  Zunglein  an  der  Waage.  In  ihrer  Hand  iiegt 
esf  ob  sie  den  von  jetzt  an  sonst  labilen  Zustand  in  PreuBen  in 
einen  stabilen  im  Sinne  der  Stabilisierung  des  Fascismus  ver- 
wandeln  wollen. 

Die  Nationaisozialisten  haben  einen  gewaltigen  Erfolg  er- 
rungen,  Trotzdem  hangt  die  politische  Zukunft  PreuBens  und 
damit  Deutschlands  nicht  von  ihnen,  sondero  von  den  Kommu- 
nisten und  dem  Zentrum  ab. 

Fur  die  Kommunisten  kann  die  Frage  natiirlich  nur  so 
lauten:  Fordern  wir  die  Weltrevolution  besser  durch  Verhinde- 
rung  oder  durch  Begtinstigung  einer  fascistischen  Macht- 
ergreifung? 

1  611 


Vielleicht  denken  sie  bei  PreuBen  doch  an  Italien. 
Fiir   das   Zentrum    bcdeutcn    die    nachsten    Monate    eine 
Feuerprobe, 

Hitler  wird  ihnen  die  groBten  Konzessionen  machen,  Er 
sieht  sich  endlich  einmal  vor  dem  Punkt,  zwar  nicht  die  Macht 
ergreifen,  aber  doch  an  der  Macht  teilhaben  zu  konnen.  In 
PreuBen  winken  seinen  Anhangern  fiir  diesen  Fall  unzahlige 
Posten.  :  Man  kann  sich  vorstellen,  wie  ihn  seine  beutehung- 
rigen  Edelnordiker  bedrangen  werden,  daB  er  ihnen  endlich  den 
Zutritt  zur  Futterkrippe  freigebe. 

Hitler  wird  also  starkste  Neigung  haben,  seinen  grundsatz- 
lichen  Kampf.gegen  die  schwarzrote  Front  in  ein  Biindnis  mit 
den  Schwarzen  gegen  die  Roten  umzubiegen.  Naturlich  muB 
der  Wotanskult  gewisser  seiner  Anhanger  verleugnet,  Alfred 
Rosenberg  mit  seiner  Kritik  am  Christentum  an  die  Kette  ge- 
legt,  die  Satansbibel  wieder  in  eine  Gottesbibel  umgetauft, 
vielleicht  sogar  Herr  Rohm  pensioniert  werden,  Aber  dies 
Pentagramm  wird  Hitler  keine  Pein  machen.  Er  ist  kein  Luther. 
Er  kann  auch  anders. 

Die  Frage  ist  nurt  ob  das  Zentrum  ebenso  revisionsfreudig 
sein  wird  wie  er.  Wenn  HeB  noch  lebtel  Aber  er  lebt  eben 
nicht  mehr. 

Die  Gefahr  fiir  die  Zukunft  PreuBens  ruht  jetzt  beim  Zen- 
trum. Diese  Gefahr  iibersteigt  die  beriihmten  51  Prozent  des 
Generals  von  Lossow. 

Beschworen  werden  konnte  diese  Gefahr  wohl  nur  durch 
Bruning, 

Vielleicht  ist  es  gut,  daB  er  grade  in  dem  Augenblick  in 
Genf  ist,  wo  dort  die  Nachricht  eintrifft,  daB  die  deutschen 
Fascisten  die  weitaus  starkste  Partei  Deutschlands  geworden 
sind.  Die  Nachricht  wird  natiirlicb  wie  eine  Brisanz-Granate 
auf  den  internationalen  Aeropag  wirken.  H«rr  Tardieu  wird 
sich  die  Hande  reiben:  Wie  gut,  daB  ichf  entgegen  den  Wiin- 
schen  meiner  Linken,  meine  Wahlen  erst  auf  den  1.  Mai  an- 
gesetzt  habe!  Bisher  standen  die  Aussichten  fiir  Sozialisten  und 
Radikale,  fiir  Blum  und  Herriot  glanzend.  Nun  muB  sich  alles, 
alles  weftden.  Hitler  ante  Portas  Berolini!  Es  miiBte  mit  dem 
Teufel  zugehen,  wenn  dieser  Wahlerschreck  nicht  wieder  ein 
franzosisches  Rechtskabinett  herauffiihrt. 

Briining  ist  nicht  bloB  AuBenminister.  Er  muB  grade  in 
diesen  Tagen  AuBenpolitik  machen,  fiir  Deutschland  wichtigste 
Entscheidunygen  in  Sachen  Reparationen  und  Abriistung  vor- 
bereiten.  Er  wird,  wenn  nicht  horen,  so  doch  fiihlen,  dafl  fiir 
Genf  alles  darauf  ankommt,  ob  er  dort  als  Vertreter  eines 
'friedenwiiiigen  und  demokratischen  Deutschland  oder  als  heim- 
licber  Bundesgenosse  der  deutschen  Mussolini-Imitation  auftritt. 

„Es  muB  anders  werden."  Unter  dieser  Parole  haben 
8  Millionen  PreuBen  am  24,  April  fiir  Hitler  gestimint. 

1st   Briining   derselben   Meinung,    dann  wird  es  weder  in 
Sachen  Reparationen  noch  in  Sachen  Abriistung  fiir  Deutsch- 
land anders  werden, 
612 


Dank  vom  Hause  Hindenburg  cariv.oTsietzky 

T"Ve  republikanischen  Wahler  Hindenburgs  haben  ihren.  Lohn 
weg,  Kaum  cine  Woche  nach  der  Wiederwahl  des  Herrn 
Reichsprasidenten  wird  der  Offentlichkeit  ein  Brief  von  ihm 
an  den  Reichsinnenminister  iibergeben,  in  dem  ankniipfend  an 
das  Verbot  der  SA,  verlangt  wird,  daB  auch  die  von  an* 
dern  Parteien  unterhaltenen  ahnlichen  Organisationen  der 
gleichen  Behandlung  verfallen  sollen.  Das  ist  fiir  die  gesamte 
Rechte  und  ihre  Anhangsel  das  Stichwort,  das  Verbot  des 
Reichsbanners  Schwarzrotgold  zu  fordern,  Der  Reichsprasi- 
dent  beruft  .  sich  dabei  auf  ihm  iibergebenes  Belegmaterial, 
das,  wie  sich  bald  herausstellt,  vornehmlich  aus  Zitaten  der 
deutschnationalen  .Berliner  Borsenzeitung*  stammt.  Der  Reichs- 
prasident  wiinscht  Priif  ung  unter  Berufung  auf  seine  PI lieht, 
sein  Amt  unparteilich  auszuiiben  und  die  gleichmaBige  An- 
wendung  der  Gesetze  zu  uberwachen. 

Wir  leben  in  einem  wohlgeordneten  Staate.  Das  Gesetz, 
das,  nach  Anatole  France,  in  seiner  majestatischen  Gleich- 
heit,  den  Armen  wie  den  Reichen  verbietet,  um  Brot  zu,  bet- 
teln  und  nachts  miter  den  Briicken  zu  schlafen,  dieses  Gesetz 
gebietet  auch  die  gleichmaBige  Behandlung  der  Loyal  en  wie 
der  Auf sassigen,  die  Entwaf  fnun£  aller,  die  fiir  wie  gegen  die 
Regierung  die  Hand  erheben.  Wie  der  Prinz  voni  Homburg 
vor  ein  Kriegsgericht  kommt,  weil  er  in  einer  den  Vor- 
schriften  widersprechenden  Weise  gesiegt  hat,  so  wird  das 
Reichsbanner  mit  der  Auflostuig  bedroht,  weil  es  sich,  ohne 
befugt  zu  sein,  die  Verteidigung  des  Staates  und  seiner  Ver- 
fassung  angemaBt  hat-  Wenn  der  Staat  seine  Feinde  untter- 
werfen  oder  vor  ihnen  kapituliefen  will,  so  geht  das  nur  §eine 
zur  Wahrung,  der  Autoritat  beamteten  Hitter  an.  Die  Unter- 
tanen  haben  da  nicht  dreinzureden. 

Die  Bekanntgabe  des  Hindenburgbriefes  hat  einen  Kon- 
flikt  geschaffen,  dessen  MaBe  und  Ausgang  sich  npch  nicht 
iibersehen  lassen.  Zweifellos  handelt  es  sich  um  einp  neue 
Verschworung  zum  Sturze  der  gegenwartigen  Regierung  un4 
zur  Herbeifuhrung  eines  Rechtskabinetts.  Vjelleicht  gelingt 
es  Briining  auch,  das  Argste  abzubiegen  und  eine  allgeineine 
Krise  zu  verhindern.  Unabhangig  von  dem  Absphlufl  dieser 
Episode  aber  stent  die  nicht  fortdiskutierbare  Feststellung, 
daB  die  erste  merkbare  Handlung  des  wiedergewahlten  Reichs- 
prasidenten eine  Abschiittelung  seiner*  republikanisehen  Wfth^ 
ler  bedeutet.  Das  ist  der  Dank  des  neubestatigten  Reichsoberr 
hauptes  an  diejenigen,  die  zum  grofien  Teil  mehr  d£r  Parteir 
disziplin  als  der  innern  Oberzeugung  folgend,  seineri  Triumph 
vom  10.  April  ermoglicht  haben.  Ohne  die  Eiseme  Front  ware 
die  Kandidatur  Hindenburg  von  Hitlers  SA.  einfach  in  die 
Masurischen  Siimpfe  gefegt  worden.. 

Die  Quittung,  die*  die  gutglaubigen  Republikaner  erhaiten, 
ist  streng  aber  nicht  ungerecht.  Gegen  soviet  Dummheit  glbt 
es  nur  StockprijgeL  Sie  haben,  ohne  zu  fragen,  ohne  zu  lor- 
dern,  fiir  einen  Mann  gekampft,  der  gefuhlsm&Big zm  andefii 
Seite  gehort    und  nach  seiner    ganzen  Vergangeijtheit    nichts 

6*3 


andres  seia  kann  als  cin  konservativer  Militar.  Sic  haben  den 
Wahlkampf  so  gefiihrt,  als  ginge  es  nicht  urn  einen  Menschen, 
dcr  Politik,  also  Menschenwerk,  zu  verrichten  hat,  sondcrn 
um  cine  Gestalt  aus  dcr  heroischen  Legende,  Sic  haben  nicht 
den  Prasidenten  einer  demokratischen  Republik  gewahlt,  son- 
dcni  einen  unumschrankten  Monarchen,  Allc  Voilmachten,  die 
sie  ihm  jubebid  und  kritiklos  mitgegeben  haben,  kehren  sich 
nun  in  ihrer  ganzen  Schwere  gegen  sie~sTelbst, 

Die  republikanischen  Blatter,  denen  dcr'  Schreck  in  die 
Knochen  gefahren  ist,  suchen  die  Veroffentlichung  des  Brief  es 
auf  eine  Intrige  unkontrollier barer  Elemente  zuriickzufiihren. 
Uns  schemt  die  Frage,  was  mit  dem  Briefe  gemacht  wurde, 
weniger  wichtig  zu  scin  als  die  andre,  wie  er  iiberhaupt  ge- 
schrieben  werden  konnte.  Hcrr  von  Hindenburig  mag  der  rich- 
tige  President  fiir  Deutschland  scin,  das  soil  nicht  bestritten 
werden,  jedenfalls  hat  er  nicht  die  richtigen  Wahler  gefun- 
den,  das  d/tirfte  wohl  selbst  dcr  sozialdemokratischen  Partei- 
zentrale  hcute  cinleuchten. 

Die  Republik  setzt  die  absolutistischen  Traditionen  der 
wilhelminischen  Zeit  fort.  Die  Kaiserreden,  die  Daily-Telegraph- 
Affare  fanden  immerhin  noch  stiirmischen  Widcrspruch.  Dcr 
Monarch  von  Gottcs  Gnaden  stand  nicht  so  unangefochten  da 
wie  der  President  der  Republik,  den  ein  neues  Byzantiner- 
tum  auf  Goldgrund1  setzt  und  *dcm  es  ein  Szepter  in  die  Hand 
driickt,  Daucr  und  Festigkeit  sollten  durch  die  Wiederwahl 
Hindenburgs  verbiirgt  werden.  Heute,  zwei  Wochen  nach  dem 
10.  April,  weht  schon  wieder  Krisenluft,  und  der  Wieder- 
gewahlte  selbst  gefahrdet  das  Regime,  zu  dessen  Erhaltung 
er  gewahlt  wurdc.  Wir  wissen  von  dem  Vorhandcnsein  einer 
Kamarilla,  aber  wenig  von  ihrer  Zusammensetzung.  Unsicht- 
bare  Hande  greifen  in  das  Geflecht  der  offiziellen  Politik  ein 
und  versuchen  Hitler,  den  vorn  Hinausgeworfenen,  iibcr  die 
Hintertreppe  zuruckzufiihren. 

Ein  hoher  frankfurter  Richter  hat  dicscr  Tage  mit  der 
gewinnenden  Offenheit,  die  diesen  unabhangigsten  alier  Standc 
auszeichnet,  den  Herrn  Reichsprasidentcn  als  zu  bejahrt  fiir 
scin  schweres  Amt  bezeichnet.  Von  einem  Manne  in  diesem 
Lebensalter  sei  kcin  selbstandigcs  Urtcil  mehr  zu  erwarten,  das 
sei  gegen  die  Natur.  Wir  haben  wiederholt  der  gleichen  Mci- 
nung,  wenn  auch  etwas  dezenter,,  Ausdruck  gegeben,  da  wir 
nicht  so  gut  gegen  den  Zugriff  des  Gcsetzes  gesichert  sind  wie 
ein  richterlicher  Beamter.  In  dcr  Tat  wird  damit  aber  nur 
eine  Selbstverstandlichkeit  ausgesprochen.  Hindenburg,  der 
ohnehin  Politikfremdc,  ist  von  cincr  Clique  blockiert,  die  For- 
derung  des  Fascismus  meint,  wenn  sie  ihm  „gleichmaBige  An- 
wendung  der  Gesetze"  anrat, 

Sclten  ist  ein  Siegcsrausch  so  unvermittelt  in  den  Kater 
iibergegangen  wie  der  nach  dem  10.  April,  Wer  aber  soil 
jetzt  die  traurige  Wahrheit  sajjen?  Die  ganze  Linkc  ist  mit- 
schuldig.  Die  Fiihrer  sind  die  Gefangenen  der  eignen  Propa- 
gandaphrasen,  sie  konnen  den  Massen  nicht  eroffnen,  daB  diese 
Hindenburgwahl  ein  Fchler  war,  dessen  erste  Folgen  schon 
eine  Woche  spater  sichtbar  werden. 

614 


Krisenkongrefi  von  k.  l.  uerstorff 

T*\  er  ,Vorwarts'   brachte  in   der  letzten  Wochc   einen  kurzen 
Aufsatz    unter   dem   alarraicrenden   Titel:    ,,Steigt   die   Ar- 
beitslosigkeit?"     Dort  heiBl  es: 

«  Die  Reichisanstalt  wies  fur  den  Monat  Marz  einen  Ruckgang 
der  Arbeitslosigkeit  um  rund  100  000  Arbeitsuchende  auf.  In  dem 
Kommentar  der  Reichsanstall  fur  die  zweite  Marzhalfte  wurde  der 
im  Verhaltnis  zum  Vorjahr  wesentlich  geringere  Ruckgang  der  Ar- 
beitslosigkeit  u.  a.  damit  erklart,  dafi  mit  dem  Eintritt  der  mil- 
den  Witterung  viele  Arbeitsuchende  auf  dem  flachen  Lande,  die 
wahrend  der  Wintermonate  nicht  zur  Kontrolle  gekommen  waren, 
sich  wieder  gemeldet  hatten  und  dafi  dieser  Zustrom  die  Entlastung 
auf  dem  Arbeitsmarkt  geringer  erscheinen  habe  lassen,  als  sie  tat- 
sachlich   gewesen   sei. 

-  Dagegen  weist  der  .Vorwarts'  darauf  hinf  daB  nach  der 
Statistik  des  ADGB,  die  Arbeitslosigkeit  im  Monat  Marz  sogar 
noch  etwas  zugenommen  habe,  Insgesamt  stieg  der  prozen- 
tuale  Anteil  der  Arbeitslosen  im  Monat  Marz  von  44,9  auf 
45,2  Prozent,  der  der  Kurzarbeit  blieb  mit  22,1  Prozent  un- 
verandert.  Bei  Fruhlinigsanfang  war  also  nur  ein  Drittel  der 
£ewerkschaftlich.  Organisierten  voll  beschaftigt,  und  es  ist 
nicht  anzunehmen,  daB  sich  dies  im  Laufe  des  Sommers  be- 
trachtlich  bessern  wird.  GewiB,  die  Landwirtschaft  nimmt 
einige  Hunderttausend  auf;  aber  an  eine  erhebliche  Bautatig- 
keit  ist  nicht  zu  denken,  weil  die  Pleite  der  offentlichen  Finan- 
zen   zu   grofi   ist. 

Was  fur  Hoffnungen  sind  auf  die  amerikanische  Kredit- 
ausweitung  gesetzt  worden,  die  verstarkte-  Kredite  an  die 
Produktion  dadurch  crmoglichen  sollte,  daB  die  Vorschriften 
fur  die  Golddeckung  ,gemiid'ert  wurden.  Wir  haben  jetzt  ge- 
niigend  zeitlichen  Abstand,  um  festzustellen,  daB  diese  Hoff- 
nungen auf  die  amerikanische  Ankurbeiung  vollig  verfehlt 
waren.  In  Deutschland  steht  es  nicht  anders.  Die  Entwick- 
lung  des  Aufienhandels  im  ersten  Vierteljahr  1932  verlief 
viel  schlechter  als  1931,  die  Produktion  ist  weiter  rucklau- 
fig,  und  die  amtliche  Publikation  der  Aktienkurse  hat  gezeigt, 
wie  schlecht  man  die  Aussichten  einer  Ankurbelung  der  in- 
dustriellen  Produktion  beurteilt  So  wird  die  Arbeitslosig- 
keit von  etwa  sieben  Millionen  —  offiziell  sechs  Millionen  — , 
die  wir  inn  Winter  hatten,  der  Durchschnitt  fur  1932  werden. 
Und  es  ist  daher  kein  Zufall,  daB  die  freien,  Gewerkschaften 
.einen  KongreB  einberufen  haben,  der  lediglich  der  Frage  der 
Arbeitsbeschaffung  gewidmet  sein  sollte. 

Interessant  war  die  Vorgeschichte  der  Einberufung  dieses 
Kongresses.  Die  Delegierten  wurden  nicht  etwa  gewahlt 
durch  Urwahl  der  freigewerkschaftlich  organisierten.  Arbeiter, 
sondern  es  wurde  bestimmt,  daB  die  Delegierten,  die  im  vori- 
gen  Jahr  beim  GewerkschaftskongreB  in  Frankfurt  waren, 
zu  dem  berliner  KongreB  kamen  —  mit  Ausnahme  zweier 
Oppositioneller,  die  man  geschickt  fernzuhalten  wu&te.  Warum 
hat  man  nicht  die  breiten  Mass  en  der  Arbeiterschaft  die 
Delfegierten    wahlen    lassen,    wo    doch    im    Mittelpunkt    des 

2  615 


Kongresses  die  Frage  stand:  Wie  kann  man  Arbeit  scbaffen? 
Sehr  einfach:  wenn  man  namlich  in  den  Jahren  1924 — 28  in- 
nerhalb  der  freigewerkschaftlich  Organisierten  eine  geheime 
Abstimmung  veranstaltet  hatte:  Seid  ihr  mit  der  Politik  eurer 
Fuhrung  einverstanden  —  so  hatte  die  Gewerkschaftsfiih- 
rung  wahrscheinlich  eine  iiberwiegende  Majoritat  erhalten, 
d'enn  damals  trat  nach  dem  aufierordentlichen  Tiefstand1  der 
Lohne  am  Ende  der  Inflation  eine  kraftige  Aufwartsbewegung 
ein.  Seit  1929'  hat  sich  das  Bild  gewandelt.  Die  gesamte 
deutsche  Arbeiterschaft,  die  beschaftigte  und  die  unbeschaf- 
tigte,  verdient  heute  nur  noch  etwa  halb  soviel  wie  in  der 
Konjunktur.  Auf  diese  Herabsetzung  des  Lohns  hat  nun  die 
Gewerkschaftsbureaukratie  fast  iiberall  nur  mit  wirkungslosen 
Protesten  reagiert,  aber  nicht  mit  groBen  Streikaktionen, 
Wenn  man  daher  jetzt  innerhalb  der  fiinf  Millionen  gewerk- 
schaftlich  Organisierter  eine  Geheimurabstimmung  machen 
wollte:  Wie  steht  ihr  heute  zur  Politik  eurer  Fiihrer  —  so  wiir- 
den  sich  die  Massen  mit  iiberwiegender  Majoritat  gegen  die 
Leitung  entscheiden.  Das  weiB  die  reformistische  Fuhrer- 
schicht,  Daher  macht  sie,  wenn  irgend  moglich,  in  den  groBen 
Verbanden  keine  Mitgliederversammlungen  mehr  sondern  nur 
noch  Funktionarversammlungen-  Daher  laBt  sie  die  Delegier- 
ten  zum  KrisenkongreB  nicht  in  geheimer  Urabstimmung  wah- 
len.  Daher  vermeidet  sie  es,  den  Krisenkongrefl  zur  Akti- 
vierung  der  breiten  Aribeitermassen  zu  benutzen.  Daher  fand 
der  KongreB  selbst,  zehnfach  bewacht,  in  den  deutschen 
Reichstagsraumen  statt,  ohne  daB  die  Vertreter  der  opposi- 
tionellen  Presse  zugeiassen  wurden.  Daher  ging:  der  KongreB 
nach  siebenstiindiger  Beratung  ohne  jedes  Ergebnis  atisein- 
ander.  Denn  das  Arbeitsbeschaffungsprogramm  der  Gewerk- 
schaften  kann  keinen  Ausweg  bringen.  Es  steht  vollig  auf 
dem  Boden  der  kapitalistischen  Produktionsweise,  es  vermei- 
det angstlich,  auch  nur  einen  Schritt  uber  sie  hinauszugehen, 
Auf  welche  Weise  konnen  aber  heute  im  Rahmen  des  Kapita- 
lismus  zusatzliche  Arbeitsmoglichkeiten  geschaffen  werden? 
Nur  durch  Kreditausweitung,  Aber  die  Milliarden,  die  man 
an  der  einen  Stelle  fur  Arbeitsbeschaffung  auswirft,  miissen 
an  andrer  Stelle  wegfallen.  Die  Giiter,  die  durch  das  Ar- 
beitsbeschaffungsprogramm produziert  werden,  konnen  —  bei 
gleicher  Fassungskraft  des  Marktes  —  an  andern  Stellen  nicht 
produziert  werden.  Also  fiihren  all  die  Arbeitsbeschaffungs- 
plane,  auch  wenn  es  ihre  Urheber  nicht  wollen,  zur  Inflation. 
Und1  die  Inflation  konnte  nur  dann  vermieden  werden,  wenn 
die  Ausfuhrung  des  Arbeitsbeschaffungsprogramms,  die  gleich- 
zeitig  mit  Kreditausweitung  verbunden  sein  miiBte,  in  einen 
Zeitraum  fallt,  wo  das  Tief  der  Produktion  bereits  er- 
reichjt  ist,  wo  die  Wiederankurbelung  der  Produktion  be- 
reits einsetzt,  wo  der  Wiederanstieg  beginnt  und  die  Ar- 
beitsbeschaffung dann  nur  die  Funktion  hat,  diesen  Anstieg 
moglichst   fruh  und  moglichst  kraftig  zu  gestalten. 

Diese   Situation   ist  in   Deutschland   nicht   gegeben.      Das 
betonte  auch  der  Gast  der  freien  Gewerkschaften,  der  fruhere 

616 


christliche  Gewerkschaftler  Stegerwald,  Arbeitsministcr  in  der 
Briining-Regierung.  Er  stellte  ausdriicklich  fest,  .  allc  An- 
zeichen  deutetcn  darauf  hin,  daB  im  Jahre  1932  die  Weltwirt- 
schaft  nirgends  einen  Aufstieg  crlcben  werde,  Und  er  zog 
daraus  die  —  vom  kapitalistischen  Standpunkt  aus  selbst- 
verstandliche  —  Konsequenz,  daB  das  gewerkschaftliche  Ar- 
beitsbeschaffungsprogramm  abzulehnen  sei.  Stegerwald  sagt 
in  seiner  Rede  ausdriicklich  (nach  dem  Bericht  der  ,Ger- 
raania'):  ,,daB  der  Riickgang  der  Arbeitslosigkeit  in  den  Fruh- 
jahrs-  und  Sommermonaten  des  Jahres  1932  ein  geringerer 
sein  diirfte  als  in  den  vorausgegangenen  Jahren,  was  mit  den 
Kreditschwierigkeiten  und  dem  daraus  folgenden  groBen  Be- 
triebssterben  zusammenhangt,"  Wenn  aber  die  Arbeitslosen- 
zahlen  starker  werden,  wenn  das  Arbeitsbeschaffungspro- 
gramm  der  Gewerkschaften  abzulehnen  ist,  was  denkt  die  Re- 
giermxg  zu  tun?  Nun,  in  einem  Punkte  war  die  Rede  Steger- 
walds  eindeutig  positiv,  daB  namlich  der  Lohn  der  deutschen 
Arbeiterschaft  noch  nicht  tief  genug  sei,  daB  zumindest 
einige  Arbeiterkategorien  dem  Lohnstand  der  andern  „an- 
geglichen"  werden  miiBten.  Die  Antwort  der  Briining-Regie- 
rung, die  Antwort  des  Monopolkapitals  auf  die  weitere  Ver- 
scharfung  der  Krise  ist  also  neuer  Lohnraub. 

Aber  Stegerwald  hat  sich  nicht  damit  begniigt;  er  hat 
noch  ein  andres  Rezept;  und  darauf  miissen  wir  naher  ein- 
gehen.  Als  in  Deutschland  die  Arbeitslosigkeit  bereits  in  der 
Epoche  der  sogenannten  relativen  Stabilisierung  zwischen  1924 
und  1928  immer  groBer  wurde,  da  kamen  manche  Professoren 
fur  Vulgar-  —  pardon  —  fur  Nationalokonomie  und  erklar- 
ten  uns,  im*  Jahre  1932  werde  die  Arbeitslosigkeit  gleich  Null 
sein,  denn  dann  wiirden  die  Jahrgange  auf  den  Arbeitsmarkt 
kommen,  die  an  Zahl  viel  geringer  seien  als  die  Vorkriegs- 
lahrgange,  da  ja  im  Krrege  die  Geburtenzahl  gesunken  sei* 
Nun,  die  Arbeitslosigkeit  im  Winter  1931/32  von  sieben  Mil- 
lionen  hat  diese  Neu-Malthusianer  geniigend  decouvriert,  die 
imraer  noch  den  Massen  einreden  wollen,  daB  die  Arbeits- 
losigkeit vom  GeburteniiberschuB  herkomme  und  nicht  vom 
kapitalistischen  System.  Von  dieser  physiologischen  Betrach- 
tungsweise  unsrer  okonomischen  Lage  hat  sich  auch  Steger- 
wald nicht  frei  gemacht,  und  das  gab  ihm  die  Moglichkeit 
fur  folgende  „theoretischen*  Gedankengange  und  positiven 
Vorschlage.  (Die  Satze  sind  im  Zusammenhang  aus  der  ,Ger- 
mania'  zitiert;  es  ist  kein  Zwischensatz  weggef alien.) 

Ich  vermag  nicht  daran  zu  glauben,  daB  die  industrielle  Ent- 
wicklung  Deutschlands  sich  wieder  in  ahnlichem  Tempo  vollziehen 
wird  wie  von  der  Jahrhundertwende  bis  an  das  Ende  dear  Schein- 
blute  von  1929.  Geht  man  von  dieser  Aunahme  aus,  dann  werden 
wir  wieder  zu  einer  dezentralisierten  Siedlungsweise  des  deutschen 
Volkes  kommen  miissen.  Wir  werden  die  insbesondere  auf  dem 
Lande  geboxene  Bevolkerung  verstarkt  auf  dem  Lande  festhalten 
miissen,  Zudem  stehen  wir  vor  einer  total  veranderten  Bevolke- 
rungsstruktur.  Unsre  Bevolkerungspyramide  zeigt  heute  das  um- 
gekehrte  Bild  der  Vorkriegszeit.  Wir  werden  ein  alterndes  Volk. 
Diese  Tatsache  ist  unter  anderm  auch  von  fundamentaler  Bedeu- 
tung  fur  unsre  soziale  Rentenversicherung.  Ich  glaube  nicht  daran, 
daB  wir  im  ersten  Jahrzehnt  unsre  Rentenversicherung  so  ausbauen 

617 


konnen,  da6  unsre  alternde  Bevolkerung  damit  ihren  Lebensabend 
fristen  kann,  Dieser  Kreis,  der  bei  einem  altcrnden  Volk  standig 
wachst,  muB  mcines  Erachtens  verstarkt  auf  dem  Lande  oder  in  dcm 
Vorrattm  der  Stadte  angesiedelt  werden,  damit  sic  neben  ihrer  Rente 
ihtei  Kartoffeln,  ihr  Gemiise,  ihr  Obst,  ihren  Eierbedarf  selbst  produ- 
zieren  konnen.  Damit  laBt  sich  erzielent  dafi  diese  Menschen  besser 
leben  konnen  als  in  den  GroBstadten  und  auch  die  zusatzliche 
Wohlfahrtspflege  eine  Entlastung  erfahrt.  An  der  Spitze  dessen,  was 
die  Reichsregierung  fiir  die  Arbeitsbeschaffung  beabsichtigt,  steht  da- 
her  die  verstarkte  Forderung  der  landlichen  Siedlung  und  die  Fort- 
setzung    der    stadtischen   Vorraumsiedlung. 

Es  ist  ein  alter  Satz:  Wenn  die  Okonomie  nicht  mehr 
klappt,  dann  wird  ein  Teil  der  Okonomen  zu  Romantikern. 
Als  die  ersten  kapitalistischen  Oberproduktionskrisen  aus- 
brachen,  schrieb  Sismondi  seine  bekannten  Bucher,  in  denen 
er  empfahl:  zuriick  zur  vorkapitalistischen  Wirtschaft,  zuriick 
zum  Handwerk.  Der  Kapitalismus  hat  das  nicht  getan;  er 
hat  unter  standiger  Steigerung,  seiner  Widerspruche  die  'kapi- 
talistische  Produktionsweise  iiber  die  ganze  Welt  getragen. 
Und  heute,  wo  sich  der  Niedergang  des  Kapitalismus  immer 
deutlicher  bemerkbar  macht,  wird  Rousseau  wiedergeboren.  Vor 
der  Rationalisierung  will  sich  Stegerwald  aufs  Land  fluchten, 
Aber  ebenso  wenig  wie  der  beginnende  Hochkapitalismus  zunick- 
geschraubt  werden  konnte  auf  die  handwerkliche  vorkapitali-  ( 
stische  Produktion,  ebenso  wenig  kann  der  Weltkapitalismus 
heute  in  seiner  Weiterentwicklung  gehemmt  werden  durch 
landwirtschaftliche  Siedlung.  Stegerwald  hat  niemals  iiber 
den  Kapitalismus  hinausgedacht,  er  kann  sich  keine  andre 
Produktionsweise  vorstellen  als  die  kapitalistische,  Werden 
ihre  Widerspruche  starker,  dann  antwortet  er  romantisch- 
reaktionar.  Die  freien  Gewerkschaften  stehen  programmatisch 
auf  anderm  Boden,  aber  sie  wollen  heute  im  besten  Fall  auf 
der  Stelle  treten.  Daher  bringen  sie  Plane,  die  nicht  reali- 
sierbar  sind,  Plane,  die  den  Kapitalismus  als  Hochkapitalismus 
reformieren  wollen,  Plane,  die  die  politische  Gewalt  derKapita- 
listen  starken  und  die  eigne  schwachen.  Und  sie  bringen 
diese  Plane,  weil  fiir  sie  heute  wie  damals  das  Wort  Eberts 
gilt:  Ich  basse  die  Revolution  wie  die  Siinde. 


Stresemanns  Vermachtnis  von  Hanns-ErkhKaminski 

Ctresemann  hat  keine  Memoiren  hinterlassen.  Was  sein 
langjahriger  Mitarbeiter  Henry  Bernhard  mit  Hilfe  von 
Wolfgang  Goetz  und  Paul  Wiegler  jetzt  herausgibt,  sind  im 
wesentlichen  Reden,  Artikel,  Briefe,  gelegentliche  Auizeich- 
nungen   und  Notizen  vom   Terminkalender   des  Verstorbenen. 

Das  Interessanteste  an  diesem  Werk,  von  dem  bisher 
der  erste  Band  vorliegt,  ist  die  Tatsache,  dafi  es  bei  Ullstein 
erscheint.  Vielleicht  hatte  Stresemann  das  als  die  Tragik  sei- 
nes Schicksals  empfunden.  In  jedem  Fall  ist  es  charakteri- 
stisch,  daB  der  NachlaB  des  Fiihrers  der  Deutschen  Volkspar- 
tei  von  Demokraten  und  in  einem  demokratischen  Verlag  ver- 
oifentlicht    wird. 

618 


Trotzdem  ist  es  yollig  unmoglich,  Stresemann  noch  nach- 
traglich  zu  eineni  Demakratcn  zu  machen.  Und  schon  gar 
nicht  ist  es  angangig,  in  seinemLeben,  wie  es  die  Herausgeber 
versuchen,  cine  einheitliche  demokratische  Linie  zu  entdecken. 
So  wenig  Neues  die  jetzt  verof  f  entlichten  Urkunden  bf  ingen, 
das  eine  zeigen  sie,  besonders  wenn  man  zwischen  den  Zei- 
len  zu  lesen  versteht,  mit  aller  Deutlichkeit:  Stresemann  ist 
nicht  immer  derselbe  geblieben,  er  bat  vielmehr  eine  tief- 
gehende  Waudlung  durchgemacht.  Selbst  diese  Dokumenten* 
sammlung  liest  sich  manchmal  wie  ein  Entwickiungsroman, 
und  grade  das  macht  seinen  Reiz  aus. 

Warum  strauben  sich  eigentlich  Stresemanns  Verehrer  so 
gegen  diese  Erkenntnis?  Der  Entwickiungsroman  war  ein 
Jahrhundert  lang  die  beinahe  naturgemaBe  Form  der  deut- 
schen  Prosa,  er  ist  im  edelsten  Sinne  deutsch,  und  es  bedeu- 
tet  keine  Verunglimpfung  sondern  eine  Ehrung  Gustav  Strese- 
manns, wenn  man  inn  in  die  gleiche  Sphare  wie  den  Wilhelm 
Meister  und  den  Grunen  Heinrich  stellt, 

Schon  moglich,  daB  er  am  Ende  seines  Lebens  der  da- 
mals  noch  existierenden  Demokratischen  Partei  innerlich  naher 
stand  als  seiner  eignen,  mit  deren  Intrigen  er  sich  ununter- 
brochen  herumzuschlagen  hatte,  Mindestens  bis  zum  Beginn 
seiner  Regierungstatigkeit,  also  bis  zu  seinem  45,  Lebens- 
jahr,  war  er  aus  innerster  Oberzeugung  heraus  nationallibe- 
ral.  Seine  Anschauungen  waren  bis  dahin  typisch  fur  die 
Generation  der  deutschen  Bourgeoisie,  die  ihre  entscheiden- 
den  Eindrucke  in  dem  ersten  Jahrzehnt  unsres  Jahrhunderts 
erhielt,  (Ihre  Karikaturisten  saBen  in  Schwabing.)  Diese 
,,gebildeten  Stande"  waren  alles  gleichzeitig:  liberal  und  na- 
tional, iortschrittlich  und  reaktionar,  romantisch  und  gerissen, 
mid  ihre  Partei,  eben  die  nationalliberale,  hieB  im  Reichstag 
ganz  allgemein  „Fraktion  Drehscheibe". 

In  einer  autobiographischen  Novelle,  die  Stresemann  1924 
schrieb,  heiBfc  es:  „Wie  sturmisch  war  diese  Jugend  gewesen! 
Nicht  in  dem  Sinne  groflen  auBern  Erlebens,  dazu  war  der 
Kreis  zu  klein  und  beengt,  in  dem  er  sich  bewegte,  Man 
nannte  ihn  in  jenen  Kinderjahren  Traumjorg,  und  eine  Traum- 
jorg-Natur  war  er  bis  weit  in  die  Studentenzeit  hinein  ge- 
blieben. Wie  golden  Jag  uber  dieser  Jugend  der  hinstiir- 
mend'e  Idealismus  der  Sekundanertagc,  ob  es  nun  einer  Idee 
oder  ob  es  der  Jugendliebe  gait,  wie  ideal  war  seine  Vor- 
stellung  yon  den  Gedanken  des  Liberalismus,  wie  stark  wur- 
zelte  er  in  jener  Achtundvierziger-Demokratie,  die  das  ein- 
heitliche Deutschland  wollte  und  die  er  damals  noch  ganz 
durch  die  Brtlle  der  hinstiirmenden  Gedichte  eines  Freilig- 
rath,  Prut z,  Anas tasius  Griin  und  andrer  sah. ,,  Und  heute? 
Was  hatte  dieser  Traumjorg  gesagt,  wenn  er  ihn  heute  auf 
der  H6he  des  Lebens  sane,  so,  wie  er  den  Menschen  drauBen 
erschieni?  .  , .,  Zu  groB  war  der  Gesichtskreis  geworden,  als 
daB  er  im  Kleinen,  Engen  und  Begrenzten  noch  Gliick  linden 
konnte,  zu  stark  stieB  ihn  die  Maske  und  die  Heuchelei  der 
GroBen  abt  als  daB  er  in  ihrem  Kreise  etwa  Gliick  und  Ge- 
niigtuung   hatte   finden   konnen.     Die   Ursprunglichkeit   seines 

619 


Wesens  hatte  den  ersten  StoB  erhalten,  als  die  Jugendliebste 
sich  ihm  versagte,  urn  die  gesicherte  Versorgung  zu  erhalten, 
die  irgendeine  mittlere  Beamtenexistenz  den  Eltern  und  ihr 
zu  gewahrleisten  schien.  Von  diesem  StoB  hatte  er  sich  nicht 
wieder  erholt,  von  da  ab  eini  gewisses  perverses  Gefallen  ge- 
f  and  en  an  dem  haften  Realismus  des  Lebens,  aber,  wie  er 
sich  wohl  bewuBt  war,  auch  ein  Stuck  seiner  UrsprCLnglich- 
keit  rait  verloren.  Der  Drang  zum  KorapromiB  des  Lebens 
war  damals  in  ihm  entstanden.  Sein  Gesicht  war  oft  nur 
Maske  geworden,  angepaUt  der  Umgebung,  Die  einen  nann- 
ten  ihn  charakterlos,  Tieferempfindende  sahen  darin  ein  Stuck 
der  Menschenverachtung,  das  ihm  eigen  geworden  war,  seit- 
dem  er  erkennen  muBte,  wie  im  groBen  Leben  hinter  alien 
vorgeschobenen  Ideen  letzten  Endes  oder  mindestens  vorwie- 
gend  die  Interessen  der  Einzelnen  standen." 

Diese  Geschichte  vom  vertraumten  Jungen,  der  zum  er- 
f olgreichen  Mann  wird,  von  der  schoncn  Studentenzeit  und 
der  Karriere,  von  den  Burschenschaftsidealen,  an  die  der 
immer  hoher  gestiegene  Syndikus  in  seiner  freien  Zeit  gern 
und  mit  einem  leisen  Lacheln  zuruckdenkt  —  das  ist  die  Ge- 
schichte des  deutschen  Mittelstandes  im  wilhelminischen  Reich. 
Und  auch  der  naive  Glaube  an  die  eigne  Menschenverachtung, 
in  der  die  Wehmut  nicht  ohne  Eitelkeit  ist,  gehort  dazu, 

Gustav  Stresemann  war  in  keiner  Hinsicht  anders  als 
seine  Schicht.  Er  wolite  Literaturgeschichte  studieren,  doch 
er  ging  sehr  friihzeitig  zur  Industrie.  Wie  Bassermann,  der 
ihn  zu  seinem  Nachfolg^r  in  der  Fiihrung  der  nationallibera- 
len  Partei  bestimmt  hatte,  muckte  er  manchmal  liberal  auf, 
um  schlieBlich  doch  immer  wieder  national  einzuschwenken* 
Als  Parlamentarier  wiinschte  er,  daB  der  Reichstag  mehrEin- 
fluB  erhielte,  aber  er  hatte  diesen  EinfluB  kaum  anders  aus- 
gehutzt  als  die  Regierungen,  die  allein  dem  Kaiser  verantwort- 
lich  waren,  Im  Grunde  war  er  durchaus  einverstanden  mit 
dem  Militarismus  der  Monarchic  und  dem  Imperialismus 
ihrer  herrschenden  Klassen.  Sein  Ideal,  ein  blasses,  ungeforni- 
tes  Ideal,  war  —  auch  in  der  Repubiik  und  wahrscheinlich 
bis  zu  seinem  Tod  —  ein  konstitutionelies  Volkskaisertum  als 
Versinnbildlichung   der   nVolksgemeinschaft". 

Bis  zu  dem  Tag,  an  dem  er  Reichskanzler  wurde,  hatte 
er  niemals  etwas  andres  get  an,  als  man  von  ihm  erwarten 
konnte.  Er  war  fiir  den  Krieg  und  fur  Ludendorffs  Durch- 
haltepolitik,  und  er  stimmte  gegen  die  Weimarer  Verfassung, 
gegen  die  Unterzeichnung  des  Friedensvertrages  und  gegen 
die  Erfullungspolitik  Rathenaus.  Er  biDigte  auch  den  Ruhr- 
krieg  und  unterstiitzte  mit  alien  Kraften  die  Regierung  Cuno. 
Nur  in  einem  Punkt  unterschied  er  sich  von  seinen  Gesinnungs- 
genossen:  er  besaB  gesunden  Menschenverstand,  und  er  dis- 
kutierte  niemals  mit  Tatsachen;  er  respektierte  sie. 

'  Als  er  dann  selbst  eine  Regierung  gebildet  hatte,  in  einer 
ahnlichen  Situation  wie  1918  Prinz  Max  von  Baden,  straubte 
er  sich  zunachst  noch  gegen  den  Vorschlag  Otto  Brauns,  den 
verlorenen  Kampi  ohne  weiteres  abzubrechen.  DaB  er  schlieB- 
lich doch  den  Mut  zu  der  unvermeidlichen  Kapitulation  fand« 

620 


blcibt  sein  Ruhm.  Aber  noch  hatte  er  sich  nicht  gewandelt, 
noch  war  er  vollig  befangen  in  sein  en  alt  en  Anschauungen 
und    Irrtiimern. 

Die  GroBe  Koalition  erschien  ihm  alien  Ernst es  als  die 
Verwirklichung  der  Volksgemeinschaft.  Trotzdem  kam  er 
nicht  einraal  auf  die  Idee,  den  volkischen  Separatismus,  der 
in  Bayern  herrschte,  mit  dem  gleichen  Mafi  zu  messen  wie  die 
aus  Sozialdemokraten  und  Kommunisten  bestehenden  Regie- 
rungen  Sachsens  und  Thuringens.  Er  bewunderte  Stinnes  und 
lieB  sich  von  Schacht  beraten.  Und  er  schickte  dem  ehemali- 
gen  Kronprinzen  lange  Brief e,  die  sich  mitunteri  zu  politischen 
Exposes  auswuchsen.  Nirgends  also  ein  Abweichen  vom  na- 
tionaliiberalen  Geiste.  Auch  dafi  er  schon  damals  an  Dingel- 
dey  als  seinen  Nachfolger  in  der  Parteifuhrung  dachte,  spricht 
nicht  fur  seine  Menschenkenntnis. 

Noch  efstaunlicher  war  die  Verkennung  der  internatio- 
nalen  Situation  in  der  ersten  Zeit  seiner  RegierungstatigkeiL 
Lord  Curzon  hielt  er  fur  eincn  enragierten  Franzosenfeind, 
gelegentlich  meinte  er,  es  werde  bald  zu  einem  englisch- 
franzosischen  Krieg  kommen,  Und  an  Brockdorff-Rantzau 
schrieb  er,  er  hoffe,  der  Botschafter  werde  den  gegenwar- 
tigen  Gewalthabern  RuBlands  gegeniiber  „der  deutsche  Graf 
sein  und  bleiben  \ 

Ich  fiihre  diese  Dinge,  die  heute  vielen  peinlich  erschei- 
nen  werden,  nicht  an,  um  Stresemann  herabzusetzen.  Sie  sind 
bedeutsam,  um  darzutun,  dafi  Stresemanns  Entwicklung  nicht 
von  innen  sondern  von  auBen  entschieden  wurde.  Er  besaB 
keine  Vision  der  Zukunft,  deren  Verwirklichung  er  den  Ver- 
haltnissen  abrang,  Er  lieB  vielmehr  die  Ereignisse  auf  sich 
wirken.  Solche  Ereignisse  waren  die  Ubernahme  der  Regie- 
rung  durch  MacDonald  in  England  und  durch  Herriot  in  Frank - 
reich, 

Man  kann  psychologische  Vorgange  nicht  unter  Beweis 
stellen,  aber  die  Wandlung  Stresemanns  scheint  begonnen 
zu  haben,  als  er  zu  den  Verhandlungen  iiber  das  Dawes- 
Abkommen  zum  ersten  Mai  in  London  war.  Er  sprach  keine 
Iremden  Sprachen,  er  kannte  damals  weder  das  Ausland  noch 
die  Technik  internationaler  Verhandlungen,  er  war  obendrein 
von  starkstem  MiBtrauen  gegen  Herriot  erfiillt.  Komischer- 
>veise  befand  sich  Herriot  in  der  gleichen  Lage,  und  auch 
seine  Gefuhle  Stresemann  gegeniiber  waren  ganz  ahnliche. 
Die  Konferenz  dauerte  denn  auch  schon  tagelang,  ehe  die 
beiden  Gegenspieler  zu  einer  Aussprache  zusammenkamen. 
Endlich  war  es  soweit,  und  nun  begab  sich  eine  Art  Wunder. 
Die  beiden  Manner  erkannten,  daB  man  mit  Auslandern  ebenso 
gut  verhandeln  kann  wie  mit  Landsleuten,  Sie  schiitteten 
sich  ihr  Herz  aus,  Herriot  machte  den  Anfang,  und  dann 
schilderten  sie  einander  die  Schwierigkeiten,  die  jeder  im 
eignen  Lande  und  sogar  im  eignen  Kabinett  hatte.  Zum  ersten 
Mai  entstand  so  die  Atmosphare,  die  seither  typisch  fur  alle 
deutsch-franzosischen  Verhandlungen  geblieben  ist;  die  Mini- 
ster sind   gar   nicht   so  weit  von  einander   entfernt,   aber  sie 

621 


trauen  sich  nicht  aus  Angst  vtfr  der  Opposition  und  den  eignen 
Fretinden. 

Auf  Stresemann  muB  die  Entdeckung,  daB  es  auch  Fran- 
zosen  mit  gutem  Willen  gibt,  ungeheuren  Eindruck  gemacht 
haben.  Nun  erst  begriff  der  alte  Burschenschafter,  was  sein 
ehemaliger  Gegner,  der  weltkundige  Rathenau,  von  Haus  aus 
wuBte:  daB  hinter  dem  Berg  auch  Menschen"  wohnen  und  daB 
man  durch  Verhandlungen  meist  mehr  erreichen  kann  als 
durch  Drohungen  und  Waff engange. 

Offen  bleibt  immer  noch  die  Frage,  wie  weit  Stresemanns 
Entwicklung  ging.  Ohne  dem  Ergebhis  der  beiden  ausstehen- 
den  Bande  seines  Nachlasses  vorgreifen  zu  wollen,  neige  ich 
der  Ansicht  zu,  dafi  auch;  in  der  letzten  Phase  seines  Lebens 
seine  Verstandigungspolitik  mehr  taktischen  Erwagungen  als 
einer  grundsatzlichen  Wandlung  entsprang.  Aber  auch  bis 
zu  dieser  Taktik  war  der  Weg,  den  er  zuruckgelegt  hatte* 
dornenvoll  und  ehrenhaft. 


DaS  Oeue  Spanien  von  Ernst  Toller 

II 

Manner  und  Frauen 
A/fan  kanu  ein  Volk  an  seinen  Kellnern  erkennen.  Der  spa- 
"  nische  hat  nicnts  von  Devotheit  und  Hundeblick,  er  ist 
freundlich,  aber  nicht  unterwiirfig,  er  wird  Dich  nie,  wie  in 
Berlin,  verachtlich  ansehen,  wenn  Du  eine  billige  Kleinigkeit 
bestellst,  er  dankt  fur  groBes  Trinkgeld  mit  der  gleichen  Zu- 
ruckhaltung  wie  fur  kleines.  Ist  er  besonders  zufrieden,  klopft 
er  mit  dem  Geldstiick  leicht  auf  den  Tisch, 

Ich  komme  in  Algeciras  an,  nehme,  urn  den  Mittagsdampfer 
nach  Gibraltar  rechtzeitig  zu  erreichen,  in  einem  kleinen 
Restaurant  hastig  mein  Essen.-  Die  Rechnung  betragt  5,40  Pe- 
setas, ich  lasse  zum  Dank  fur  die  schnelle  Bedienung  sieben  Pe- 
setas auf  dem  Tisch  liegen  und  gehe  zum  Landungssteg,  Auf  der 
StraBe  hore  ich  Rufe,  drehe  mich  um  und  sehe  den  atemlos 
herbeieilenden  Kellner,  der  mir  1,60  Pesetas  mit  den  Worten 
in  die  Hand  driickt:  ,,Senor,  das  Trinkgeld  war  einbegriffen,'* 

Betritt  der  Gast  ein  spanisches  Haus,  begrtiBt  der  Haus- 
herr  ihn  mit  den  Worten:  „Das  Haus  gehort  Ihnen/'  Hier 
spricht  mehr  als  eine  schone  Geste.  Die  Araber  lebten  nicht 
umsonst  viele  hundert  Jahre  in  Spanien. 

Spanien  ist  das  einzige  europaische  Land,  das  gegen  die 
amerikanische  Infektion  immun  blieb.  Wenn  ein  Volk  sich  der 
Normierung  des  Geistes,  der  Typisierung  der  Seele  mit  Erfolg 
widersetzen  kann,  wird  das  spanische  es  sein,  Ein  herrliches, 
liebenswertes  Volk,  naiv  und  darum  voll  Vertrauen, 

Der  Begriff  des  Individualismus  ist  in  Deutschland  anriichig 
geworden,  Es  haftet  ihm  die  Tend-enz  des  Antisozialen,  des 
Eigenbrodlerischen,  des  Privatiertums  an,  man  hat  vergessen, 
daB  der  historische  Individualist  ein  Revolutionar  warf  der 
gegen  den  Dogma tismus,  gegen  die  Intoleranz  kirchlich'er  und 

622 


feudaler  Satzung  fur  Selbstverantwortung  des  Einzelnen,  fur 
die  Freiheit.des  Geistes,  fiir  das  Primat  der  Vernunft  kampfte. 
Ohne  die  groBen  Individualisten  des  18*  Jahrhunderts  ware 
Europa  armer.  Die  den  Individualismus  generalisierend  ver- 
urteilen,  sehen  nicht  den  Unterschied  zwischen  dem  unhalt- 
baren,  schadlichen,  ja  verbrecherischen  Individualismus  im  Be- 
zirk  der  Wirtschaft,  des  Schaffens  und  Verteilens  von  Nahrung, 
Kleidung,  Wohnung,  und  dem  Individualismus  als  Freiheits-, 
Form-  und  Erkenntnistrieb  im  Bezirk  geistiger  Menschheit. 

Warum  ich  diese  Exkursion  iiber  den  Individualismus  ein- 
schalte?  Fragt  man  einen  Spanier  nach  dem  bedeutendsten 
Charakterzug  des  Volkes,  wird  er  ohne  Zogern  aui  den  spa- 
nischen  Individualismus  hinweisen.  Kein  Zweifel,  dieser  spa- 
nische  Individualismus  zeigt  sich  in  mannigf  achen  Formen,  in  Ge- 
brauchen  und  Sitten,  Spanien  ist  das  einzige  Land,  wo  der 
Anarchismus  mit  der  Betonung  der  Freiheitsidee,  der  Ableh- 
nung  jedes  autoritaren  Staatssystems  (aber  auch  dem  Glauben 
an  freiwirkende  Solidaritat)  zur  organisierten  proletarisohen 
Massenbewegung  wurde.  Sechshunderttausend  Arfceiter  ge- 
horen  heute  den  anarchistischen  Syndikaten  an,  Dieser  spa- 
nische  Individualismus  ist  im  Gegensatz  zum  asozialen  und 
philistrosen  Egoismus  Mitteleuropas  sozial,  seine  Krafte  arbei- 
ten  gegen  den  Staat  nicht  gegen  die  Gesellschaft,  gegen  den 
Zwang  nicht  gegen  die  Gemeinschaft,  gegen  Versklavung  nicht 
gegen  Ordnung  und  Gliederung.  DaB  der  spanische  Individua- 
lismus auch  seine  Schrullen  hat,  Individualist  nennt,  was  bloBe 
Schlamperei  ist,  wer  wollte  es  bezweifeln,  aber  ich  bekenne 
mich  zu  der  ketzerhaften  Anschauung,  daB  mir  die  Schrullen 
immer  noch  besser  gefallen  als  die  stete  Bereitschaft  zu  Unter- 
tanentum,  Kasernierung  und  Gedankenlosigkeit. 

Oberall,  wo  der  Spanier  glaubt,  man  wolle  ihn  erziehen, 
wird  er  rebellisch,  er  wehrt  sich  gegen  jede  Oktroyierung  von 
Geboten,  bei  denen  er  sich  seiner  Selbstbestimmung  be- 
geben  soil 

Individualismus  haftet  auch  der  Alltagssprache  an.  Frage 
einen  Franzosen  in  Paris,  Marseille  oder  in  Dijon,  er  wird  dir 
auf  eine  Frage,  ohne  nach  Worten  zu  suchen,  mit  der  gleichen 
sprachlich  vollkommenen  Phrase  antworten,  die  Antworten  von 
Spaniern  werden  inhaltlich  gleich,  aber  formal  auf  eine  kuriose 
Art  verschieden  sein. 

In  schembarem  Widerspruch  zu  seinem  Hang  nach  Unab- 
hangigkeit  steht  der  Wunsch  vieler  Spanier,  Beamter  zu  wer- 
den. Der  Spanier  mochte  versorgt  sein  auf  Kosten  des  Staates, 
den  er  im  Grunde  seines  Herzens  nicht  mag.  Ein  Heer  von 
Beamten  wimmelt  herum,  manche  sehen  ihren  Arbeitsplatz  nur 
am!  Tage  der  Gehaltszahlung. 

Man  erzahlt  von  Primo  de  Rivera,  daB  er  in  seinen  ersten 
Regierungstagen  ein  Dekret  erlieB,  in  dem  er  anzeigte,  er 
werde  am  nachsten  Morgen  alle  Ministerien  inspizieren.  An 
jenem  Morgen  sollen  alle  madrider  StraBenbahnen  und  Auto- 
busse  uberfiillt  gewesen  sein,  schon  am  darauffolgenden  waren 
sic  wieder  leer. 

3  623 


Nur  in  einem  Bereich  liig-t  sick  der  Spanier  orthodoxer, 
dogma tischcr,  traditioneller  Satzung:  wenn  es  sich  urn  die  t'xau 
handelt.  Wehe  dem  Madchen,  das  seine  Jungfraulichkeit  nicht 
in  die  Ehe  mitbringt  Dabei  betrachtet  der  Spanier  die  Frau 
mehr  als  Besitz  denn  als  Kamerad,  sein  Liebeswerben  endet  am 
Hochzeitstag.  Spanische  Frauen  beklagen  sich  iiber  die  Riick- 
sichtslosigkeit  ihrer  Manner,  die  sich  kaura  urn  sie  kiimmern, 
nie  mit  ihnen  iiber  soziale,  politische,  kunstlerische  Fragen 
sprechen,  allein  ausgehen,  allein  verreisen,  ihnen  jede  freie  Re- 
gung  versagen  und  sie  auf  Haus-  und  Kinderarbeit  beschran- 
ken.  Fragt  man'  einen  spanischen  Mann  nach  dem  Grund  der 
Vernachlassigung,  wird  er,  wenn  er  hoflich  ist,  sagen,  mit  der 
Frau  konne  man  iiber  keine  sozialen  Dinge  reden,  sie  inter- 
essiere  sich  nicht  dafiir,  aber  er  macht  gar  nicht  erst  den  Ver- 
such,  ihr  Interesse  zu  wecken,  Ich  habe  gefunden,  daB  die  spa- 
nische Frau  oft  int ell ig enter  ist  als  der  Mann,  auch  wenn  sie 
(oder  weil  sie)  keine  Zeitung  liest. 

Die  Stellung  der  spanischen  Frau  ist  von  alten  maurischen 
Traditionen  bestimmt,  vor  Gericht  wurde  sie  bis  zur  Re- 
volution nicht  zum  Eid  zugelassen,  die  Heirat  ist  Sache  der 
Eltern,  nicht  der  Kinder.  In  alten  Familien  diirfen  die  Verlob- 
ten  nie  allein  zusammentreffen,  nie  allein  ausgehen,  undenkbar, 
daB  sie  sich  kiissen.  Keine  spanische  Frau  wird  einen  Frem- 
den  allein  empfangen,  eine  Einladung  ins  Kino  empfindet  sie 
als  Beleidigung,  Frauen,  die  man  allein  in  Cafes  oder  Theatern 
sieht,  gehoren  zur  ^Halbwelt". 

Dabei  ware  es  falsch  zu  glauben,  daB  die  Frau  einfluBlos 
ist.  Auf  zahllosen  Wegen  und  Umwegen  formt  sie  das  Gesicht 
der  Gesellschaft,  sie  laBt  den  Mannern  die  Illusion,  zu  herr- 
schen,  wahrend  sie  herrscht. 

Die  Erscheinung  der  Kameradschaftsehe,  des  „Verhalt- 
nisses"  ist  unbekanht,  reiche  Leute  halten  sich  manchmal 
Matressen,  aber  die  miissen  ihren  Arbeitsplatz  aufgeben,  die 
Kolleginnen  verweigern  die  Zusammenarbeit. 

Die  Kehrseite  der  strengen  Gesellschaftsmoral  heiBt 
Prostitution  und  Geschlechtskrankheit.  Allein  in  Madrid  sollen 
etwa  dreiBigtausend  Madchen  unter  „Sittenkontrolle"  stehen, 
auch  die  kieinste  Stadt  hat  offentliche  Hauser.  Oft  verkaufen 
verelendete  Eltern  ihre  Tochter,  besonders  in  Andalusien,  und 
ein  Heer  von  Agenten  und  Handlern  ernahrt  sich  von  diesen 
armen  Geschopfen,  Die  falschen  „Mamas",  die  auf  den 
StraBen  sie  verkuppeln,  tragen  die  Wiirde  groBer  Aristokra- 
tinnen,  sie  erlauben  den  Kavalieren  nur  weltanschauliche  Ge- 
sprache  iiber  Gott  und  die  Unsittlichkeit  der  Republik,  sie 
blieben  unnahbar,  fiele  ein  Wort  iiber  irdische  Liebe  und  ihren 
materiellen  Gegenwert. 

Heute  lockert  sich  die  unnaturliche  Strenge,  in  den  groBen 
Stadten  griinden  Arbeiter  und  Arbeit  erinnen  gemeinsamc 
Haushalte,  ohne  sich  vor  dem  Gesetz  zu  verheiraten, 

Und  wahrscheinlich  wird  als  Reaktion  auf  die  erotische 
Versklavung  eine  Periode  erotischer  Freiheit  folgen.  Die 
Biicherkarren  strotzen  von  Erotika,  keine  Tageszeitung  hat 
eine  ahnliche  Auflage  wie  der  diimmste,  schlechtgeschriebene 

624 


„Sittenroman",  und  die  illustrierten  deutschen  Zeitschriften  der 
Bunde  fiir  ,,Nacktkultur"  sind  in  der  klcinstcn  Stadt  zu  finden. 

Da  sich  der  Mann  um  das  seelischc  Leben  def  Frau  nicht 
ktimmert,  sic  aber  jemand  braucht,  der  teilnimmt,  wird  der 
Pfarrer  ihr  wirklicher  ,,SeeIsorger'\  er  betreut  ihre  alltaglichen 
Ktimmernisse.  Kein  Wundcr,  daB  viele  spanischc  Fraucn  wenig 
Verstandnis  fur  die  Republik  haben,  die  ihren  einzigen  Freund, 
die  Kirche,  bedrangt  —  oder  sie  zu  ibedrangen  vorgibt. 

Sind  die  spanischeri  Frauen  religios?  Ein  kommunistischer 
Arbeiter  in  Jerez  erzahlte  mir,  daB  seine  Frau  jeden  Sonntag 
die  Kirche  besuche.  MSie  ist  weder  religios'1,  fiigte  er  hinzu, 
,,noch  antireligios,  sie  geht  mechanisch  zur  Kirche." 

Die  junge  Republik  hat  zwar  einen  Verfassungspara- 
graphen  angenommen,  der  die  Trennung  von  Staat  und  Kirche 
ausspricht,  die  Enteignung  der  ,,toten  Hand"  und  die  Vertrei- 
bung  der  Jesuiten,  aber  schon  ein  paar  Tage  spater  verkiindete 
die  Regierung,  daB  diese  Bestimmung  vorerst  nicht  in  Kraft 
treten  werde.  Erst  als  sich  bei  alien  antirepublikanischen 
Kundgebungen  zeigte,  daB  die  Jesuiten  ihre  Hand  im  Spiel 
hatten,  wurde  der  Paragraph,  ein  halbes  Jahr  zu  spat,  Gesetz. 

In  keinem  Staate  der  Welt  hat  die  Kirche  eine  ahnliche 
Machtstellung  wie  in  Spanien,  das  noch  bis  vor  hundert  Jahren 
die  Scheiterhaufen  der  Inquisition  brennen  sah.  Die  Kirche 
war  unter  der  Monarchic  nicht  nur  eine  geistliche  Macht,  die 
keinen  Nebenbuhler  duldete  (protestantische  Kirchen  waren 
nicht  zugelassen),  die  die  wenigen  vorhandenen  Schulen  ver- 
waltete,  Nichtkatholiken  von  jeglichem  Beamtendienst  aus- 
schloB,  die  Kirche  war  und  ist  eine  grofie  wirtschaftliche 
Macht,  die  weite  Landereien,  Handelsgesellschaften,  Agrar- 
syndikate,  Warenhauser,  wenn  auch  manchmal  unter  anderm 
Namensschild,  besitzt  und  die  mannigfaltigsten  sozialen  Funk- 
tionen  ausiibt.  Oft  werden  junge  Kaufleute  Mitglieder  katho- 
lischer  Vereine,  weil  sie  sich  versprechen,  daB  der  geistliche 
Prases  ihnen  den  fehlenden  Kredit  vermittelt,  ja,  es  soil  vor- 
kommen,  daB  er  auch  die  vermogende  Frau  findet 

Die  Verbrennung  von  Kirchen  und  Klostern  war  die  Ant- 
wort  erbitterter  revolutionarer  Volksmassen  auf  die  republik- 
feindlichen  Reden  monarchistischer  Geistlicher.  Die  Regierung 
hat  diese  Taten  verurteilt,  sie  sagt,  daB  sie  den  Klerikalismus 
befehde,  nicht  die  Kirche,  aber  die  treuen  Katholiken  verstehen 
die  Unterscheidung  nicht,  fiir  sie  ist^die  Republik  sogar  in  ihrer 
gegenwartigen  Struktur  der  hollische  Verfolger 

Das  Gesetz,  das  die  bisher  verbotene  Ehescheidung  erlaubt, 
wurde  von  der  Mehrheit  der  Frauen  nicht  freudig  begniBt,  sie 
glauben,  die  Scheidung  werde  ihnen,  den  wirtschaftlich 
Schwachen,  nur  Nachteile  bringen  und  das  Sakrament  der  Ehe 
zerstoren, 

Der  Vatikan  hat  sich  mit  der  Staatsform  abgefunden,  der 
Erzbischof  von  Toledo,  der  die  Republik  offen  bekampfte, 
wurde  abberufen,  die  Kirche  richtet  sich  daratif  ein,  innerhalb 
des  neuen  Staates,  mit  einigen  Konzessionen,  die  alte  Macht- 
stellung zu  behaupten. 

625 


Pogede  von  Rudolf  Olden 

Tn  ded  letzten  Wochen  habe  ich  mich  beschaftigt  mit  den 
Thcmcn:  Ossietzky,  Kuhlc  Wampe,  Scheringer,  —  nicht  an 
mir  lag  die  Auswahl,  sic  drangte  sich  auf.  Die  Zeit  bringt  sie 
mit  sich,  nein,  die  Geschichtsperiode,  die  von  dei\  Zensur  in 
jederlei  Form  gekennzeichnet  ist.  Es  ist  nicht  meine  Schuld, 
noch  mein  Verdienst,  daB  ich  heutc  fiber  cinen  vierten  ProzeB 
berichten  muB,  der  die  drei  andern  erganzt.  Es  ist  der  Fall 
Pogede,  zu  klein,  um  der  Offentlichkeit  bisher  als  „Fall"  be- 
kannt  zu  sein,  aber  grofl  genug,  wichtig  genug,  urn  iiber  jhn  zu 
berichten. 

Pogede,  um  ihn  vorzustellen,  ist  ein  Zeitungsspediteur  am 
Wedding,  Mitglied  der  Kommunistischen  Partei,  der  Roten 
fjilfe  und  noch  mehrerer  Organisationen  aus  dem  gleichen  Ge- 
sinnungskreis,  auch  des  Freidenkerbundes,  Es  ist  nicht  merk- 
wiirdig,  dafif  er  vielen  Vereinen  angehort.  Er  kann  leichter 
Vereinsbeitrage  zahlen  als  die  Mehrzahl  seiner  Parteigenossen. 
Sttatt  sich  von  der  Arbeitskrise  unterkriegen  zu  lassen,  hat  er 
sie  zu  einem  bescheidenen  Aufstieg  beniitzt.  Dreizehntes  Kind 
eines  Fabrikarbeiters  in  Pritzwalk,  gelernter  Weber,  Sozial- 
demokrat,  enttauschter  KriegsteiLnehmer,  Arbeiter  in  Berlin, 
aus  der  Kirche  ausgetreten,  USP,  1925  arbeitslos,  und  dann, 
statt  stempeln  zu  gehen  und  ausgesteuert  zu  werden,  Ver- 
schleiBer  von  Parteizeitungen  mit  einem  eignen  Laden.  Keine 
politische  oder  geistige  Prominenz,  aber,  das  hat  selbst  das  Ge- 
richt  anerkannt,  kein  iibler  Mensch. 

Der  Freidenkerbund  ist  eine  sehr  groBe  Organisation,  hat 
in  Deutschland  hunderttausende  und  am  Wedding  allein  acht- 
tausend  Mitglieder,  befaBt  sich  in  erster  Linie  damit,  seine 
Leute  in  Feuer  bestattenzu  lassen,  und  zweitens,  den  Kirchen- 
austritt  zu  propagieren,  eins  gehort  zum  andern,  und  beides 
war  einmal,  in  der  liberalen  Periode,  zur  Zeit  des  Kulturkampfs 
etwa  oder  des  Goethebundes,  eine  bedeutungsvolle,  sehr  re- 
putierliche  biirgerliche  Angeiegenheit.  Hier  ist  das  Proletariat 
der  Erbe   des  biirgerlichen  Liberalismus  geworden, 

Eigentlich  ist  der  ..Fall"  zu  Ende  ■erzahlt,  wenn  ich  hinzu- 
iiige:  vorm  SchoHengerich^  neun  Monate  Gefangnis  und,  auf 
Pogedes  Berufung,  vor  der  Strafkammer  sechs  Monate,  vor 
denen  ich  ihn,  als  sein  Verteidiger,  vergeblich  zu  schiitzen  ver- 
suchte.  Eigentlich  ist  die  logische  Reihe,  wie  sie  dem  Gericht 
geniigte,  damit  geschlossen.  Der  Vollstandigkeit  halber  will 
ich   die   zeitlichen   Zwischenglieder  noch   einfiigen. 

Im  Jahre  1930  ist  eine  kommunistische  Ausstellung  in  den 
Pharussalen.  Pogede,  der  ein  paar  Hauser  entfernt  sein  Ge- 
schaft  hat,  schaut  sie  an,  sieht  und  sagt:  Das  ist  zu  tot,  da 
miissen  noch  Vortrage,  Auffuhrungen,  Kino  dazu.  Die  Genossen 
sagen:  machs,  Damit  gehort  Pogede  zu  dem  Kollektiv,  das  die 
nachste  Ausstellung  veranstaltet  Auf  der  zweiten  wie  auf  der 
626 


ersten  gibt  es  Stande  fur  Zeitungen,  fiir  Ruchhandlungen,  fur 
Radiosport,  fur  Arbeiterkultur,  fiir  Amateurphotographen,  fiir 
die  Rote  Hilfe,  fiir  einen  Mieterverband,  noch  fiir  eine  Menge 
Dinge  und  endlich  auch  eine  Koje  fiir  Freidenker.  Am  Sams- 
tag  war  Maskenball,  bis  morgens  um  sieben  arbeiten  die  Reine- 
machefrauen,  am  Sonntag,  dem  8.  Marz  1931,  11m  elf  steht  die 
Ausstellung,  und  die  Besucher  kommen,  es  kommt  auch  die 
Polizei.  Es  kommt  die  Baupolizei  und  die  Feuerpolizei.  Es 
kommen  Beamte  vom  Revier,  einer  nimmt  AnstoB  an  einer 
Anstecknadei  mit  der  erhobenen  Faust  der  verbotenen  Roten 
Front  und  an  einer  Photographie  des  Polizeiprasidenten  Zor- 
giebel,  die  ihn  auf  dem  Presseball  mit  einer  Filmschauspielerin 
darstellt,  beides  wird  entfernt,  Dann  kommt  —  vermutlich^ 
ein  Hauptwachtmeister  hat  es  vor  Gericht  ausgesagt  —  auch 
noch,  der  Polizeihauptmann,  kontrolliert  und  geht  weg.  Dann 
kommen  Artikel  in  der  fGermania*  und'  in  der  .Kreuzzeitung' 
gegen  die  „schamlose  Gottlosenpropaganda",  am  Freitag  kommt 
die  Polizei  zum  letztenmal,  sie  schlieBt  die'  Ausstellung,  die 
ganze  Ausstellung. 

Was  die  Freidenker  ausgestellt  hat  ten,  darauf  kommt  es 
fiir  den  Fall  Pogede  gar  nicht  an.  Er  hatte  ihre  Bilder  und 
Darstellungen  nicht  ausgewahlt,  er  hatte  sie  vor  der  Aus- 
stellung nicht  gesehen,  wahrend  des  Aufbaus  nicht  betrachtet 
und  nachher  nicht  beachtet.  Das  sagte  er  aus,  niemand 
konnte  es  widerlegen,  und  als  es  bezweifelt  wurde,  erklarte 
er  es  einleuchtend  damit,  daB  ihn  solche  Dinge  nicht  mehr 
interessieren,  er  habe  schon  zu  viele  gesehen  in  den  Blattern 
der  Freidenker  und  auf  andern  Ausstellungen.  Mehrere  von 
seinen  Gesinnungsgenossen  bestatigten,  es  gehe  ihnen  ebenso. 
Das  sei  fiir  Parteilose  bestimmt,  die  tausende  Besucher  seien 
gewifl  meist  parteilos;  sie,  Funktionare  und  freiwillige  Heifer, 
kummerten  sich  nicht  mehr  darum.  Da  Belastungszeugen 
iiberhaupt  nicht  vorhanden  waren,  der  Leiter  der  Freidenker- 
koje  nach  RuBland  ausgewandert  ist  und  nicht  vernommen 
wurde,  so  war  es  schwer,  etwas  festzustellen.  Das  Schoffem- 
geficht  spricht  von  der  f,hohen  Wahrscheinlichkeit",  dafl  die 
inkriminierteni  Bilder  „erst  nachtraglich —  nach  der  Abnahme 
der  Ausstellung  durch  die  Polizei  —  in  die  Freidenkerkoje  ge- 
schafft  worden  sind".  Der  Strafkammer  erschien  es  im  Gegen- 
satz  dazu  wahrscheinlich,  daB  sie  schon  in  mehreren  vorher- 
gegangenen  Ausstellungen  gezeigt  wurden.  Hat  der  Ange- 
klagte  sie  gesehen?  Hat  er  sie  f rimer,  in  den  polizeilich  nicht 
beanstandeten  Ausstellungen,  hat  er  sie  nur  auf  der  letzten, 
und  da  nach  den  Polizeibesuchen,  gesehen?  Niemand  konnte 
dariiber  etwas  mitteilen.  Aber  es  kam  auch  darauf  gar 
nicht  an, 

Sondern;  er  war  an  der  kollektiven  Leitung  der  Aus- 
stellung beteiligt,  das  hatte  er  selbst  immer  freimiitig  gesagt, 

627 


und  das  geniigte  zur  Verurteilung.  Das  Schoffengericht  stellte 
fest,  es  sei  ,,dem  Zwcck  dcr  Ausstellung  entsprechend,  die 
Kirchc  in  schmahlicher  Weise  herabzuwiirdigen".  Dariiber  sei 
Pogedc  sich  „als  nicht  unintelligenter  Mensch"  klar  gewesen. 
Und  sagt  weiter  wortlich:  ,,AIs  erfahrener  Politiker  wuBte  er 
gaaz  gena,u,  daB  auf  die  groBe  Masse  nur  die  besonders  ge- 
meine  und  scharfe  Darstellung  mit  grell  unterstrichener  Ten- 
denz  die  gewollte  Wirkung  ausiiben  wurde  und  daher  zur  Er- 
reichung  des  Zieles  der  Ausstellung  die  Uberschreitung  der 
Grenzen  einer  sachlichen  Kritik  unumganglich  war".  Wer  so 
iiber  Massenwirkung,  iiber  jede  Massenwirkung,  iiber  Massen- 
wirkung  schlechthin  denkt,  in  einem  Staat,  dessen  Regierende 
immerhin  noch  durch  Volkswahlent  auf  Grund  von  Mehrheits- 
abstimmungen  bestimmt  werden,  dem  muB  es  schwer  fallen, 
gerecht  gegen  Politiker  jeder  Art  zu  sein.  Die  Berufungs- 
instanz  hat  es  sich,  nach  der  mundlich  verkiindeten  Begriin- 
dung,  noch  einlacher  gemacht.  Sie  hat  gesagtf  da  Pogede 
schon"mehrere  Freidenkerausstellungen  gesehen  habe,  so  habe 
er  damit  gerechnet,  daB  Bilder,  deren  Charakter  er  kannte, 
ausgestellt  wiirden  und  daB  die  Kirche  verunglimpft  werden 
wiirde.  Ob  er  die  Bilder  gesehen  hat  oder  nicht,  ob  sie  schon 
bei  Beginn  der  Ausstellung  da  waren  oder  spater  hingebracht 
wurden,  ob  es  friiher  dieselben  waren  oder  andre,  ob  Pogede 
fur  moglich  hielt,  daB  sie  anstoBig  waren  oder  nicht,  ob  die 
Polizei  friiher  oder  jetzt  oder  friiher  und  jetzt  gleichmiitig  und 
unbewegt  an  ihnen  voriiberging,  —  das  bleibt,  bei  solcher  De- 
duktion,  allerdin,gs  gleichgiiltig.  Sondern  prastabiliert  ist,  daB 
die  Freidenkerpropaganda  gegen  den  Gotteslastererparagraphen 
verstoBt  und  daB  jeder,  der  auch  nur  entfernt  an  ihr  mitwirkt, 
sich  strafbar  macht.  Und  zwar  wie  strafbar!  George  Grosz 
und  sein  Verleger  Herzfelde  wurden  in  erster  Instanz  zu  je 
zweitausend  Mark  Geldstrafe  verurteilt,  der  Abgeordnete  Mas- 
lowski  und  der  Maler  Frankenbach,  die  fur  die  aufgeloste  Ifa- 
Ausstellung  verantwortlich  waren,  zu  zweihundert  und  zu 
fiinlzig  Mark  Geldstrafe,  Der  kleine  Pogede  aber  bekam  erst 
neun,  dann  immerhin  noch  sechs  Monate  Gefangnis,  und  ich 
hore,  dafi  Schauspieler,  die  antiklerikale  Stucke  spielten,  kxirz- 
lich,  in  aller  Stille,  ebenfalls  mit  hohen  Freiheitsstrafen  belegt 
wurden. 

In  aller  Stille,  —  das  scheint  mir  schlieBlich  noch  sehr 
charakteristisch  zu  sein.  So  nebenbei  wurde  auch  eine  dler 
friiher  freigegebenen  George-Grosz-Zeichnungen,  die  hier  ver- 
groBert  gezeigt  wurde,  eingezogen.  Aber  der  ProzeB  gegen 
Pogede  war  so  sehr  kein  ,,Fair,  daB  kaum  eine  Zeitung  sich 
mit  ihm  beschaftigt  hat.  Das  Plaidoyer  fur  den  eleganten  Van- 
Gogh-Handler  zog  alle  Aufmerksamkeit  auf  sich.  Die  Frei- 
denker  selbst,  ein  Bund  von  Hunderttausenden,  zeigten  kaum 
ein  erkennbares  Interesse  an  dem  Schicksal  ihres  Vereinsmit- 

628 


glieds,  das  doch  zugleich  das  Schicksal  ihres  Vereins,  das 
Schicksal  des  Sinus  und  Zweckes  ihres  Vereins  ist,  lch  war 
allein  andrer  Meinung  iiber  die  Bedeutung  des  Falles  Pogede. 
Ossietzky,  Kuhle  Wampe,  Scheringer,  das  rundet  sich  mit  Po- 
gede  harmonisch  ab.  Wahrend  Hitler  ante  portas  —  wo  er 
hoffentlich  bleiben  wird  —  alle  Gemiiter  in  Spannung  halt, 
wird  in  Leipzig  und  Moabit  erwiesen,  daB  der  Spruch,  den 
George  Grosz  unter  seine  beriihmt  gewordene  Zeichnung  setzte, 
prophetisch  fur  den  seither  erreichten  Zustand  war;  „Maul 
halten  und  weiter  dienen!" 

Die  Saar  von  Johannes  Buckler 

I 

|m  Jahre  1935  wird  das  Saarrevier  durch  eine  Volksabstim- 
mung  zu  entscheiden  haben,  ob  es  wieder  an  Deutschland 
zuriickfallen  oder  der  bisherige  Zustand  aufrecht  erhalten  blei- 
ben soil,  vorausgesetzt,  daB  es  den  nationalen  Politikern  in 
Berlin  und  Paris  nicht  gelingt,  durch  mehr  oder  weniger  ge- 
wollte  Kunststucke  auch  diese  Entscheidung  zu  verschieberi, 
Es  wird  in  Deutschland  wenig  beachtet,  daB  es  sich  nach  dem 
Wortlaut  des  Versailler  Vertrages  hier  nicht  um  eine  Soil- 
vorschrift  sondern  nur  um  eine  Kannvorschrift  handelt.  Wie 
man  sieht,  haben  also  die  Vertragskontrahenten  fiir  ihre  oft 
bewahrte  Ungeschicklichkeit  weiten  Spielraum. 

Wenn  es  nach  den  Bewohnern  ginge,  so  bestiinde  hier 
keine  Frage,  so  wiirde  die  Saar  niemals  la  Sarre  werden. 
Denn  das  Saargebiet  ist  ein  Land  von  deutschen  Industrie- 
proletariern.  Es  dominiert  dort  eine  soziale  Schicht,  die  nie- 
mals eine  andre  Staatshoheit  erstrebt  hat.  Schlesische  Ma- 
gnaten  haben  nach  Polen  geschielt,  rheinische  Industrielle  und 
Bankiers  nach  Frankreich  —  in  den  Kampfen  der  bedrohten 
Grenzgebiete  hat  liberall  der  Prolet  den  Ausschlag  gegeben. 
Er  hat  liberall  fiir  Deutschland  gestimmt  und  gekampft.  Fragt 
nicht  nach  seinem  Lohn, 

Die  Franzosen  haben  sich  in  friihern  Jahren  sehr  an- 
gestrengt,  das  Saargebiet  auf  ihre  Weise  zu  penetrieren.  Sie 
haben  Propagandakxinste  angewandt  und  manche  weniger 
schonen  Kiinste,  sie  sind  nicht  weit  gekommen.  Am  friihern 
Bergamt  in  Saaribriicken,  zum  Beispiel,  hat  man  sich  nicht 
damit  begniigt,  ein  neues  Schild  herauszuhangen,  man  hat 
gleich  den  Stein,  in  den  die  friihere  Inschrift  gemeiBelt  war, 
herausgeholt  und  durch  einen  neuenersetzt:  Societe  des  Mines 
Domaniales,  Es  hat  das  alles  nichts  geniitzt.  Die  Propaganda 
ist  an  der  Bevolkerung  abgeglitten  wie  Wassertropfen  an 
einem  glatten  Stein.  Die  Leute  reden  ihre  alte  Mundart  und 
t  rag  en  ihr  Kumpeldasein,  wie  es  alle  Kumpel  von  alters  ge- 
tragen   haben. 

Das  Saarland  ist  von  der  pfalzer  Grenze  bis  zur  lothrin- 
gischen  ein  Industriegebiet  mit  alien  innern  und  auBern  Kon- 
sequenzen.  Aber  es  ist  unter  alien  europaischen  Industrie- 
reviefen  wohl  das  freundlichste  geblieben,  es  hat  seinen  alten 

629 


Landschaftscharakter  in  wesentlichen  Stiickcn  bewahrt.  Noch 
immer  gibt  es  an  der  Saar  ungeheure  Buchenwalder,  die  Holz- 
axt  hat  in  die  herrlichen  grtinen  Mauern  keine  schmerzhaften 
Breschen  geschlagen,  und  Saarbriicken,  die  Kapitale  dieses 
Landes,  ist  kein  Beuthen  oder  Miilheim  an  der  Ruhr/  keine 
Zusammenhaufung  grauer  trostloser  Hauser  zwischen  diistern 
Rauchschwaden,  sondern  liegt  langhingestreckt  zwischen  dicht 
bewaldetea  Hohen.  Von  den  800  000  Bewohnern  des  Saar- 
beckens  konnen  etwa  453000  als  Arbeiter  in  der  Montan- 
und  Schwerindustrie  betrachtet  werden.  In  dieser  Zahl  liegt 
schon  das  Schicksal  dieses  Landes. 

Dabei  ist  die  Saar  heute  nicht  in  gleicher  Weise  von  der 
Knochenhand  der  Weltkrise  an  der  Gurgel  gepackt  wie  andire 
Industriegebiete.  Die  Arbeitslosigkeit  ist  groB,  aber  sie  ragt 
nicht  an  die  deutschen  Zahlen.  Die  Lebenshaltungskosten  sind 
gestiegen,  aber  die  Verhaltnisse  noch  immer  ertraglicher  als 
in  den  entsprechenden  deutschen  Kohle-  und  Eisenprovinzen, 
Januar  1931  betrug  die  Arbeitslosigkeit  auf  100  Beschaftigte 
11,  im  Dezember  1931  schon  24  auf  100,  Was  die  Lebenshal- 
tungskosten angeht,  so  halt  die  Indexziffer  bei  119  gegen  130 
im  Reich.  Die  Forderung  betragt  heute  75  Prozent  gegeniiber 
den  Friedenszahlen,  1913  wurden  rund  4  Millionen  Tonnen  in 
Deutschland  ausschlieiilich  Saargebietabgesetzt,  1930  liegt  die 
Zahl  unter  einer  Million,  namlich  bei  863000.  Dabei  ist  der 
Absatz  nach  Frankreich  nicht  entsprechend  gestiegen.  Nach 
Frankreich  und  ElsaB-Lothringen  betrug  er  1914  noch  2  700  000 
Tonnen  gegeniiber  den  3  700  000  Tonnen  von  1931. 

Diese  Ziffern  zeigen  die  besondere  Saarkrise  deutlich  auf, 
und  es  gehort  unbedingt  in  dieses  Bild,  daB  sich  die  todlichen 
Unfalle  in  den  Gruben  seit  1913  mehr  als  verdoppelt  haben. 
Die  industrielle  Apparatur  ist  veraltet,  Frankreich  halt  sich 
auf  technisch-maschinellen  Gebieten  ohnehin  nicht  an  der 
Spitze,  und  auBerdem  ist  die  Saar  ein  Gebiet  mit  unbekannter 
Zukunft.     Wer  wagt  da,  viel  zu  investieren? 

Trotz  alledem  sind  die  Verhaltnisse  noch  immer  besser 
als  etwa  im  Ruhrgebiet.  Und1  dieser  Umstand  hat  einmal,  im 
September  1930,  unmittelbar  nach  den  Hitlerwahlen,  eine  vor- 
iibergehende  Krise  der  deutschen  Situation  erzeugt.  Das  so- 
ziale  Regime  der  Franzosen  scheint  den  Berg-  und  Industrie- 
arbeitern  durchaus  nicht  verlockend,  aber  die  Industriearbei- 
terschaft  an.  der  Saar  empfindet  gegen  den  deutschen  Fascis- 
mus  nur  Gefuhie  einmutiger  Ablehnung.  Damals,  als  fiir  Hitler 
der  Sieg  zum  Greifen  nahe  schien,  da  sah  man  auch  an  der 
Saar  nur  mit  Entsetzen  der  Moglichkeit  entgegen,  in  das 
Deutschland  eines  fascistisch-nationalistischen  Systems  zuriick- 
zukehren.  Das  Resultat  einer  Abstimmung  ware  damals  nicht 
zweifelhaft  gewesen.  Nur  ein  verhornter  deutscher  Nationalist 
wird  es  wagen,  den,  Leuten  ah  der  Saar  wegen  solcher  Stim- 
mungen  Vorwiirfe  zu  machen.  Nicht  Sympathie  fiir  Frankreich 
rief  voriibergehende  Schwankungen  hervor,  sondern  das  ein- 
fache  Gefiihl  der  Selbsterhaltung  in  einem  Lande,  das  zwar 
immer  Grenzcharakter  trug,  aber  auch  alter  sozialisti- 
scher  und  gewerkschaftlicher  Klassenkampfboden  ist,  und  das 
durch  einen  Sonderparagraphen  in  einem  probiematischen  Frie- 
630 


densvertrag  aus  der  nationalen  GewiBheit  in  den  Bereich  inter- 
nationaler  Fragestellungen  genickt   wordcn  ist. 

Die  Franzosen,  die  sonst  sehr  viel  Geld  in  Propaganda  ge- 
steckt  haben,  waren  unfahig,  diesen  Augenblick  zu  ergreifen. 
Sie  stellten  ihr  Wirtschaftsinteresse  vor  machtpolitische  Er- 
wagungen,  die  auf  Expansion  hinausgehen.  Die  franzosische 
Industrie  hatte  es  damals  in  der  Hand  gehabt,  einen  fiihlbaren 
Gegensatz  zu  schaffen  zwischen  einem  verarmten  Deutsch- 
land,  wo  der  Fascismus  regieft,  und  einem  prosperierenden  de- 
mokratischen  Frankreich,  das  keine  Arbeitslosigkeit  kennt, 
und!  deshalb  auf  ein  Grenzland,  das  iiber  sein  Schicksal  selbst 
zu  befinden  hat,  magnetisch  wirkt.  Die  franzosische  Industrie 
unterlieB  est  ein  so  verfuhrerisches  Exempel  aufzustellen. 
Sie  hatte  von  der  Saar  erhohte  Kohlenlieferungen  beziehen 
konnen,  dann  hatte  es  mehr  Arbeit  und  weniger  Feierschich- 
ten  gegeben.  Aber  es  kam  den  franzosischen  Kapitalis- 
mus  allzu  sauer  an,  die  Kosten  der  Differenz  zu  tragen.  Die 
franzosische  Industrie  stellte  das  Geschaft  vor  den  Ruhm  der 
Nation.  Sie  unterlieB  es,  sich  in  konkreter  Form  an  der  Saar 
angenehm  zu  machen. 

Aber  auch  die  deutsche  Industrie  iibernimmt  sich  nicht, 
wenn  sie  die  Wahl  hat  zwischen  Nation  und  Profit-  In  den 
letzten  Jahren  hat  bei  uns  im  Reiche  die  Saarpropaganda 
erheblich  nachgelassen.  Noch  vor  ein  paar  Jahren  muBte  man 
nach  Flugblattern  und  Versammlungsreden  manchmal  aller- 
dings  annehmen,  dort  im  auBersten  Westen  wiederhole  sich 
Oberschlesien  in   potenzierter  Form. 

Die  Schwerindustrie  hat  an  solchen  Obertreibungen  heute 
kein  Interesse  mehr,  sie  hat  es  vorgezogen,  sich  mit  den  Ver- 
haltnissen  auf  ihre  Weise  abzufinden,  Sie  protestiert  zwar 
noch,  aber  mit  MaB.  Sie  beschrankt  sich  darauff  Beschwer- 
den  gegen  MaBnahmen  der  Regierungskommission  in  die  ihr 
nahestehende  reichsdeutsche  Presse  zu  lanzieren.  Sie  erhebt 
zwar  noch  bei  Wirtschaftsverhandlungen  ihr  Haupt  stolz  gegen 
die  Franzosen,  aber  man  muB  ihr  lassen,  daB  sie  ihre  Nieder- 
lagen  mit  Wiirde  tragt.  Der  Besiegte  zu  sein,  ist  manchmal 
auch  ein  lohnendes  Geschaft.  Dafur  bexmihen  sich  saarlandische 
Schwerindustrielle  jedoch,  iiber  die  lothringische  Grenze  zu  riik- 
ken,  aber  nicht,  urn  Frankreich  siegreich  zu  schlagen,  sondern 
um  sich  an  franzosischen  Unternehmungen  zu  beteiligen,  die  in 
direkter  Konkurrenz  zu  den  heimischen  Unternehmen  stehen, 
und  deren  erhohter  Absatz  diese  betrachtlich  schadigt.  So  hat 
zum  Beispiel  ein  solcher  Saarpatriot,  der  sich  offentlich  gern 
als  lauter  Chauvinist  betatigt,  einmal  bei  einer  rheinischen 
Industrie  tagtmg  gcauBert,  daB  gewisse  Riickgliederungs- 
verhandlungen  durch  ihr  Scheitern  fur  die  Unternehmerschaft 
niitzlicher  wiirden  als  durch  ihr  Gelingen.  Das  braucht  nicht 
naher  kommentiert  zuwerden,  wir  haben  solches  Patriotentum 
bei  alien  Grenzkampfen  seit  1918  kennengelernt. 

Wenn  wir  heute  von  der  Saarwirtschaft  sprechen,  so  den- 
ken  wir  vornehmlich  an  Rochling.  Seit  einiger  Zeit  gibt  es 
um  diese  Firma  nicht  so  viel  Gerausch  wie  friiher.  In  den  ersten 
Jahren  nach  demKriege  bedeutete  dieserName  die  politische 
und  soziale  Konterre volution,    Inzwischen  hat  Rochling  wenig- 

631 


stens    den    wildesten    Chauvinismus    abgebaut    und    sich    den 
einmal   bestehendcn   Verhaltnissen   angepaBt. 

Aber  der  Chauvinismus  ist  nicht  das  Einzige,  was  Roch- 
ling  abbaut.  Hermann  Rochling,  der  Fiihrer  des  Hauses,  be- 
ginnt  heute  so  etwas  wie  Menschenexport  nach  Frankreich,  um 
die  GroBindustrie  seiner  Heimat  zu  entlasten..  In  der  Saar- 
presse  findet  man  dariiber  merkwiirdige  Dokumente.  So  ist 
bekannt  geworden,  daB  die  Deutsch-Saarlandische  Volkspartei, 
die  fiihrende  Biirgerpartei,  an  die  Regierungskommission  im 
Marz  eine.  Eingabe  gemacht  hat,  um  Bergarbeiter  von  der  Saar 
nach  Lothringen  zu  verpflanzen.  Die  sozialistische  Presse 
fragt  sehr  pointiert,  ob  es  sich  hier  um  eine  Anregung  des 
Herrn  Rochling  handelt.  Jedenfalls  hat  die  Regierungskom- 
mission an  die  Deutsch-Saarlandische  Volkspartei  eine  be- 
jahende  Antwort  erteilt.  Wir  geben  dies  kostbare  Dokument 
im   Wortlaut  wieder: 

Die  Regierungskommission  hat  von  Ihrer  Eingabe  vom  12.  Marz 
1932,  betreffend  Zunahme  der  Erwerbslosigkeit  unter  den  Bergarbei- 
tern,  Kenntnis  genommen,  Ich  beehre  mich,  Ihnen  mitzuteilen,  dafi 
seitens  der  Regierungskommissioni  bereits  Schritte  unternommen  war- 
den, um  nach  Moglichkeit  die  Einstellung  saarlandischer  Bergarbeiter 
in  den  nachst  der  franko-saarlandischen  Grenze  gelegenen  franzosi- 
schen  Grubenbetrieben  zu  bewirken. 

Der   Generalsekretar    der    Regierungskommission: 
gez.   Pierrotet. 

Diese  Affare  hat  in  Arbeiterkreisen  groBe  Erregung  her- 
vorgerufen.  Denn  Frankreichs  riickstandige  Sozialpolitik  wirkt 
in  keiner  Weise  werbend,  die  Zustande  in  der  lothringischen 
Industrie  sind  heute  noch  ziemlich  vorsintflutlich  und  durch- 
aus  nicht  mit  den  saarlandischen  zu  vergleichen.  AuBerdem 
geht  es  dem  lothringischen  Bergbau  zur  Zeit  nicht  gutf  die 
Belegschaftsziffern  werden  geringer,  und  wenn  jetzt  aus  dem 
Saarland  ein  neuer  Arbeiterschub  kommt,  so  miissen  vorher 
Platze  freigemacht  werden.  Da  das  bereits  seit  einiger  Zeit 
geschieht,  so  muB  man  annehmen,  dafi  sich  die  Unternehmer 
von  der  Saar  bereits  mit  denen  in  Lothringen  verstandigt 
haben,   daB  Rochling  sich  mit  de  Wendel  einig  geworden  ist. 

Rochling  und  de  Wendel  —  zwei  Namen,  die  zwei  ver- 
schiedene  Chauvinismen  kennzeichnen.  Wie  gut  sie  sich  ver- 
stehen,  wenn  es  sich  um  ihre  Hausinteressen  dreht.  Handelt 
es  sich  hier  nur  um  ein  Abkommen  aus  der  Not  einer  Epoche 
schrumplender  Wirtschaft  geboren,  oder  ist  dieses  Menschen- 
exportgeschaft  bereits  ein  okonomisches  Vorspiel  zu  dem,  was 
als  politisches  Drama   1935  in'  Szene  gehn  wird? 

Eines.ist  sicher,  die  Schwerindustrie  wird  auch  bei  der 
letzten  Entscheidung,  ob  die  Saar  bei  Deutschland  verbleiben 
soil  oder  nicht,  nur  den  eignen  Interessen  gemaB  handeln  und 
sich  nicht  an  die  feinen  nationalen  Maximen  halten,  die  sie 
in  der  von  ihr  ausgehaltenen  Presse  aufstellen  lafiL  Letzten 
Endes  wird  es  doch  wieder  auf  die  Proleten  ankommen.  Sie 
werden  die  Saar  fur  Deutschland  retten  miissen,  so  wie  sie 
in  O.S.  groBe  Teile  fur  Deutschland  erhalten  haben,  so 
wie  sie  am  Rhein  jene  Versackung  verhindert  haben,  die  1933 
von  hochst  nationalen  Politikerni  als  Ietzter  Ausweg  betrachtet 
wurde. 
632 


Expertise 

von  Kunstsachverstandigen  Geheimrat  Professor  Dr.  Kaspar  Hauser 

Fur  Jan  AUenburg 
r\  ie  mir  vorgelegten  Bilder  sind  zweifellos  Original-Imitatio- 

nen  echter  Falschungen  von  Van  Gogh  beziehungsweise 
seiner  Frau. 

Das  geht  schon  aus  den  Farben  hervor  sowie  auch  aus 
den  Valeurs.  Wahrend*  die  Valeurs  in  der  Jugendzeit  des 
Sammlers  diesen  einen  sogenannten  ,,Schmarrn"  angingen, 
hatte  der  Sammler  wahrend  der  Bliitezeit  der  Kreugerschen 
Bildkunst  keine  andern  Sorgen  als  die  Valeurs  der  altera 
italienischen  Schule  sowie  der  neuern  italienischen  Obligatio- 
nen  (gedruckt  in  Stockholm). 

Die  Bilder  sind  also  auch  falsch.  Echt  sind,  wie  so  haufig 
im  Kunsthandel,  die  Preise  —  diese  sind  sogar  ganz  echt.  Es 
ist  unfaBlich,  wie  Kollege  Regard  de  Lunettes  (Paris)  zusammen 
mit  Mister  Twinkle-Eyes  (London)  diese  Bilder  auch  nur  einen 
Augenblick  Lang  hat  fur  echt  halten  konnen.  Die  Bilder  sind 
echt,  also  falsch. 

Die  Bilder  miissen  echt  sein,  denn  ich  habe  mich  person- 
lich  auf  ernes  der  Bilder  (Windmiihle  im  Nordatlantischen 
Ozean)  gesetzt  und  bin  kleben  geblieben,  namlich  beim  Kauf, 
Die  Farben  dieses  Bildes  sind  so  frisch  wie  die  Bildung  eines 
bessern  Kunsthandlers.  t 

Die  Bilder  miissen  daher  falsch  sein,  denn  wie  schon  Ge- 
heimrat Justi  gesagt  hat,  wird  auf  ihnen  zu  wenig  gerungen: 
es  fehlt  eben  der  Ausdruck  des  Ringens  des  Kiinstlers  mit 
seinem  Motiv.  Kein  echter  Maler  wird  mit  seinem  Motiv,  und 
sei  dieses  ein  Akt,  das  Ringeri  unterlassen.  Van  Gogh  war 
iiberhaupt  ein  falscher  Maler,  also  ist  Justi  echt. 

Die  in  Frage  kommenden  offenbar  doppelt  gefalschten 
Falschungeri  sind  nicht  einheitlich  gemalt;  sie  haben  etwas 
Zweischlafriges  an  sich.  Ich  verpflichte  mich,  wenn  ich  nur 
zusehe,  wie  Van  Gogh  seine  Bilder  malt,  diese  Bilder  als  un- 
bedingt  echt  zu  erkennen,  wobei  allerdings  der  Fall  beriick- 
sichtigt  werden  muB,  daB  Van  Gogh  mitunter  sich  selbst  ko- 
piert  hat,  statt  andre  zu  kopieren.  Das  lag  an  seinem  Geistes- 
zustand:  wie  pathologisch  dieser  beschaffen  gewesen  sein  muB, 
geht  ja  schon  daraus  hervor,  daB  Van  Gogh  ganz  geringe  Preise 
fur  seine  Bilder  erzielt  hat. 

Infolgedessen  sind  die  Bilder  echt.  Ich  befasse  mich  seit 
dem  Jahre  1372  mit  Van  Gogh,  mein  Badezimmer  hangt  voller 
angezweifelter  Schulze-Naumburgs,  und  ich  kann  nur  sagen, 
daB  ich  noch  in  den  total  falschen  Bildern  einen  Geisteshauch 
der  damaligen  Borsenkonstellation  gefunden  habe:  die  Bilder 
machen  einen  durchaus  festen  Eindruck,  gehorem  also  einer 
vergangenen  Epoche  an. 

Infolgedessen  sind  die  Bilder  falsch.  Van  Gogh  hat  im 
ganzen  rund  zirka  476  Bilder  gemalt;  davon  hangen  in  der 
Schweiz  481  —  die  ilbrigen  sind  in  deutschem  Besitz.  Bereits 
die  Priifung  der  Fingerabdnicke  aller  Kunstsachverstandigen 
ergibt,   daB  keiner  von  diesen   Herren  vorbestraft   ist.      Eine 

633 


Priifung  der  Falschungen  durch  das  mailander  Blindenheim  hat 
zu  iiberraschenden  Ergebnissen  gefiihrt:  die  Expcrtisen  stimm- 
tcn  genau  mit  denen  der  hier  geladenen  Sachverstandigen 
liberein. 

Infolgedessen  sind  die  Bilder  echt,  Nur  eins  weist  recht 
triibe  Farben  auf  (Veilchenfeld  bei  Gewitter).  Das  Bild  ist  von 
Van  Gogh  gemalt  wor den,  als  er  genau  f  iinfzig  Jahre  alt  war; 
doch  diirfte  es  sich  hier  urn  einen  sogenannten  falschen  Fiinf- 
ziger   hand  ein, 

Infolgedessen  sind  die  Bilder  falsch,  Ein  Tauber  kann 
sehn,  was  an  den  Wanden  der  meisten  Kunstsammlungen  hangt: 
das  normale  Van  Gogh-Bild  ist  eine  Kreuzung  von  einem  Spie- 
gel und  eincr  Aktie.  Bilder  werden  urn  so  niedriger  gehangt, 
je  hoher  sie  stehen;  Kunstsachverstandige  werden  leider  selten 
richtig  gehangt.  [ 

Der  Falscher  hat  mehrere  seiner  Bilder  an  Laien  ver- 
schenkt.  Es  ist  und  bleibt  unerfindlich,  was  dieser  mehr  als 
eigentiimliche  Schritt  eigentlich  bezweckt  hat,  Seit  wann  geht 
die  Kunst  das  groBe  Publikum  an? 

Denn  Kritik  und  Expertise,  Sachverstandigentum  und 
wahre  Sammlerleidenschaft  —  sie  alle  horen  nur  auf  eines; 
auf  die  Stimme  des  Herzens,  den  Kunsthandler  und  das  Ge- 
murmel  einer  Museumskantine.  Und  das  ist  auch  alles  richtig 
so.  Denn  wenn  man  nicht  weiB,  was  ein  Bild  kostet:  wie  kann 
man  dann  wissen,  was  ein  Bild  wert  ist  — ? 

PS.  Ich  bemerke  in  letzter  Minute,  daB  ich  -mich  geirrt 
habe.    Die  Bilder  sind  in  der  Tat  echt. 

NB.  In  allerletzter  Minute:  die  Bilder  sind  so  falsch,  wie 
echte  Bilder  nur  sein  konnen. 


Neues  vom  Tage 

Der  Vorsitzende  in  dem  ProzeB  um  die  Van  Gogh-Bilder 
hat  die  dienstliche  Gestellung  eines  Wiirfelbechers  beantragt. 

Damit  diirfte  der  Streit  wohl  auf  eine  fur  alle  befriedi- 
gende  und  vor  allem  wissenschaftliche  Weise  beigelegt  werden. 

Kurt  Weill:  Die  Biirgschaft  von  Amoid  waiter 

Uier  gilt  es  zunachst  nicht:  zu  kritisieren,  zu  sezieren,  zu 
analysieren,  Entwicklungslinien  zu  verfolgen,  ihre  Kreu- 
zungspunkte  und,  Querverbindungen  herzustellen,  sich  mit  der 
Oper,  d»em  epischen  Theater,  dem  Lehrstiick  oder  alien  dreien 
auseinjanderzusetzen',  beziehungsweise  Weills  Auseinanderset- 
zung  mit  ihnen  als  gegliickt  oder  nicht  gegliickt  nachzuwei- 
sen.  Hier  gilt  es  zunachst:  den  groBen  und  lebendigen  Ein- 
druck  des  Ganzen.  zu  bekennen  und  das  begiiickende  BewuBt- 
sein,  hier  habe  ein  unsrer  Zeit  gemaBer  Inhalt  einen  adaqua- 
ten  Stil,  eine  ihm  und  uns  gemaBe  Form  gefunden. 

Dieser,  nachhaltige  Eindruck,  Produkt  lebendiger  An- 
schauung,  verwehrt  es  unsr  in  den  Chorus  derer  miteinzu- 
stimmen,  die  in  Caspar  Neher,  dem  Textdichter,  nur  eine  Art 
notwendigen  Obels  sehen  wollen,  ein  Exekutivorgaro  Weill- 
scher    Ideen,    einen    hemmungslosen    Nachahmer   Brechts,.    so 

634 


wenig  dessen  Vorbild  geleugnet  wcrden  soil.    Was  sollte  hier 
geleistet  werden,  was  ist  geleistet  worden? 

Nach  Weill  handelte  es  sich  um  die  nProjektiondergroBen 
tragenden  Ideen  unsrer  Zeit  auf  einJache  typische  Vorgange" 
und  dies  zweifellos  Primare  und  Wichtige  wurde  auch  er- 
reicht*  Oper  unsrer  Zeit:  weder  im  dubiosenj  Sinn  Iacherlich- 
flacher  Ausstaffierung  mit  modernen  Requisiten  wie  in  Kre- 
neks  ftJonny"  noch  im  Sinn  artistischer  Weiterentwickiung  der 
traditionsbeschwerten  Gattung,  sbndern  im  einzig  belangvollen 
Sinn  der  Verbundenheit  mit  unserm  Leben.  Einer  Verbundenheit, 
die  sich  in  jedem  der  einzelnen  Elemente:  der  Fabel  tind  ihrer 
Behandlung,  im  theatralischen  wie  musikalisehen  Stil  auswirkt, 
dariiber  hinaus  aber  deren  Synthese  beherrscht.  Freilich1  die 
Opernwelt  des  schonen  Scheins,  der  dramatischen  Spannung 
zum  hohern  Zwecke  lyrischer  Entladung,  ist  hier  verlassen, 
an  Stelle  zeitlos  ewiger  Gefiihlskonflikte  tritt  zeitnotwendige 
Erkenntnis.  Das  Spiel  ist  nicht  souveraner  Selbstzweck  mehr, 
Funk t ion  vielmehr  abstrakter  Grundgedanken,  Erkenntnis- 
probleme  behaupten  sich  in  hellstem  BewuBtseinslicht  neben 
dem  Spiel,  das  sie  symbolisiert;  diese  beiden  Spharen  sind,  in 
ihrem  Mit-  und  Durcheinander  die  Grundlagen  dieser  Art 
musikalisehen  Theaters-  Der  BewuBtseinsphare  entspricht  das 
Erzahlende,  Reflektierende,  das  Epische  —  der  Symbolhandlung 
das  Dramatisch-Lyrische,  das  Opernhafte.  Resultat  der  Grund- 
haltung  mufite   ein   KompromiB  sein   zwischen  beiden. 

DaB  die  ,,  Vernal  tnisse"  die  Haltung  des  Menschen  ver- 
andern,  dessen  Charakter  als  konstant  angenommen  wird,  ist 
die  These  des  Stiicks,  *  Die  Symbolhandlung,  die  diese  Ab- 
hangigkeit  vom  ,, Ensemble  der  gesellschaftlichen  Verhaltnisse"* 
anschaulich  zu  machen  hat,  beniitzt  den  Stoff  einer  Parabel 
Herders,  die  unter  dem  Namen  ffDer  afrikanische  Recht- 
spruch"  bekannt  ist-  Sie  berichtet,  der  grofie  Alexander  hatte 
einst  in  einer  goldreichen  Provinz  der  ssdomonischen  Entschei- 
dung  eines  Richters  beigewohnt,  der  einen  sonderbaren  Streit 
zu  schlichten  hatte:  ein  Mann  verkaufte  einen  Sack  mit 
Spreu;  der  Kaufer  fand  in  diesem  einen  Schatz,  den  jeher 
nicht  zuriicknehmen  und  den  er  nicht  behalteri  wollte  —  was 
war  zu  tun?  Der  Weise  aus  dem  Morgenland  entschied,  das 
Geld  gehore  ihren  Kindern  als  Heiratsgut  bei  kiinftiger  Ver- 
bindung.  Darob  gewaltiges  Erstaunen  des  Mazedoniers,  der 
solchen  Rechtspruch  nicht  begriff, 

Hinter  der  Parabel  steckt  freilich  die  Naturrechtslehre 
des  achtzehnten  Jahrhunderts,  die  Ubefzeugung,  es  gabe 
neben  dem  des  verderbten  Wirtschaftstaates  ein  fiir  alle  ver- 
bindliches  natiirliches  Recht.  So  stellt  auch  Neher  ,,ordre 
naturel"  und  ,,ordre  positiv"  gleichsam  einander  gegenxiber, 
beginnt  und  schlieBt  den  zweiten  Akt  mit  je  einer  Gerichts- 
szene,  die  sich  zueinander  wie  weiB  und  schwarz,  Natur  und 
Unnatur  verhalten.  Naturrecht  am  Anfang,  Gewaltrecht  am 
Ende,  dazwischen  der  vernichtende  Einbruch  der  ,tgroBen 
Machte":  des  Imperialismus,  Kapitalismus,  der  Gewalt  in  jeder 
historischen  Form.  Vor  der  Peripeti;  Idyll  im  weiten  Land  an 
einem  groBen  Strom,  Freiheit,  FreundschaH,  Vertrauen;  Nach- 
her:    die   Stadt,    die   Masse,   Unfreiheit,   Vertrauensbruch,   Ver- 

635 


rat.  ,,Denn  alles  vollzieht  sich  nach  einem  Gcsetz,  dem  Ge- 
setz  des  Geldes,  dem  Gcsetz  der  Macht." 

Wer  nun  das  ganze  als  reines  Spiel  betrachtet,  wird  leicht 
den  Zerfall  der  Handlung  in  die  Parabel,  ihre  Vorgeschichte 
und  ihr  Widerspiel  konstatieren  konnen,  von  Nebenhandlun- 
gen  ganz  abgesehen.  Die  Einheit,  dies  ist  die  Losung  des 
Konflikts,  liegt  aber  gar  nicht  innerhalb  des  Spiels,  liegt  in 
der  unloslichen  Verbindung  von  Spiel  und  Reflexion,  drama- 
tischer  und  epischer  Haltung,  wobei  die  epischen  Bestandteile 
die  starkern  scheinen.  Die  epische  Nebclszene  zum  Beispiel 
ist  ein  Meisterstiick  kraftvoller  Geschlossenheit;  der  zweite 
Akt  dagegen,  der  sich  unter  Fortfall  des  kleinen  Chors  nur  auf 
die  dramatische  Wirkung  verlafit,  bleibt  aus  eben  diesem 
Grunde  ziemlich  wirkungslos.  Es  handelt  sich  hier  gar  nicht 
um  das,  was  man  fordern  zu  miissen  meinte:  Entwicklung  der 
Handlung,  Entwicklung  der  CKaraktere,  sondern  um  scharf  kon- 
trastierende  Grundsituationen.  Das  heifit,  das  ganze  ist  —  und 
will  es  sein  —  viel  weniger  dramatisch,  als  man  gemeinhin 
annehmen  zu  miissen  glaubte.  Die  Thesen  allein  sind  sehr 
allgemeiner  Natur,  zustandschildernd,  ohne  Weg  und  Richtung 
zu  weisen  aus  Chaos  und  Verzweiflung,  die  Handlung  allein  ist 
ohne  viel  dramatische  Logik  uhd  Kraft,  Das  Resultat  ihrer 
Verbindung  aber  ergibt  in  ungewohnter,  an  den  Film  er- 
innernder  Montage  einen  eindrucksvollen  Ablauf  einander  als 
Gegenstiicke  entsprechender,  typischer  Bilder.  Spiel  ohne 
Rausch  und  Traum,  Spiel  in  Klarheit  und  Erkenntnis, 

Der  musikalische  Stil  ist  ein  Komplement  des  theatra- 
lischen.  Dem  epischen  Element  entspricht  der  auBerhaib  d-er 
Handlung  bleibende,  erzahlende,  erklarende  kleine  Chor.  Der 
Spielhandlung  entspricht  die  vollendet  durchgefiihrte  Opern- 
form,  die  bei  aller  Vollkommenheit  als  Form  so  gut  wie  wir- 
kungslos bleibt,  da  es  auch  hier  in  erster  Linie  nicht  auf  die 
dramatischen  Grundkrafte  ankommt.  Um  so  starker  wirkt  die 
Musik,  ihre  harte  Einfachheit,  ihre  unpathetische  Primitivitat, 
ihre  eigenartige  und  originelle  Bindung  der  Elemente, 

Stiedrys  musikalische'  Direktion,  Eberts  und  Nehers  In- 
szenierung  konnten  bei  der  Urauffuhrung  in  der  Stadtischen 
Oper  gar  nicht  angemessener,  nicht  vollkommener  sein.  Die 
Bildfolge  war  dem  Werk  gemaB,,  nicht  auf  Einheitlichkeit 
sondern  auf  Kontrast  gestellt.  Hingebreitete  Landschaft  im 
Anfang,  Himmel  und  Wasser,  weite  Flachen  am  groBen  Strom, 
ein  Traum  vom  Segen  der  Erde;  groB  und  plastisch  der  MenSch 
gegen  den  unendlichen  Horizont  gestellt,  scharfkantig,  holz- 
schnittartig,  im  Stil  Barlachs  etwa*  Als  Gegenstiick  der  dritte 
Akt;  Aibdruck  der  groBen  Stadt  mit  wirren  Silhouette^ 
namenlosen  Massen,  qualvollen  Schreien,  verzerrten  Fratzen, 
apokalyptischen  Gesichten-Angsttraum  der  Gegenwart;  bis  in 
der  letzten  Szene  dann  der  vSpuk  verschwindet,  und  der 
Mensch^  im  leeren,  im  unheimlich  abstrakten  Raum  gleichsam 
erwacht,    das   Gesetz    erkennend,   das   ihn   und   uns   versklavt. 

Lehrsttick  und  Oper,  Musik  und  Darstellung  —  die  Ver- 
bindung der  Elemente  ergab  thematische  und  stilistische,  musi- 
kalische und  theatralische,  bewufite  und  unbewuflte  Zeitnahe, 
vermittelte  Erkenntnis  —    Erschiitterung, 

636 


ScfinipSel  von  Peter  Panter 


XT' on  alien  Landern,  die  ich  kenne,  ist  Deutschland  dasjenige,  das 
v  am  besten  iiber  Rufiland  informiert  ist  und  in  dem  man  am  vor- 
urteillosesten  iiber  Rufiland  spricht  und  sprechen  kann.  Ich  bin  kein 
Kommunist,  aber  man  konnte  einer  werden,  wenn  man  den  geistigen 
Zustand   der   europaischen  Bourgeoisie   betrachtet, 

Spricht  einer  iiber  Rufiland  andera  als  schimpfend,  dann  wird  er 
schief  angesehn.  Nimmt  er  die  Russen  gar  ernst  und  lobt  ihr  un- 
geheures  Werkf  so  heben  die  Leute  im  Salon  den  Kopf,  wie  wenn  er 
einen  Wind  gelassen  habe,  und  gehen  naseriimpfend  von  ihm  fort,  — 
ausgestofien  sei  er! 

Es  ist  schon  sot.  dafi  durch  die  Verdummungsarbeit  der  Presse, 
durch  die  Beeinflussung  der  Kirchen  und  die  eigne  Denkfaulheit  der 
Mann  von  der  Strafie  in  Frankreich,  Schweden,  England  und  der 
Schweiz  sich  die  Russen  immer  noch  so  vorstellt,  wie  sie  das  anti- 
bolschewistische  Plakat  der  Jahre  1919/1920  abgebildet  hat:  blutgierig, 
das  Messer  zwischen  den  Zahnen,  in  Lumpen  gehiillt  und  jederzeit 
bereit,  sich  auf  ganz  Europa-zu  stiirzen. 

Hinter  diesem  Plakat  lassen  sich  die  herrlichsten  Geschafte 
machen,    Und  sie  werden  gemacht. 


Ich  habe   auf  meinem   Wege   immer  wieder  Leute  angetroffen  — 

Verleger,    Frauen,    Journalisten,    Kaufleute   — ,    die    glauben,    man  sei 

erledigt,  wenn  sie  einen  ignorieren.    Sie  konnen  sich  nicht  vorstellen, 

dafi  es  auch  ohne  sie  gehe.    So  tief  ist   der  Mensch  davon  iiberzeugt, 

dafi    er   Wert    verleihe,    dafi    kein    Wert    aufier   ihm    sei    und    dafi    er 

fremdes  Dasein  auslosche,  wenn  er  nicht  mehr  an  ihm  teilnimmt.     Sie 

wissen     nicht,     dafi    es     dreitausendvierhundertundachtundsechzig    Da- 

seins-Ebenen  gibt,    mit   eben   so  vielen   Arten  von   Publikum,   so  viel 

Wirkungsmoglichkeiten,    viele    Leben    nebeneinander,    (Nicht    iiberein- 

ander.)    .Und    dafi   man   die  Menschheit   nicht   danach   einteilen    kann, 

je  nacti  dem   sie  fur   oder   gegen   Herrn  Panter  ist.    Extra   Panterum 

etiam  est  vita.   Auch  aufierhalb  unsrer   Sphare  leben  andre  Leute  ein 

Leben:   das  ihre. 

* 

Der  Nachempfinder,  Da  gibt  es  einen  jungen  Mann,  Waggerl 
heifit  er,  der  schreibt  alle  Romane  Hamsuns  noch  einmal.  Deswegen 
halten  ihn  manche  Kritiker  fiir  Hamsun  den  Zweiten.  Das  ist  nicht 
ganz  richtig:  dieser  Autor  sieht  nur  in  Hamsun  Waggerl  den  Ersten. 
(Erscheint  im  Insel-Verlag.  Merkwiirdig,  was  Kippenberg  an  mo- 
derner  Literatur  offeriert.) 


Warum   kann   einem   ein   andrer  den   Hut   nie    richtig    aufsetzen? 
Immer  miissen  wir  noch  mal   dran  ruckeln. 


Dafi  sich  ein  Staat,  der  seine  Grenzen  durch  Zollmauern  schliefit, 
nicht  schamt,  noch  zu  exportieren!  Aber  sie  schleudern  ihre  Waren 
immer  weiter  an  imaginare  Kunden  heraus,  ohne  Sinn  und  Verstand. 
Rein    nein  —  raus    ja. 

Die  beste  Regie-Anmerkung,  die  mir  bekannt  ist,  stammt  von 
Curt  Goetz.  Sie  lautet:  „Der  Darsteller  dieser  Rolle  hiite  sich  vor 
t)bertreibungen.  Herr  Kraft  ist  seines  Zeichens  nicht  jugendlicher 
Komiker,  sondern  Ingenieur!" 

* 

637 


Es  mufi  doch  etwas  geben,  das  alien  Menschen  gemeinsam  ist. 
Das  gibst  auch-  Der  wildeste  Nazi,  der  fanatischstc  Pole,  der 
glaubigste  Katholik,  der  wtitendste  Franzosenhasser,  drei  Dinge 
konnen  sie  unbedenklich  benutzen:  Logarithmentafeln,  Kloscttpapier 
und  den   Rundfunk. 

* 

Erne  Katze,  die  eine  Maus  totet,  ist  grausam.  Ein  Wilder,  der 
seinen  Feind  auffrifit,  ist  grausam.  Aber  das  grausamste  von  alien 
Lebewesen  ist  eine  patriotiscbo  Frau. 


Japan  dreht  Amerika  den  Rucken  und  geht  zu  einem  Ersatz- 
Amerika  liber:  zu  China*  Die  Chinesen  ha  It  en  sich  Soldaten.  Die 
Japaner  sind  Soldaten,  gehoren  also  der  niedrigeren  Kulturstufe  an. 
Es  ist  ein  Kampf,  den  der  Soldat  gewinnt  und  die  Menschheit  verliert. 


Das  Christentum  hat  viel  Gutes  auf  Erden  bewirkt.  Doch  wird 
dies  tausendfach  durch  das  Schlimme  uberboten,  das  die  christliche 
Idee  mit  der  Vergiftung  des  Liebeslebens  angerichtet  hat. 


In  Deutschland  sollten  Gummistempel  verkauft  werden  mit  der 
Aufschrift: 

„OBGLEICH  VOM  PARTEISTANDPUNKT  MANCHES  DA- 
GEGEN  EINZUWENDEN  WARE." 


Junger  Mann,  5  Uhr  morgens  von  Erich  Kastner 

VjTenn   ich    dich   friih   verlasse, 
**     tret  ich  aus  deinem  Haus ' 
still   auf  die  kahle,  blasse, 
ode  Strafie  hinaus. 

In  dem  Geast  sind  Spatzen 
zankisch  beim  ersten  Lied. 
Drunter  hocken  zwei  Katzen, 
holzern  vor  Appetit. 

Wirst  du  noch   lange  weinen? 
Oder  ob  du   schon  schlafst? 
Wenn  du  doch  endlich  einen 
bessern  Menschen  trafst. 

In;  dem  Laden,   beim  Backer, 
wird   der   Kuchen   zu  "Stein. 
Wtitend  erwacht  ein  Wecker, 
briillt  und   schlaft  wieder  ein, 

Noch  ist  die  groBe  Pause 
zwischen  der  Nacht  und  dem  Tag. 
Und  ich  geh  nach  Hause, 
weil  ich  mich  nicht  mag. 

Noch  brennt  hinter  deinen 
Fenstern  etwas  Licht. 
Wirst  du  noch  lange  weinen? 
Bald  wird  die  Sonne  scheinen, 
Aber  sie  scheint  noch  ■  nicht. 

638 


Richter  LytlCh  von  Alfons  Goldschmidt 

J  J  m  die  Ehre,  das  Lynchen  schwarzer  Sklavcn  erfunden  zu 
haben,  wird  in  den  amerikanischen  Siidstaaten.  fast  so 
heftig  gestritten  wie  in  Griechenland  urn  den  Geburtsort  Ho- 
mers. Die  einen  Verteidiger  dieser  grauenhaften  Methode  des 
Sklavenmordens  sprechen  dem  irischen  Biirgermeister  von 
Calway  die  erste  tLynchtat  zu,  Er  soil  im  Jahre  1495  seinen 
Sohn,  den  das  Volk  vorm  Galgen  retten  wollte,  mit  eigner 
Hand  gehenkt  haben,  Nach  einer  andern  Version  ist  das 
Lynchen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  in  der  Stadt  Lynchburg 
im  U.S.A.-Staate  Nordkarolina  entstanden,  und  zwar  im  Kampf 
gegen  die  Freiheitsbestrebungen  der  geknuteten  Negertiere. 
AuBerdem  nimmt  der  Kuklux-Clan  den  Ruhm  fur  sich  in  An- 
spruch,  diese  Feme  zuerst  praktiziert  zu  haben.  Jedenfalls 
hat  diese  Organisation,  die  nach  der  Freilassung  der  nordameri- 
kanischen  Neger  im  Jahre  1867  sich  bildete,  den  Negermord 
systematisiert  und  mit  einem  mittelalterlichen,lacherlich  schreck- 
lichen  Mummenschanz  ausgestattet.  Es  waren  die  Anhanger 
der  Sklaverei,  die  Feinde  der  jungen  U.S.A.-Republik,  die 
brutalsten  Ausbeuter  der  schwarzen  Arbeitskraft,  die  Sklaven- 
handler  und  Baumwollspekulanten,  die  sich  zu  jenem  Mord- 
verband  zusammentaten,  der  eins  der  Vorbilder  aller  reak- 
tionaren  Terrororganisationen  geworden  ist,  Vermummt  wie 
Ketzerverbrenner,  frei  von  Verantwortung,  infolgedessen  ohne 
Furcht  vor  regular-richterlicher  Verfolgung,  erschossen,  ver- 
brannten,  henkten  und  zerrissen  sie  bis  heute  viel©  tausende 
von  Negern,  ohne  daB  ihnen  ein  Haar  gekrtimmt  wurde.  Das 
Anti-Kukiux-Gesetz  von  1871  und  die  Anti-Lynchgesetze  sind 
fruchtlos  geblieben.  Auch  heute  wird  gelyncht,  noch  heute 
miissen  Neger  vor  dem  offenen  und  getarnten  Pobel  urn  ihr 
Leben  zittern,  wenn  irgend  ein  Denunziant  oder  eine  Denun- 
ziantin  sie  des  „Verbrechens  gegen  die  weiBe  Rasse"  beschul- 
digt.  Nach  der  offiziellen  Statistik  wurden  von  1885  bis  1927 
3226  Neger  der  Vereinigten  Staaten  gelyncht,  aber  nach  an* 
dern  Schatzungen,  die  wahrscheinlich  zuverlassiger  sind,  waren 
es  5400  oder  noch  mehr  Opfer  dieser  Bestialitat.  Das  Ganze 
wird  umgeben  mit  Nationalfahne  und  vulgarster  Rassemoral,  in 
Wirklichkeit  aber  ist  diese  blutige  Feigheit  nur  die  Angst  vor 
der  Erstarkung  des  nordamerikanischen  Negerproletariats  und 
vor  seiner  Verbiindung  mit  den  weiBen  Arbeitern  der  U.S.A. 

1928  hatte  ich  eine  Diskussion  mit  einem  Farmer  aus  dem 
Sudstaat  Alabama  iiber  die  Negerfrage.  Ich  habe  niemals  vor- 
her  und  nie  wieder  solch  graBlichen  HaB  in  einem  Menschen- 
antlitz  gesehen.  Am  liebsten  hatte  dieser  Mann  in  der  nach- 
sten  Stunde  hunderttausend  Neger  auf  einem  riesigen  Scheiter- 
haufen  verbrannt.  Die  Abtrennung  der  Neger  von  den  WeiBen, 
ihre  Vertreibung  aus  Restaurants,  Bahnhofshalien,  Wohnquar- 
tieren  der  WeiBen,  ihre  Zusammenpferchung  in  Spezialabteilen 
der  StraBenbahn  und  der  Eisenbahn,  alle  diese  Entwiirdigun- 
gen  des  einfachsten  Menschentums,  geniigten  diesem  Mann  noch 
lange  nicht.  Er  war  furs  Massakrieren,  Sengen,  Hautabzieheri, 
Durchlochern,  Peitschen,  Kochen  auf  dem  elektrischen  Stuhl, 
fiirs  Hangen,  fiir  jede  Todesart,  die  wenigstens  Qual  garantierte. 

639 


Jetzt  hat  das  Komitee  zur  Rettung  der  Negeropfer  von 
Scottsboro,  die  am  24,  Juni  auf  dem  elektrischen  Stuhl  in  Ala- 
baraa  hingerichtet  werden  sollen,  einen  Brief  aus  Alabama,  da- 
ticrt  vom  27,  Marz,  erhalten,  der  an  micb  als  den  Organi- 
sator  dieses  Komitees  gerichtet  ist  und  in  dem  ich  die  Wut,  die 
brutale  Verbissenheit,  die  riicksichtslose  Mordenergie,  den 
sadist  is  chen  Blutkrampf  jenes  Farmers  von  1928  wieder- 
finde.  Noch  nut  einer  antisemitischen  Kuklux-Tonung,  denn 
was  ware  solche  Organisation  ohne  JudenhaB.  Sie  ware  nicht 
komplett,  Man  soli  ja  nicht  glauben,  daB  in  den  Vereinigten 
Staaten  der  JudenhaB  unbekannt  sei.  Der  Kuklux-Clan  ist 
der  Zentralverband  des  Antisemitismus  in  den  U.S.A.  und  eine 
der  groBen  Hoffnungen  alter  Terrorantisemiten  dieser  Welt. 

Dieser  Mann  aus  Alabama,  der  fur  sich,  das  geht  deutlich 
aus  dem  Brief e  hervor,  die  Ehre  in  Anspruch  nimmt,  Verfech- 
ter  der  Humanitat  zu  sein,  sagt  klipp  und  klar,  diirr  und  trok- 
ken,  daB  die  zum  elektrischen  Stuhl  verurteilten  Neger  ge- 
lyncht  wiirden,  wenn  es  etwa  dem  Komitee  zu  ihrer  Rettung 
gelingen  sollte,  sie  wirklich  vor  der  offiziellen  Hinrichtung 
zu  bewahren.  Eine  Kopie  des  Briefes  ist  an  Thomas  Mann 
gegangen,  der  sich  sehr  mutig  der  Protestaktion  des  Komitees 
angeschlossen  hat,  Mit  ihm  Albert  Einstein  und  viele  hun- 
derte  aus  dem  besten  geistigen  Deutschland,  Menschen  aller 
Kopfberufe,  die  entsetzt  sind  von  dem  kiirzlich  durch  die 
Revisionsinstanz  von  Alabama  bestatigten  Todesurteil  gegen 
die  Negerkinder,  denn  diese  jungen  Menschen,  die  nach  allem 
Material,  das  uns  zugegangen  ist  und  nach  unsrer  festen  Ober- 
zeugung  unschuldig  sind,  sind  noch  Kinder,  Den  jungsten  von 
den  neun  Jungens,  einen  Knaben,  der  damals  noch  nicht  vier- 
zehn  Jahre  war,  'konnte  man  beim  besten  Willen  nicht  zum 
Gekochtwerden  verdammen.  Deshalb1  hat  man  ihm  die 
schwerste  verfugbare  Strafe  zudiktiert,  namlich  lebenslang- 
lichen  Kerker,  Und  da  sollen  nicht  alle  guten  Geister  auf- 
begehren,  da  soil  sich  nicht  ein  ungeheurer  Millionen-Protest 
erheben,  wie  es  geschehen  ist  und  noch  geschieht  in  den  Ver- 
einigten  Staaten,  in  Afrika,  in  Europa,  auf  der  ganzen  Erde? 
Man  hat  diese  Kinder  beschuldigt,  sich  an  zwei  weiBen  Prosti- 
tuierten  vergangen  zu  haben.  Aber  das  ist  nicht  wahr,  und 
selbst  wenn  es  wahr  ware  und  auch  wenn  es  sich  nicht  um 
Prostituierte  handelte,  wo  gibt  es  ein  Menschenrecht,  das  zu 
solch  graBlicher  Harte  sich  erniedrigen  dtirfte?  Dafiir  ist 
keine  Verteidigung  moglich,  hier  hort  jede  Begriindung  auf, 
hier  ist  nur  Instinktwillkxir,  Rassewut  und  KlassenhaB  gegen 
ein  Proletariat,  das  sich  von  Tag  zu  Tag  mehr  nach  seiner 
wirklichen  Befreiung'  hin  zusammenschlieBt, 

Es  scheint,  daB  nun  noch  die  letzte  Instanz,  der  Bundes- 
gerichtshof  der  U.S.A.,  entscheiden  solle,  Aber  laBt  Euch  da- 
durch  nicht  einlullen,  Denkt  an  die  nutzlosen  Revisionen  des 
Todesurteils  gegen  Sacco  und  Vanzetti. 

Verbreitert  und  verstarkt  die  Aktion!  Protestiert  in  alien 
Versammiungen,  bei  jeder*  nur  moglichen  Gelegenheit,  duldet 
nicht,  ihr  arbeitenden  Millionen,  Kopf-  und  Handarbeiter, 
daB  ein  Mord  geschehe,  der  vielleicht  noch  graBlicher  ware  als 
der  Mord  an  Sacco  und  Vanzetti! 

$40 


Betnerkungen 

Rdhm 
FVirch  die  radikale  Links-Presse 
*^  gehen  scit  einiger  Zeit  An- 
schuldigungen,  Witze,  Hiebe  auf 
den  Hauptmann  Rohm, ,  einen  An- 
gestellten  der  Hitler-Bewegung. 
Man  sollte  niemals  die  lacher- 
lichen  Titel  gebrauchen,  die  Hit- 
ler seinen  Leuten  verleiht;  so  wie 
man  nicht  die  von  den  Nazis  ge- 
gebenen  Kategorien  annehmen 
soil j  ein  groBer  Teil  der  Deut- 
schen  unterliegt  solchen  albernen 
Suggestionen  und  geht  an  diese 
Dinge  heran  wie  an  Schulauf- 
gaben,  die  Hitler  ihnen  aufgibt. 
Wir  sind  nicht  in  der  Schule, 
und  Titel,  Auszeichnungen,  Lob 
und  Tadel  dieses  Anstreichers 
sind  uns  gleichgultig. 

Rohm  also  ist  homosexuell. 

Das  Treiben  gegen  ihn  nimmt 
seinen  Ausgang  von  Veroffent- 
lichungen  der  ,Munchner  Post', 
die  diese  Tatsache  enthiillten. 

Da  ist  ferner  ein  Brief  verof- 
fentlicht  worden,  den  Rohm  tiber 
seine  Veranlagung  an  einen 
Freund  geschrieben  hat  —  das 
Dokument  konnte  grade  so  gut 
in  jeder  Psychopathia  sexualis 
stehn,  und  der  Brief  war  nicht 
einmal  unsympathisch. 

Ich  halte  diese  Angriffe  gegen 
den  Mann  nicht  fiir  sauber. 

Gegen  Hitler  und  seine  Leute 
ist  jedes  Mittel  gut  genug.  Wer 
so  schonungslos  mit  andern  um- 
geht,  hat  keinen  Anspruch  auf 
Schonung  —  immer  gib  ihml  Ich 
schreckte  in  diesem  Fall  auch 
nicht  vor  dem  Privatleben  der 
Beteiligten  zuruck  —  immer  feste! 
Aber  das  da  geht  zu  weit  —  es 
geht  unsretwegen  zu  weit, 

Zunachst  soil  man  seinen  Geg- 
ner  nicht  im  Bett  aufsuchen* 

Das  einzige,  was  erlaubt  ware, 
ist;  auf  jene  Auslassungen  der 
Nazis  hinzuweisen,  in  denen  sie 
sich  mit  den  t(orientalischen  La- 
stern"  der  Nachkriegszeit  befas- 
sen/  als  seien  Homosexualitat, 
Tribadie  und  ahnliches  von  den 
Russen  erfunden  worden,  die  es 
in  das  edle,  unverdorbene,  reine 
deutsche   Volk   eingeschleppt  ha- 


ben.  Sagi<  ein  Nazi  so  etwas, 
dann,  aber  nur  dann,  darf  man 
sageh:  Ihr  habt  in  eurer  Bewe- 
gung  Homosexuelle,  die  sich  zu 
ihrer  Veranlagung  bekennen,  sie 
sind  sogar  noch  stolz  darauf  — 
also  haltet  den  Mund. 

Dochwollen  mir  die  Witze  tiber 
Rohm  nicht  gut  schmecken,  Seine 
Veranlagung  widerlegt  den  Mann 
gar  nicht,  Er  kann  durchaus  an- 
standig  sein,  solange  er  nicht 
seine  Stellung  dazu  mifibraucht, 
von  ihm  abhangige  Menschen  aufs 
Sofa  zu  ziehn,  und  dafur  liegt 
auch  nicht  der  kleinste  Beweis 
vor.  Wir  bekampfen  den  schand- 
lichen  Paragraphen  Hundertund- 
funfundsiebzig,  wo  wir  nur  kon- 
nen;  also  dtirfen  wir  auch  nicht  in 
den  Chor  jener  miteinstimmen,  die 
einen  Mann  deshalb  achten  wol- 
len,  weil  er  homosexuell  ist.  Hat 
Rohm  Sffentliches  Xrgernis  er- 
regt?  Nein.  Hat  er  sich  anklei- 
nen  Jungen  vergriffen?  Nein. 
Hat  er  bewuBt  Geschlechtskrank- 
heiten  iibertragen?  Nein.  Das 
und  nur  das  unterliegt  der  offent- 
lichen  Kritik  —  alles  andre  ist 
seine  Sache. 

Man  hat  dann  mit  komischem 
Eifer  die  wichtige  Tatsache  dis- 
kutiert,  ob  dieser  Angestellte  bei 
Hitler  bleiben  wird  oder  nicht, 
Sind  wir  die  Wachter  dieser  Pri- 
vatarmee  ?  Von  uns  aus  kann 
Hitler  Einbrecher  anstellen. 

Kreischt  Goebbels  oder  donnert 
Hitler  etwas  fiber  die  Sittenver- 
derbnis  der  neuen  Zeit,  so  halte 
man  ihnen  vor,  daQ  selbstver- 
standlich  unter  den  Nazitruppen 
Homosexuelle  stecken. 

Im  tibrigen  aber  ist  das  Empfin- 
dungsleben  Rohms  uns  genau  so 
gleichgultig  wie  der  Patriotismus 
Hitlers. 

Ignaz  Wrobel 

Orientalisches 

J7s  gibt  zwei  Arten  unzureichen- 
*-•  der  Reisebeschreibung.  Die 
allzu  altmodische  Art:  ein  biede- 
rer  Mitteleuropaer  hullt  sich  in 
einen  Burnus  und  schildert,  wah- 
rend  in  der  Karawansered  das 
Bachlein   unterm  Vollmond   plat- 

641 


schert,  den  Orient  als  Oldruck. 
Die  allzu  neumodische  Art:  der 
Reisende  als  Landmesser,  Freund 
harter  Tatsachen,  driickt  die 
Angen  ein,  murmelt  Statistiken, 
Bevolkerungsziffern,  Ausfuhrzif- 
fern,  als  ob  das  Berechenbare 
immer  der  eigentliche  Tatbestand 
sed  —  und  Baedeker  ist  gegen 
ihn  ein  Alexander  von  Humboldt. 
Wie  ein  Mensch  von  heute  mit 
Gewinn  reisen  kannf  das  lernt 
man  aus  dem  Buch  „Griff  in  den 
Orient*'  von  Leo  Matthias  (Biblio- 
graphisches  Institut  AG*,  Leipzig). 
.  Matthias  versteht  es,  in  der 
Fremde  Europaer  zu  bleiben,  das 
heiCt;  das  Andersartige  nicht  be- 
ziehungslos  anzustaunen  sondern 
es  immer  mit  Hinsicht  auf  unsre 
eignen  Meinungen,  Einrichtungen, 
Sorgen,  mit  Hinsicht  auf  die  all- 
gemeinen  Aufgaben  und  Schwie- 
rigkeiten  der  Menschheit  anzu- 
sehen;  und  doch  andrerseits  nicht 
blind  und  anmafiend  Europaisches 
zu  iibertragen.  Vielmehr  hat  er 
ein  ausgepragtes  Gefiihl  fiir  das, 
was  wirklich  fremde  Eigenart  ist, 
wobei  ihm  zustatten  kommt,  dafi 
er  nicht  auf  das  Romantisch- 
Pittoreske  fliegt  sondern  grade 
die  offenbar  spezifisch  orienta- 
lische  Poesie  der  Nuchternheit 
und  Leere  zu  erfassen  versteht. 
Mit  einem  gerauschlosen,  aber 
fest  zupackenden  Humor  spurt 
er  unter  Nasenschleier  und  Kaf- 
tan den  Menschen  auf.  Er  be- 
schreibt  in  einem  wohltuend  sau- 
beren  Deutsch,  sachlich  wie  ein 
guter  Marchenerzahler ;  aus  der 
Anekdote  heraus  entwickelt  er 
Abstraktes :  den  Geist  einer 
Sekte,  eines  Eroberers,  eines 
europaischen    Abenteurers,     eines 


Wirtschaftssystems.  Den  wirk- 
lichen  Reiz  des  Fremdartigen  er- 
fafit  er  dort,  wo  sich  stabile 
Grundbegriffe  wie  FluB  oder  Ein- 
ode,  Nation  oder  Ehe,  Sklaverei 
oder  Frommigkeit  plotzlich  ratsel- 
haft  wandeln  und  unverstandlich 
werden,  als  fiele  man  vom 
Monde.  Weniger  gelungen  schei- 
n«n  mir  die  Kapitel,  in  denen  er 
in  eine  grade  wegen  ihrer  All- 
gemeinheit  und  Schlichtheit 
schwer  verwendbare  Philosophic 
verfallt,  die  mehr  ironisch  als 
produktiv  und  nicht  ohne  Freude 
ant  funkelnden  Bluff  ist  und  de- 
ren  Anwendung  auf  die  Geist es- 
geschichte  des  Orients  wenig 
zwingend  wirkt.  Die  ruhige,  um- 
fassende  Klugheit  des  Verfassers 
iiberschlagt  sich  hier  aus  Ver- 
gnugen  an  der  eignen  Scharfe, 
und  grade  die  Glasklarheit  der 
Gedankenfuhrung  erzeugt  Gebilde 
von  komplizierter  Durchsichtig- 
keit  und  Spiegelung,  die  fiir  Ge- 
hirnmenschen  reizvoll  sind,  aber 
Schwindel  erregen  und  es  dem 
Leser  schwer  machen,  einen 
Standort,  eine  Cbersicht  zu  ge- 
winnen.  „Die  Weltentwicklung 
wird  etwas  sinnlos,  vom  Per- 
sischen  Golf  aus  gesehen"  —  das 
muB  nicht  am  Persischen  Golf 
liegen.  Gut  belichtet  und  lehr- 
reich  wie  seine  Anekdoten  sind 
die  vielen,  vortrefflich  rejprodu- 
zierten  Photographien,  die  er  dem 
Buch  beigegeben  hat.  Matthias 
beabsichtigt,  auf  seinen  nachsten 
Reisen  auch  Filme  zu  drehen. 
Man  darf  von  einem  so  gebildeten, 
sehtuchtigen  Beobachter  noch  viel 
Schones   erwarten. 


TROTZKI  SPRICHT 

iiber  die  aktuellen  politischen  Fragen  in  seiner  neuesten  Schrift 


Was  nun! 


Schicksalsfragen  des  deutschen  Proletariats 

116Seiten  stark,  steif  kaxtoniert,  holzfreies  Papier.  Preis  a,— RM; 

Zu  beziehen  durch  alle  Buch-  und  Strafienhandler  oder  direkt  bej 
Anton  Grylewicz,  Berlin-Neukolln,  Brusendorfer  Stir.  23  II 

642 


Eine  Truppe  brahmanischer 
Hindus  tanzt  Und  musiziert 
auf  eincr  bcrliner  Biihne. 
Die  Biihne  ist,  wie  vor  der 
Numtner  eines  Zauberkunst- 
lers,  vollgestellt  mit  neugiererre- 
genden  Instrumenten,  Trommeln 
und  Stehgeigen,  Gongs,  Floten 
und  Hornern.  Ernste  Manner  mit 
blitzenden  Augen,  in  weifie  Hem- 
den  gekleidet,  spielen  nieder- 
gehockt  zum  Tanz.  Ihre  Hande 
tanzen  mit:  wie  eine  mit  Purzel- 
baumen  iiber  die  Biihne  jagende 
Exzentriktruppe  tanzen  diese 
Hande  mit  Fingersipitzen,  Dau- 
menballen  und  Handwurzel  bieg- 
sam  iiber  die  Trommelfelle;  die 
Kopfe  wiegen  sich  sanft,  und  zu 
diesen  leisen  Tanzen  der  Musi- 
ker  paBt  die  Musik  des  Tan- 
-zersf  der  Schellenkranze  um  , 
seine  Fesseln  gebunden  hat  und 
sich  mit  vibrierenden  FiiBen  den 
Takt  stampft.  Der  Tanzer  ist 
biegsam  und  schmal  wie  eine 
Frau,  aber  er  wirkt  fiir  euro- 
paische  Augen  nur  deshalb  weich- 
lich,  weil  wir  fiir  mannlich  halten, 
was  Muskelkrampf  und  Starre, 
Feldwebelrhythmus  und  ungesunde 
Spannung  ist.  Dieser  Inder,  des- 
sen  Finger  sich  schlangeln,  des- 
sen  Schultern  und  Hiiften  eidech- 
senhaft  biegsam  sind,  ist  zugleich 
kraftvoll  und  ernst,  meilenfern 
von  dem  angewarmten  Schmelz 
hiesiger  Tanzjunglinge,  Was  er 
mud  seine  Partnetrinhen  tanzen, 
wird  auch  ohne  Kenntnis  der  ri- 
tuellen-  Gebardensprache  andeu- 
tungsweise  verstandlich  und  iiber- 
rascbt  durch  den  Reichtum  an 
komplizierten,  klugen,  erstaunlich 
geschulten  Bewegungen,  die  in 
ihrer  Art  manchmal  an  die  jung- 


gestorbene,  hbchbegabte  Vera 
Skoronel  erinnern.  Ruckhafte 
Kopfbewegungen,  Augenrollen 

und  der  Zwang  archaischer  FuB- 
stellungen  heben  diese  Tanze  sehr 
gliicklich  in  eine  iibernaturali- 
stische  Stilebene,  und  es>  ist  be- 
merkenswert,  wie  der  Gefiihls- 
gehalt  des  Themas  niemals  durch 
„AusdrucksbewegungenM  sondern 
durch  charakteristische  Tanzfor- 
men  gegeben  wird;  etwa  ein  Lie- 
besspiel  durch  den  paarigen 
Gleichklang  der  Bewegungen,  ein 
Zueinanderneigen,  ein  Verschran- 
ken  der  Arme  —  fast  ohne  Mi- 
mik  des  Gesichts.  Die  Art,  wie 
diese  Inder  iiber  die  Biihne  gehen, 
das  Zeremoniell,  mit  dem  sie  sich 
fiir  Beifall  bedanken,  ist  allein 
schon  reicher  und  schoner  als  das 
Programm  von  einem  halben  Dut- 
zend  berliner  Tanzmatineen,  Be- 
neidenswertes  Volk,  dessen  Got- 
ter  tanzen,  dessen  Menschen  tan- 
zen wie  die  Gotter  und  dessen 
Kultur  noch  nicht  aufgespalten 
ist  in:  Gelehrtenschreibtisch,  Klo- 
sterzelle,  Philharmonic,  Hoch- 
schule  fiir  Leibesiibungen  und 
Wigmankult,      RudM  Arnheim 

Ein  Sturm  wind  von  Jamalka 
Tnmitten  der  allgemeinen  Un- 
*•  sicherheit  und  des  ringsum  be- 
ginnenden  Zusammenbruchs  be- 
findet  sich  die  Literatur,  soweit 
sie  nicht  eindeutig  politische 
Fronten  bezogen  hat,  in  selt- 
samer  Lage.  Immer  haufiger  und 
offener  wird  von  ihr  verlangt, 
daB  sie  sich  am  Abbau  der  letz- 
ten  Reste  von  Illusionen  und 
uberkommenen  Begriffen  mog- 
lichst  wenig  beteilige.  Sie  soil 
friedlicbe   Stillhaltung   iiben,     Sie 


Soeben  erschien 

HERBERT  SCHLUTER 

Die  Riickkehr 
der  verlorenen  Tochter 

Roman 

Leinen  4.50 

TRANSMARE   VERLAG    A.-G.,    BERLIN    W    35 

643 


soli  insbesondere  alles  Problema- 
tische  und  pestruktive  zuriick- 
stellen,  Man  sucht  auf  der 
Btihne  und  im  Buch  nicht  Auf- 
ruf  und  Erregung  sondern  Trost 
und   Einschlaferung. 

Daraus  erklart  sich  die  matte 
Aufnahme,  die  etwa  ein  so  hand- 
festes,  redliches  Stiick  Theater 
wie  Horvaths  „Geschichten  aus 
dem  Wiener  Wald"  gefunden  hat. 
Und  nicht  anders  ist  es  mit  dem 
merkwurdigen,  unerbittlich  auf- 
richtigen  Kinderroman  „Ein 
Sturmwind  von  Jamaika"  (Erich 
Reifi,  Berlin)  von  Richard  Hughes 
gegangen.  Trotz  begeisterten  Kri- 
tiken  ist  er  beim  Publikum  nicht 
durchgedrungen  und  heute,  nach 
einem  dreiviertel  Jahre,  schon 
fast   wieder  vergessen, 

Freilich  hat  Hughes  den  Ein- 
bruch  in  einen  der  geheiligten,  un- 
antastbaren  Bezirke  der  burger- 
lichen  Vorstellungswelt  gewagt. 
Die  Kindheit  gait  und  gilt  dem 
zweifelnden  und  verzweifelnden 
Burger  dieser  verworrenen  Zeit 
als  tabu.  Wenn  es  sich  auch  her- 
ausgestellt  hat,  dafi  der  Mensch 
keineswegs  gut  ist,  —  als  Kind 
mochte  ers  einmal  gewesen  sein. 
Diese  Illusion  laBt  er  sich  nicht 
gem  nehmen, 

Hughes  aber  schildert  mit  un- 
heimlicher  Kraft  grade  das 
Amoralische,  das  unbedenklich 
Bose  im  Kinde,  die  Fiille  un- 
schuldiger  Grausamkeit  und  ziel- 
bewuBter  Schlauheit*  in  den  Jah- 
ren,  ehe  die  anerzogene  Selbst- 
kontrolle,  die  Angst  vor  abstrak- 
ten  Vorschriften,  die  halben 
Kompromisse  des  sozialen  Al- 
truismus  bestimmend  werden,  Es 
wird  in  diesem  Buche  ein  Vor- 
hang  weggerissen,  den  wir  angst- 
lich  vor  unsre  Kinder  jahre  ge- 
zogen  haben,  urn  nicht  daran  er- 
innert    zu   werden,    wie    unmittel- 


bar,  wie  ungezahmt  wir  einmal 
waren.  Vor  dem  brutalen  Zu- 
griff  dieses  unbarmherzigen  Ge- 
stalters  werden  alle  die  kleinen 
Kinder-Gottergestalten  der  Lite- 
ratur  zu  heuchlerischen  Vernied- 
lichungen. 

Und  das  geschieht  in  einer 
schlichten  Fabel,  die  eine  Steven- 
son-Geschichte  hatte  werden 
konnen  oder  eine  vulgare  Kid- 
napper-story, Die  Erlebnisse  eini- 
ger  Kolonistenkinder,  die  auf  der 
Fahrt  ins  englische  Pensionat  ge- 
raubt  und  verschleppt  werden, 
sind  die  Kulisse  zu  den  ver- 
wirrenden  Abenteuern  der  Puber- 
tat,  der  erwachenden  Kinderseele. 
Das  Ungewohnte  wird  bedenken- 
los  genossen.  Die  Eltern  sind  so 
schnell  vergessen,  wie  der  Tod 
eines  der  Briider  sofort  und  ein 
fur  allemal  vergessen  wird.  Die 
Seerauber,  ubrigens  kleine,  be- 
queme  Banditen,  werden  tyranni- 
siert.  Aber  als  die  Kinder  nach 
der,  ungern  gesehenen,  Befreiung 
merken,  daB  man  sie  bedauert, 
stellen  sie  sich  sekundenschnell 
um  und  mimen  von  nun  an  vor- 
trefflich  die  unglucklichen  Opfer, 
die  man  in  ihnen  sehen  mochte, 

Aber  da  ist  noch  etwas  ge- 
schehen:  Ein  Mord  an  einem 
wehrlosen,  gefesselten  Gefange- 
nen.  Wegen  dieses  Mordes  sollen 
die  Flibustier  gehangt  werden, 
Dabei  kommt  alles  auf  die  Aus- 
sage  eines  der  kleinen  Madchen 
an,  Und  eben  diese  kleine  Emily 
hat  den  Mord  selbst  begangen. 
In  einer  dunklen,  grauenhaften 
Stunde  der  Angst  hat  sie  den 
Mann  erstochen.  Von  da  ab  ist  sie 
von  dem  einzigen  Gedanken  be- 
herrscht,  die  Folgen  dieser  Tat 
abzuwenden,  Unter  Tranen,  ver- 
zweifelt,  verwirrt,  aber  doch  ent- 
schlossen,  sich  um  jeden  Preis  zu 
retten,    stammelt    sie  vor   Gericht 


644 


P\as  personlichste,  das  umfassendste  und  gleichzeitig  das  jeder 
'^  Bildungsstufe  zugSnglichste  Buch  von  Bo  Yin  R£,  J.  Schneider- 
franken,  ist  das  soeben  erschienene  lSngst  erwartete  SchlGssel- 
werk  .Der  Weg  meiner  Schtiler".  Es  erschliefit,  ganzlich  unab- 
hSngig  von  jedem  uberlieferten  Denk-  oder  Glaubenssystem, 
durch  praktische  Ratschlflge  den  einzigen  Weg  zu  wahrer  Selbst- 
gewifiheit.  Das  Buch  ist  zum  Ladenpreis  von  RM.  6.—  durch 
jede  gute  Buchhandlung  zu  beziehen,  oder  wenn  dort  nicht 
vorritig,  durch  den  Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuchhandhuig 
(gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 


mit  ihrer  kleinen,  zartlichen 
Stimme  die  zweideutigen  Worte, 
durch  die  alle  die  Manner,  die 
Freunde  so  vieler  heiterer 
Wochen,  an  den  Galgen  kommen. 
Und  dann  ist  es  vorbei  und  ab- 
getan.  Sie  wird  nicht  mehr  daran 
denken.  Sie  verschwindet  unter 
den  andern  Madchen  des  Pen- 
sionats,  „Wurde  der  Hebe  Gott 
auf  diese  heitere  Schar,  diese 
reinen,  unschuldigen  Gesichter 
herabgesehen  haben,  er  hatte 
Emily  vielleicht  herausgefunden, 
Mir  ware  es  nicht  moglich  ge- 
wesen":  Die  letzten  Worte  des 
Buches. 

Diese  kleine,  verwirrte,  feige 
Meuchelmorderin  ist  von  grauen- 
voller  Lieblichkeit,  Auf  sie  hat 
Hughes  die  ganze  Kraft  seiner 
abgriindigen  £ir»sicht  vom  ur- 
spriinglich  Bo  sen  im  Menschen, 
im  Kinde  gesammelt,  Vielleicht 
hat  Mignon  auf  sanftere  Zeitalter 
ahnlich  gewirkt,  wie  auf  uns  dies 
schrecklicb  bezaubernde  Ge- 
schopf.  In  dieser  Gestalt  sind 
Rousseau  und  Pestalozzi  aufs 
entschiedenste  geleugnet.  Viel- 
leicht auch  Freud.  Denn  wenri 
sie  wahr  ist  —  und  sie  riihrt  uns 
an  mit  dem  Grauen  unbedingter 
Wahrhaftigkeit!  — ,  dann  ist  es 
dem  Menschen  gegeben,  seine 
furchtbarsten  Erlebnisse  bis  zum 
volligen  Verschwinden  zu  ver- 
drangen,  Dann  aber  gabe  dieser 
Roman  uns  einen  kurzen,  ver- 
nichtend  klaren  Blick  frei  bis  zu 
den  Urgriinden  j  ener  lebens- 
rettenden  Vereinbarungen,  die  wir 
unter  dem  Sammelbegriff  Moral 
verstehen.  Axd  Eggebrecht 


Bajuvaria 

Intelligenz  in  Miinchen 

\7egetarisches  Speisehaus,  Finstre, 

*     prinzipienstarre      Oberlehrer, 

viel  seifenblonde  Jugendbewegung, 

zwei     haushaltslose     Geheimrats- 

witwen,    Gymnastikweiber  in  Re- 

formkleidern  zeichnen  sich  durch 

dicke    Waden    oder    Zahnfleisch- 

fletschen  aus.      Die  meisten  sind 

picklig.    Allen   ist   Spinat  mit  Ei 

Weltanschauungssache, 

Ein  Handlungsreisender  hat  sich 

hineinverirrt    und  will    sich    durch 

Lektiire      vom      schlechten      Ge- 

schaftsgang  erholen,    Ich  hore  fol- 

genden  Dialog: 

„Fraulein(  bitte  ,die  Zeitung'." 

„Die  werden  alle  gelesen." 

„Ich      meine      die     ,Munchener 

Zeitung','* 

„Die  wird  auch  gelesen." 

„Die  ,Neuesten*  auch?" 

„Sie    meinen    die    ,Telegramm- 

zeitung'?" 

MNein,    ich     meine     die    ,Neue- 

sten'." 

M Ja,    wir   haben   nur   die  neue- 

sten.    Wir  haben  immer  die  neue- 

sten  Nummern." 

„Ach,     ich      meine      doch     die 

,Miinchner      Neuesten      Nachrich- 

ten." 

„Ja,  die  haben  wir  gar  nicht/* 

Das  Fraulein  dreht  sich  um  und 

geht,  Aber  schon  steht  sie  wieder 

vor    ihm,     eine    Zeitung    in    der 

Hand:     die    tMiinchner    Neuesten 

Nachrichten'. 

* 

Per  Prophet 

Zwischen  Wiessee  und  Rottach- 

Egern  zittert  sparliches  Schilf  am 

Ufer.      Nichtsahnend     blicke     ich 

nach   Kloster  Tegernsee    hiniiber, 


LOURDES  HEIIT  -  HEILT  LOURDEST 

Peter  Panter  widmet  diesem  beruhmtesten 
Wallfahrtsort  hodiinteressante  Kapital  in  seinem 

„PYRENAENBUCH" 

Kartoniert  RM  4,80,  Leinenband  RM  6,50 

„Lest  das  Buch,  lest  den  Stierkampf,  die  Kapitel  von  der  Republik 
Andorra,  lest  Lourdes,  lest  die  franzosische  Provinz  und  dann 
werdet  ihr  begeistert  dieses  Budi  aus  der  Hand  legen  und  dabei 
bedauern,  dafi  ihr  es  sdion  ausgelesen  habt."  8-Uhr-Abendblatt,  Berlin* 

ROWOHLT   VERLAQ    BERLIN   W  50 

645 


als   ein  Wanderer,   vor   so   einera  der  Schonheit  schaufelt  und  Tag 

Htimpel  kummerlicher  Halme,  die  fur  Tag  am  letzten  Rest  vergan- 

Finger     weit     fiber     das     Wasser  gener      Jugendanmut     nagt,      bis 

streckend,     plotzlich     prophetisch  schliefilich     auch     die    Kunstlich- 

ausruft:   „Ja,   Amalie,   in  hundert  keit  versagen  muB, 

Jahren  is  er  zu  . .  J"  Aus    einem    Prospekt 

Herbert  Gunther  von    Elizabeth   Arden 

Da  gehOrt  sie  hin  Anekdote 

Die     vorliegende     Schrift     war  Uelix  Dahns  Gattin  pflegte  nicht 

urspriingBch     ein     Teil      der  *     nur    ihren    Gemahl    mit    der 

„Erhebuhg      Israels      gegen      die  Harfe  zu  besingen  —  sie  hatte  es 

christlichen     Giiter'\      Sie    wurde  auch  mit  der  klassischen  Bildung. 

vor    der    Drucklegung     herausge-  Wo  immer  es  anging,  driickte  sie 

nommen,  um  sie  dem  Tempo   je-  sich  lateinisch  aus. 

nes  Buches  zu  entziehen  und  auf  Einmal   hatte   ein  Schiiler   dem 

einen  ruhigen  Grt  zu  setzen . . .  Herrn  Professor  ein  Buch  zurtick- 

Hans  Bluher  im  Vorwort  zu  gebracht,    ..Friedrich   der   Grofie" 

,Der  Standort  des  Christen-  —    und    Frau  Dahn    sollte    den 

tarns  in  der  lebendigen  Weir  Empfang  bestatigen. 

Sie  schlug  im  Worterbuch  nach: 

Welch  tiefe  Tragik  Empfangen:       accipio,         (von 

W/elch  tiefe  Tragik  liegt  darin,  Frauen:)    concipio. 

"  die      Schonheitsfehler      feige  Und  schrieb: 

unter    Kosmetien     zu     verbergen  „Concepi    a    discipulo    liberum 

und     zuzusehen,     wie     Jahr     fur  magnum  Fridericum/' 

Jahr  der  Zahn  der  Zeit  das  Grab  Roda  Roda 

Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Bund  proletarisch-revolutionarer  Schriftsteller.     Dienstag  20.00.     Nationalhof.    Bulow- 

straBe  37:  Internationaler  Abend. 
Die  Lupe.    Donnerstag  20.30.    Klubhaus  am  Knie,  Berliner  Str.  27:  Der  Streit  um  die 

neue  Kunst,  Ernst  Kallai. 
Gcaellachaft  fu>  politische  Theorie.    Freitag  20.00.  Ernat-Haeckel-Saal,  In  den  Zelten  9a: 

Kurt  Hiller   liest   aus   seinem   neuen  Buch   (,Der  Sprung  ins  He  lie".    AnschlieBend 

Aussprache. 
Humboldt-Hocbachule.    Sonnabend  15.00.    Fritz  Schiff:  Fahrung  dutch  das  Tell  Halaf- 

Museum,  Charlottenburg,  Franklins tr.  6. 
Individualpsychologische    Gruppe.      Montag  (2.  5.)  20.00.     Klubhaus   am  Knie,   Berliner 

Strafie  27:  Neue  Erziehungswege  in  der  Gruppenarbeit,  Tami  Oelfken. 

Hamburg 

WeltbObnenleser.      Freitag    20.00.     Timpe,  Grindelatlee   10:   Die  politische  Einstellung 

der  Intellektuellen  in  Deutschland. 
Gruppe  Revolutionarer   Pazifisten.       Dienstag  (3.  5.)  20.00.     Volksheim,    Eichenstr.  61: 

Uber  den  historischen  Materialismus.    Es  spricht  ein  Vertreter  der  linken  Opposition 

der  KPD. 

Bttcher 

Theodore  Dreiser:  Das  Buch  fiber  mich  selbst.    Paul  Zsolnay,  Wien. 

Francis  Hackett:  Heinrich  der  Achte.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Leon  Schalit:  Narrenparadies.    Paul  Zsolnay,  Wien. 

Fritz  Schiff:  Die  Wandlungen  der  Gottesvorstellungen.    Urania-Freidenker-Verlag,  Jena. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  18.20:  Studenten  diskutieren.  —  Kdnigswusterhausen  19.20:  Antisemi- 
tismus,  Polizeimajor  Bork  und  v.  Oppeln-Bronikowski.  —  Konlgsberg  20.10:.  See- 
mannsballade  von  Joachim  Ringelnatz.  —  Hamburg  20.30:  Emtl  Belzner  liest.  — 
Breslau  21.10:  Von  der  Sahara  bis  Breslau,  H5rfolge  von  Walter  Mehring.  —  Mitt- 
woch.  Berlin  14.00:  Leopold  Stokowski  dirigiert  (Schallplatten).  —  22.00:  Irland, 
Zeitbericht  von  Actualis.  —  Donnersta;.  Berlin  18.10:  Von  der  bildenden  Kunst, 
Felix  Stdssinger.  —  18.20:  Aufstieg  oder  Niedergang  des  Bfirgertums?  M.M.Gehrke 
und  Herbert  Ihering.  —  Frankfurt  18.25:  FilmkGnstler  -  richtig  und  falsch  be- 
scb&ftigt,  Rudolf  Arnheim.  —  Munchen  21.55:  Sprechchore  (Friedrich  Nietzsche 
Walt  Whitman,  Paul  ZechJ.  —  Freitag.  Berlin  17.35 :  Das  Ende  einer  groBen  Epoche, 
Valeriu  Marcu,  —  Sonnabend.  Berlin  18."0:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Gabriele 
Tergit,  —  Hamburg  18.80:  Aufstand  gegen  den  Intellekt,  C.  E.  Uphoff  und  Walther 
v.  Hollander.  —  Frankfurt  19.15:  Joachim  Ringelnatz  liest. 

646 


Antworten 

Rote  Fafane.  Du  veroffentlichst  ein  Telegramm  Lenins  an  die 
bayerische  Raterepublik  von  1919,  in  dem  er  dem  revolutionaren 
Proletariat  seinen  GruB  ausspricht,  und  Du  schreibst  dazu:  „Die 
Empf anger  dieses  Telegramms,  die  Fiihrer  der  Schein-Raterepublik 
— ■  Niekisch,  Klingelhofer,  Ernst  Toller  und  Konsorten  —  haben  das 
bedeutsame  Dokument  dem  bayerischen  Proletariat  unterschlagen." 
Ich  habe  mich  an  Erich  Miihsam  und  Ernst  Toller  gewaridt  und  sie 
gefragt,  ob  sief  die  damals  Mitglieder  der  miinchner  Rateregierung 
waren,  von  diesem  Telegramm  Kenntnis  hatten.  Beide  haben  ent- 
schieden  verneint,  dagegen  den  Verdacht  als  naheliegend  geaufiert, 
daB  Axelrod,  der  Vertreter  der  besonderen  kommunistischen  Partei- 
interessen  in  Miinchen,  es  bewufit  zuriickgehalten  hat,  Vielleicht 
ist  eine  restlose  Klarstellung  so  weit  zuriickliegender  Dinge  heute 
unmoglich  —  aber  welchen  praktischen  Zweck  hat  es,  einen  Mann, 
wie  Toller,  der  fur  die  roten  Gefangenen  kampft,  der  tiberall  fur 
kommunistische  Kandidaten  eintritt,  in  dieser  Weise  von  hinten  an- 
zufallen?  UberlaBt  diese  Methoden  doch  den  Fascisten,  es  kleidet 
sie  besser,     Oder  bist  Du'  auch  schon  abgefarbt? 

Deutscher  in  der  Tschechoslowakei,  Deine  Zeitung,  die  ,Bo- 
hemia'  in  Prag,  glaubt  dem  Deutschtum  in  der  Tschechoslowakei  zu 
dienen,  indem  sie  —  liberal  getarnt  —  die  bohmischen  National- 
sozialisten  unterstiitzt.  Die  Meinung,  Nationalsozialismus  sei  iden- 
tisch  mit  Deutschtum,  fiihrt  auch  zu  der  andern  Auffassung,  deutsch- 
tschechische  Cooperation  sei  ein  Verrat  an  der  deutschen  Minder- 
heit.  In  Nummer  1  der  ,Weltbuhne*  hat  sich  Bernhard  Citron  mit 
den  damals  am  Horizont  auftauchenden  Donauplanen  auseinander- 
gesetzt,  Der  Tschechoslowakei,  als  politisch  und  wirtschaftlich  sta- 
bilstem  Bestandteil  des  Donaugebietes,  wurde  auch  eine  fuhrende  Stel- 
lung  im  neuen  Habsburgerreich  ohne  Habsburger  zugedacht.  Dient 
die  (Bohemia*  der  deutschen  Minderheit,  die  nicht  nur  eigne  Abgeord- 
nete  sondern  auch  einen  eignen  Minister  in  der  tschechoslowakischen 
Republik  besitzt,  wenn  sie  gegen  eine  neue  Verbindung  Prag — Berlin 
polemisiert?  Sollte  das  Deutsche  Reich  die  Bildung  der  Donau- 
foderation  hindern,  obwohl  fur  die  ErschlieBung  der  zentraleuro- 
paischen  Absatzgebiete  von  Deutschland  kein  Kapital  aufgebracht  wer- 
den  kann?  Wer  nicht  die  Augen  verschlieBen  will,  .  weifl,  daB  man 
die  Hilfe  der  Welt  wohl  fur  eine  Finanzierung  der  Donauunion, 
nicht  aber  fur  einen  phantastischen  deutschen  Wirtschaftsraum  ge- 
winnen  kann.  Die  .Bohemia'  greift  aus  Citrons  Aufsatz  einige  Satze 
heraus,  die  ihr  anscheinend  komisch  vorkommen,  Es  soil  wohl  der 
Eindruck  erweckt  werden,  als  hatte  Citron  die  wirtschaftliche  Kraft 
der  tschechoslowakischen  Republik  lediglich  an  Hand  der  Tatsache 
beweisen  wollen,  daB  im  Gebaude  der  Zivnostenska  banka  offehe 
Verkaufsladen  domizilieren,  Ebenso  ergeht  es  einer  Bemerkung 
iiber  die  niedrige  Lohnung  der  tschechischen  Arraee,  Kein  Satz  in 
dem  Weltbiihnenartikel  wird  widerlegt,  sondern  lediglich  an  Hand 
eines  Brief  es,  den  ein  Redakteur  jenes  Blattes  an  die  .Weltbiihne* 
gerichtet  hat,  der  Ansicht  Ausdruck  verliehen:  „Die  janze  Richtung 
pafit  uns  nicht",  Auf  der  Ebene  jener  Richtung,  der  die  ,Bohemia* 
nahesteht,  konnen  wir  aber  nicht  diskutieren. 

Oberstudiendirektor  Pflng,  Friedenau.  Unsre  Vermutung  war 
zutreffend,  daB  die  von  Ihnen  Ihren;  Schiilern  gepredigte  f,Ehrfurcht 
vor  der  Vergangenheit"  in  erster  Linie  auf  byzantinischen  Hohenzol- 
lernkult  hinauslaufen  soil.  Uns  wird  das  .Berliner  Tageblatt'  vom 
6.  Marz  1927  zugesandt,  worin  iiber  einen  Vorgang  an  Ihrem  Gym- 
nasium berichtet  wird.  Sie  hatten  den  zweiten  Sohn  des  friihern 
Kronprinzen  fiir  den  3.  Marz  1927  zu  einem  Vortrag  in  der  Aula 
iiber    seine    Reiseerinnerungen    eingeladen.     Das   .Berliner  Tageblatt' 

647 


erklart,  das  bescheidene  Auftreten  des  jungen  Mannes  habe  einen  an- 
genehmen  Eindruck  gemacht.  Es  fahrt  fort:  , .Anders  muB  man  leider 
iiber  den  Leiter  des  Gymnasiums,  den  ehemaligen  Landtagsabgeordneten 
Oberstudiendirektor  Pflug  urteilent  der  diesen  Vortrag  wohl  nicht  des 
Themas  wegen  veranstaltet  hatte,  und  den  durchaus  nicht  mit  konig- 
lichen  Anspriichen  auftretenden  jungen  Mann  unablassig  mit  der  An- 
rede  ,Konigliche  Hoheit'  umdienerte.  Es  gab  Eltern  und  auch  Lehrer, 
denen  das  ein  wenig  zu,  viel  wurde,  und  gewisse  Direktoren  miifiten 
wohl  darauf  aufmerksam  gemacht  werden,  daB  sie  ihr  Gehalt  von  der 
Republik  beziehen."  Dafi  nicht  nur  Lehrern  und  Eltern  Ihr  Byzantinis- 
mus  auf  die  Nerven  geht  sondern  auch  einem  Teil  Ihrer  eignen  Schil- 
ler, haben  wir  mit  Genugtuung  aus  der  Zuschrift  eines  Schiilers  er- 
fahren.  Ihr  zufolge  ist  der  Sinn  Ihrer  Reklame  „fur  die  Ehrfurcht 
vor  der  Vergangenheit"  vollig  richtig  in  Doorn  verstanden  worden. 
Darum  hat  Ihnen  der  Ex-Rex  alsbald  sein  Bild  mit  eigenhandigem  - 
Namenszug  und  mit  der  schneidigen  Aufschrift  MDennoch"  tibersandt, 
Sie  haben  mit  dem  Bild  Ihr  Arbeitszimmer  geschmuckt  und  auf  die 
Ruckseite  des  Bildes  einen  Zeitungsausschnitt  geklebt,  laut  dem  ge- 
meldet  wird,  dafi  Wilhelm  II.  von  dem  mutigen  Auftreten  des  Ober- 
studiendirektors  fur  ihn  erf ahren  habe.  Als  Sie  j  edoch  das  Bild 
triumphierend  in  der  Prima  Ihren  Schiilern  zeigten,  erregten  Sie 
keineswegs  die  erwartete  Begeisterung.  In  tiefgeknicktem  Ton  weh- 
klagten  Sie:  „Ihr  scheint  ja  gar  keine  Beziehungen  zu  den  Hohen- 
zoliern  mehr  zu  haben."  Andre  Leute  werden  nicht  recht  verstehen, 
warum  die  Republik  mit  einem  Manne  Ihrer  Gesinnung  noch  Be- 
ziehungen unterhalt. 

Rundfunkhorer.  Wir  machten  im  vorigen  Heft  Mitteilung  yon 
dem  Verbot  der  Vortrage  Ernst  Tollers  iiber  Spanien,  Hierzu  sei  be- 
richtigend  festgestellt,  dafi  der  politische  UberwachungsausschuB  auf 
Anregung  des  nationalsozialistischen  Ministerialdirektors  Scholz  aus 
dem  Reichsinnenministerium  die  Abhaltung  der  Vortrage  verhindert 
hat.  Die  Rund.f unkleitung  hat  sich  durchaus  korrekt  benommen,  nicht 
ihr  Ansager  sondern  der  Ersatzredner,  ein  Ministerialrat,  der  iiber 
das  aufienpolitisch  unbedenkliche  Thema  MHauszinssteuer"  sprach,  hat 
die  unwahre  Behauptung  aufgestellt,  Ernst  Toller  sei  verhindert,  Be- 
scheidene Anfrage  an  die  Stellen,  die  fur  die  Zusammensetzung  des 
Uberwachungsausschusses  verantwortlich  sind:  da  wir  zur  Zeit  noch 
nicht  im  Dritten  Reich  leben,  wann  werden  Sie  den  Nazi-Scholz  aus 
seiner'  Stellung  entfernen? 

Roda  Roda.  Um  entstandene  Mifiverstandnisse  zu  berichtigen, 
bestatigen  wir  Ihnen  gern,  dafi  das  von  uns  im  vorigen  Heft  ver- 
oifenthchte  Gedicht  „Roda  Rodas  Selbstgesprach"  tatsachlich  von 
Ihnen  stammt.  ■ 

Leser  in  Munster/Westf.  Geben  Sie  Ihre  Adresse  an  Herrn  Wil- 
helm Kuhrdt,  Dodostr.  7,  IM  der  regelmafiige  Zusammenkunfte  der 
dortigen  Weltbiihnenleser  in  die  Wege  leiten  will. 

Marxistische  Arbeiterschule.  Das  dritte  Quartal  Ihres  laufenden 
Schuljahres  beginnt  am  2.  Mai.  Wer  sich  iiber  Ihre  245  Kurse  orien- 
tieren  mochte,  lasse  sich  gegeh  Einsendung  von  0,05  Mark  Porto  das 
Vorlesungsverzeichnis  vom  zentralen  Schulbureau  O  27,  Schickler- 
strafie  6  III,  kdmmen.  Besonders  sei  fuf"  Rufilandfahrer  auf  den 
russischen  Schnellkursus  verwiesen.    Auskunft  erteilt  das  Bureau, 

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaction  der  Weltbuhne,  Charlottenburg, '  JCantstr.  152;  ru 
richten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegea,  da  sonst  keine  RGdksendung  erfolgen  kann. 
Daa  Auf f  Uhrunvsrecht,  die  Verwertung  von  Titelnui.  Text  ImRabmen  des  Films,  die  musik* 
mechanische  Wiedergabe  alter  Art  und  die  Verwertung-  im  Rahmen  von  Radiovortrjtgen 
bleiben  fur   alle  in  der  Weltbuhne  erscbeinenden  Beltrage  auadrucklicb  vorbehaUen. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrflndet  von  Siegfried  Jacobsohh  und  wird  von  Carl  v.  Ossfetzky 
unter  Mitwirkung-  von   Kurt  Tucholttky  geleitet.  —  Verantwortlich:   Carl  v.  Osaietzky,  Berlin; 

Veriag-  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobboho  &  Co.,  Chajrlottenburg. 

TVlepnOn:  C  1,  Steinplatz  7757.   —   Postschecttconto :  Berlin  U95»; 
Bankkonto:     Darmstadter    u.    Nat  ion  a  lb  an  k.      Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.   112. 


XXVIII.  Jahrgang  3.  Mai  1932  Nnmraer  18 


Ein  runder  Tisch  wartet  von  can  v.ossietzky 

p\ie  preuBischen  Wahlen  haben  der  NSDAP  keine  absolute 
Mehrheit  gebracht,  wohl  aber  ist  der  Abstand,  der  sie  da- 
von  trenmt,  so  gering,  daB  er  nur  als  Anrciz  wirken  kann,  den 
Sturm  so  bald  wie  moglich  wied'er  aufzunehmen.  Die  Regie- 
rung  der  weimarer  Koalition  hat  eine  ehrenvolle  Niederlage  er- 
litten,  aber  die  Niederlage  ist  unleugbar.  Unter  den  vielen 
Ratschlagen,  mit  denen  Otto  Braun  in  diesen  Tagen  (bedacht 
wurde,  ist  der  schlimmste,  sicK  mit  dem  bisherigen  Kabinett 
wenigstens  geschaftsfuhrend  zu  behaupten,  bis  der  liebe  Gott 
es  wied'er  anders  beschlossen  hat,  Auch  in  der  Politik  bevor- 
zugt  der  liebe  Gott  die  starkern  Bataillone. 

Mit  Recht  betont  die  (Frankfurter  Zeitung',  daB  eine  von 
Parlament  oder  Verfassung  sanktionierte  Geschaftsfiihrung 
Treuhanderschaf  t  fbedeutet,  „Eine  geschlagene  Partei  muB, 
wenn  ihre  Fiihrer  im  Amt  bleiben,  nach  diesem  Grundsatz  ver- 
fahren.  Wird  dagejgen  verstoBen,  so  wird  sich  das  bei  der 
nachsten  Wahl  bitter  rachen."  Eine  Regierung,  deren  Autori- 
tat  soeben  durch  einen  erheblichen  MiBerfolg  beeintrachtigt 
wurde,  kann  nicht  gegen  eine  Partei  regieren,  die  37  Prozent 
der  Wahlerschaft  umfaBt,  Da  die  kommenden  Monate  wahr- 
scheinlich  wieder  starke  politische  und  wirtschaftliche  Ein- 
griffe  erf orderlich  machen  miissen,  die  Krise  aber  weiter  wachsen 
undj  Regieren  manchmal1  nur  in  diktatorischeri  Form  moglich 
sein  wird,  so  konnen  die  37  Prozent  bei  einer  Neuwahl  im 
Herbst  sehr  wohl  auf  52  Prozent  anschwellem 

Welche  parlainentarischen  Moglich  keiten  gibt  es  heute 
noch  in  PreuBen? 

a)  Das  Kabinett  Braun  bleibt  mit  geschaftsfuhrendem 
Auftrag; 

b)  Zentrum  und  Nazis  bilden  eine  Koalition; 

c)  die  Regierung  Braun-Severing  stiitzt  sich  auf  die  parla- 
mentarische  Hilfe  der  Kommunisten; 

d)  die  Sozialdemokratie  laBt  die  Biirgerparteien  unter  sich 
und  bildet  mit  den  Kommunisten  einen  oppositionellen  Ar- 
beiterblock. 

,  Wir  halt  en  nur  c  und  d  fur  diskutabel,  b  geht  ausschlieB- 
lich  die  zwei  beteiligten  Parteien  an,  a  biirdet  der  Sozialdemo- 
kratie eine  Last  auf,  die  sie  nicht  mehr  tragen  kann,  und  die  sie 
auch  nicht  mehr  trageni  sollte. 

Die  Nazis,  die  friiher  iiber  das  Reich  in  PreuBen  einibrechen 
woliten,  riisten  jetzt,  das  Reich  von  PreuBen  her  zu  nehmen. 
Ob  die  Verstandigung  mit  dem  Zentrum  gelingen  wird,  laflt  sich 
nicht  voraussagen.  Indessen  fehlt  es  bei  beiden  weder  am 
besten  Willen  zur  Zusammenarbeit  noch  zum  gegenseitigen 
Betrug,  In  der  Nachbarschaft  der  Reichsregierung  gibt  es  auch 
einige  unternehmungslustige  Kopfe,  die  der  Meinung  sind,  das 
Reich  tate  am  besten,  nach  dem  Fehlschlagen  der  parlamenta- 

1  649 


rischen  Losungen,  PreuBen  durch  einem  clazu  bestellten 
Kommis&ar,  etwa  Stegerwald,  in  Zwangsverwaltung  zu  nehmen. 
Unter  dem  Stichwort  ,fReichsreform"  konnten  Finanzen  und 
Polizei  dem  Reich  einverleibt  werden,  in  der  leeren  Hulse,  die 
dlann  noch  bleibt,;  mag'  Gregor  StraBer,  den  Drachenkamm  des 
National-Fascismus  auf  dem  Haupte,  ruhigj  als  MpreuBischer  Mi- 
nisterprasident"  Plate  nehmen, 

Es  ist  nur  fraglich,  ob  sich  die  siegreichen  Nationalsozia- 
listen  ihren  Brat  en  so  leicht  vor  der  Nase  wegschnappen  Lassen. 
Und  es  ist  nicht  minder  fraglich,  ob  das  Zentrum,  so  verlockend 
es  ihm  auch  scheinen  mag,  wenigstens  voriibergehend  PreuBen 
unter  eigne  Regie  zu  bring  en,  schliefilich  nicht  doch  vor  einem 
Waignis  zuriickschreckt,  dessen  MiOlingen  nicht  auf  die  Partei 
sondern  auch  auf  den  ganzen  deutschen  Katholizismus  zunick- 
wirken  miiBte.  So  ist  es  viel  wahrscheinlicher,  daB  das  Zen- 
trum sich  eher  dazu  verstehen  wird,  die  in  PreuBen  zu  schaf- 
fende  Konstruktion  auf  das  Reich  zu  ubertragen,  dessen  gegen- 
wartige  Regierung  ja  nicht  nur  im  Innen-  und  AuBenressort 
Provisorien  aufweist,  sondern  auch  einige  Minister  mit  sich 
schleppt,  deren  Parteigrundlage  durch  die  PreuBenwahLen  vollig 
fiktiv  geworden  ist.  Wen  vertritt  zum  Beispiel  der  Trevira- 
nissimus  der  Volkskonservativen?  Was  Herr  Dietrich  aus  Baden 
auBer  s einem  Defizit?  Wen  oder  was  Herr  Martin  Schiele,  ex- 
mittiert  ibei  Hugenberg,  verzankt  mit  seinen  Griinen? 

Die  alte  Weimarer  Koalition  besteht  nicht  mehr.  Das  Zen- 
trum ist  im  Abmarsch  be<griffen,  die  burgerlichen  Zwischen- 
stufen  sind  dahin.  Die  Sozialdlemokratie  ist  auBen  ahgeschabt, 
jedoch  im  Kern'  intakt,  Sie  hat  verloreni  aber  sich  noch  immer 
mit  Bravour  geschlageiu.  Auch  die  Kommunisten  briiten  iiber 
einer  Verlustliste,  Auch  sie  sind  im  Kern  umversehrt,  aber  ihre 
AuBenposten  kleinburgerlich  randaiierender  Mitlaufer  sind  zu 
Hitler  iibergelaufen, 

Trotzdlem  sind  die  Kommunisten  das  geworden,  wovon  der 
alte  Liberalismus  und  seine  durch  eine  erfolglose  Nacht  mit  dem 
Jungdo  kompromittierte  Witwe,  die  Staatspartei,  lebelang  ge- 
traumt  haben:  der  Dritte,  auf  den  es  ankommt.  Die  parlamenta- 
rische  Zukunf  t  PreuBens  hangt  von  den  Kommunisten  db.  Unter 
diesen  Umstanden  haben  einige  Blatter  plotzlich  ihrHerz  fur  die 
KPD  entdeckt  undj  ihr  ebenso  freundlich  wie  naiv  zugeredet. 
Das  heiBt  eine  richtige  Sache  verkehrt  anpacken,  Es  gent  nicht 
an,  die  Kommunisten  Jetzt  plotzlich  als  ein  voriibergehend  ab- 
handen  gekommenes  Anhangsel  der  Koalition  von  Weimar  ;be- 
hanideln  zu  wollen,  nachdem  man  jahrelang  in  ihnen  nicht  mehr 
geseheri  hat  als  eine  Kolonie  fiir  Galgen  und  Rad,  gut  genug, 
vom  Vierten  Strafsenat  ihrer  natiirlichen  Bestimmung  zugefiihrt 
zu  werden,  Selbst  wenn  die  Kommunisten  voriibergehendl  zu 
einer  parlaimentarischen  Nothelferschaft  gewonnen  werden  soil- 
ten,  so  miiBte  auch  das  von  tielgreifenidster  Wirkung  auf  die 
gesamte  Arbeiterbewegung  werden.  So  tragisch  die  heutige 
Situation  ist,  so  birgt  sie  doch  ein  Glucksgeschenk:  wieder 
stehen  die  beiden  groBen  sozialistischen  Parteien  allein  da.  Die 
Kommunisten  hab^n  ebenso  wie  die  Sozialdemokraten  in  drei 
enttauschungsreichen  Wahlnachten  viele  Illusionen  entschwin- 
den  sehen. 
650 


Am  Tage  nach  der  Wahl  erliefl  die  KPD  gemeinsam  mit 
der  RGO.  einen  Auiruf,  in  dem  es  heiBt: 

Wir  sind  bereit,  mit  jedcr  Organisation,  in  der  Arbeiter  vereinigt 
sind,  und  die  wirklich  den  Kampf  gegen  Lohn-  und  Unterstiitzungs- 
abbau  ftihren  will,  gemeinsam  zu  kampfen!  Wir  Kommunisten  schlagen 
euch  vor:  Sofort  in  jedem  Betrieb  und  in,  jedem  Schacht,  auf  alien 
Stempelstellen  und  Arbeitsnachweisen,  in  alien  Gewerkschaften  Mas- 
senversammlungen  der  Arbeiter  einzuberufen,  die  drohende  Lage  zu 
uberprufen,  die  gemeinsamen  Forderungen  aufzustellen,  Kampfaus- 
schiisse  und  Streikleitungen  der  kommunistischen,  sozialdemokra- 
tischen,,  christlichen  und  parteiloscn  Arbeiter  zu  wahlen  und  ent- 
schlossen  den  Massenkampf  und  den  Streik  gegen  jedem  Lohn-  und 
Unterstiitzungsabbau  vorzubereiten  und  durchzufiihren. 
Zugleich  versicherten  die  kommunistischen  Blatter  feierlich,  die 
Partei  denke  nicht  daran,  PreuBen  an  das  Hakenkreuz  auszu- 
liefern.  Und  der  ,Vorwarts*  antwortete  darauf  gedampfter  als 
sonst  und  verlangte  nur  Garantien  gegen  kommunistische  Par- 
teigeschafte  unter  def  Etikette  ^Einheitsfront".  Niemals  war 
die  Gelegenheit  zu  einer  Annaherung  der  beiden  groBeni  sozia- 
listischen  Parteien  gunstiiger,  niemals  aber  audi  sprach  die  Not- 
wemdigkeit  diktatorischer. 

Die  erforderliche  Aussprache  darf  nicht  durch  allzu  weit- 
gesteckte  Ziele  verwirrt  werden.  Die  Rote  Einheitsfront  ist 
ein  pathetisches  Sehnsuchtswort,  das  auf1  beiden  Seiten  schon 
viel  Parteiegoismus  verdeckt  hat,  viel  Versuche,  in  den  Hiirden 
des  Anidern  zu  wildern.  Wo  zwei  Arbeiter  sich  treffen,  mag 
es  seine  Wirkungi  haben,  zwei  Funktionare  jedoch  macht  es 
noch  argwohnischer  als  sie  schon  sind.  Lassen  wir  es  heute 
beiseite,  denn  nicht  tun  die  Verschmelzung  beider  Parteien,  han- 
delt  es  sich  sondern  urn  ein  operatives  Zusammengehen  zur 
Verteidigung  der  Arbeiterklasse. 

Eines  allerdings  muB  vorweg  von  beiden  anerkanmt  werden: 
Reformismus  und  Radikalismus  sind  zwei  naturliche,  legale 
Zweige  der  Adbeiterbewegung.  Der  eine  ragt  in  die  Zukunft, 
der  andre  bedeutet  die  Gegenwart.  Beider  Funktionen  sind  le- 
benswichtig.  Und  beide  laufen  heute  unmittelbar  Gefahr,  Ge- 
genwart und  Zukunft  zu  verlieren  und  historische  Kategorien  zu 
werden.  Denn  in  dieser  Epoche,  das  muB  mit  aller  Scharfe  ge- 
sagti  werden,  liegt  die  Initiative  nicht  mehr  bei  der  Arbeiter- 
bewegung,  weder  bei  ihrem  reformistischen  noch  bei  ihrem  re- 
volutionaren'  Fliigel.  Die  Sozialdemokratie  ist  mit  ihrem  oppor- 
tunistischen  Kniffen  ebenso  mit  ihrem  La t ein  zu  Ende  wie  die 
KPD  mit  ihrem  Treiben  in  die  Welt  re  volution.  Primgeiger  ist 
der  Fascismus.  Die  revolutionare  Garung  in  Deutschland  riihrt 
nicht  von  einer  um  Aufstieg  kampfenden  Arbeiterschaft  her 
sondern  von  einem  Burgertum,  das  sich  gegen  sein  Versinken 
krampfhaft  zur  Wehr  setzt.  Mitten  im  failenden  Kapitalismus 
befindet  sich  die  Arbeiterschaft  in  der  Defensive.  Das  ist  die 
groBte  Oberraschung  dieser  Phase,  und  das  ailein  muB  die  Hal- 
tung  und  die  Wahl  der  Mittel  bestimmen. 

Es  wird  nicht  leicht  seint  die  Sozialisten  aller  Richtungen 
auch  nur  diskutierend  zusammenzubringen,  Sie  habeni  sich  viel 
angetan,  und'  ein  Generalpardon  ist  notwendig.  Bei  alien  Be- 
teiligten  ist  die  Feindschaft  traditionell  geworden,  gleiclisam 
Ehrensache.    Alles  ist  in  umfangreichen,  archivartig  verschach- 

651 


telten  Gedachtnissen  mit  schrecklicher  Genauigkeit  aufbe- 
wahrt.  Alle  Auseinandersetzungen  im  Sozialismus  Ieiden  untcr 
dies  en  f  uxchterlich  geschulten  Gedachtnissen*  Jede  Irrung  des 
Amdern,  mag  sie  jahrealt  sein,  ist  mit  gluhender  Nadel  in  Hun- 
derttausenden  von  Hirnrinden  eingeritzt  undl  brennt  dort  wel- 
ter.   Mauern  von  Papier  tiirmen  sich  zwischen  Gutgewillten, 

Es  kommt  nicht  mehr  diarauf  an,  Recht  zu  behalten  son- 
dern  samtliche  Teile  der  sozialistisch  organisierten  Arbeiter- 
schaft  vo.r  d'er  Vernichtung  zu  retten.  Wollen  wir  antiquierte 
Schlachten  weiterfuhren,  wo  der  Raum,  in  dem  wir  leben,  immer 
enger  wird?  Wo  wir  immer  mehr  zusammengepreBt  atmen 
miissen,  wo  riesenhohe  Wandet  von  unsichtbarem  Mechanismus 
bewegt,  immer  naher  riicken?  Es  geht  nicht1  mehr  urn  Pro- 
gramme und!  Doktrine,  nicht  mehr  um  „Endziele"  und 
..Etappen'V  sondern  um  den  technischen  Fundus  der  Arbeiter- 
schaft,  ihre  Presse  und  Gewerkschaftshauser,  und  schlieBlich 
um  ihr  lebendes  Fleisch  und  Blut,  das  hoffen  und  vertrauen  und 
kampfen  will 

Ich  frage  euch,  Sozialdemokraten  und  Kommunisten:  — 
werdet  ihr  moreen  iiberhaupt  noch  Gelegenheit  zur  Aussprache 
haben?   Wird1  man  euch  das  morgen  noch  erlauben? 

Was  sich  zwischen  euch  aufgebaut  hat,  ich  ignoriere  es 
nicht.  Ich  kenne  es  besser  als  irgend  ein  Andrer,  Denn  ich 
habe  in  diesen  Jahren  von  beiden  Seiten  Schlage  erhaltenv 

Wenn  eure  Parteieni  sich  nicht  zu  dem  allein  dem  Augen- 
blick  entsprechenden  rettenden  Schritt  entschlieBen  konnen, 
wenn.  Vergangenheit  noch  einmal  die  diirrem  Hande  reckt,  um 
die  Gegenwart  zu  wurgen,  diann  muB  es  gute  Mittler  gefcexi, 
Parteilose,  liber  jeden  Zweiiel  erhaben,  im  Trtiben  fischen 
zu  wollen,  nichts  fur  sich  wtinschendl,  fiir  den  Sozialismus  alles. 
Sie  miissen  das  erste  Zusammentreffen  in  die  Wege  Leiten. 

In  diesen  Tag  en  steht  das  Schicksal  aller  deutschen  Sozia- 
listen  und  Kommunisten  zur  Entscheidung.  Wenn  man  ihre 
Zeitungen  sieht,  spurt  man  davon  nicht  vieL  Der  alte  Krieg 
geht  weiter.  U[nd  d'ennoch  sind  Worte  gesagt  worden,  die  nicht 
leichi  verhallen  konnen,  und  dennoch  steht  irgendwo  ein  run- 
der  Tisch  und  wartet. 

Die  Zahlen  vom  24.  April  von  k.  l  Gerstorff 

VV7enn  wir  das  Er$ebnis  der  PreuBenwahlen  mit  den  Re  ich  s- 
tagswahlen  von  1930  vergieichen,  so  erhielten: 

bei  den  bei  den  v     i     ♦ 

PreuBcnwahlen:  ReichsUg*wahl.:  „  „    '' 

Mill.  Mill.  MllL 

Deutschnationale 

Deutsche  Volksparfcei 

Wirtschaftspartei 

Landvolkpartei 

Deutsche  Staatspartei 

Chr.-Soz.  Volksdienst 

Volksrechtspartei 

Die    Stimmen  der   Nationalsozialisten  erhohten  sich   um   mehr 

als  4  Millionen.     Sie  betrugen  reichlich  8  Millionen  gegeniiber 

652 


1,525 

1,969 

0,444 

0,331 

1,004 

0,673 

0,191 

0,803 

0,612 

0,177 

0,579 

0,402 

0,332 

0,682 

0,350 

0,255 

0,509 

0,254 

0,044 

0,118 

0,074 

3  983  000  bei  den  Reichstagswahlen.  Das  Zentrum  gewann 
reichlich  200000  Stimmen.  Dagegen  hatten  die  Arbeiterpar- 
teien betrachtliche  Verluste: 

bei  den  bet  den 

Preuflenwahlen :  ReichstagswahL 

Mill.  Mill. 

Sozialdemokraten  4,675  4,989 

Kommunisten  2,820  3,114 

SAP.  0,080  — 

Die  Zahlen  lehren,  daB  die  NSDAP  nicht  nur  samtlichie 
Verluste  der  biirgerlicfoen  Parteien  aufgeholt  hat  und  dazu  die 
Verluste  der  Arbeiterparteien,  sondern  daB  ihr  dariiber  hkiaus 
auch  die  Stimmen  aller  Neuwahler  zugute  gekommen  sind.  Wer 
geglaubt  hat,  daB  die  Naziwelle  zum  Stehen  gekommen  sei, 
hat  sich  getauscht.  Gegeniiber  dem  ersten  Prasidentschafts- 
wahlgang  hat  die  Partei  ihre  Stimmienzahl  rum  mehr  als  eine 
halbe  Million  vergroBern  konnen. 

Und  ein  andrer  Vorgang  ist  noch  wichtiger.  Der  Vor- 
marsch  der  Nationalsozialisten  hatte  bisher  im  wesentlichen 
die  alten  biirgerlichen  Parteien  zertriimmert.  Dieser  ProzeB 
nat  sich  bei  den  PreuBenwahlen!  zwar  weiter  fortgesetzt;  die 
Zahlen  zeigen,  daB  die  kleinen  Parteien  fast  drei  Millionen  ver- 
loren  haben,  die  zum  uberwiegendem  Teil  zu  den,  Nazis,  ge- 
stoBen  sind.  Aber  bei  den  PreuBenwahlen  ist  ihnen  zum 
•erstenmal  ein  groBer  Einbruch  in  die  Arbeiterfront  gegliickt. 
Dabei  muB  mit  aller  Eindringlichkeit  betont  werden,  daB 
dieser  Einbruch  groBer  ist  als  die  Verlustsummen  der 
Sozialdemokratie  und  der  Kommunistischen  Partei  zeigen. 
Wenn  man  ihnen  die  Stimmen  der  Sozialistischen  Arbeiter- 
Partei  zurechnet,  so  haben  Sozialdemokraten  und  Kommunisten 
circa  550  000  Stimmen  verloren,  Dariiber  muB  man  sich  jedoch 
klar  sein:  es  sind  mehr  als  550  000  bisheriger  sozialdemokrati- 
scher  und  kommunistischer  Wahler,  die  diesmal  das  Haken- 
kreuz  bevorzugt.  haben.  Denn  die  350  000  Wahler,  die  etwa 
die  Deutsche  Staatspartei  verloren  hat,  haben  in  der  iiberwie- 
genden  Majoritat  sicherlich  nicht  nationalsozialistisch  gewahlt, 
sondern  ein  groBer  Teil  wahlte  Braun — Severing.  Und  sicher 
ist,  dafi  auch  von  den  Arbeiter-Jungwahlern  ein  Teil  sozial- 
demokratisch  und  kommunistisch  gewahlt  hat.  Berucksichtigt 
man  all  diese  Momente,  so  werden  insgesamt  etwa  eine  Mil- 
lion Arbeiter,  die  bisher  soziaidemokratisch  und  kommuni- 
stisch gewahlt  haben,  zu  den  Nazis  gegangen  sein.  Das  heiBt: 
die  alten  Arbeiterparteien  haben  gegeniiber  den  Reichstags- 
wahlen mehr  als  zehn  Prozent  ihrer  Wahler  abgeben  miissen. 

Vergleichen  wir  das  Stimmenverhaltnis  der  Arbeiterpar- 
teien und  der  Nazis  in  den  letzten  Jahren,  so  ergibt  sich  fol- 
gendes:  1928  zahlten  KPD  und  SPD  40,9  Prozent  —  die  Nazis 
2,9  Prozent.  Im  September  1930  die  Arbeiterparteien  38,5  Pro- 
zent, die  Nazis  bereits  18,4  Prozent.  Heute  die  Arbeiterpar- 
teien 35,4  Prozent  und  die  braune  Armee  36,9  Prozent. 

Dieser  Einbruch  der  Fascisten  in  die  Arbeiterfront  ist 
eines  der  wichtigsten  Ergebnisse  der  PreuBenwahlen.  Er  si- 
grtalisiert  mit  aller  Deutlichkeit  die  Gefahren,  die  sich  einer- 

2  653 


seits  aus  der  Tolerierungspolitik  der  SPD,  andrerseits  aus  der 
ultralinken  Taktik  der  KPD  ergeben. 

* 

Die  Verluste  der  Sozialdemokratie  sind  geringer  gewesen 
als  vielfach  angenommen  wurde.  Wenn  die  Wahlen  Ende  des 
vergangenen  Jahres  oder  Anfang  1932  zur  Zeit  der  Vierten 
Notverordnung  stattgefunden  hatten,  dann  waren  die  Verluste 
der  Sozialdemokratie  an  die  Kommunisten  fraglos  viel  groBer 
gewesen.  Es  war  nicht  zu  verkeniien,  daB  die  Sozialdemo- 
kraten  gegeniiber  dem  Tiefstand  vom  Ende  des  vergangenen 
Jahres  zuletzt  einen  gewissen  Auftrieb  erhalten  hatten,  so- 
wohl  durch  die  Eiserne  Front  als  auch  durch  das  Verbot  der 
SA.  Es  ist  sehr  bemerkenswert,  an  welchen  Stellen  die  So- 
zialdemokraten  einen  Zuwachs  erhalten  haben.  Sie  haben  in 
Berlin  circa  60000  Stimmen  gewonnen  und  in  OstpreuBen  fast 
30  000. 

Es  ist  demgegenuber  wichtig,  nicht  nur  festzustellen,  daB 
die  Kommunisten  entgegen  ihren  Erwartungen  prozentual  mehr 
verloren  haben  als  die  Sozialdemokraten,  sondern  daB  sie  grad'e 
in  den  Industriezentren  verloren  haben-  In  Berlin  sind  die 
kommunistischen  Stimmen  urn  fast  90  000  zuriickgegangen.  In 
Hamburg,  wo  der  Fiihrer  der  Kommunistischen  Partei,  Ernst 
Thaimann,  seinen  Wahlkreis  hat,  verloren  sie  fast  50  000  Stim- 
men. Ebenso  haben  sie  schwere  Stimmenverluste  in  Rhein- 
land-Westf alen,  im  ganzen  Ruhrgebiet,  das  heiBt  in  ihren  Hoch- 
burgen,  erlitten.  Am  besten  behauptet  haben  sich  die  Kommu- 
nisten in  den  Kreisenf  in  denen  ihre  Stimmenzahl  bisher  nicht ' 
sehr  hoch  war,  wie  Hannover- Slid,  Koblenz-Trier  —  in  Kreisen 
also,  wo  sich  ihre  Taktik  der  Gewerkschaftsspaltung  am  wenig- 
sten  auswirken  konnte.  Am  13.  Marz  hatte  Thaimann  einen  klei- 
nen  Zuwachs  gegeniiber  den  Stimmenzahlen  der  KPD  von  1930. 
Da  die  Wahlbeteiligung  damals  hoher  lag,  so  waren  prozentual 
die  Stimmen  fur  Thaimann  ebenso  grofl  wie  die  Stimmenzah- 
len der  Kommunisten  im  September  1930.  Es  ist  damals  viel- 
fach behaitptet  wordenf  daB  die  Thalmannstimmen  darum  so 
gering  gewesen  seien,  weil  es  sich  um  eine  aussichtslose  Zahl- 
kandidatur  gehandelt  habe.  Das  Ergebnis  der  PreuBenwahlen 
zeigt,  daB  diese  Annahme  irrig  gewesen  ist.  Es  haben  im  Ge- 
genteil  damals  Hund'erttausende  aus  Protest  gegen  die  von  der 
SPD  unterstiitzte  Kandidatur  Hindenburg  fiir  Thaimann  ge- 
stimmt.  Und  es  zeigte  sich  bei  den  PreuBenwahlen,  daB  die 
KPD  nicht  einmal  den  Prozentsatz  der  Wahlen  von  1930,  nicht 
einmal  die  absoluten  Zahlen,  die  sie  bei  diesen  Wahlen  erreicht 
hatte,  halten  konnte. 

Es  ist  selbstverstandlich,  daB  die  weitere  Frage  der  poli- 
tischen  EntwickLung,  der  Regierungsbildung  in  PreuBen  in  ent- 
scheidendem  Zusammenhang  mit  der  Entwicklung  der  Reichs- 
politik  stehen  wird.  Die  Nationalsozialisten  haben  bereits  den 
Antra g  eingebracht,  den  Reichstag  aufzulosen  und  Neuwahlen 
auszuschreiben.  Es  ist  daher  nicht  uninteressant,  einmal  fest- 
zustellen, wie  unter  Zugrundelegung  der  Wahlziffern  vom 
24.  April  der  Deutsche  Reichstag  zusammengesetzt  sein  wiirde. 
Die  Telegraphen-Union  hat  daruber  eine  Berechnung  aufge- 
654 


steiit,  die   nattirlich   nur  einen  relativen  Wert  hat,   da  ja  am 
24  April  nur  in  fun!  Sechsteln  Deutschlands  gewahlt  wurde: 

ietzieer  neuftewSblter 

jeuiger  Reichat  *: 

Sozial  demokr  aten                                                   1 36  129 

Zentrum                                                                    68  70 

Bayrische  Volkspartei                                             19  21 

Staatspartei                                                               14  11 

Wirtschaftspartei                                                       21  6 

Bauernpartei                                                                6  — 

Volksnationale                                                             6  — 

Christlichsoziale                                                            21  8 

Deutschhannoveraner                                                 3  1 


Briining-Mehrheit   zusammen: 

Landvolk 

Deutsche    Volkspartei 

Deutschnationale 

Nationalsozialisten 

294 
18 
30 
44 

110 

246 

7 

8 

34 

212 

Rechtsopposition  zusammen: 

Kommunisten 
SAP, 

202 

77 

7 

261 
70 

Linksopposition  zusammen:  84  70 

Bei  einer  Neuwahl  des  Reichstages  wiirde  Briining  zwar 
seine  Mehrheit  verlieren.  Die  Rechtsopposition,  eingeschlossen 
die  Deutsche  Volkspartei  und  das  Landvolk,  wiirde  aber  eben- 
so  wenig  eine  Mehrheit  haben  wie  in  PreuBen.  Im  Gegenteil, 
ihr  Vorsprung  gegeniiber  den  Bruning-Parteien  wiirde  geringer 
sein  als  in  PreuBen, 

Bei  den  pari  amen  tar  ischen  Entscheidungen  wtirden  dann 
die  Kommunisten  eine  nicht  unwesentliche  Rolle  spielen,  wie 
auch  bei  den  nachsten  parlamentarischen  Entscheidungen  in 
PreuBen  die  taktische  Haltung  der  KPD  von  Bedeutung  sein 
wird, 

DaS  WahlreSUltat  von  Walter  Mehring 

Deutsche! 
Es  geht  urn  das  Schicksall    Wahlt! 
Jeder  ist  Stimme  —  und   jedermann  zahlt! 
Brecht  die  Ketten  —  schmiedet  das  Band! 
19  Parteien 

19  Programme   schreien: 
Wir  retten  das  Vaterland! 
Vater  und   Sohn 

Greise,  Kinder,  Mutter,  60  Millionen 

Das  Land  _ 

Bienen  und  Drohnen  —  "~ 

„Wir  geben  Ihnen  anschliefiend  die  Wahlresultate  bekannt!" 
36  Millionen  lauern  gespannt: 
Das  Resultat! 
Bauern  am  Pflug  — 
Saat,  die  keimte  und  Erde,  die  trug  — 
Kumpel  im  Schacht  und  Piloten  im  Flug  — 
Denker  und  Dichter 
Greise  und  Kinder 
Und  Schinder  und  Richter     ^ 
Menschen-gewimmel 
Und  Menschen   privat 
Monopole  und  Macht  655 


Kunst  und  Kohle   und)  , 

Giftgas! 

Menschen,   wahlt  I 

Jede  Stimme  zahlt! 

Und  iiber  alien  Stiramen  ein  Himmel 

Ober  alien  der  Staat  — 

Wer   ist   das? 

«,Wir  geben  Ihnen  jetzt"  das  Wahlresultat: 

8   Millionen  8tausend    zwohundertneunzehn 

Nationalsozialistische    Arbeiterpartei!" 

Miiller!   Pg.! 

Da  bin  ich  dabeil 

Schicksal  ist  jiidischer  Dreh! 

Schicksal  ist  Masse  — ■  und  der  tagliche  Frafl! 

Ich   stehe  alleinl 

1tEin  rheinisches  Madchen 

Beim  rheinischen  Wein , . ." 

Neinl . 

Kein  Aas   fragt   nach   mir! 

Aber  wir   sind  die   Partei 

Und   wir   sind   die   Rasse 

Und  wir  sind  der  Staat! 

„Wir  geben  Ihnen  anschlieOend  das  Wahlresultat: 

4  Millionen  674  943 

Sozialdemokratische   Partei!" 

Miiller!   Schlosser!  Ich  bin  dabei 

Seit  zwanzig  Jahren  — 

In  alien  Zellen  — 

Wir»  waren 

Die  vaterlandslosen  Gesellen  — 

Wir   standen   parat 

Diesen  Staat  einmal  umzukrempeln  — 

Zwanzig  Jahre  geschindet  — 

Zwanzig   Jahr   unter   preuBischem  Sabelf 

Ich.  horte  noch   Bebel   re  den 

Vom  Morgenrot: 

Brot  und  Arbeit  fur  jeden! 

Jetzt  bin  ich  erblindet  — 

Jetzt  geh  ich   stempeln. 

Ach,  bitte,  mein  Herr!    Wo  ist  das  gelobte  Land? 

„Wir    geben   Ihnen   anschliefiend   die   Wahlresultate   bekannt: 

2  Millionen  869  602 

Kommunisten!" 

Miiller!   Rotfrontf   Ich  bin  dabei! 

Neger!   Chinesen  und  Christen! 

Traktoren  sind  Schicksal  —  Glaube  ist  Wahn! 

Schicksal  ist 

Ftinfjahresplan! 

♦,Ein   rheinisches   Madchen 

Beim   rheinischen  Wein .  -  /' 

Neinl 

Es  wird  nicht  urn  einen  gehn! 

Gefiihle  sind  kapitalistischer  Dreh! 

Wer   henkt  wen? 

Fiir  uns  denkt 

Das  Zentralkomiiee! 

nWir  geben  Ihnen  anschliefiend  die  Zahlen  der  andern  Partein; 

Deutschnationale:   Eine  Million  500  000!" 

Miiller!  Hauptmann  a.  D, 

Bureau- 

Vorstand  in  Firma  Miiller  und  Co. 

656 


Eintritt  verbotenl 

Stramm  national 

Bis   auf   die   Knochen! 

Gedenket  der  Toten! 

Uns  haben  die  Feinde  das  Riickgrat  gebrochen! 

Nieder   die  Roten  —  und  rettet  das  Kapitall 

„Ein  rheinisches  Madchen 

Beim  rheinischen  Wein, 

Das  muB   doch  der  Himmel . ,  »'\ 

»Wir  geben  Ihnen  anschlieBend  die  andern  Partein: 

Zentrum;    3   Millionen  374tausend!" 

Brausend  in  Prozessionen! 

Glaube! 

Es  wird  sich  im  Himmel  lohnen! 

„332  Tausend! 

121  Tausend!*' 

Hausend   in   Stadten 

In  Lauben  und  Zillen 

In  Spitalern  —  in  Villen 

Stimmen,  die  beten  — *  und  Stimmen,  die  brtillen  — 

Stimmen  von  Sterbenden  —  Stimmen  von  Wahlern  — 

Vier  Jahre  Krieg 

Vier  Jahre  Blut 

Muller:  ein  Mensch,  der  sich  qualt — 

Und  Miiller:   ein  Katholik  — 

Mullen   ein  dreckiger  Judi  — 

Muller:  ein  krummer/Hund  — 

yon  Muller  —  General 

Muller,   Armierungssoldat! 

Deutsche!  Wahlt! 

Jede   Stimme   zahltl  ' 

Schicksal   ist   Zahll 

Und 

Was  ist  der  Staat? 

Ein  Wahlresultat! 

Die  Saar  von  Johannes  Bflckler 

II 

r^ic  Auseinandersetzung  zwischen  Deutschland  und  Frank- 
reich  wird  an  der  Saar  nicht  mit  groben  Waffengefuhrt  son- 
dern  mit  den  Mitteln  einer  sehr  gcdiegcnen  Propaganda,  Beide 
Machte  prasentieren  sich  der  Saarbevolkerung  als  zwei  Fir- 
men,  die  iiir  sich  Reklame  machen.  Dadurch  ist  ein  sehr  merk- 
wiirdiger  Zustand  entstanden,  der  fur  die  wilden  nationatfsti- 
schen  Epiker  der  Grenzkampfe  keinen  Stoff  liefert.  Arnolt 
Bronnen  wiirde  ohne  Inspiration  davonziehen,  und  auch  Herr 
Nitram,  der  romandichtende  Reichswehroffizier,  wiirde  keine 
,,blutende  Grenze"  vorfinden.  Dafiir  kame  aber  vielleicht  ein 
Komodiendichter  auf. seine  Kosten. 

Die  Franzosen  als  Gebieter  der  Gruben  konnen  natur- 
gemafl  auf  die  Arbeiter  und  Angestellten  einen  gewissen  Druck 
ausuben,  ihre  Kinder  in  die  franzosischen  Schulen  zu  schicken, 
Es  sind  eine  Reihe  sogenannter  Domanialschulen  errichtet  wor- 
sen, zu  deren  Gebrauch  diejenigen  angehalten  werden,  die  auf 
dem  Grubengelande  ihr  Hauschen  haben,  Diese  Schulen  sind 
ganz  und  gar  franzosisch  organisiert.  Franzosisch  als  Fach 
stent  mit  siebera  bis  acht  Wochenstunden  an  der  Spitze!  aller 

657 


andern  Lehrgebiete,  was  gewiB  kcin  groBes  Ungliick  ware,  abcr 
sonst  '  enthalt  der  Untcrrichtsplan  weniger  erfreuliche  Ele- 
ment e.  Am  st  arks  ten  waren  die  Doma/nialschulen  im  Jahre 
1925  besucht,  damals  wiesen  sie  fast  fiinftausend  deutsche 
Kinder  auf.  Inzwischen  ist  die  Benutzung  stark  zuriickgegaa- 
gen,  weil  der  propagandistische  Zweck  immer  weniger  verbor- 
gen  wurde.  AUes  hat  sich  nach  kurzer  Zcit  und  ohne  Rei- 
buttgen  wieder  selbst  reguliert.  Das  konnte  fiir  die  Nationa- 
listen,  die  solche  Dinge  immer  so  aufgeregt  wie  moglich  zu 
nehmen  pflegen,  eine  erasthafte  Lehre  sein. 

Natiirlich  befinden  sich  unter  den  Einwanden,  die  von 
deutscher  Seite  gegen  die  Domanialschulen  erhoben  wurden* 
auch  einige,  die  etwas  zweifelhafter  Natur  sind.  So  hat  besoa- 
ders  der  katholische  Klerus  dagegen  gewettert,  und  zwar  aus 
dem  Grunde,  weil  es  zunachst  gar  keinen  Religionsunterricht 
gab.  Der  Bischof  von  Trier  als  nachst  zustandiger  Seelenhirt 
erlieB  Hirtenbriefe  gegen  ein  so  gbttloses  Unternehmen  and 
warnte  vor  dem  Besuch.  Als  die  Franzosen  sahen,  daB  diese 
Warmingen  Erfolge  hatten,  wurden  sie  weich  und  raumten  dem 
lieben  Gott  den  erforderlichen  Platz  im  Stundenplan  ein-  Aber 
die  Zeit,  wo  diese  Schulen  Antziehungskraft  hatten,  war  schon 
vortiber.  Die  Bevolkerung  mied  sie,  und  zwar  nicht  aus  natio- 
nalen  Grtinden,  sondern  aus  dem  richtigen  Ins  tin  kt  heraus,  daB 
ihr  hier  etwas  oktroyiert  werden  sollte,    was    sie  nicht  wunschte. 

In  Einzelfallen  fuhrt  das  Duel!  zwischen  deutscher  und 
franzosischer  Schulpolitik  zu  hochst  merkwiirdigen  Konsequen- 
zen.  Ein  Fall  von  vielen  soil  hier  nur  herausgegriffen  werdea, 
Einem  Bergarbeiter,  der  sein  Hauschen  aui  dem  Gebiet  der 
Domanialgruben  hat,  ist  zum  Beispiel  angedroht  worde^  er 
wiirde  seine  Wohnung  verlieren,  wenn  er  sein  Kind  nicht  in 
die  franzosische  Schule  schicke,  Nach  reiflicher  Oberlegung 
ist  der  Ungluckliche  dann  zu  einem  wahrhaft  salomonischen 
EntschluB  gekommen;  er  schickt  den  Jung  en  jetzt  in  beide 
Schulen;  morgens  bringt  der  Vater  ihn  in  die  franzosische, 
wahrend  ihn  die  Mutter  nachmittags  in  die  deutsche  Schule 
expediert.  Auf  diese  Weise  ist  der  Form  Geniige  gescheheti, 
und  es  bleibt  nur  das  arme  Kind  zu  bedauern,  das  den  ganzea 
Tag  niemals  recht  aus  der  Schulstube  kommt.  Aber  trotz  alle- 
dem  mochte  nuan  doch  fragen,  ob  es  wirklich  so  schrecklichist, 
daB  hier  Kinder  in  zwei  ^ulturen  und  zwei  Sprachen  aufgezo- 
gen  werden-  Erst  die  Zukunft  wird  iiber  die  Wirkung  aus- 
sagen,  Aber  man  kann  trotz  dem  gerne  glauben,  daB  auf  die- 
sem  Umweg  mehr  nutzliche  Saat  ausgestreut  wird,  als  in  ein- 
deutig  nationalen  Unterrichtsanstalten,  die  als  besondere  Zu- 
gabe  neben  ABC  und  Rechnen  noch  eine  gute  Portion  Volker- 
verhetzung   und   chauvinistische  Verbohrtheit  mitliefern. 

Die  eigentliche  Propagandaschlacht  wird  aber  mit  den  Mit- 
teln  der  Kunst  geschlagen.  Der  Film  spiel t  dabei  eine  uber- 
ragende  Rolle.  Oberall  in  den  Grenzorten  hat  Pathe  seinen 
Einzug  gehalten.  Er  wirkte  verlockend  durch  seine  billigen 
Preise.  Dann  aber  kam  der  Tonfilm,  und  da  die  arbeitehde 
Bevolkerung  gar  kein  Franzosisch  versteht,  so  blieben  die  Hau- 
ser  leer,  und  Pathe  ist  wieder  seltener  geworden,  Statt  dessen 
erschien  aber  der  deutsche  Film,  und  man  muB  den  Leitern 
658 


der  deutschen  Propaganda  gern  zugeben,  daft  sie  fur  eine  be- 
sonders  gute  Qualitat  sorgten, 

Keine  geringere  Bedeutung  als  der  Film  hat  die  Musik. 
Saarbriicken  verfiigt  schon  lange  iiber  ein  ausgezeichnetes 
philharmonisches  Orchester,  das  seit  vielen  Jahren  von  boch- 
rangigen  Dirigcnten  gefuhrt  wird;  seit  zehn  Jahren  leitet  es 
der  auch  im  Reiche  wohUbekannte  Generalmusikdirektor  Le- 
derer.  Auf  diese  Weise  ist  die  Grundlage  zu  einer  beacht- 
lichen  musikaliscben  Kultur  geschaffen  worden,  unid  es  ist  im 
beaten-  Sinne  charakteristisch,  wenn  jetzt  Furtwangler  aut  sei- 
ner Durchreise  nach  Paris  an  der  Saar  haltmachen  kann,  um 
in  der  bundertprozentigen  Bergarbeiterstadt  Neunkirchen  zu 
konzertieren.  Im  Reiche  werden  die  stadtischen  Orchester  im- 
mer  mehr  eingeengt  und  abgebaut,  weil  selbst  bei  groBen 
Musikereignissen  die  Sale  oft  nicht  mehr  voll  zu  bekommen 
<sincL  An  der  Saar  konnte  man  Beetbovens  Neunte  siebenmal 
nacheinantder  vor  ausverkauften  Hausern  wiederholen,  ebenso 
Avertvolle  musikalische  Novitaten  mit  bestem  Erfolge  einfuhren. 

Natiirlicb  UeO  das  die  andre  Seite  nicht  rub  en,  und  Paris 
setzte  gegen  die  Philbarmoniker  von  Saarbriicken  ein  bedeu- 
tendes  f ranzosisches  Militarorchester  ein. .  Die  f  ranzosische 
Militarmusik  ist  nicht  im  Stil  des  traditionellen  Bumtrara  ge- 
h  alt  en  sondern  zum  groBen  Teil  sehr  gepflegt.  Das  Orchester 
der  Armeegruppe  Fayelle  mit  dem  namhaften  Kapellmeister 
Fourestier  veranstaltete  zahlreiche  Sympboniekonzerte,  die  den 
Kirns  tie  rn  gewiB  alle  Ehre  machten.  Trotzdem  ging  aber  die 
Bevolkerung  im  weiten  Bogen  um  diese  Veranstaltungen  her- 
um,  Sie  lieB  sich  von  den  Sirenenklangen  nicht  verlocken, 
obgleich'mit  Einladungen  und  Freikarten  nicht  gespart  wurde. 
Es  zeigt  sich  auch  bier  wieder,  was  die  Professionellen  des  Na- 
tionalismus  endlich  leraen  sollten:  man  kann  den  Menschen 
gegen  ihren  Willen  auch  nicht  die  angenehmen  Dinge  des  Le- 
bens  aufdrangeiL  Wo  ihr  Instinkt  sie  warnt,  da  lehnen  sie  in- 
nerlich.  ab,  sie  Meiben  stumm  undl  gehen  weiter.  Dicselben 
Erfahrungen  hat  Deutschland  in  der  Kaiserzeit  in  den  Ost- 
provinzen  gemacht,  wo  man  allerdings  nicht  in  dem  gleichen 
MaBe  freigebig  war  wie  die  Franzosen  im  Saarbecken,  Aber 
xiickblickend  darf  man  heute  sagen,  daB  die  deutsche  Scbul- 
politik  in  Posen  mit  vollem  MiBerfolg  abgeschlossen  hat,  Be- 
kanntlich  hat  man  seinerzeit  im  okkupierten  Belgien  versucht, 
den  Leuten  klar  zu  machen,  daB  sie  eigentlich  alle  Germanen 
seien  und  verweJscht  nur  durch  eine  rassenverraterische  Obrig-. 
keit  Man  bat  sie  mit  Kunst,  Literatur,  Musik  und  belehren- 
den  Vortragen  iiber  ihre  genmanische  Art  zudecken  wolien, 
Alles  dtas  ist  abgegiitten  wie  Wasser,  die  Veranstalter  biieben 
allein  und  belehrten  sich  gegenseitig.  Nicht  anders  geht  es  den 
Franzosen  an  der  Saar,  wo  sie  das  Fullhorn  ihrer  Kultur  iiber 
eine  Bevolkerung  ausschiitten,  die  davon  nichts  wissen  will. 
Die  Franzosen  locken  vergebens.  Die  Leute  von  der  Saar,  in 
ihrer  ganzen  Art  schwer  und  dumpf,  den  Westfalen  ahnlicher 
als  den  benaebbarten  Rheinlandern,  werden  davon  nicht  be- 
riihrt.  Die  Propaganda  wird  mit  ihren  feinern  Mitteln 
ebenso  wirkuhgslos  bleiben  wie  die  zunachst  grober  instrumen- 
tierte  Politik. 

659 


Freier  Funk!  Freier  Film!  von  ignaz  wroaei 

T^  er  Kamp!  gegeii  die  Zensur  *darf  nicht  aufhoren, 

Rudolf  Arnhcim  hat  hier  nculich  gefragt:  „Soll  dai  demo- 
kratische  Prinzip  publizistischer  Meinungsfreiheit  unbegrenzt 
gelten,  oder  muB  dem  Staat  das  Recht  gegeben  werden,  Feind- 
liches  und  Schadliches  zu  unterdruckeri?" 

Einem  Staat  kann  nur  dann  das  Recht  eingeraumt  wer- 
den,  Zensur  auszuuben,  wenn  er  uberhaupt  weiB,  was  er  wilL 
Das  heiflt:  eine  der  Voraussetzungen  fiir  eine  Zensur,  die  voa 
uns  zu  billigen  ware,  ist  die  eines  f  est  en,  beim  Zensierenden 
vorhandenen  Weltbildes.  Davon  kann  in  Deutschland  keine 
Rede  sein. 

Der  katholische  Staat  des  Mittelalters  konnte  in  religiosen 
Dingen  das  Recht  zur  Zensur  fiir  sich  verlangen;  denn  sein 
Weltbild  war  fest  konturiert.  £s  war  das  der  katholischen 
Kirche.  Die  hat  zwar  schon  zu  manchexn  ihren  Segen  gege- 
ben, denn  sie  ist  lieber  dabei,  als  daB  sie  verflucht  —  doch 
War  dam  als  das  katholische  Weltbild  wohlgefiigt;  Pfliehten  und 
Freiheiten,  Erlaubtes  und  Siindhaftes  standen  ziemlich  feat, 
und  der  Zensor  hatte,  was  kein  deutscher  Zensor  von  heute 
fiir  sich  in  Anspruch  nehmen  kann,  einen  ethischen  Original- 
Meter,  mit  dem  er  messen  konnte. 

Die  Russen  haben  ein  festes  Weltbild  statuiert;  sie  zensie- 
ren  also  nach  dem,  was  dort  proletarisches  Interesse  heiBtr 
und  das  ist  nach  den  marxistisch-leninistischen  Lehren  ziem- 
lich genau  feststellbar;  es  sollte  das  wenigstens  sein, 

Bei  den  Italienern  liegt  es  schon  schwieriger;  Fascismus 
ist   Selbtzweck. 

Was  in  Deutschland  getrieben  wird,  ist  eine  dreiste  An- 
thaBung  vermuffter  Burger kreise,  die  gern  das  Interesse  eines 
Beamtentums  mit  dem  Deutschlands  gleichstellen.  Davon  ist 
keirie  Rede, 

Deutschland  wackeit  riicht,  wenn  einer  die  Reicbswehr  an- 
greift.  Nicht  der  (,hergelaufene  Mongolenwenzel"  Hitler  ist 
Deutschland;  nicht  seine  Horden  allein  sind  es;  die  GroBgrund- 
besitzer  allein  sind1  es  nicht;  nicht  die  Militarbeamten  Groe- 
ners  allein  sind  es  —  keine  dieser  Gruppen  ist  es  allein.  Sie 
alie  zusammen  sind  Deutschland —  und  die  andern  sind  auch 
noch  da. 

Wie  verlogen  und  zutiefst  unehrlich  diese  Zensur  ist„ 
geht  vor  allem  daraus  hervor,  daB  sie  sich  niemals  in  demsel- 
ben  Umfang  an  das  gedruckte  Erzeugnis  wagt  wie  an  den  Film 
und  an  den  Rundfunk,  die  heute  so  gut  wie  wertlos  sind,  weil 
sie  nicht  frei  sind. 

DaB  in  rechtlicher  Beziehung  die  Verbreitung  durch  Rund- 
funk und  Film  keine  andre  ist  als  die  durch  die  Druckerpresse, 
steht  fest.  Es  ist  zum  Beispiel  nach  dem  Urheberrecht  straf- 
bar,  ein  noch  nicht  gedrucktes  Manuskript  gegen  und  ohne 
den  Willen  des  Verfassers  zu  verbreiten  —  der  Verbreiter  ware 
gleichermaBen  strafbar,  wenn  er  das  Manuskript  in  Satz  gabe 
und  als  Buch  verkaufte,  wenn  er  es  am  Rundfunk  vorlase 
oder  wenn  er  es  zu  einem  Film  verarbeitete.  Dariiber  herrscht 
kein  ZweifeL 
660 


Ganz  anders  aber  sieht  die  Saohe  aus,  wenn  zensiert  wird. 

Der  Rundfunk  ist  niemals  frei  gewesen.  Der  Film  kam 
untcr  Zensur,  als  er  die  Jahrmarkts-Sphare  verlassen  wollte  — 
die  Zensur  hat  ihn  wieder  hinuntergestoBen.  Die  alien 
Ideen  des  Obrigkeitsstaates  besagten;  Dem  Volke  mu6  die  Re- 
ligion erhaiten  bleiben.  Und  nicht  nur  die  Religion  —  auch 
sonst  jede  Illusion.  Zunachst  eininal  ist  alles  verboten.  Nach- 
her  erlauben  wir  manches.  Wahrend  es  genau  umgekehrt  zu 
sein  hat: 

Alles,  was  nicht  unmittelbar  gegen  berechtigte  offentliche 
Interessen  verstoBt,  sei  frei.    Nur  der  Rest  bleibe  verboten. 

Ja,  soil  man  denn,. .?  Man  soil.  Die  bestehenden  Straf- 
gesetze  aller  Kulturlander  geniigen  vollauf,  um  das  zu  verhin- 
dern,  was  auch  jeder  anstandige  Geistige  verhindert  haben 
iviU: 

Erregung  offentlichen  Argernisses;  Beschimpfung;  Beleidi- 
gung;  Verleumdung  . . .  kurz  alles,  was  man  eben  auf  diesem 
Wege  anrichten  kann.  Was  aber  keinesfalls  zu  dulden  ist,  das 
1st  die  freche  AnmaBung  kleinerer  Biirgerkreise,  ihre  zufallig 
vorhandenen  geistigen  Anschauungen  zum  MaB  aller  Dinge  zn 
machen.  Jeder  Minister  hat  das  Recht,  sich  iiber  Abtreibung, 
Homosexualitat,  Pazifismus,  Rufiland,  Giiterverteilung  seine 
Meinung  zu  bilden  und  sie  zu  vertreten.  Unsre  Bibliothek  aber 
stellen  wir  uns  gern  anders  zusammen;  aus  der  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  des  Bestehenden  suchen  wir  uns  das  heraus, 
was  uns  gemaB  ist. 

Und  hier  zeigt  sich  nun  die  ganze  Schwache  jedes  Ver- 
suchs,  auch  des  russischen,  ein  eng  gefiigtes  Weltbild  zu  sta- 
tuieren:  jeder  Vertreter  solches  Zwanges  hindert  den  ihm  Un- 
terworfenen,  sich  eine  freie  Meinung  zu  bilden.  Er  lafit  die 
Gegenargumente  gar  nicht  erst  an  inn  heran. 

Wieweit  das  in  RuBland  notig  ist,  soil  hier  nicht  umtersucht 
werden.  Die  Russen  konnen  immerhin  darauf  verweisen,  daB 
ihre  Lebensanschauung  eine  generelle  ist,  und  daB  sie(  aus- 
gehend  von  dem  groBen  Gebaude  einer  Philosophic  auf  alle 
Fragen  eine  Antwort  parat  haben. 

Der  deutsche  Staatsbegriff  hat  das  nicht.  Er  ist  ein  Flik- 
kenwerk;  ein  ewiges  KompromiB;  ein  vages  Gefiige  aus  tasten- 
den  Ruckwartsbewegungen  und  jenem  Gedanken,  der  iiber- 
haupt  keiner  ist:  Wir  miissen  sein,  damit  wir  sind. 

Welche  Sittlichkeitsanschauungen  werden  in  unsernFil- 
men  erlaubt?  Welche  im  Rundfunk?  Wenn  man  genauer  hin- 
sieht,  eigentlioh  nur  solche,  die  keine  Substanz  mehr  haben. 
Der  geringste  Widerspruch  gegen  irgeiid  etwas  fiihrt  zur  Zen- 
sur. Von  alien  nur  denkbaren  Widerspriichen  ist  einer  ausge- 
nommen:   der  der  arbeitenden  Klasse.     Der  interessiert  nicht. 

Man  muB  uns  erlauben,  Kunstleistungen  dieser  Art  fur  null 
und  nichtig  zu  erklaren;  es  ist  ein  Wunder,  wenn  hier  und  da 
einmal  etwas  Brauchbares  stehn  bleibt. 

Sinnlos  ist  es,  was  hier  getrie.ben  wird.  Man  stelle  sich 
vor(  es  gabe  nur  eine  Zeitung  in  Deutschland,  und  man  stelle 
sich  vor,  diese  Zeitung  werde  von  der  Regierung  herausgege- 
ben  —  mochtet  ihr  die  lesen?  Ich  nicht.  Es  ist  aber  beim 
besten  Willen  nicht   einzusehn,  warum  nicht  jeder  im  Rund- 

3  661 


funk  seine  politische,*  seine  ethische  Meaning  ausdriicken 
darf  ^—  politisch  neutral  will  der  Rundfunk  sein,  ist  es  nattir- 
lich  nicht,  und  er  kann  das  auch  gar  nicht  sein,  denn  das  gibt 
es  nicht, 

Dagegen  konnte  er  uberparteilich  sein, 

Warum  soil  nicht  ein  Film  laufen,  der  den  Krieg  verherr- 
licht?  Damit,  daB  man  ihn  verbietet,  ist  nichts  getan.  Man 
lasse  nur'  einen  genau  so  entschiedenen  pazifistischen  Film 
laufen,  der  zeigt,  wie  im  Ackergraben  verreckt  wird  und  fiir 
wen;  der  die  bekannten  Generate  zeigt  und  den  unbekann- 
ten  Soldaten!  Man  lasse  antikapitalistische  Filme  laufen  und 
solche,  die  von  den  L  G,  Farben  finanziert  sind.  Man  zeige 
schwarz  und  weiB,  blau  und  rot. 

Warum  soil  Hitler  nicht  im  Rundfunk  sprechen?  Natiir- 
lich  nur  dann,  wenn  man  Thalmann  sprechen  laBt  —  parita- 
tisoh  gehts  schon.  Wobei,  wie  bei  jeder  Demokratie,  der  Ge- 
danke  auftaucht,  wie  denn  das  nun  ist:  MuB  sich  die  Demo- 
kratie gefallen  lassen,  daB  jemand  ihre  Meinungsfreiheit  be- 
nutzt,  um  sie  zu  unterdrucken?  Meiner  Ansicht  nach  muB  sie 
das  nicht  —  aber  soweit  sind  wir  noch  gar  nicht.  Vielmehrr 
Wir  sind  schon  viel  weiter  —  denn  sie  hat  es  sich  wonne- 
sohauernd  gefallen  lassen  und  geht  daran  auch  Rechtens  zu- 
grunde. 

Film  und  Funk  unterliegen  der  Zensur  und  noch  dazu  die- 
ser  gefahrlichen,  weil  stillen  Zensur  vor  allcm  deshalb,  weil 
jene  auf  neuen  Erfindungen  beruhn.  Mit  den  Biichern 
ist  das  schon  schwerer;  da  hallen  noch  die  alten  Kampfrufe 
nach:  Pressefreiheit!  Fort  mit  der  Buchzensur . . .!  und  so 
besteht  denn  wenigstens  die  Aussicht,  daB  diese  und  jene 
Wahrheit  gedruckt  werden  kann.  Gefilmt  und  gefunkt  werden 
kann  sie  nicht  —  die  Wege-  sind  verbaut, 

DaB  der  Ruf  nach  der  Pressefreiheit  keinen  Sinn  mehr 
hat,  weiB  ich;  die  nEinfluBnahme"  auf  die  Presse  ist  so  groB. . . 

Im  Film  und  im  Funk  herrscht  eine  verhaltnismaBig  kleine 
Schicht;  eben  jene,  die  sich  bedroht  fiihlt,  wenn  man  die  Zen- 
sur angreift,  Und  so,  wie  die  Gxiterverteilung  der  Welt  zu- 
gunsten  einiger  Hunderttausend  vor  sich  geht,  so  wird  diese 
Zensur  fiir  den  Ungeist  und  die  Borniertheit  von  ein  paar 
Millionen  gemacht,  die  jedesmal  die  Frechheit  haben,  sich  fiir 
Mdas  Land"  auszugeben.     Sie  sind  es  nicht. 

Uns  interessieren  die  sittlichen  Anschauungen  der  Zenso- 
ren  (iberhaupt  nicht;  es  hat  sie  keiner  danach  gefragt.  .  Und  ich 
halte  es  fiir*  vergebliche  Liebesmuhe,  diese  Manner  zu  beein- 
flussen  oder  aber  ein  wenig  verstandigere  an  ihre  Stelle  zu 
setzen.     Sie  miissen  fort. 

Angst  hat  sie  auf  ihre  Platze  gesetzt. 

Jedes  Land  ist  eine  groBe  Kinderstube.  Wenn  ich  wissen 
will,  was  Deutschland  in  militarischer  Hinsicht  treibt,  muB  ich 
die  franzosische  Presse  ltsen,  wobei  iibrigens  das  groteske  istf 
daB  der  Bezug  dieser  franzosischen  Blatter  in  Deutschland  er- 
laubt  ist  —  erst  ihre!  Obersetzung  fiihrt  zu  Eingriffen,  Wenn 
sie  nur  die  Masse  nicht  liest!  Wenn  nur  die  Masse  keine 
„deutschabtraglichen"  Filme  sieht!  Wenn  nur  die  Masse 
nichts  am  Rundf unk  hort , . . ! 

662 


Diesclbe  Masse,  die  dann  angerufen  wirdt  wenn  es  zum 
Krieg  geht.  Dann  ist  sie  gut  genug,  in  den  Kampf  zui  ziehti. 
Fiir  eine  Sache,  die  sie  nicht  kennt. 

Aber  sie  wissen  zu  lassen,  was  eigentlich  gespielt  wird; 
sie  vorher  zu  unterrichten,  was  auf  der  Welt  wirklich  vor  sich 
gcht  —  dazu  langts  nicht.     Die  Zensur  wacht. 

Jede,  jede,  jede  Zensur  ist  vom  ObeL  So  erzieht  man  kein 
Volk,  Was  haben  die  Bildungsbonzen  der  SPD  zusammen  ge- 
heulmeiert,  als  das  Schmutz-  und  Sehundgesetz  mit  ihrer  Hilfe 
durchging!      Falsch  ist   das,   kleinbiirgerlich   und   dumm, 

Gebt  die  Filmleinwand  frei!     Gebt  den  Atherraum  frei! 

Si©  werden  euch  was.  Denn  wo  blieben  dann  die  Religio- 
nen,  und  wo  bliebe  vor  allem  der  Patriotismus,  wenn  die  Leute 
wtifiten,  was  los  ist! 

Die  Zensur  ist  der  Schutz  der  Wenigen  gegen  die  Vielen. 

Braungelbes  Arbeitsrecht  von  mide  waiter 

J-Jitlers  gewerkschaftliche  Filiale,  die  sogenannte  Neudeutsche 
Arbeitnehmerbewegung,  hat  bisher  nicht  so  erfolgreich  ge- 
arbeitet  wie  die  parlamentarische  und  militariscbe  Abteilung 
der  Partei.  Arbeitsvertrag  und;  Arbeitsrecht  sind  zwar  das 
dankbarste  Feld,  der  gegebene  Ansatzpunkt  zur  Verwirk- 
lichung  des  Fascismus.  Auf  dem  Umweg  iiber  die  politische 
Gewalt  koninen  sie  ohne  weiteres  okkupiert  werden,  ihre  , .le- 
gale" Besetzung  dagegen  ist  weit  schwieriger  als  die  Erobe- 
rung  von  Wahlerstimmen  und  die  Anwerbung  von  Parteisol- 
daten.  Was  aus  dem  Koalitionsrecht  und  dem  Wirtschafts- 
kampf  werden  wiirde,  wenn  der  Fascismus  die  politische  Ge- 
walt besa.Be,  ist  oft  genug  ausigemalt  worden.  Viel  weniger 
bekannt  sind  die  einzelnen  Phasen  in  dem  bereits  mehrere 
Jahre  wahrenden  Kleinkrieg.  Auf  dem  Wege  zu  dem  Ziel; 
Zerschlagung  der  echten  Gewerkschaften  will  die  Neudeutsche 
Arbeitnehmerbewegung  fiir  ihre  fascistischen  Gebilde  zunachst 
einmal  ..legal"  alle  Recht.e  und  Machtpositionen  erobern,  die 
von  der  angefeindeten  f,marxistischen"  Arbeiterbewegting  in 
jahrzehntelangen  Kampfen  geschaffen  worden  sind. 

Das  fascistische  Sammelbecken  fiir  die  nicht  in  Nazizellen 
innerhalb  der  Gewerkschaften  igebundenen  Arbeiter  sind 
immer  noch  die  alten  gelben  Werksgemeinschaften  und  Werk- 
verbande;  die  Angestellten  haben  ihren  Reichsverband  deut- 
scher  Angestelltenberufsverbande,  dem  die  Christlichen  Ge- 
werkschaften ebenso  wie  der  Deutschnationale  Handlungs- 
gehilfenverbind  marxistisch  verdachtig  erscheinen.  Unter  dem 
bewahrten  Motto  des  alten  Franz  Joseph  HMir  bleibt  auch 
nichts  erspart"  hat  der  R.d.A.  bei  dem  Aufruf  zur  Reichsprasi- 
dentenwahl  den  Vorsitzenden  des  Deutschnationaien  Handr 
lungsgehillenverbandes  endgiiltig  zum  judischen  Kapital  ge» 
worfen,  weil  er  dem  SahmausschuB  angehftrte,  Mit  Riicksicht 
auf  den  besondern  Schirmherrn  Hugenberg  wurde  fiir  den 
ersten  Wahlgang  neben  der  Hitlerparole  eine  kleine  Hintertiir 
zur  Wahl  Duesterbergs  offen  gelassen.  .  Dafiir  unterstiitzt  der 
hohe  Gonner  im  ,Lokalanzeiger'  die  arbeitsrechtlicheni  Legali- 
tatskampfe  seiner  Getreuen,  die  dafiir  sorgen  wollen,  dafi  der 

663 


freie  Arbeitsvertrag  wieder  eingefiihrt  wird,  und  daB  wesent- 
lichc  Bestandteile  der  Sozialversicherung  verschwinden.  Die 
Arbeitgeberverbande  sind  noch  nicht  rcstlos  bcgcistert  und 
haben  sich  keineswegs  dazu  gedrangt,  die  verltockenden  Tarif- 
vertragssonderangebote  anzunehmen.  Es  gibt  da  noch  einen 
peinlichen  Widerhaken  in  diescm  freien  Wirtschaftsprogramm: 
die  Absicht,  .  t,lukrative  Betriebe  besonders  heranziuzieben  \ 
Als  Gianz-  und  Paradestucke  fungieren  daher  einstweilen  cin 
Tarifvertrag  des  R.d.A.  mit  der  Auskunftei  Schiramelpfentg 
und  ein  zweitcr  zwischen  dem  korporativ  angeschlossenen 
Bund  der  Guts-  und  Forstbeamten  und  dem  Pommerschen 
Landbund 

Diese  wirtschaftliche  SA.  hat  auch  ihren  Weg  nach  Rom 
mit  Legalitatsbeteuerungen  gepflastert,  Legalitat  heifit  hier 
Anerkennung  als  tariffahige  wirtschaftliche  Vereinigung  im 
Sirme  des  Arbeitsgerichtsgesetzes.  Dazu  gehort  als  Grund- 
bedingung  der  Nachweis,  daB  es  sich  um  eine  vom  sozialen 
Gegenspieler  in  jeder  Beziehung  vollig  unabhangige  Vereini- 
gung von  Arbeitnehmem  zur  Wahrung  ihrer  wirtschaftlichen 
Interessen,  unter  Umstanden  durch  Streiks,  handelt  Nur 
solche  Organisation  en  gelten  fiir  Schlichtungsbehorden,  fur  die 
Selbstverwaltungskorper  der  Sozialversicherung  und  fiir  die 
Arbeitsgerichte  als  tariffahig,  Sie  konnen  Verbandsvertreter 
auftretetn  lassen,  Beisitzer  delegieren  und  Mitglieder  fiir  den 
Reichswirtschaftsrat  benennen.  Erst  wenn  a  lie  diese  Vorteile 
auch  fiir  die  fascistischen  Arbeitnehmerorganisationen  trotz 
ihren  an>dersartigen  Zielen  erreicht  sind,  kann  die  Konkurrenz 
mit  den  kLassischen  Gewerkschaftsrichtungen  aufgenommen 
werden.  Einstweilen  haben  Parolen  ,,Friede  mit  dem  Arbeit- 
geber"  und  „Nationale  Freiheit"  noch  nicht  die  motige  An- 
ziehungskraft  auf  unorganisierte  und  anderweitig  organisierte 
Arbeitnehmer  ausiiben  konnen.  Der  beste  MaBstab  fiir  die 
Starke  der  Bewegung  sind  die  Betriebsratswahlen;  sie  fallen 
durch  die  Notverordnung  in  diesem  Jahr  aus,  1931  war  das 
Ergebnis  ziemlich  klaglich.  Trotzdem  ist  durch  standiges  Pro- 
zessieren  und  durch  die  Beschaftigung  von  bereitwilligen  Uni- 
versitatsprofessoren  mit  Rechtsgutachten  die  Atmosphare  poli- 
tischen  Marty rertums  kiinstlich  vorbereitet  worden.  Als  1926 
der  sozialpolitische  AusschuB  deutscher  Verbande  eine  Kund- 
gebung  veranstaltete,  war  die  Hauptattraktion  des  Tages  ein 
Vortrag  von  Professor  Fritz  Stier-Somlo  iiber  die  f,Verfassungs- 
widrigkeit  gewerkschaftlicher  Monopolstellungen".  1929auBerte 
sich  Professor  E,  Tatarin-Tarnheyden  in  einem  umfang- 
reichen  Gutachten  zur  Frage  der  Monopolstellung  der  drei 
herrschenden  Gewerkschaftsrichtungen  Mim  aligemeinen  und 
insbesondere  zu  der  Festlegung  dieser  Monopolstellung  im 
Reichsknappschaftsgesetz,  in  der  Verordnung  iiber  den  Vor- 
laufigen  Reichswirtschaftsrat  und  in  den  Gesetzentwiirfen  iiber 
den  endgiiltigen  Reichswirtschaftsrat",  Der  Kern  dieser  be- 
stellten  Gesetzesauslegungen  ist  im  groBen  und  ganzen  eine 
gewundene,  verlogene  Interpretation  der  Grundlagen  der  Wei- 
marer  Verfassung  und  des  Prinzips  der  Wirtschaftsdemokratie, 
um  sie  auf  diesem  Wege  be  quern  und  legal  zu  beseitigen. 

In  dem  bekanntea  Kommentar  zum  Arbeitsgerichtsgesetz 

664 


von  Dersch  und  Volkmar  erschieri  in  cincr  rieuern  Auflage 
plotzlich  ein  Absatz,  in  dem  den  wirtschaftsfriedlichen  Ver- 
banden  und  auch  den  Werkvereinen  die  Tariffah'igkeit  zu- 
erkannt  worden  ist.  Bei  der  nachsten  Auflage  waren  die  dies- 
beziiglichen  Satze  verschwunden,  offenbar  weil  die  wissen- 
schaftliche  Objektivitat  eines  der  beiden  Herausgeber  doch 
noch  liber  die  Anpassungsfrendigkeit  des  andern  gesiegt  hatte. 

Obwohl  die  ganze  Bewegung  grundsatzlich  darauf  ver- 
zichtet,  die  Interessen  der  Arbeitnehmerschaft  in  der  Rolle  des 
„sozialen  Gegenspielers"  zu  vertreten,  haben  ihr  ein  paar 
Richter  und  Verwaltungsbehorden  die  Legalitat  bestatigt. 
Schlichtungsausschtisse  und  Arbeitsgerichte  in  der  Provinz 
haben  Werktarife  anerkannt,  auch  wenn  sie  im  wesentlichen 
abgeschlossen  wurden,  um  die  Arbeitszeitverordnung  zu  um^ 
gehen.  Staatsanwaltschaften  haben  unter  Berufung  auf  die 
sogenannte  RechtmaBigkeit  von  Werktarifen  die  Einleitung 
von  Strafverfahren  wegen  Vergehens  gegen  die  Arbeitszeitver- 
ordnung abgelehnt,  Regierungsbehorden  die  Berufung  von 
Werkvereinsvertretern  als  Beisitzer  bei  den  Arbeitsgerichten 
bestatigt.  Das  Reichsarbeitsgericht  hat  den  VaterLandischen 
Arbeiterverein  Potsdam  und  die  Arbeitnehmergruppe  des 
Pommerschen  Landbundes  als  tariffahige  wirtschaftliche  Ver- 
einigungen  gelten  lassen.  In  Ietzter  Zeit  stand  vor  mehreren 
Kammern  des  berliner  Arbeitsgerichts  die  Tariffahigkeit  des 
Reichsbundes  deutscher  Angestelltenberufsverbande  zur  De- 
batte,  Aus  den  Satzungen  und  Propagandaschriften,  die  der 
Verband  dem  Gericht  iiberreichte,  ging  ganz  eindeutig  hervor, 
daB  der  Organisation  wichtige  im  Gesetz  vorgeschriebene 
Merkmale  des  sozialen  Gegenspielers  fehlen,  Trotzdem  hat 
sich  ein  Richter  bereitgefunden,  in  einer  umfangreichen  Be- 
griindung  zum  ersten  Mai  fur  Berlin  die  gewerkscbaftliche 
Gieichberechtigung  zu  attestieren.  Man  kann  nicht  einmal 
sagen,  daB  das  obsiegende  Urteil  aus  politischer  Sympathie 
gefallt  worden  sei.  Hier  herrschte,  wie  bei  manchen  polr- 
tischen  Prozessen  eine  gefahrliche  falsch  verstandene  Ob- 
jektivitat gegeniiber  offensichtlich  gesetzesfeindlichen  Be- 
wegungen. 

Es  kann  gar  nicht  deutlich  genug  betont  werden,  daB  jene 
Avantgarde  der  Unternehmer  keineswegs  als  eine  rechts- 
radikale  Variation  von  politisch  andersgefarbten  Koalitionen 
anzusehen  ist.  Ihre  scheinbare  Ahnlichkeit  mit  der  recht- 
lichen  Situation  der  RGO.  vor  den  in  Trage  kommenden  In- 
stanzen  hat  den  Irrtum  erzeugt,  daB  es  zwei  radikale  Fliigel 
der  Arbeiterbewegung  gabe,  die  den  gleichen  moralischen 
Anspruch  auf  Legalisierung  erheben  konnten.  Die  fascisti- 
schen  Gebilde  haben  sich  in  allem  Wesentlichen  als  soziaie 
Mitspieler  des  Arbeitgebers  im  Arbeitskampf  etabliert  und 
damit  die  Gleichstellung  mit  den  kampfenden  Gewerkschafts- 
richtungen  verwirkt.  Ihnen  gebiihrt  ohne  weiteres  der  Schutz, 
den  jeder  eingetragene  Verein  sowieso  genieBt:  sie  konnen  un- 
gestort  kegeln,  singen,  Tanzvergniigungen  veranstalten  und 
Sterbekassen  griinden;  es  gehort  aber  keineswegs  zu  den  Er- 
fordernissen  der  richterlichen  Neutralist,  die  geltenden  Ge- 
setze  zu  ihren  Gunsten  rabulistisch  auszulegea, 

665 


Die  Sympathie  des  Reichsarbeitsgerichts  fur  die  ganze 
Richtung  ist  am  starksten  in  der  Frage  der  politischen  Ent- 
lassungen  » zum  Ausdruck  gekommen.  Die  Reichsmarinewerf  t 
in  Wilhelmshaven  hatte  bekanntiich  Nationalsozialisten  als  un- 
geeignet  ftir  einen  Heeresbetrieb  entlassen;  das  Reichsarbeits- 
gericht dagegen  fand  die  Entlassungen  unberechtigt  und  fallte 
jenes  Urteit,  auf  das  nachher  bei  der  Zulassung  der  National- 
sozialisten zur  Reichswehr  Bezug  geilommen  wurde.  Weit 
interessanter  nock  ist  die  Stellungnahme  des  Reichsarbeits- 
gerichts im  Fall  des  nationalsozialistischen  Arztes,  der  bei  der 
Schutzpolizei  in  Wittenberg  angestellt  war.  Der  Regierungs- 
prasident  in  Merseburg  hatte  diesem  Mann,  der  die  gesund- 
heitliche  Eignung  der  Schupobewerber  zu  priifen  hatte,  frist- 
gemaB  gekiindigt.  Das  Reichsarbeitsgericht  fand  schlieBlich, 
daB  man  fur  einen  derartigen  Posten  der  Regierung  keinen 
Anhanger  einer  staatsfeindlichen  Partei  zumuten  konne.  Es 
war  sick  aber  im  vorigen  Dezember  noch  nicht  dariiber  klar, 
ob  die  NSDAP  eine  Umsttirzpartei  sei;  um  eine  Entscheidung 
nieruber  treffen  zu  konnen,  bedurfe  es  weiterer  tatsachlicher 
Feststeilungen  durch  das  Landesarbeitsgericht.  Der  Fall  wurde 
an  die  z weit e  Instanz  zuriickverwiesen,  und  das  Landesarbeits- 
gericht  in  Halle  soil  durch  Zeugenvernehmungen  und  Prufung 
von  Satzungen  die  beliebte  Legalitatsfrage  erneut  klaren. 

Ein  derartig  weitgehendes  neutrales  Wohlwollen  wird 
^elbstverstandlich  gegeniiber  den  Anhangern  der  ROG,  nicht 
angewendet.  Die  RGO.  hat  allerdings  darauf  verzichtet,  in 
standigem  Kleinkrieg  eine  Legalitat  beweisen  zu  wollen,  die 
sie  ihrer  ganzem  Struktur  nach  gar  nicht  besitzt.  Sie  hat  sich 
damit  abgefunden,  daB  ihre  Propaganda  fiir  die  „direkte 
Aktian"  und  fiir  den  Arbeitskampf  wahrend  der  Dauer  gelten- 
der  Tarifvertrage  mit  den  bestehenden  gesetzlichen  Regelun- 
gen  nicht  in  Einklang  zu  bring  en  ist-  Wenn  sie  aber  Prozesse 
um  poiitische  Entlassungen  zu  fiihren  hat,  wie  etwa  bei  der 
Entfemung  eines  RGO.-Betriebsrats  aus  der  Reichspost,  so 
zeigt  sich  das  Reichsarbeitsgericht  schon  erheblich  beschlage- 
ner  in  der  Kenmtnis  politischer  Programme  als  im  merseburger 
FalL  Der  arbeitsrechtliche  Sachverstandige  des  ADGB.,  ge- 
wifi  kein  Vorkampfer  fiir  die  Bestrebungen  der  RGO.,  hat  in 
der  Kritik  an  einem  dieser  Urteile  gesagt,  daB  das  Reichs- 
arbeitsgericht den  entlassenen  RGO.-Betriebsratsvorsitzenden 
nicht  fiir  den  objektiven  Tatbestand  sondern  vielmehr  fiir 
seine  Gesinnung  verantwortlich  gemacht  hatte.  In  dem  Urteil 
sei  nach  seiner  Ansicht  mit  Kanonen  nach  Spatzen  geschossen 
worden  unter  Aufstellung  von  Rechtsgrundsatzen,  die  ihm 
mehr  als  bedenklich  erschienen. 

In  den  letzten  Tag  en  ist  die  Parole  von  der  gewerkschaft- 
lichen  roten  Einheitsfront  wieder  erneut  ausgesprochen  wor- 
den* Wenn  ein  Weg  gefunden  werden  sollte,  von  dieser  Seite 
her  die  Idee  des  g  erne  ins  amen  Abwehrkampf  es  endlich  einmal 
in  die  Tat  umzusetzen,  so  werden  die  braunen  Anhanger  der 
gelben  Verbande  mit  verstarkter  Intensitat  Anerkennung  ver- 
langen.  Hoffentlich  find-en  sich  dann  nicht  allzuviele  Opportu- 
nist en  bei  preuBischen  Gerichten  und  Sozialbehorden,  die  be- 
reit  sind,  die  br&ungelbe  Legalisierung  zu  unterstutzen. 

666 


DaS  tieiie  Spanien  von  Ernst  Toller 

III 

Spanische  Gefangnisse 

Victoria  Kent 

In  deutschen  Zeitungen  hatte  ich  oft  tiber  Victoria  Kent  ge- 
Iesen,  jene  Frau,  die  in  der  spanischen  Revolution  zur  Prasi- 
cfentin  des  Strafvollzugs  bestimmt  ward.  Sie  batte  ein  groB- 
artiges  Reformprogramm  angekiindigt,  Aufhebung  des  Straf- 
charakters  der  Haft,  Umwandlung  der  Gefangnisse  in  soziale 
Schulen,  Urlaub  fiir  die  Gefangenen  und  vieles  andre  mehr. 
Diese  Frau  muBte  ich  kennenlernen.  Doktor  Gregorio  Mara- 
iion,  der  bekannte  Arzt  und  Sexualforscher,*  gab  mir  ein  paar 
Empfehlungszeilen  fiir  sie. 

Im  Korridor  des  Justiziriinisteriums  stehen  die  Menschen 
Kette,  Angehorige  von  Gefangenen  —  verharmte  Gesichter, 
verweinte  Augen.  Eine  Bauersfrau  hat  einen  groBen,  knallig 
bunten  BlumenstrauB  mitgebracht,  sie  will  ihn  dem  Justiz- 
minister  geben,  das  Geschenk  werde  ihn  bestimmt  freuen  und 
gnadig  stimmen.  Auf  was  fiir  riihrende  Einfalle  kommen  die 
Menschenf  wenn  sie  leiden  und  Leid  mildern  mochten.  Ich 
denke  an  die  Arbeiterin  in  Miinchen,  deren  Mann  grundlos, 
sinnlos  erschossen  wurde,  nach  der  Beerdigung  brachte  sie 
mir  in  einer  Thermosflasche  Milch  nach  Stadelheim,  ,,damit 
ich  wenigstens  etwas  Warmes  habe.1' 

,  Im  Vorzimmer  von  Victoria  Kent  sitzen  lauter  Manner  als 
Sekretare,  sie  scheint  Frauen  weniger  Vertrauen  zu  schenken, 
als  die  Manner  ihr.  Ich  betrachte  die  AktenstoBe  auf  den 
Tischen  und  Stiihlen  und  mochte  gern  wissen,  wieviel  Tage 
notig  sind,  urn  einen  bestimmten  Akt  zu  finden,  nach  meinen 
Erfahrungen  in  Spanien  bin  ich  skeptisch. 
MSenora  Kent  erwartet  Sie." 

In  einem  kleinen  Zimmer,  hinter  einem  groBen  Schreib- 
tisch,  sitzt  eine  etwa  fiinfuniddreiBigjahrige,  schlanke  Frau,  die, 
wie  sie  sich  erhebt,  klein  wirkt.  Sie  hat  graue,  klare  Augen, 
die  sie  oft  kurzsichtig  zusanimenkneift,  ein  schmales,  maigeres 
Gesicht  mit  groBen  Flachen,  blauschwarze  geglattete  Haare  und 
sehr  schone,  ausdrucksreiche  Hanide.  Ohne  meine  Fragenab- 
zuwarten,  beginnt  sie  zu  sprechen: 

„Ich  habe  noch  nicht  viel  tun  konneii,  nur  die  schlimmsten 
Grausamkeiten  beseitigt.  So  habe  ich  zum  Beispiel  untersagt, 
Gefangene,  wie  es  unter  der  Monarchie  iiblich  war,  zu  fesseln 
oder  aneinanderzuketten.  Natiirlich  ist  jede  korperliche 
Ziichtigung  verboten.  Die  Ernahrung  war  sehr  durftig,  wir 
haben  den  fiir  Nahrung  festgesetzten  Geldbetrag  verdoppelt. 
Die  Gefangenen  diirfen  mehr  Briefe  schreiben  als  friiher,  mehr 
Besuche  empfangen,  langer  im  Hof  spazieren  gehen.  Wir  ver- 
suchen  die  Jungen  von  den  Alten  zu  trennen  und  sie  in  be- 
sondereni  Anstalten  unterzubringen.  Das  ist  alles  sehr  wenig, 
ich  weiB  es,  aber  es  ist  ein  Anfang." 

t,Und!  Ihr  Projekt  der  Beurlaubung  von  Gefangenen?" 

667 


„Oas  hat  viel  Staub  aufgewirbelt,  abcr  leider  ist  nocb  gar 
nichts  geschehen,  der  gesamte  Reformplan  muB  erst  vom  Par- 
lament  genehmigt  sehx" 

Ich  erzahle    ihr    tiber    die    guten  Urlaubserfahrungen    in 
1  russischen  Gefangnissen, 

Ja,  sie  wisse,  aber . . .  Sie  zuckt  die  Achseln,  und  ich  sehe 
hinter  ihr  das  graue  Heer  der  alten,  gramlichen  Bureaukraten, 
die  ihr  tagliches  „Unm6glich"  skandieren,  die  „auf  Grund  lang- 
jahriger  Praxis"  beweisen,  daB  Reformen  in  der  Idee  schoft, 
aber  in  der  Praxis  undurchfuhrbar  seien,  Ich  bekamme  gleich 
einen  Beweis. 

,,Ich  habe  in  der  Zeitung  von  einer  Meuterei  im  madrider 
Gefangnis  gelesen.    Was  war  der  Grund?" 

HMeuterei  ist  iibertrieben.  Der  alte  Direktor  war  zu  gut- 
mutig,  da  haben  die  Gefangenen  ihm  auf  der  Nase  herum- 
getanzt,  er  ist  bereits  durch  einen  neuen  ersetzt.  Die  Ordnung: 
ist  wiederhergestellt," 

Das  unsichtbare,  graue  Heer  darf  zufrieden  sein,  wieder 
wird  ein  Mensch  mit  groBen  Vorsatzen  und  gutem  Willen  in 
der  stickigen  Luft  der  Ministerien,  im  taglicheii  Kampf  mit  er- 
starrten  Paragraphen  mtide. 

Ich  bitte  Victoria  Kent  um  die  Erlaubnis,  einige  Gefang- 
nisse  mir  anzusehen, 

„Welche  Gefangnisse  wollen  Sie  besuchen?" 

„Ich  fahre  von  Madrid  nach  Sevilla,  also  zuerst  das  Ge- 
fangnis  dort/1 

„Um  Himmels  willen,  das  ist  unsre  schlechteste  Anstalt. 
Fahren,  Sie  lieber  nach  Alcala." 

„Ich  kann  mir  wohl  vorstellen,  daB  ein  spanisches  Muster- 
gefangnis  interessant  ist,  aber  grade  die  simplen  Provinz- 
gefangnisse  interessieren  mich  mehr." 

„AIso  meinetwegen,  Und  welches  Gefangnis  wollen  Sie 
noch  sehen?" 

„Das  in  Barcelona." 

„Da  haben  Sie  sich  die  beidem  nettesten  ausgesucht/1  klagt 
sief  „aber  wenn  Sie  es  wollen,  bitte,  es  ist  mein  Prinzip,  nicht& 
zu  verheimlichen/' 

Sevilla 

Ich  gehe  durch  das  Tor  des  Gefangnisses,  vor  dem  em 
l>utzend  Soldaten  postiert  sind,  undj  komme  an  ein  schweres 
Gittertor,  Ein  Wachter  nimmt  meine  Besuchskarte  und  fiihrt 
mich  durch  drei  oder  vier  andre  Gittertore,  die  er  jedesmal 
muhsam,  offnet,  zum  Bureau  des  Direktors.  Ein  kleiner  ner- 
voser  Herr  empfangt  mich  argerlich. 

ftIch  weiB  gar  nicht,  was  Sie  hier  sehen  wollen.  Zu  sehea 
ist  hier  nichts.  Aber  wenn  Sie  daraul  bestehen  , . .  Sie  habea 
fa  schlieBlich  die  Erlaubnis  von  oben , .  .  bitte  sehr , . ,  Sie: 
machen  sich  nur  unnotige  Miihe/' 

Und  er  gibt  mir  einen  Wachter  als  Fuhrer. 

Ich  habe  viele  Gefangnisse  gesehen,  in  Bayern  und  in* 
PreuBen,  in  Skandinavien  und  in  der  Schweiz,  in  Amerika  und 

668 


in  SowjetruBland,  ich  hab«  unterscheiden  gelernt  zwischem 
nackter  Brutalitat  und  der  Brutalitat  mit  humanem  Firnis,  zwi- 
schen  peinlicher  Ordnung,  die  alle  mittclaltcrliche  Folterpeint 
in  den  Schatten  stellt,  und  schlampiger  Unordnung,  die  dem> 
Gefangenen  sein  armseliges  privates  Leben  zu  ordnen  erlaubt* 
zwischen  dem  Gesicht  des  Gefangnisses,  wie  es  d«r  Gefangene 
und  wie  es  der  Besucher  sieht,  —  all  meine  Erfahrungen  ver^ 
blaBten  vor  dem  Gefangnis  in  Se  villa. 

Dieses  Gefangnis  ist  eine  schmutzige,  menschenunwiirdiger 
Kloake,  unbegreiflich,  warum  das  spanische  Justizministerium, 
die  Anstalt  nicht  sof ort  und  fur  alle  Zeiten  schlieBt.  Als  kiirz- 
lich  ein  Gefangener  entfloh,  schrieben  selbst  reaktionare  Zei- 
tungen  in  Sevilla,  wer  das  Haus  gesehen  habe,  konne  nieman- 
dem  die  Flucht  veriibeln,  Zweihundert  Gefangene  faBt  die: 
Anstalt,  dreihundertfiinfzig  sind  darin  untergebracht,  Manner 
und  Frauen. 

Die  Gefangenen  haben  keine  Betten,  sie  schlafen,  neben- 
einander  gepfercht,  auf  dem  kalten  Steinboden,  ihre  Deckem 
sind  verlaust  und  verwanzt.  Die  Zellen  sind  unheizbar,  haben, 
keine  Beleuchtung,  ja,  nicht  einmal  Aborte,  die  Gefangenen; 
miissen  ihre  Notdurft  in  ein  Loch  mitten  im  Hof  verrichten. 
Nur  oberflachlich  konnen  sie  sich  saubern  —  ein  einzigerr 
kleiner  Wasserhahn  in  der  Mannerabteilung  dient  fiir  alle  und 
aller  Bediirfnisse.  Arbeitsmoglichkeiten  existieren  nicht,  die 
Gefangenen  vegetieren  stumpf  in  den  Tag  hinein. 

Und  wird  einer  uber  all  dem  Jammer  tobsiichtig,  sperrfc 
man'  ihn  in  eine  kahle  Zelle,  dort  mag  er  in  seinen  klarea 
Augenblicken  dariiber  jubilieren,  daB  er  nicht  im  „diinkeln^ 
Mittelalter,  sondein  im  fortgeschrittenen  zwanzigsten  Jahr- 
hundert  lent. 

Jugendliche  werden  nicht  eingesperrt?  Aber  da  sehe  idx 
einen  Knaben,  umd  wie  ich  nach  seinem  Alter  frage,  hore  ichw 
daB  er  fiinfzehn  Jahre  alt  ist. 

Die  Gefangenen  diirfen  oft  Briefe  schreiben?  Einmal  im* 
Monat  wird  mir  gesagtl 

Und  wie  steht  es  mit  dem  Besuch?    Einmal  im  Monat! 

Madrid  ist  fern,  und  zu  Victoria  Kent  ist  der  Weg  weif. 

Der  Direktor  sieht  mir  an,  wie  tief  mich  dieser  Besuch  er^ 
schiittert  hat.  Er  laBt  mir  durch  einen  Gefangenen  eine  Kost-^ 
probe  vom  Gefangenen-Essen  bringen  und  vergiBt  nicht,  aucb 
eine  saubere  Serviette  mir  reichen  zu  lassen.  Wie  gut  kenne 
ich  diese  Kostproben  fiir  Besucher! 

,,Was  sollen  wir  denn  machen",  sagt  er  plotzlich  ruhigi, 
,,das  Haus  ist  schlimm  und  fast  doppelt  belegt." 

Aber  das  groBe,  rieue  Gefangnis  wurde  nicht  fertig,  die> 
Arbeit  er  weigerten  sich,  an  der  Errichtung  eines  Gefangnisses* 
mitzuwirken. 

Nein,  Schwerverorecher  seien  nicht  da,  meist  Bauenv 
kleine  Diebe  und  unter  den  Frauen  viele  Kindesmorderinnen.. 

Er  sehe  ja  ein,  daB  soziale  Not  die  meisten  zum  Ver- 
brechen  treibe,  aber  was  konne  er  tun,  er  sei  Beamter  und; 
sonst  nichts, 

66* 


Ob  auch|  politische  Gefanigene  da  waren?  GewiB,  viclc 
Syndikalisten  und  Kommunisten,  jeden  Tag  wiirden  einige  ein- 
geliefert. 

,,Aber  selbst  unter  der  Monarchic  hat  man  die  politischen 
Gefangenen  anders  behandelt  als  die  kriminellen,  diesei  Men- 
scben  skid1  doch  urn  ihrer  Oberzeugung  willen  in  Haft,"  werfe 
ich  ein,, 

Der  kleine  Herr  wird  wieder  nervos. 

,,Unsinn,  Unsinn,  ich  sage  Ihnen,  Herr,  diese  Leute  haben 
keine  Kultur." 

,,Kann  ich  nicht  den  oder)  jenen  sprechen?" 

Seine  quecksilbrigen  Augen  werden  steinern. 

,,Dazu  muBten  Sie  eine  besondere  Erlaubnis  vom  Justiz- 
ministerium  beibringen  , .  ,  es  lohnt  sich  auch  nicht .  . .  was 
wollen  Sie  mit  den  Leuten  reden?  Glauben  Sie  mir  doch,  diese 
Kommunisten  urud  Syndikalisten  haben  keine  Kultur . ,  .  keine 
Kultur!" 

Der  Kulturtrager  verabschiedet  sich,  der  Warter  fiihrt 
mien*  hinaus,  ich  stehe  vor  dem  Gefangnis  und  denke  an  die 
Kulturlosen  in  diesem  Treibhaus  der  Kultur. 

Barcelona 

Ein  Auto  von  Pferden  gezogen,  bewirkt  das  helle  Gelach- 
ter  unsrer  Schadenfreude.  Stellen  Sie  sich  einen  Aeroplan 
vor,  dem  ein  Esel  vorgespannt  ist,  der  FHeger  hat  die  Luft  und 
semen  Sitz  am  Steuer  verlassen  mussen  und  treibt  mit  hott  und 
h,u  den  kleinen  Grauen  zu  flotterer  Gangart  an.  Es  ware  der 
Gipfel  der  Komik, 

Warum   eigentlich? 

Weil  wir  d'eoi  Flieger  um  seineni  Aeroplan  beneideten,  der 
ihn  von  Kontinent  zu  Kontinent  hatte  tragen  konnen  und!  mit 
d«m  er  jetzt  nicht  rascher  vorwarts  kommt  als  Bauer  Hans 
mit  seinem  Karren? 

Nicht  das  ist  der  tiefe  Grund  unsres  Gelachters,  Indem 
wir  den  Flieger  verlachen,  lachen  wir  utis  selbst,  lachen  wir 
die  Menschheit  aus. 

Mit  was  fur  hochtrabenden  Planen  schwirren  wir  umher, 
was  glauben  wir  alles  unter  unsernj  Willen  zu  zwingen,  «in 
Defekt  im  Motor,  und  wir  sind  froh,  wenn  ein  Esel  uns  weiter- 
hilft. 

Gefangnisse  sind1  wahrlich  keine.  Statten  der  Komik,  aber 
an  das  von  Barcelona  kann  ich  nur  mit  Lachen  denken, 

Zellen  haben  Tiiren,  und  Tiiren  haben  Schlosser  und  Rie- 
tfel,  auf  daB  keinen  Gefangenen  die_Lust  anwandle,  dem  gast- 
Hchen  Haus  den  Ruck  en  zu  kehren/ 

Im  Gefangnis  zu  Barcelona  aber  gahnen  reihenweise  tiir- 
lose  Zellen,  ihre  Bestimmung  ist  verloren,  ihr  Zweck  aufge- 
hoben,  was  einst  Schlottern  und1  Zahneklappern  verursachte, 
erregt  nun  Spott  und  Hohn. 

Am  zweiten  September  haben  die  Gefangnisinsassen,  die 
mit  der  strengeni  Behandlung  und  dem  schlechten  Essen  unzu- 

670 


frieden  waren,  rebelliert,  und  alles,  was  niet-  und  nagelfest 
war  und  vor  ihre  Augen  kam,  zertriimmert,  Nur  die  dicken 
Steinmauern  verhinderten,  dlafl  dlas  Gefanignis  in  Flammen 
aufging, 

Soldaten  uberwaltigten  die  Meuterer  und  spcrrten  sic  in 
jene  Zellen,  die  in  dem  Tohuwabohu  vergessen,  also  gerettet 
wurden. 

Als  man  die  andern  Tiiren  reparieren  wollte,  fand  sich  in 
der  groBen  Stadt  Barcelona  nicht  ein  Handwerker,  der<  bereit 
war,  Arbeit  im  Gefangnis  zu  iibernehmen,  aiie  meinten,  dlas  sei 
«ine  schimpfliche  Arbeit,  bei  der  sie  weder  mit  Hand  noch 
Hobel  helfen  wollten.  Ein  kluger  Mann  schlug  vor,  die  Tiiren 
nach  der  Insel  Mallorca  zu  schaffen,  man  solle  ihren  Zweck 
verheimlichen,  es  ware  dort  gewiB  ein  leichtes,  Handwerker 
fur  die  notwendigen  Reparaturen  zu  finden.  Gesagt,  getan. 
Aber  als  das  Schiff  mit  dem  kostbaren  Gut  in  Palma  vor 
Anker  ging,  hatte  sich  die  Kunde  schon  verbreitet,  und  kein 
Hafenarbeiter  fand  sich,  die  Fracht  zu  loschen.  Da  wurde  es 
dem  Staat,  der  «s  gut  meinte  mit  seinen  Gefangenen,  zu  dumm, 
er  appellierte  an  die  Solidaritat  der  Arbeiter,  was,  fragte  er, 
sollen  denin  die  armen  Gefangenen  tun,  wenn  der  Winter 
kommt,  und  es  kalt  wird,  sollen  sie  auf  dem  Hof  kampieren? 
Aber  die  Arbeiter  meinten,  sie  verstiinden  unter  Solidaritat 
etwas  andres,  und  zwingen  konne  sie  kein  Gott  und  kein 
Teufel.  Fuchswild  befahl  der  Staat  seinen  Soldaten,  die  Tiirein 
an  Land  zu  tragen,  Echte  Soldaten  gehorchen  und  denken 
nicht.  Darum  wurden  die  Tiiren  ausgebootet  und  im  einer 
Ecke  des  Hafenplatzes  aufgestapelt.  Am  nachsten  Morgen 
zeugte  ein  Haufchen  Asche  von  ihrer  Herrlichkeit.  Unbekannte 
Tater  hatten  sie  nachts  mit  Petroleum  iibergossen  und  ange- 
ziktdet.     Der  Staat  gab  es  auf. 

Und  so  stehen  die  Zellen  bis  heute  leer. 

Ob  das  barceloneser  Gefangnis,  oder  was  von  ihm  iibrig 
blieb,  ein  wahres  Muster  an  Humanitat  geworden  ist,  ich 
kann,  man  verzeihe  mir,  es  nicht  sagen,  ich  sah  nur  immer  die 
zahllosen  Soldaten,  die  mit  aufgepflanztem  Bajonett  durch  die 
hall  end  en  Gange  wanderten  und,  ahnlich  dem  Weber  Zettel 
im  nSommernachtstraum",  vorstellen  sollten,  was  sie  nicht 
sind;  Tiiren. 

Einen  Gefangenen  sprach  ich  an,  er  gab  mir  eine  Ant- 
wort,  wie  ich  sie  noch  nie  von  seinesgleichen  gehort  habe. 
Das  verriickte  Haus  schien  auch  seine  Sinne  verwirrt  zu 
haben. 

„Woriiber  haben  Sie  zu  klagen,"  frage  ioh  ihn. 

„Die  Behandlung  ist  nicht  mehr  so  streng  wie  friiher." 

f,Dariiber  klagen  Sie?"  stottre  ich  und  sehe  verstandnislos 
meinen  Begleiter  an. 

Der  belehrt  mich,  dafi  dieser  Gefangene  Gehilfe  des  War- 
ters  sei,  und  schon  eine  alte  Geschichte  sagt,  daB  der  Knecht, 
den  man  zum  Aufseher  einsetzt,  mit  Skorpionen  zuchtigt,  wo 
der  Herr  nur  mit  Ruten  straft. 

671 


Offener  Brief,  leicht  angeheitert 

VV/erte  Schriftleitung!  Als  langjahriger  Kollege  sowic  vom 
Hauptvorstand  jjenehmigtes  Mitglied  dcs  Schutzverbandes 
Deutscher  Schriftsteller  gestatte  ich  mir,  den  nachfolgenden 
Protest  in  Ihren  geschatzten  Spalten  loszulassen,  fur  welchen, 
da  im  Interesse  der  guten  Sache,  notfalls  kein  Honorar  in  Ab- 
rechnung  stelle.  In  einer  Zeitf  wo  der  Schriftsteller  nicht  nur 
mit  der  deutschen  Sprache  sondern  letzten  Endes  auch  mit 
der  Wirtschaftskrise  ringt,  ist  es  als  ein  regularer  Doichstofl 
von  hinten  in  unsern  Berufsstand  zu  betrachten,  daB  man  eben- 
so  wie  die  Zeilenhonorare  auch  noch  unsre  Standesehre  herab- 
setzt  und  gewissermaBen  in  der  Gosse  zertritt  wie  eine  nicht 
mehr  benotigte  Tageszeitung.  Jedem,  der  sein  Brot  mit  seiner 
Feder  SchweiB  erarbeitet,  muB  sich  dieselbe  strauben,  wenn 
er  in  dem  jiingst  angeiaufenen  Bildstreifen  t1Die  Grafin  von 
Monte  Christo"  den  Journalismus  als  solchen  in  widernatiir- 
licher  Verzerrung  dargestellt  findet,  wodurch  die  Einladung  des 
derart  besudelten  Berufszweiges  per  Freikarte  zur  Premiere 
nachtraglich  als  ein  billiger  Hohn  aufzufassen  ist  und  mir  durch 
eine  ausfiihrliche  Rticksprache  mit  einem  maBgebenden  Mit- 
glied der  Filmprufstelle  und  des  Innenministeriums  die  innere 
GewiBheit  verschafft  habe,  daB  hier  eine  Remedur  innerhalb 
der  gesetzlichen  Vorschriften  durchaus  moglich  und  zu  fordern, 
Zwar  darf  einem  Bildstreifen  die  Zulassung  wegen  einer 
politischen,  sozialen,  religiosen,  ethischen  oder  Weltanschau- 
ungstendenz  als  solcher  nicht  versagt  werden,  doch  spielt  in 
dem  erwahnten  Tendenzwerk  der  fragliche  Journalist  eine  so 
untergeordnete  Rolle,  daB  dadurch  der  Anschein  erweckt 
wird,  daB  es  auch  in  Wirklichkeit  so  sei,  wodurch  lebenswich- 
tige  Interessen  unsres  Standes  offensichtlich  gefahrdet  werden. 
Eine  viel  groBere  Rolle  hingegen  spielt  eine  andre  Rolle,  nam- 
lich  eine  Rolle  Pfefferminzplatzchen,  welche  der  Lokalredak- 
teur  Stephan  Riehl  seiner  Freundin  Jeanette  Heider  beim  Ab- 
schied  iiberreicht.  Da  eine  ordmtngsgemaBe  Verkostigung  von 
Freundinnen  in  teuren  Restaurants  sonst  in  Filmen  durchaus 
handelsublich  und  also  das  Gegenteil  als  gegen  die  guten  Sitten 
verstoBend  anzusehen  ist  und  zumal  grade  in  einer  Abschieds- 
situation  eine  kraftigende,  vitaminhaltige  Speise  schon  a  us 
Griinden  seelischen  Taktes  am  Platze  ware,  erzeugt  der  Film 
die  Vorstellung,  als  pflegten  Berufsschriftsteller  aller  Art  junge 
und  ihnen  moglichenfalls  zu  Willen  gewesene  Madchen  mit 
einer  Pfefferminzpastille  von  bitter-brennendem  Geschmack 
abzuspeisen,  und  da  ein  prominenter  Erwerbszweig  wie  der 
Journalismus  zweifellos  als  typisch,  wennschon  als  fortschritt- 
lich  angesehen  werden  muB,  wird  dennoch  Deutschlands  An- 
sehen  im  Auslande  gefahrdet,  indem  der  BegrifFder  deutschen 
Treue  in  zynischer  Weise  unterhohlt  und  quasi  der  Versucb 
gemacht  wird,  die  keimende  Liebe  mit  Hilfe  solcher  unzuch- 
tiger  Erfrischungs-Requisiten  durch  Unterbrechung  kiinstiich 
aufzuhalten.  Abgesehen  davon  beachte  man,  daB  hier  ein 
672 


Pressemitarbeiter  cincr  bekannten  FiLmschauspielerin  etwas 
anbietet,  was  den  Tatbestand  der  aktiven  Bestechung  erfiillt 
und  also  die  Wirklichkeit  in  ihr  Gegenteii  verkehrt,  wic  jeder 
Kenner  dcr  Presse  aus  vollcm  Herzen  bestatigen  kann,  zumal 
*s  sich  in  dem  fraglichen  Bildstreifen  um  cin  wiener  Blatt 
nam  ens  ,Journal'  handelt. 

Die  Szenen  in  der  Redaktion  des  genannten  Biattes  legen 
den  Verdacht  nahe,  als  sehne  der  Schriftleiter  bedauerliche 
Ereignisse  wie  Verkehrsunfalle  oder  gar  Totungen  formlich 
herbei,  um  zur  Bereicherung  des  genannten  Biattes  aus  mate- 
riellem  Interesse  an  der  eignen  Stellung  beizutragen.  Diese 
Darstellung  entspricht  zwar  den  Tatsachen,  doch  ist  nach  den 
Entscheidungen  der  Filmprufstelle  die  Wahrheit  als  solche 
noch  kein  hinreichender  Grund  zur  offentlichen  Vorfiihrung. 
Vielmehr  gilt  hier  der  im  Goethejahr  besonders  zeitgemaBe 
Grundsatz;  Erlaubt  ist,  was  gefallt,  und  verboten  ist,  was  nicht 
gefallt.  Auch  kann  keine  Rede  davon  sein,  daB  es  als  be- 
zeichnend  fur  das  Zeitungsgewerbe  gelten  konne,  die  Erleb- 
nisse  der  eignen  Braut  gewissermaBen  telephonisch  auszu- 
schlachten,  wie  es  hier  geschieht,  vielmehr  wird  in  einem  Wi- 
derstreit  zwischen  Silvesternummer  und  Freundin  immer  die 
letztere  das  letzte  Wort  haben,  und  muB  es  verrohend  und 
entsittlichend  wirken,  wenn  in  Jugendlichen  etwa  die  Dber- 
zeugung  geweckt  wird,  als  befinde  sich  der  Schrirtsteller  wah- 
rend  der  Liebe  immer  mit  der  einen  Hand  an  der  Schreib- 
maschine,  gleichsam  um  auch  nur  einige  Zeilen,  und  sei  es  fiir 
das  Feuilleton,  gegen  Entgelt  daraus  Gewinn  zu  ziehen! 

Der  kraB  verhetzende  Einblick  in  die  Art,  wie  sich  der 
Kollege  Riehl  mit  Hilfe  weiblicher  und  noch  dazu  unlauterer 
Mittel  (Unterschlagungt  Betrug  und  Urkundenfalschung  sowie 
t)bertretung  der  Geschwindigkeitsvorschriften  im  Kraftfahr- 
wesen)  in  seiner  Position  zu  halten  sucht  und  nicht  mit  den 
Methoden,  wie  sie  Deutschland  letzten  Endes  groB  gemacht 
haben,  muB  das  Vertrauen  des  deutschen  Volkes  zu  seiner 
Presse  in  abonnementsschadlicher  Weise  erschiittern,  wodurch 
AbbaumaBnahmen  notwendig  und  neuc  Belastung  des  Arbeits- 
marktes  eine  unausloschliche  Folge.  Auch  muB  die  Art,  wie 
hier  ein  noch  dazu  unbemitteltes  junges  Madchen  einen  ange- 
stellten  Schriftsteller  gewissermaBen  als  das  kleinere  Obel  tole- 
riert  statt  seiner  heiB  begehrt  und  ihn  nur  deshalb  erhort,  weil 
der  ihr  eigentlich  zusagende,  von  einem  besseren  Schauspieler 
ixnd  in  besseren  pekuniaren  Verhaltnissen  gespielte  Hochstap- 
ler  infolge  Haft  als  Ehepartner  nicht  in  Frage  kommen  kann, 
den  fiir  jeden  Schriftsteller  lebenswichtigen  Kontakt  mit  dem 
weiblichen  Geschlecht  auflockern,  indem  ihm  eine  gewisse  ge- 
schlechtliche  Minderwertigkeit  stillschweigend  in  die  Schube 
geschoben  wird  und.  vom  Verkehr  mit  ihm  abgeschreckt,  der 
doch  nicht  nur  zur  aligemeinmenschlichen  physiologischen  Ab- 
spannung  als  auch  spezifisch  beruflich  zu  Zwecken  der  Motiv- 
suche  des  Weibes  als  Betriebskapitai  und  Werbungskosten  in 
hochstem  MaBe  bediirftig  ist!     Was    hier  in    knappen,    klaren 

673 


Satzen  gebiihrend  niedriger  gehangt  wird,  faBt  dcr  fragliche 
Bildstreifen  in  dem  epigrammatischen  Ausspruch  einer  als  un- 
gcbildet  gekennzeichneten  Mitwirkenden  zusammen,  wclchc  in 
die  Worte  ausbricht;  MIch  habe  dir  immer  gesagt,  die  Herren 
von  der  Zeitung  taugen  nichts:  sic  haben  nie  Zeit,  sie  konnen 
nicht  tanzcn,  und  sie  wollen  immer  Recht  behalten!"  Obwohl 
sich  ein  Kommentar  hierzu  ertibrigt,  mochte  ich  doch  darauf 
hinweisen,  wie  diese  offensichtlich  als  Verallgemeinerung  for- 
mulierte  Behauptung  schon  in  ihrem  ersten  Teil  von  ganzlichem 
Mangel  an  Verstandnis  fur  das  Wesen  der  Presse  zeugt,  da  es 
ja  grade  ihre  recht  eigentliche  Aufgabe  ist,  keine  Zeit  zu  haben, 
Durch  den  voreiligen  Hinweis  auf  die  tanzerische  Unfahigkeit 
eines  ganzen  Berufsstandes  wird  die  aus  dem  hiesigen  Kultur- 
leben  gar  nicht  wegzudenkende  Bezeichnung  f,PresseballM  grade- 
zu  zur  contrad'ictio  in  adjecto  gebiihrenpflichtig  gestempelt  und 
dadurch  die  Wohlfahrtskassen  des  Vereins  Berliner  Presse  ge- 
schadigt,  wahrend  andrerseits  wohl  auch  der  Verband  deut- 
scher  Tanzkritiker  hier  ein  Wortchen  wird  mitzusprechen 
haben*  Und  was  die  Bemerkung,  die  Herren  von  der  Zeitung 
wollten  immer  Recht  haben,  anlangt,  so  ist  zu  bemerken,  dafi 
sich  ohne  Miihe  der  Gegenbeweis  dafiir  erharten  laBt,  da8  die 
Presse  keineswegs  immer  recht  hat,  wie  aus  Voraussagen  iiber 
Wahlresultate,  Wetterlage  und  die  Rennergebnisse  im  Rasen- 
sport  zwanglos  hervorgeht. 

Inwieweit  eine  solche  offentliche  Zurschaustellung  unhalt- 
barer  Zustande  die  geistige  Berufstauglichkeit  unsrer  Kollegen 
auch  in  stilistischer  Beziehung  planmaBig  herabmindern  muB, 
sei  aus  einer  wahllos  herausgegriffenen  Kritik  iiber  den  oben- 
erwahnten  BiLdstreifen  bewiesen,  welche  in  einem  Fachblatt 
wortlich  folgendermaBen  anhob: . 

Der  Ausflug  aus  dem  Reich  der  vorgezeichneten  Schicksale  ins 
Land  der  still  verbramten  Fiigungen  blcdbt  auch  nur  Illusion.  Geneig- 
ten  Auges  folgt  der  Betrachter  den  wundersamen  Erlebnissen  der 
Jeanette  Heider,  die,  mit  kiihler  Schonheit  und  einem  kalten  Tempe- 
rament beschenkt,  ins  Durcheinander  heifier  Verstrickungen  kommt, 
Geneigten  Ohres  lauscht  der  Horer  den  hingefliisterten  Aphorismen 
zur  Lebensweisheit  —  Paralipomenen  eines  wankenden  Dichterhirns, 

Wenn  schon  die  durch  die  Fachpresse  hinreichend  gestahl- 
ten  Dichterhirne  ins  Wanken  geraten,  liegt  es  auf  der  Hand,  dafi 
die  Vorfuhrung  vor  einem  zu  Premierezwecken  iiberall  im 
Reich  in  Massen  herbeieilenden  Journalistenpublikum  im  h6ch- 
sten  MaBe  geeignet  ist,  die  offentliche  Ordnung  und  Sicherheit' 
zu  gefahrden,  zumal  der  durch  die  Oberzahl  minderwertiger 
Operettenfilme  seit  langem  aufgehaufte  Ziindstoff-  in  eine  jahe 
Flamme  au&brechen  muB,  wenn  plotzlich  ausgerechnet  in  einem 
kunstlerisch  wertvollen  Filmwerk  die  Presse  zum  Gegenstand 
billiger  Demagogie  nebst  Verhohnung  gemacht  wird.  Indem  ich 
Sie  unter  Hinweis  auf  Paragraph  1 1  des  Pressegesetzes  ersuche, 
diese  Ausfuhrungen  umgehend  zur  Kenntnis  Ihrer  geschatzten 
Leser  und  der  dito  Filmpriifstelle  Raum  zu  gewahren  zu  wollen, 
zeichne 

mit  kollegialer  Hochachtung 

Dr.  phil.  et  dent  Rudolf  Amheim, 
Staatl.  schwergepr.  Journalist 
674 


Literarhistorisches  zur  Szene  „Goethe" 

von  Alfred  Polgar 

Im  Jahre  1908  wurde  „Goethe"  im  wiener  Kabarctt  nFleder- 
maus"  zum  ersten  Mai  aufigefiihrt.  Man  spielte  die  Szene 
dort  en  suite  uber  dreihundertmal.  Ihre  Autoren  sind  Egon* 
Friedell  und  Alfred  Polgar,  Der  Doctor  philosophiae  Friedell 
war  damals  Rentier,  was  ihm  das  Philosoph-Sein  wesentlich 
erleichterte,  betatigte  sich  zu  jener  Zeit  auch  schon  als  Schau- 
spieler.  Wenn  er  so  zum  Gelachter  der  andern  gedient  hattet 
pflegte  er,  als  letzter,  sich  selbst  iiberi  sich  lustig  zu  machen. 
Mit  diesem  Trick,  den  er  noch  heute  ubt,  hat  er  sich  in  den 
Ruf  eines  iiberlegen  witzigen  Mannes  hineinironisiert.  Ansonst 
ist  er,  von  seiner  Begabung  ganz  abgesehen,  kein  schlechter 
Mensch,  zumindest  kein  schlechterer,  als  es  die  verwickelten 
Zeitlaufte,  die  Ideale  und  die  Riicksicht  auf  das  eigne  Wohl 
erfordern,  und  uberdies  stets  bereit,  auf  seinen  Vorteil  zu  ver- 
zichten,  wenn  dabei  ein  personlicher  Profit  herausschaut.  Von 
dem  andern  Autor  des  ,, Goethe"  mochte  ich  nicht  sprechen> 
Es  wiirde  zu  nah  fiihren. 

* 

Eines  Tages  sagte  Herr  W,,  der  Griinder  und  okonomische 
Vater  des  Kabaretts  ,,Fledermaus"f  zu  uns:  ,,Schreibt  doch 
eine  Szene  fiir  die  Fledermaus".  Unser  Freund  Hahn,  der  Jour- 
nalist, erfuhr  von  dieser  Aufforderung  und  nahm  die  Sache 
in  seine  Hande.  Wenn  ich  sage:  Unser  Freund  Hahn,  so  ist 
das  „unser"  im  alierweitesten  Sinne  zu  verstehen;  wie  man 
etwa  sagt:  Unser  jammervolles  Erdenlos,  unsre  Erbsiinde,  un- 
ser Ur-Fluch.  Hahn  war  iiberall  dabei,  Hahn  war  unvermeid- 
licL  Er  ist  es  heute  noch.  Wer  in  irgendeinem  Fall  fragen 
wiirde:  ,fWas  hat  denn  Hahn  damit  zu  tun?  Was  kummert 
denn  Hahn  diese  Angelegenheit?",  konnte  ebensogut  fragen: 
„Warum  ist  die  Hitze  heiS?"  oder:  MWarum  tut  es  weh,  wenn 
man  Schmerzen  hat?"  Hahn  ist  Hahn.  Die  Definition  er- 
schopft  ihn  ganz. 

* 

Geburtsstatte  aes  ,, Goethe"  wurde  Friedells  Zimmer,  Ein 
liebenswerter  Raum  Ein  Zimmer,  das  unter  den  Zimmern 
etwa  das  ist,  was  der  Pantoffel  unter  den  Schuhen.  In  der 
Mitte  ein  groBer  Schreibtisch,  wie  ein  Altar  der  Arbeit.  Da- 
neben  die  Ottomane,  sehr  breit.  An  der  Wand!  ein  Pfeifen- 
stander,  reich  bestanden.  Der  Eindruck  groBer  Behaglichkeit 
wird  verstarkt  doirch.  den  machtigen,  konkav  ausgesessenea 
Lehnstuhl,  Lieblingsaufenthalt  Onkel  Rettichs.  Onkel  Rettich 
ist  leider  schon  tot;  wir  haben  ihm  in  „ Goethe",  wie  man  ztk 
sagen  pflegt:  ein  Denkmal  gesetzt.  Wenn  er  so,  freundlich 
paffend,  im  Lehnstuhl  doste,  verschmolzen  Mensch  undj  Mobel 
zu  einer  Einheit;  man  hatte  dann  ganz  gut  auch  sagen  konnen: 
Jetzt  hat  sichs  der  Lehnstuhl  unter  Onkel  Rettich  bequem 
gemacht. 

Wir  arbeiteten  also  in  Friedells  Stube.  Das  heiBt:  ich 
arbeitete.     Er  lag  auf  der  Ottomane,  rauchte  lange  Pfeife  und 

675 


schlieL  Zuweilen  kam  die  Tantc  herein  und  brachte  Nahrung. 
Sie  kochte  herrlich.  Ihre  Torten  besonders,  aufgegipfelt  aus 
sanft  zerschmelzenden  teigigen  Bestandteilen,  die  durchsickert 
waren  von  kostlichen  Obstsalten,  leben  fort  in  meiner  Erinne- 
rung.  Es  tut  mir.  nicht  leid,  mit  Friedell  die  Szene  „Goeth.e" 
verfaBt  zu  haben, 

* 

Unsre  Dichtung  wurde  in  kurzer  Zeit  fertig  gestellt.  Am 
erst  en  ihrer  Niederschrift  gewidmeten  Tag  schon  fand  sie  ihr 
(vielleicht  mehr  mechanisches,  als  organisches)  Ende.  Das 
heifit,  wir  beschlossen  einfach,  aufzuhoren  und  die  Arbeit  als 
beendet  anzusehen. 

Sie  war  so  angelegt,  daB  uns  nichts  geschehen  konnte: 
mit  inteliektueller  Riickversicherung  gleichsam.  Die  Satire 
ging  nicht  tief,  aber  so  wars  beabsichtigt,  im  Hinblick  auf  die 
geistigen  Moglichkeiten  eines  sehr  gemischten  Kabarettpubli- 
kums,  Sie  war  auch  nicht  allzu  lustig,  aber  wir  wollten  doch 
keine  Posse  schreiben.  Sie  war  nicht  popular,  weil  die  Sache 
*inen  literarischen  Anstrich  haben  sollte.  Aber  audi!  kei- 
sieswegs  iibermaBig  fein,  weil  auf  groBe  Massenwirkungen  in 
Ice  in  em  Fall  Verzicht  geleistet  werden  durfte*  Kurz:  es  geriet 
«eine  ernste,  lustige,  fiir  Feinschmecker  berechnete,  volkstiim- 
Hiche,  auf  feine  Manier  derbe  Satire  fiir  gebildete  Ignoranten. 

In  ihren  ersten  Teil  brachten  wir  nachtraglich  eine  weib- 
liche  Figur  unter:  des  schlechten  Schulers  Freundin.  Das  war, 
*heute  kann  ich  es  ja  sagen,  lediglich  eine  Spekulation  auf  die 
"Sinnlichkeit  des  Publikums,  Durch  manche  Darstellerin  der 
Lina  -wurde  unsre  Spekulation  empfindlichi  durchkreuzt. 

1  * 

Hahn  war  nicht  miifiig.  Er  verbreitete  mancherlei,  er 
-sprach  mit  vielen,  er  besetzte  das  Stiick  im  Mutterleib,  er  be- 
reitete  vor,  sorgte,  betreute,  alles  in  seiner  lautlosen  und  doch 
so  wirksaroen  Manier,  eine  Bakterie  der  Niitzlichkeit.  Als  je- 
mand  meinte:  „Das  ist  ja  Blasphemie.  So  darf  man  mit  Goethe 
doch  nicht  umgehen!",  half  er  aus  der  Verlegenheit,  indem  er 
sagte:  ltSeien  Sie  nur  unbesorgt,  das  werde  ich  schon  machen. 
Ich  werde  mit  ihm  reden!" 

In  der  nachsten  Zeit  beschaftigten  uns  Fragen  der  Be- 
«etzung.  Den  Goethe  mufite,  aus  sprachtechnischen  Griinden, 
Friedell  spielen,  das  war  klar.  Er  beherrscht  einen  eigentum- 
lich  schwabisch-bayrischen  Jargon,  den  er,  in  wienerischer  Ge- 
sellschaft,  frankfurtisch  nennt,  Hahn  biirgte  fiir  die  Echtheit 
des  Idioms,  Fiir  die  andern  Rollen  begann  man  nach  unent- 
deckten  schauspielerischen  Talenten  Jagd  zu  machen.  In  der 
„Fledermaus"  war  es  Obung,  daB  Besucher,  die  durch  haufiges 
£rscheinen  und  langeres  Dableiben  sich  fiir  den  Aufenthalt  in 
Kabarettraumen  qualifiziert  hat  ten,  jahlings,  aus  heiterm  Him- 
anel,  engagiert  wurden.  „Im  Namen  des  Herrn  W.,  Sie  sind 
<engagiert,  Machen  Sie  kein  Aufsehen  und  kommen  Sie  mit/' 
Der  Oberraschte  konnte  grade  noch  rufen:  „Was  wird  meine 
arme  Mutter  dazu  sagen!"  oder  „GruBe  mir  Lottchen!"  und 
schon  hatte  er  ein  Kostiim  aus  dem  sechzehnten  Jahrhundert 

*76 


urn,  die  SchuHern,  und  einen  ProzeB  mif}  diem  Rechts- 
anwalt  des  Unternehmens  auf  dem  Hals.  Als  der 
Goethe  besetzt  werdenj  sollte,  wurde  auf  diese  Mauier 
mancher  Gast  hoppgenommen.  Besonders  fiir  die  Rolle  des 
Kohn  (so  hieB  ,fder  gute  Schiiler"  friiher}  qualifizierten  sich 
viele.  In  lebhafter  Erinnerung  ist  mir  der  Darsteller  des  Schul- 
rats1  geblieben,  ein  junger  theaterbesessener  Musiker.  Er  girig 
die  Sache  mit  Feuereifer  an  und  bewahrte  sich,  noch  nicht  vom 
Automatismus  des  Komodienspielens  abgenutzt,  bis  in  die  letz- 
ten  Vorsteliungen  des  „GoetheM  die  Frische  und  Unmittelbar- 
keit  des  ersten  Abends-  Bei  der  300.  Aufftihrung  versprach 
er  sich  noch  genau  so  sicher  und  hatte  die  gleichen  Gedacht- 
nisstorungen  wie  bei  der  Premiere.  Die  Rolle  des  Schulrats 
besteht   aus  vier   Satzen. 

* 

Wer  aber  sollte  Regie  fuhren? 

Ehrgeizlinge  machten  sich  wichtig,  stellten  Sttihle  auf  die 
Biihne,  dirigierten  Truppen,  die  nicht  da  waren,  stieBen  ein- 
ander  weg,  machten  sich  mit  heftigen  Redensarten  das  Amt 
streitig.  Diesem  Wirbel  bereitete  das  Eingreifen  des  Chefs  ein 
Eride.  Hans  Homma,  Schauspieler  von  Beruf,  wurde  heran- 
geholt  und  iibernahm  die  Regie  des  MGoethe",  Nun  kam  gleich 
Zug  in  die  Sache.  Die  Streitenden  von  friiher  alliiertenj  sich 
und  machten  Front  gegen  den  neuen  Mann,  indem  sie  ihn  „Pro- 
fessional"  hieBen  und  ,,Berufsschauspieler"  und  ,,Buhnenkunst- 
ler"   und  ihn  noch  mit  manch  anderm  Schmahwort  krarikten, 

Immerhin  war  jetzt  einer  da,  der  etwas  wollte.  Die  an- 
dern  hatten  sonach  nichts  zu  tun,  als  das  Gegenteil  zu  wollen. 
Statt  der  durcheinanderwirkenden  Gehassigkeiten  gab  es  nun 
gradlinige  Konflikte,  gut  placierte  Hemmungen,  die  nicht  ins 
Blaue  hinein  hemmten,  sondern  die  Arbeit  mit  Sinn  und  Er" 
folg  aufhielten. 

* 

Das  Stuck  fand  verschiedene  Beurteilung. 

Onkel  Rettich  und  die  Tante  bekannten  sich  riickhaltlos 
zu  „Goethe".  Peter  Altenberg  sagte:  „Es  ist  der  auBerste 
Dreck;  und  auBerdem  ist  alles,  von  A  bis  Z,  von  mir!"  Die 
Mitwirkendeni  waren  gegen  die  Satire,  weil  sie  so  viele  Daten 
auswendig  lernen  muBten,  Wenn  sie  erst  gewuBt  hatten,  daB 
es  iauter  falsche  Daten  waren.  Maler  Karl  Hollitzer  auBerte 
sich  in  unsrer  Anwesenheit  enthusiastisch  tiber  das  Werk, 
sonst  durchaus  able  hn  end.  Die  auslandische  Presse  wahlte  die 
odeste  Taktik;  das  Totschweigen,  Jene  wiener  Blatter,  deren 
Referenten  selbst  Stiicke  zu  schreiberi  und  sie  den  Theatern 
anzuhangen  pflegten,  urteilten  wohlwollend.  Also  hatten  wir 
die  gesamte  heimische  Presse  fiir  uns. 

Nur  ein  Kritiker  war  hamisch  und  sprach  die  Beschuldi- 
gung  aus,  daB  wir  mit  unserm  Stuck  kulturelle  Absichten  ver- 
folgt  hatten.  Dieses  mifigunstige  Referat  konnte  aber  den 
eigentlichen  und  groBen  moralischen  Erfolg  des  „Goethe"  nicht 
aufhalten.  Er  bestand  darin,  daB  durch  unsre  Satire  der  in 
Wien  bis  dahin  wenig  gelaufige,  obschon  hochverdiente  Schrift- 
steller  J.  W.  Goethe,  einc  Zeitlang  ziemlich  popular  war. 

677 


Kommt  eine  Inflation?  von  Bemhard  citron 

In  politischen  und  wirtschaftlichicii  Kreisen  erortert  mian  augen- 
blickiichj  die  Frage,  o'b  eine  Anderung  der  Wahrung  fur  die 
nachste  Zeit  zu  erwarten  ist.  Ziemlich  ubereinistimmend  wird 
angenommen,  daB  in  irgend  einer  Form  der  Geldwert  vermin- 
dert  warden  soH.  Man  streitet  lediglich  tiber  den  Weg1  der 
zur  Beseitigung  der  herrschenden  Deflation  fiihrt.  Diese  Tat- 
sachen  festzustellen,  heiBt  keineswegs,  sie  zu  begriiBeTL  Man 
braucht  nicht  starr  an  einem  besthmnten  Wahrungssystem 
festzuhalten,  um  dennoch  jedes  nntzlose  Experiment  fiir  ge- 
fahrvoll  zu  halt  en.  Mit  schlichten  Worten  ausgedruckt:  In- 
flation meinetwegen,  aber  sie  muB  sich  lohnen.  Die  politischen 
Voraussetzungen  fiir  eine  Abwertung  sind  diurchaus  guns  tig. 
Von  politischen  Parteien  und  wirtschaitlichen  Gruppen  aller 
Richtungen  werden  Ankur  beltings-  und  Arbeitsbeschaffungs- 
plane  aufgestellt,  die  zwar  angeblich  anti-inflationistisch  sein 
sollen,  im  Grund'e  aber  schlieBlich  dooli  auf  eine  Vermehrung 
des  Notenumlaufs  hinausgehen,  Demgegeniiber  ist  Arnold 
Rechberg,  den  man  weder  im  politischen  noch  im  wirtschait- 
lichen Lager  sonderlich  ernst  nimmt,  wenigstens  ein  ehrlicher 
InfLationsapostel.  Industrie  und  Gewerkschaften  treffen  sich 
in  der  Befiirwortung  einer  groBziigigen  Kreditausweitung.  Die 
Industrie  ist  versohuldet  und  die  Gewerkschaftskassen  sind 
leer,  den  Unternehmern  fehlt  der  zur  Fortfuhrung  ihrer  Be- 
triebe  notwendige  Auftragsbestand  und  auf  den  Arbeiterorga- 
nisationen  lastet  die  Sorge  um  das  Schicksal  der  Arbeit slosen. 
Professor  Wagemann,  der  nicht  nur  der  L  G.  Farben-Industrie 
sondern,  geistig  wenigstens,  'auch  den  Nationalsozialisten  nahe- 
steht,  empfiehlt  Wirtschaftsautarkie  und  eine  bestimmte  Form 
von  Binnenwahrung,  die  durch  vermehrte  Ausgabe  kLeiner 
Reichsbanknoten  angeblich  nicht  erschiittert  werden  wiirde. 
Unter  den  zahlreichen  andern  Theorien  sei  zum  Beispiel  die 
des  frankfurter  Gelehrten  Doktor  Rittershausen  erwahnt,  der 
statt  eines  vermehrten  Notenumlaufs  eine  Ausweitung  des 
Scheckverkehrs  fordert.  Im  Herbst  1923,  als  die  Inflation  ihren 
Hohepunkt  erreicht  hatte,  konnte  die  Reichsbank  den  Noten- 
bedarf  der  Bevolkerung  nicht  mehr  decken.  Ob  wo  hi  bei  zahl- 
losen  Lohndruckereien  Noten  hergestellt  wurden,  war  man 
technisch  der  katastrophalen  Geldvermehrung  nicht  gewach- 
sen.  Zu  jener  Zeit  haben  die  deutschen  GroBbanken  Schecks 
aufeinander  gezogen  und  diese  zur  Auszahlung  gebracht  Jene 
Schecks  bildeten  gewissefmaBen  einen  vorlaufigen  Ersatz  fiir 
die  in  Auftrag  gegebenen  aber  noch  nicht  fertiggesteUten 
Reichsbanknoten.  Selbst  seiche  Schecks,  die,  wie  Ritters- 
hausen fordert,  nur  den  Weg  vom  Unternehmer  zum  Lohn- 
empf anger,  von  diesem  zum  Lieferanten  und  von  dort  wieder 
zur  Bank  machen,  tragen  zur  Erhohung  des  Notenumlaufs  bei. 
Auch  hierfiir  diene  ein  Vergleich  aus  der  Inflations  zeit.  Eine 
groBe  Anzahl  von  Industriegesellschaiten  hatte  zu  Lohnzah- 
lungszwecken  Not  geld  ausgegeben,  das  selbst  verstandlich  nur 
im  enigern  Umkreis  der  Fabrik  von  Kleinhandlern  in  Zahlung 
genommen  wurde.  Auch  hier  war  der  Kreislauf  des  Geldes 
sehr  rasch  geschlossen,  und  dennoch  wifd  niemand  bezweifeln 

678 


konnen,  daB  jenes  Notgeld  wesentlich  zur  weitern  Gelduber- 
schwemmung  beitrug. 

Der  Arbeitsbeschaffungsplan  der  Gewerksohaften  sieht, 
wte  hicr  in  einer  der  friihern  Nummern  dargelegt  worden  ist, 
cine  Kreditausweitung  zur .  Schaf f umg  zusatzlicher  Arbeitsmog- 
lichkeitcn  vor.  Es  skid  dies  Gedankengange,  die  in  weniger 
kiiltivierter  Form  auch  bei  den  Theoretikern  des  National- 
sozialismus  zu  finden  sind.  In  der  Sache  ist  man  sich  also 
ziemlich  einig,  es  handelt  sich  eigentlich  nur  darum,  eine  an- 
standige  Umschreibung  -fur  das  anriichige  Wort  „  Inflation"  zu 
finden,  Aus  gewissen  AuBerungen,  die  einem  Minister  gele- 
gentlich  entschliipft  sind,  kann  man  entnehmen,  daB  auch  die 
Reichsregierung  urn  eine  Araderung  der  Sohuldverhaltnisse  be- 
muht  ist.  Man  erkennt  jetzt,  daB  die  durch  Notverordnung 
vora  8.  Dezemiber  vorigen  Jahres  verfiigte  Zinskonversion  ein 
Schiag  ins  Wasser  gewesen  ist.  Man  hat  damals  in  bestehende 
Rechts vernal tnisse  eingegriffen  und  prinzipiell  das  Gleiche  ge- 
tan,  als  wenn  man  die  Schuldsumme  herabgesetzt  hatte.  Der 
Glaube  an  die  Unverletzbarkeit  wirtschaftlicher  Vertrage  ist 
erschiittert,  die  Entlastung  der  Schuldner  aber  nur  gering- 
Wenn  man  bedenkt,  daB  durch  d'en  Eingriff  der  Kurs  festver- 
zinslicher  Werte  weit  iiber  das  MaB  der  Zinsherabsetzung  ge- 
sunken  ist,  so  kann  man  wobl  unterstellen,  daB  bei  einer  Auf- 
rechterhaltung  des  bis  dahin  geltenden  Zinsendienstes  die  Lom- 
bardierungsmoglichkeit  von  Wertpapieren  erheblich  grofier  ge- 
wesen ware  als  dies  heute  tatsachlich  der  Fall  ist.  Die  Schuld- 
ner haben  also  von  der  ZinsermaBigung  nur  einen  sehr  beding- 
ten  Nutzen  gehabt.  Hier  gilt  das  Gleiche,  was  oben  von  der 
Inflation  gesagt  worden  ist:  Eingriff  nur  dann,  wenn  er  sich 
wirklich  lohnt. 

Man  kann  davon  uberzeugt  sein,  daB  die  Reichsregierung 
nicht  ein  zweites  Mai  zu  einer  Zinskonversion  schreiten  wird. 
Eine  neue  Kapitalabwertung  miiBte  endgiiitig  unid  darum  radi- 
kai  sein.  Man  kann  sie  von  der  Wahrungs-  oder  von  der 
Schuldenseite  anfassen.  In  der  Praxis  wiirde  eine  Schulden- 
abwertung  auch  auf  Devalvation  und  eine  Devalvation  auch 
aui  Schuldenabwertung   hinauslaufen. 

Die  Reich sbank  nimmt  bekanntlich  den  Standpunkt  ein, 
daB  an  der  Wahrung  nie  und  nimmer  geruttelt  werden  darf. 
Wcnm  man  der  Wirtschaft  schon  Erleichterung  schaf  fen  muB, 
so  foeginugt  man  sich  lieber  mit  Mitteln,  die  im  Rahmen  der 
normalen  Notenbankpolitik  liegen.  Die  Begriindung  der  letz- 
ten  Reichsbankdiskont-ErmaBigung  lieB  erkennen,  daB  Doktor 
Luther  und  seine  Kollegen  nicht  mit  ganzem  Herzen  fur  die 
Herabsetzung,  eingetreten  sind.  Die  devisenpolitischen  Beden- 
ken  bestehen  fort,  aber  eine  DiskontermaBigung  ist  immerhin 
noch  ungefahrlicher  als  eine  Erhohung  des  Notenumlaufs.  Ai- 
lerdings  erfullt  die  DiskontermaBigung  nur  dann  den  Zweck, 
die  Lage  der  Wirtschaft  zu  erleichtern,  wenn  zu  den  verbillig- 
ten  Zinssatzen  Kredite  auigenommen  werden.  Will  man  sich 
von  den  in  der  JagerstraBe  herrschenden  Gedankengangen  ein 
ungefahr  zutreffendes  Bild  machen,  so  muB  man  das  Motiv  der 
gegenwartigen  Reichsbankpolitik  in  Rechnung  stellen:  ,,Wenn 
wir  schon  Kredite  geben  muss  en,  dann  wo>llen  wir  wenigstens 

679 


die  Kontrolle  in  der  Hand:  behalten".  Kurzlich  schrieb  Reichs- 
bankdirektor  Doktor  Fricdrich,  dafi  eine  Umlagerung  der 
Bankkredite  vom  Kontokorrent-  zum  Wechselkredit  notwendig 
seL  Der  Kontokorrentkredit  ist  —  diese  Anschauung  kann 
man  Geheimrat  Friedrich  wohl  unterstellen  —  eine  verhajt- 
nismaBig  schwer  zu  durchleuchtende  Form  d^s  Aktivgeschaftes 
der  Kreditinstitute.  Das  Wechselakzept  kann  von  der  Reichs- 
bank  nicht  riur  kontrolliert  sondern  auch  reguliert  werden. 
Aus  ahnlichen  Griinden  werden  die  liquiden  Sparkassewmittel 
bei  der  Deutschen  Girozentrale  beziehungsweise  der  Reichs- 
bank  konzentriert,  Auch  hier  sichert  sich  die  Reichsbank  eine 
Revisions-  und  Zugriffsmoglichkeit.  Das  Zentralnoteninstitut 
,hat  es  also  verstanden,  die  Ziigel  des  deutschen  Kreditwesens 
recht'  fest  in  den  Handen  zu  halten.  Von  dieser  S«ite  wird 
man  hochstens  eine  gelegentliche  Lockerung,  aber  keine  grund- 
satzliche  Abkehr  vom  geltenden  Kredit-  und  Wahrungssystem 
erreichen  konnen.  Anscheinend  will  auch  niemand  der  Reichs- 
bank in  der  Kreditfrage  energisch  entgegentrete<n,  eher  wird 
man  die  Frage  von  der  Schuldenseite  anfassen.  Das  Tra- 
gische  an  den  bevorstehenden  Entscheidungen  ist  nur,  daB  die 
Zeche  nicht  von  den  Ausiandsglaubigern,  die  doch  zum  groB- 
ten  Teile  Devisenkredite  gegeben  haben,  auch  nicht  vom  deut- 
schen GroBkapital,  das  in  seiner  tiberwiegend-en  Mehrheit  uber- 
schuldet  ist,  sondern  vom  kleinen  Sparer  und  Konsumenten  ge- 
zahlt  wird.  Die  giinstigen  Auswirkungen,  die  durch  Schaffung 
zusatzlicher  Arbeit  dann  auch  fiir  diese  Kreise,  soweit  sie 
wenigstens  arbeitsfahig  sindf,  hoffentlich  eintreten,  werden 
sich  jedenfalls  erst  in  zweiter  Linie  bemerkbar  machen. 
Am  erfreuliohsten  ware  es,  wenn  die  augenblicklich  herum- 
schwirrenden  Inflations-  und  Devalvationsgeriichte  das  eine 
Gu-te  hatten,  die  gehorteten  Banknoten  herauszulocken  und 
wieder  in  den  Verkehr  zu  bringen.  Das  Ungliick  der  Wirt- 
schaft  ist  es  gewesen,  daB  man  ihr  im  vergangenen  Jahre  weni- 
ger  Vertrauen  als  dem  Reich  geschenkt  hat.  Das  Reich  ist 
daran  aber  unschuldig. 

AlteS  Lied  1794  von  Theobald  Tiger 

W/enn  in  des  Abends  letztem  Scheme 
"     dir  eine  lachelnde  Gestalt 
am  Rasensitz  im  Eichenhaine 
mit  Wink  und  GruB  vohiberwallt  — : 
Das  ist  des  Freundes  treuer  Geist, 
der  Freud'   und  Frieden  dir  verheifit. 

Wenn  bei  des  Vollmonds  Dammerlichte, 
das  zagend  durch  die  Zweige  sieht, 
durch  dunkeln  Hain  von  Tann   und  Fichte 
ein  fauliges  Geriichlein  zieht  — : 
Das  ist,  was  da  so  grauslich  riechl 
Herr  Gobbels,  der  voniberfliecht. 

Wenn  bei  dem  Silberglanz  der  Sterne, 
wenn   schwarze   Nacht  herniederweint, 
gleich  Aeolsharf  en  aus  der  Feme  . . , 
wenn  dir  dann  gar  kein  Geist  erscheint  — : 
Dies  Phanomen,  damit  dus  weiBt, 
das  ist  Herrn  Adolf  Hitlers  Geist, 
680 


Bemerkungen 

Lenin  und  die  „Scheln- 
R&ierepublik*' 

I"Ve  ,Rote  Fahne'  hat  am 
*^  22.  April  ein  Telegramm  ver- 
offentlicht,  das  Lenin  „im  April 
1919"  —  der  Tag  ist  nicht  an- 
gegeben  —  an  das  bayerische 
Proletariat  gerichtet  habe,  Dem 
Inhalt  nach  scheint  es  das  voll- 
standige  Dokument  zu  sein.  Doch 
widerspricht  dem  die  Wendung: 
„In  dem  Telegramm  Lenins  heiUt 
es:  , . ."  Die  ,Rote  Fahne'  be- 
hauptet,  das  Telegramm  sei  ab- 
gesandt  worden,  teilt  aber  nicht 
mit,  woran  das  zu  erkennen  war, 
als  es  „erst  Jahre  darauf"  im 
Lenin-Institut  (Moskau)  wieder- 
gefunden  wurde.  Jedenfalls  wird 
mit  der  Leichtfertigkeit,  mit  der 
Tendenzgeschichte  gemacht  zu 
werden  pflegt  (und  die  in  den 
Antworten  der  .Weltbtihne'  be- 
reits  gekennzeichnet  wurde),  er- 
klart:  „Die  Empfanger  dieses 
Telegramms,  die  Fiihrer  der 
Schein-Raterepublik  —  Niejkisch, 
Klingelhofer,  Ernst  Toller  und 
Konsorten  —  habe  das  bedeut- 
saine  Dokument  dem  bayerischen 
Proletariat    unters'chlagen/' 

Ich  stelle  fest:  das  Telegramm 
hatte,  wenn  es  an  den  Zentral- 
rat  gerichtet  worden  ware,  in 
meine  Hande  kommen  miissen. 
Der  Volksbeauftragte  fur  Aufien- 
politik,  Lipp,  warf  wie  die  drei 
in  der  ,Roten  Fahne'  genannten 
Zentralratsmitglieder,  Angehori- 
ger  der  USPD.  (Lipp  ist  j  etzt 
Mitglied  der  KPD.)  Die  links- 
radikalen  Genossen  des  Revolu- 
tionaren  Arbeiterrates,  in  der 
Mehrzahl  Spartakisten,  forder- 
ten,  dafi  ich  dem  AuBenkommis- 
sariat  als  Referent  fur  die  russi- 
schen  und  ungarischen  Angele- 
genheiten  beigegeben  werde. 
Ohne  ein  festes  Amt  anzuneh- 
men,  versah  ich  den  Dienst  nach 
dem  Wunsche  der  Genossen,  re- 
digierte  in  der  Nacht  zum 
7i  April  die  Funkspruche  nach 
Moskau  und.  Budapest,  gab  sie 
selbst  am  Funkturm  auf  und  liefi 
alle  Berichte,  die  sich  auf  die 
Verhaltnisse  in  den  beiden  schon 
bestehenden    Raterepubliken     be- 


zogen,  unmittelbar  mir  zuleiten. 
Als  Antwort  auf  unsre,  von  Lipp 
und  mir  unterzeichnete,  Mittei- 
lung  von  der  Ausrufung  der 
Ratetrepublik  kam  von  Moskau 
eine  Begrufiung  Tschitscherins, 
worin  der  „unbeschreiblichen  Be- 
geisterung"  des  russischen  Vol- 
kes  Ausdruck  gegeben  wurde,  mit 
der  es  die  Nachricht  empfangen 
habe.  Weiter  habe  ich  keine 
Telegramme  aus   RuBland  gesehn. 

Bekanntlich  uberraschten  die 
Parteikommunisten  uns,  nachdem 
die  Errichtung  der  Raterepublik, 
die  sie  selbst  bis  dahin  sturmisch 
verlangt  hatten,  unvermeidlich 
ge  worden  war  (sdehe  meine 
Schrift  „Von  Eisner  bis  Levine"), 
mit  dem  Beschlufi,  die  vollzogene 
Tatsache  nicht  anzuerkennen  und 
alle  Krafte  gegen  die  neue  Ord- 
nung  der  Dinge  in  Bewegung  zu 
setzen,  ferner  auch  die  Raterepu- 
blik als  Schein-Raterepublik  der 
allgemeinen  Verachtung  zu  emp- 
fehlen.  Bine  sehr  grofie  Zahl 
ihrer  eignen  Parteiganger  wider- 
setzte  sich  der  Fiihrung,  brach 
die  Disziplin  und  arbeitete  mit 
dem  Zentralrat,  in  dem  es  trotz 
der  Sabotage  der  KPD  gelang, 
den  EinfluB  der  Sozialdemokra- 
ten  und  Gewerkschaften  vollstan- 
dig  zu  brechen.  Es  gelang  sogar, 
allerdings  gegen  heftigen  Wider- 
stand,  die  Forderung  der  Kom- 
munisten  durchzusetzen,  dafi  sie 
ohne  Aufsicht  mit  Moskau  durch 
Funkspruche  verkehren  konnten. 
Ich  setzte  mich  sehr  energisch 
fur  diese  Forderung  ein,  weil  es 
mir  gerecht  schien,  dafi  die  Par- 
teigenossen  der  russischen  Sow- 
jetfiihrung  hier  ein  Sonderrecht 
genossen,  aber  auch  weil  ich 
hoffte,  /3er  kluge  Lenin  werde 
die  wahnwitzige  Sabotagepolitik 
gegen  die  Raterepublik  als  Ver- 
hangnis  fur  die  Revolution  er- 
kennen und  abstellen.  Was  ins- 
geheim  zwischen  den  miinchner 
Kommuinisten  und  Moskau  da- 
mals  gefunkt  wurde,  entzieht  sich 
meiner  Kenntnis.  Ist  aber  das 
Lenin-Telegramm  wirklich  zur 
Zeit  der  ersten  Periode  der  Rate- 
republik   abgesandt     worden,     so 

681 


kann  es  nur  eine  Anweisung  an 
seine  Parteigenossen  gewesen 
sein,  die  es  unterlassen  haben, 
dem  Proletariat  davon  Mitteilung 
zu   machen, 

Zum  Inhalt  des  sehr  interes- 
panten  Dokumentes  ist  nur  zu 
sagen,  dafi  wir  „Schein-Rate- 
r  epublikaner ' '  nur  ganze  sechs 
Tage  am  Werke  waren.  In  der 
Nacht  zum  13.  April  erfolgte  der 
sogenannte  Palmsonntagsputsch 
der  Sozialdemokraten,  bei  dem 
ich  mit  zwolf  andern  Mitgliedern 
des  Zentralrates  in  Gefangen- 
schaft  geriet.  Bis  dahin  hatten 
wir  vorbereitet  die  allgemeine 
Neuwahl  der  Rate,  die  vollstan- 
dige  Umgestaltung  des  Banken- 
und  Geldwesens,  fatten  die  Woh- 
nungen  der  Reichen  fur  Zwangs- 
einquartierungen  registriert  und 
schon  teilweise  beschlagnahmt, 
arbeiteten  durchaus  in  der  Rich- 
tung,  die  Lenin  in  seinem  Tele- 
gramm  empfiehlt,  konnten  aller- 
dings  in  einer  Woche  noch  keine 
fertigen  Resultate  der  allgemei- 
nen  Umgestaltung  schaffen,  zu- 
mal  uns  der  fanatische  Kampf 
der  Parteikommunisten  gegen 
unsre  Gesamtarbeit  aufs  starkste 
behinderte, 

Nachdem  der  Palmsonntags- 
putsch vom  miinchner  Proletariat 
abgeschlagen  war,  iibernahm  die 
Kommunistische  Partei  die  al- 
leinige  Leitung  der  Raterepu- 
blik,  die  nunmehr  als  echt 
anerkannt  wurde.  Diese  Pe- 
riods dauerte  drei  Wochen.  Es 
ist  aber  nicht  bekannt  geworden, 
daB  in  dieser  Zeit  im  Aufbau  des 
Sozialismus  iiber  die  von  uns  ge- 
schaffenen  Anfange  hinaus  etwas 
im  Sinne  der  Anweisungen 
Lenins  geleistet  worden  ware. 
Das  ist  kein  Vorwurf  —  der  ist 
hochstens  gegen  den  posdtiven 
Abbau  der  von  Landauer  im 
Schulwesen,  von  Silvio  Gesell  im 
Geldwesen  schon  eingeleiteten 
Mafinahmen  zu  erheben;  selbst- 
verstandlich  konnte  die  Revolu- 
tion, von  alien  gegenrevolutiona- 
ren  Kraften  bedrangt  und  mit 
riesiger  Waffenmacht  angegrif- 
fen,  an  nichts  andres  denken  als 
an  kriegerische  Verteidigung 
ihrer  Grundlagen,  Aber  warum 
in   der  zweiten  Periode  aus  einer 

682 


falschen  Raterepublik  eine  rich- 
tige  geworden  sein  soil,  ist  nicht 
zu  erkennen,  Warum  ferner  in 
Ungarn,  wo  es  sich  tatsachlich 
urn  eine  Fuhrerverstandigung  zwi- 
schen  Sozialdemokraten  und  Kom- 
munisten  handelte,  im  Gegensatz 
zu  Bayern  keine  Schein-Rate- 
republik  bestanden  haben  soil, 
ist  erst  recht  nicht  begreiflich. 
Was  mir  an  Lenins  Telegramm 
das  wichtigste  scheint,  ist  die 
deutliche  Dokumentierung,  dafi 
man  in  Moskau  auf  die  tolle  Idee, 
die  Kommunisten  konnten  in 
Bayern  abseits  stehn,  uberhaupt 
nicht  verfallen  ist.  Die  Ge- 
schichte  stellt  sich  hier  mit  dem 
Mittel,  das  sie  wieder  einmal 
verfalschen  soil,  selbst  richtig. 
Erich   Miihsam 

Das  ZUngiein  an  der  Wage 

Die  Journale  verschiedenster 
Parteirichtungen  sind  darin 
einig,  daB  im  neu  gewahlten  preu- 
fiischen  Landtag  die  Kommuni- 
stische Partei  das  Ziinglein  an 
der  Wage  ist,  Ich  benutze  den 
AnlaB,  um  Zweifel  an  der  Rich- 
tigkeit  dieses  bildlichen  Aus- 
drucks  vorzubringen,  prinzipielle 
Zweifel,  ganz  abgesehen  von  den 
Schwierigkeiten,  die  es  im  beson- 
deren  Falle  macht,  sich  etwas  so 
Massives  wie  eine  Partei,  und 
noch  dazu  die  Kommunistische 
Partei,  als  Ziinglein  vorzustellen, 
Mit  der  Wendung  vom  Ziinglein 
will  gesagt  werden,  daB,  um  bei 
•  dem  aktuellen  Beispiel  zu  blei- 
ben,  die  Kommunisten,  je  nach- 
dem sie  auf  diese  oder  jene  Wag- 
schale  sich  setzen,  bestimmen 
konnen,  nach  welcher  Seite  hin 
die  Wage  sich  neigen  soil.  Von 
ihnen  also  hangt  die  Entschei- 
dung  der  Wage  ab,  aber  von 
dem  Ziinglein  an  dieser,  mit  dem 
sie  verglichen  werden,  hangt  gar 
nichts  ab,  es  hat  auf  besagte  Ent- 
scheidung  nicht  den  geringsten 
EinfluB,  es  zeigt  sie  nur  an.  Wenn 
der  PreuBische  Landtag  als  Wage 
betrachtet  wird,  so  sind  die  Land - 
tags-Parteien  die,  rechts  und  links 
ziemlich  gleich  verteilten,  Ge- 
wichte,  und  die  Kommunisten  je- 
nes  Gewicht,  durch  dessen  Hinzu- 
tun  eine  der  beiden  Seiten  das 
Ubergewicht   bekommt.      Aber  sie 


sind  nicht  das  Ziinglein  an  der 
Wage,  das  wohl  gestattet;  den 
Wage-Effekt  abzulesen,  '  doch 
durchaus  nicht  im  Stande  ist,  die- 
sen  hervorzurufen  oder  auch  nur 
im  geringsten  zu  beeinflussen.  Die 
Rolle  des  Ziingleins  hatte  etwa 
das  Abstimmungsprotokoll.  Das 
Ziinglein  an  der  Wage  ist  eine 
mifibrauchliche  Sprachwendung, 
und  die  Ausrede,  es  handle  sich 
um  eine  Metapher  —  Ersetzung 
des  Bewegenden  durch  ein  von 
ihm  Bewegtes  —  nicht  stichhaltig. 
Wenn  ich  dadurch,  daB  ich  noch 
ein  Scheit  Holz  in  den  Ofen  lege, 
bewirke,  daB  die  Temperatur  im 
Zimmer  einen  bestimmten  Grad 
crreicht,  so  kann  ich  doch  nicht 
gut  sagen,  das  Scheit  Holz  sei  der 
Quecksilberfaden  im  Thermome- 
ter, Vor  Jahren  richtete  die  wie- 
ner Wochenschrift  ,Die  Wage' 
an  ihre  Leser  ein  Rundschreiben: 
„Was  wiinschen  Sie  von  der 
,Wage*?"  Fast  alle,  die  antwor- 
teten,  wunschten  gar  nichts  von 
der  Wage,  sondern  nur  etwas 
von  deren  Ziinglein.  Ich  erwahne 
das  bloB  als  Beispiel  einer  kor- 
rekten  sprachbildlichen  Verwer- 
tung  des  so  oft  metaphorisch 
falsch  gebrauchten  Ziingleins  an 
der   Wage. 

Alfred  Polgar 

Zwecks  Lachung 

T  Tnd  wenn  man  dieser  Trostlosig- 
^  keit  der  deutschen  Politik 
entfliehen  mochte,  nur  fur  ein 
Viertelstiindchen  — :  da  ware  ein 
Buch  erschienen,  das,  wie  es  in 
der  Vorrede  heiBt,  „zum  Umblat- 
tern  geeignet  ist",  und  darum  han- 
delt  es  auch  von  Karl  Valentin 
und  heifit  „Das  Karl  Valentin- 
Buch"     (erschienen   bei   Knorr    & 


Hirth  in  Munchen.  Der  Preis  ist 
mir  nicht  bekannt,  aber  er  ist  zu 
hoch).  £s  ist  ein  Bilderbuch,  mit 
sanft  irrsinnigen  Texten,  die  von 
Valentin  stammen,  sowie  mit  zwei 
Aufsatzen  tiber  ihn, 

Man  soil  sich  seiner  Albernheit 
nicht  schamen  —  die  Bilder  auf 
Seite  40  und  41  kann  ich  nie  an- 
sehen,  ohne  immer  wieder  so  zu 
lachen,  als  ob  ich  sie  noch  nie 
gesehn  hatte.  Das  ist  aber  wirk- 
lich  erschiitternd.  Er  hat  sich  als 
Schwalangschehr  photographieren 
lassen,  er  steht  da  wie  ein  Apfel- 
baum  im  Herbst,  ganzlich  ver- 
bliiht,  kahl,  jedoch  in  einer  Uni- 
form, die  ihm  etwa  zwei  Welt- 
kriege  zu  eng  ist,  das  Gestak  der 
langen  Beine  wachst  aus  zwei  rie- 
sigen  Blumentopfstiefeln,  es  ist 
ganz  ungeheuerlich.  Und  Valentin 
als  Loreley  , . .  das  muBt  ihr  euch 
selber  ansehn.  Worte  sagen  es 
nicht,  gottlich  ist  dies  Gebild. 

Die  Bildunterschriften  stammen 
von  ihm  selber,  Zum  Beispiel: 
„Karl  Valentin  in  mimischen  Dar- 
stellungen,"  Erstens:  „Schreiner- 
meister."  Zweitens:  „Konditor- 
meister"  —  nicht  der  leiseste 
Unterschied,  doch  der  eine  hat 
helle  Haare,  und  der  andre  hat 
dunkle,  sowie  einen  Kuchen  be- 
ziehungsweise  einen  Hobel.  In  der 
Mitte;  „Feuerwehrhauptmann  in 
Zivil,  der  in  einem  Gluckshafen 
einen  Blumenstock  gewonnen  hat", 
und  wenn  man  das  sieht,  dann 
fuhlt  man:  nur  so  oder  ganz 
anders  kann  ein  Feuerwehrhaupt- 
mann  aussehn. 

Und  die  Liesl  Karstadt  ist  pho- 
tographiert,  seine  treue  Helferin, 
von  links  und  vOn  rechts;  auch 
jener  herrliche  Augenblick  findet 
sich  da  bebildert,  wo   sie  als  Ka- 


Soeben  erschien 

HERBERT  SCHLUTER 

Die  Riickkehr 
der  verlorenen  Tochter 

Roman 

Leinen  4.50 

TRANSMARE   VERLAG    A.-G.,    BERLIN    W    35 

683 


pellennieister  den  Musiker,  dem 
Verstand  und  Chemisett  vorn 
herausrutschen,  zur  Rede  stellt: 
,,Ja,  was  seh  ich  denn  da?  Sie 
haben  ja  gar  keine  Glaser  in  Ihrer 
Brille,  Valentin!"  —  „Seit  fiinf 
Jahr  schonl"  —  „Warum  setzens 
denn  dann  dos  leere  Gstell  auf?" 
—  „Besser  is  doch  wie  gar  nix." 
Und  er  macht  auf  dem  Bild  grade 
das  Gesicht,  mit  dem  er  sagt: 
t1Seit  fiinf  Jahr  schon!"  Ganz 
dumpf,  wie  von  unter  der  Erde. 
Und  das  von  der  christkatholi- 
schen  Kirche  verfehmte  Bild:  die 
Karstadt  als  Firmling  und  er  als 
Vater  —  lieber  Gott,  was  sie  alles 
mit  dir  machen!  Und  manche  Bil- 
der  sehen  aus,  als  seien  sie  bei 
einer  Dilettantenvorstellung  auf- 
genommen,  und  dann  steht  da 
plotzlich  so  ein  Satz,  wie  die 
arme  Reisende  den  Bahnhofs- 
portier  fragt:  „Wissens,  Herr 
Eisenbahnbesitzer . . ."  —  Und  auf 
einem  Bild  sieht  man  ihn  ankom- 
men,  mit  zwei  riesigen  Holzlatten, 
die  die  Zimmerlampe  herunter- 
hauen,  es  ist  vor  Weihnachten,  und 
der  treusorgende  Vater  hat  fur  die 
nachsten  zwanzig  Jahr  t,Christ- 
baumbrettln"  eingekauft,  Holz  fur 
die  kleinen  Hutschen,  auf  denen 
der  Baum  steht,  nein,  Ordnung 
muB  sein.  Einen  Baum  hat  Vater 
allerdings  noch  nicht. 

Eingeleitet  ist  das  Buch,  wel- 
ches zum  Umblattern  geeignet  ist, 
von  zwein.  Der  eine,  Tim  Klein, 
sagt,  es  gebe  fiir  Aufsatze  uber 
Valentin  zwei  Gefahren:  „das  Ge- 
strtipp  der  Metaphysik  und  das 
Sichverlieren  in  Einzelheiten."  Der 
Berliner  habe  da  ein  Wort:  „Er- 
zahlen  Sie  keine  Opern."  Wir 
sagen  sogar:  „Quatschen  Sie  keine 
Opern."  Wilhelm  Hausenstein,  der 
andre  Einleiter,  quatscht  hier 
keine  Opern;  diesmal  nur  Ope- 
retten.  Alles  hatte  so  sein  sollen 
wie  der  erste  Absatz.  in  dem  be- 
schrieben  steht,  wie  Valentin  das 
ttMeer  von  Schuckert"  auf  der 
Geige  vorspielen  will,  und  woran 
dieses  Unterfangen  scheitert.  Die 
Herausgeber  hatten  es  so  Ieicht: 
Alfred  Polgar  hat  diesen  Mann 
(wie  so  vieles  andre)  zu  Ende  be- 
schrieben.  Das  hatte  man  nur 
abdrucken  sollen. 

684 


Viel  schoner  als  alle  gebildeten 
Texte  "sind  die  Bildunterschriften. 
Unter  einem:  „Es  ist.  kein  Beweis 
daftir  vorhanden,  daB  nur  ein 
dummer  Mensch  .  saublod  aus- 
schaut  - . .",  und  wenn  man  sich 
kaputt  und  wieder  gesund  gelacht 
hat,  dann  bleibt  noch  die  Unter- 
schrift  zum  allerletzten  Bild  haf- 
ten,  auf  dem  Valentin  hintqr 
einem  Tisch  steht  und  den  Gegner 
wild  bedroht: 

„Sie  san  net  auf  uns  a'gewiesn, 
aber  mir  auf  Eahnal  Dos  mussen's 
Eahna  merka!" 

Es  ist  eine  vollig  narrische 
Welt,  in  der  dieser  da  Kaiser, 
Konig,  Edelmann,  Bauer,  Sieben, 
Achte,  Neune  und  Zehne  ist  — 
und  aus  dem  Meer  dieses  Unfugs 
taucht  der  Leser  auf  und  blickt 
auf  ein  Land,  dessen  |||H  | 
grade  so  narrisch  sind,  aber  lange 
nicht  so  amiisant  wie  Karl  Va- 
lentin. 

Peter  Panter 

Felsenecke 

Tm  ProzeB  Felsenecke,  kleiner 
*  Teilabschnitt  aus  dem  deutschen 
Biirgerkrieg,  von  dem  Knicker- 
bocker berechnet  hat,  dafi  die 
Verlustliste  bereits  182  Tote  und 
15  000  Verwundete  betragt,  han- 
delt  es  sich  um  einen  Kampf  zwi- 
schen  Kommunisten  und  National- 
sozialisten,  bei  dem  ein  Kommu- 
nist  und  ein  Nationalsozialist  ge- 
totet  wurden. 

In  Haft  sind  sechs  Fascisten, 
hingegen  achtzehn  Antifascisten, 
kcineswegs  nur  Kommunisten. 
Schon  dieses  Mifiverhaltnis  fuhrt 
zur  Erbitterung. 

In  einer  der  Sitzungen  geschah 
folgendes:  MEiner  der  Kommu- 
nisten bat  nach  mehrstundiger 
Sitzung  um  ein  Glas  Wasser  und 
ein  paar  Tropfen  Baldrian,  es 
sei  ihm  schlecht,  er  konne  sonst 
der  Verhandlung  nicht  mehr  fol- 
gen.  Der  Wachtmeister  —  warum 
weiB  kein  Mensch  — ,  der  Wacht- 
meister verweigerte  die  Baldrian- 
tropfen  und  das  Glas  Wasser. 
Der  Angeklagte,  dem  die  Bal- 
driantropfen  verweigert  worden 
waren,  fiel  um.  Sein  Nebenmann 
rief:  ,Wir  protestieren,  wir  haben 
keine     Freistunde,'        Und     dann 


wurden  noch  zwei  Weitre  ohn- 
machtig.  Die  Sitzung  wurde;  un- 
terbrochen,  der  weitre  Teil  der 
Verhandlung  mit  den  Protesten 
und  Antragen  der  Rechtsanwalte 
auf  Haftentlassung  ausgefiillt, 
,denn  so't  sagte  Rechtsanwalt 
Litten,  ,wie  die  Kommunisten  be- 
handelt  werden,  ist  es  unmoglich, 
dafi  die  Angeklagten,  zum  Teil 
sehr  leidende  Personen,  die  Un- 
tersuchungshaft  so  aushalten,  dafi 
sie  verhandlungsfahig  sind'." 

Tatsachlich  stellte  sich  folgen- 
des  heraus:  Der  Prozefi,  von 
wochenlanger  Dauer,  beginnt  drei- 
mal  in  der  Woche  urn  neun  Uhr. 
Da  die  Freistunde  des  Gefang- 
nisses  von  halb  neun  bis  neun 
Uhr  abgehalten  wird,  so  konnen 
die  Angeklagten,  wenn  sie  an  der 
Freistunde  teilhaben,  nicht  um 
neun  Uhr  punktlich  zu  Prozefi- 
beginn  da   sein. 

Der  Prozefi  hatte  dann  erst  um 
halbzehn    Uhr    beginnen    konnen. 

Na  und? 

Die  Prozesse  beim  Schwur- 
gericht  I  beginnen  immer  erst  um 
halbzehn  Uhr.# 

Niemand  wird  etwas  dagegen 
haben,  wenn  mit  Rucksicht  auf  ver- 
wohnte  Zeugen  ein  feiner  ProzeB 
wie  der  Van  Gogh-Prozefi,  erst 
um  zehn  Uhr  anfangt.  Das  ist 
moglich,  nur  aus  freundlicher 
Rucksicht  auf  die  Schlafgewohn- 
heiten  von  Zeugen!  Kein  Wort 
dagegen! 

Aber  unerhort  dann,  wenn  un- 
terernahrten  und  geschwachten 
Angeklagten  die  einzige  halbe 
Stunde  frischer  Luft  entzogen 
wird,  die  sie  haben  mussen  und 
die  ihnen  zusteht;  nochdazuvor 
einem  Prozefi,  in  dem  es  um    ihr 


Lebensschicksal  geht,  Und  warum, 
weshalb?  Nur  damit  stur  der  Pro- 
zefi um  neun  Uhr  beginnt! 

Woran  hat  der  Staat  ein  Inter- 
esse?  An,  der  ruhigen  und  or- 
dentlichen  Durchfuhrung  eines 
Prozesses.  Genau  das  wurde  ver- 
hindert^  Es  gab  die  Protest- 
erklarung  des  Angeklagten,  die 
Unterbrechung  der  Sitzung,  die 
Antrage  der  Rechtsanwalte,  die 
Aufregung  iiber  ohnmachtige  An- 
geklagte  unter  an  sich  schon  zum 
Teil  nervenschwachen  Angeklag- 
ten, Aus  einem  winzigen  Punkt 
wird        aus  Unmenschlichkeit, 

Dummheit  und  Boswilligkeit  die 
Revolte  erzeugt. 

Baldriantropfen  und  frische 
Luft  verweigert,  Warum,  aus 
Denktragheit?  aus  Phantasielosig- 
keit?  Nein,  leider  auch  aus  Bos- 
willigkeit. 

Seit  der  Revolte  beginnt  der 
Prozefi  um  halb  zehn  Uhr.  Der 
Vorsitzende  wufite  nichts  von 
alledem. 

Gabriele  Tergit 

Murilto  und  die  Folgen 

Man  feiert  in  diesen  Tagen  den 
zweihundertfunfzigsten  To- 
destag  Murillos,  des  von  unsern 
Eltern  und  Grofleltern  hoher  als 
die  Maler  der  Renaissance  und 
Gothik  geschatzten  „spanischen 
Rafael".  Er  wurde  bis  etwa  1900 
(und  wird  es  noch  heute  von  an- 
gelsachsischen  Besuchern  euro- 
paischer  Musen)  „als  der  uner- 
reichte  Darsteller  der  inbrtinsti- 
gen  Andacht"  gepriesen.  Er  ist 
es  nicht.  Es  gibt  kein  Bild  von 
ihm  —  man  mufi  sie  in  Spanien 
s'ehen,  wo  unmittelbare  „Ver- 
gleiche"  mit  Valasquez  und  Greco 


Aus  der  ewigen  Unrast  unserer  Tage,  die  jedem  Einzelnen  das 
^  Glack  des  erfullten  Augenblicks  verscheucht,  aus  der  qua- 
lenden  Angst  und  Ungewifiheit  Sufierer  Lebensn6te  zeigen  den 
einzig  gesicherten  Weg  zu  einer  in  unverkrampfter  Spannkraft 
und  geschmeidig  gelassener  Talfreude  sich  auBemden  Selbst- 
gewiBheit  die  Bucher  von  B6  Yin  Ra,  J.  Schneiderfranken.  Sein 
soeben  erschienenes  neuestes  Werk  „Der  Weg  tneiner  Schtiler" 
bildet  eine  leicht  verstandliche  Einffihrung  in  die  Gesamtheit 
seiner  Schriften  und  zugleich  bietet  es  praziseste  Bezeichnung 
von  deren  Wesensart  und  Ziel,  die  eine  strahlende  Welt  der 
Freiheit  aufleuchten  lassen,  weit  fiber  der  starren  Ode  blofier 
ethischer  Pflichtsetzung.  Durch  jede  Buchhandlung  zu  beziehen 
(Preis  RM.  6.—)  oder  vom  Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuch- 
handlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 


685 


moglich  sind  —  das  an  Innigkeit 
und  Frommigkeit  auch  nur  neben 
einem  zweitklassigen  Bild  der 
deutschen,  flamischen,  italie- 
nischen,  spanischen  Gothik  oder 
Fruhrenaissance  bestehen  konnte. 
Zu  schweigen  selbst  von  den  im 
eigentlichen  Sinne  wohl  inbriinsti- 
gcn,  doch  nicht  frommen  Dar- 
stellungen  der  groBen  Meister  aus 
der  Hochrenaissance.  Wie  also 
laBt  sich  die  groBe  Wirkung  Mu- 
rillos  auf  das  Mbilrgerliche  Zeit- 
alter"  zwischen  Biedermeier  und 
Jugendstil  erklaren?  Nun,  er  hat 
als  erster  vielleicht  die  bis  heute 
im  groBen  Publikum  so  beliebte 
Mischung  von  Stifiigkeit  und  Pa- 
thos gefunden,  die  das  Barock 
auszeichnete  und  die  unsre  Vater 
fur  Grofie  halten  mufiten;  wie  sie 
Gutzkow  oder  Spielhagen  vor 
Hebbel  und  Kleist  stellten.  Mu- 
rillos  Gemalde  zeigen  —  wohl 
zum  erstenmal  in  der  Geschichte 
der  Malerei  iiberhaupt  —  jene 
gefiihlsmaBige  Haltung,  in  deren 
Ablauf  sich  der  Kitsch  ent- 
wickelte,  mogen  die  meisten  sei- 
ner Darstellungen  natiirlich  auch 
nur  daran  streifen.  Murillo  aber 
bietet  auch  j  enen  allgemeinver- 
standlichen  Ersatz  fur  Genie: 
handwerklich  hochstgesteigertes 
Talent,  fur  das  zwischen  1840  und 
90  mehr  Raum  war  als  fur  den 
Genius,  dessen  Damonie  der  Phi- 
lister  verachtet  und   verdammt. 

Murillos  Gemalde  —  neben  den 
Madonnen  und  der  „Vision  des 
heiligen  Franziskus",  vor  allem 
die  Genreszenen  aus  dem  Volks- 
leben,  Traubenesser,  Wiirfelspie- 
lende  Gassenjungen  —  diese  vir- 
tuos  gemalten,  koloristisch  wei- 
chen  Bilder  einer  Verfallzeit  wur- 
den  Vorbild  und  Ideal  jener 
furchtbaren  Oldruckindustrie,  die 
bis  heute  die  Wande  von  Provinz- 
hotels  und  Btirgerstuben  ziert. 
Jaf  das  beriichtigte  munchener 
„Schanger"  von  1860  geht  grade- 
zu  auf  Murillo  zuriick,  und  nicht, 
wie  man  meinen  sollte,  auf  die 
gleichzeitigen  Hollander.  Denn 
Murillo  hatte  alle  Eigenschaften, 
die  das  Ideal  des  Philistertums 
bilden:  Naturwahrheit,  SyrupstiBe, 
Neckischkeit  („sieh  doch,  wie  rei- 
zend  das  Engelchen!"),  verbunden 

686 


mit  kaum  mehr  echter  Glaubig- 
keat  und  barockem  Oberschwang, 
dem  man  angenehme  Steigerung 
verdankte,  ohne  doch  seine  eig- 
nen  Umkreise  zu  verlassen. 

So  wird  Murillo  fur  den  heu- 
tigen  Menschen,  vor  allem  in  Spa- 
nien  zu  einer  Enttauschung,  die 
mit  keiner  der  zahllosen  Reise- 
enttauschungen  (Petersktrche  von 
aufien,  Venus  von  Medici,  Oslo, 
Stanzen  des  Raffael  etcetera)  zu 
vergleichen  ist.  Denn  man  hat 
eben  (im  Prado)  die  Begegnung 
unerhorter  Art:  Velasquez  erlebfc, 
und  sieht  sich  nun  von  seinem 
Zeitgenossen,  den  man  so  oft  hat 
preisen  horen,  vollig  verlassen. 
Diese  Heiligenbilder  sind  katho- 
lisch  in  einem  sehr  peinlichen 
Sinne,  ihre  Verziickungen  ahmen 
sozusagen  die  spanische  Ekstatik 
nur  nach,  ihre  Visionen  begeistern 
nicht,  ihre  „FarbenrauscheM  sind 
matt  und  verwaschen  fur  uns,  die 
wir  eben  erschuttert  vor  den 
„Trinkern"  des  Velasquez  stan- 
den  oder  uns  von  der  giftigen 
Palette  Grecos  hinreifien  liefien. 
Am  schlechtesten  geht  es  einem 
in  Sevilla:  hier  haufen  sich  seine 
viel  zu  sufien  Frauen  und  Kinder- 
larvchen  so  sehr,  daU  man  davon- 
laufen  mochte.  Es  ist  jene  voll- 
kommene  „Sch6nheit",  die  mit 
echter  Schonheit  weniger  zu  tun 
hat  als  ein  hollywooder  Film  mit 
einer  griecihschen  Tragodie  — 
immer  wieder  drangt  sich  spon- 
tan,  auch  wenn  wir  hier  nur  an 
seinen  Urquellen  stehen,  das  in 
diesem  Zusammenhang  zu  ver- 
ponende  Wort  Kitsch  auf. 

Denn  Murillo  ist  natiirlich  ein 
grofier  Maler, ,  ein  bedeutender 
Kolorist,  seine  Bilder  sind  weder 
verlogen  noch  erklugelt;  aber 
eben  deshalb,  weil  wir  am  Beginn 
der  schwierig  zu  fassenden  Frage 
stehen,  ist  es  hier  am  leichtesten 
zu  betrachten.  Er  selbst,  als 
Kunstler,  ist  nur  Ausdruck  der 
Zeit,  die  an  Stelle  von  Kraft  nur 
Krampf  zu  setzen  hatte,  an  Stelle 
von  Heiterkeit  Schelmerei,  fur 
Frommigkeit  Bigotterie,  also 
immer  Ersatzstoffe,  die  dem  Ori- 
ginal so  ahnlich  sehen,  daB  nur 
der  Kenner  sie  zu  unterscheiden 
vermag;     der  Kitsch    hatte    seine 


Unterlagen  und  Voraussetzungen 
erhalten.  Zum  erstenmal  versteht 
man  beim  Anblick  viclcr  Werke 
des  Murillo  die  unabsehbare 
Fragwurdigkeit  aller  Kunst,  ab- 
geleitet  an  dem  Beispiel  der 
Malerei:  denn  eine  Reproduktion 
des  bedeutendsten  Murillogcnres 
ist  in  Nichts  von  irgendeinem 
handwerksmafiig  hergestellten  Fa- 
brikprodukt  zu  unterscheiden,  das 
den  Beifall  aller  jener  hat,  die 
tlihr  Heim  schmticken"  wollen,  zu- 
mal  bei  der  Wiedergabe  und  Ver- 
kleinerung  regelmaSig  alles  Per- 
sonliche   verloren   gehen  muB, 

Wenn  wir  also  nach  einem  vier- 
tel  Jahrtausend  den  Todestag 
dieses  bedeutenden  Malers  feiern, 
so  erinnern  wir  uns  der  Tatsache, 
daB  utfsre  „Sachlichkeit"  zu  we- 
nig  von  dem  besitzt,  was  er  zu 
viel  hatte,  dafl  die  Kalte  unsrer 
Jugend  Gegengewicht  ist,  Reak- 
tion  gegen  ein  verfallendes  Kiinst- 
ler-  und  Menschentum,  das  man 
mit  dem  einen  Namen  bezeichnen 


kann:  Murillo. 


Paul  Elbogen 


Berufsstolz 

\/or  einigen  Monaten  hatte  eine 
"  Filmgesellschaft  die  Idee,  Al 
Capone  in  einem  ihrer  Filme  auf- 
treten  zu  lassen.  Man  einigte  sich 


liber  die  Bedingungen  und  Al  Ca- 
pone fand  sich  eines  Tages  zur 
festgesetzten  Stunde  im  Studio 
der  Gesellschaft  ein.  In  seiner 
Begleitung  befand  sich  sein  An- 
walt.  Nachdem  man  im  Bureau 
des  Direktors  einige  Einftihrungs- 
hoflichkeiten  ausgetauscht  hatte, 
wandte  sich  der  Direktor  mit 
seinem  liebenswiirdigsten  Lacheln 
zu  seinen  Gasten:  „Meine  Her- 
ren,  wenn  Sie  so  freundlich  sein 
wollten,  Ihre  Waffen  inzwischen 
hier  abzulegen,  so  konnten  wir 
dann  sofort  in  den  Aufnahme- 
raum  hinubergehen."  Kaum  hatte 
der  Direktor  den  Satz  zu  Ende 
gesprochen,  als  vom  Anwalt 
prompt  die  Antwort  erfolgte: 
MMein  Klient  ist  nicht  hierher- 
gekommen,  um  sich  beleidigen  zu 
lassen," 

Worauf  beide  Herren  kehrt 
machten  und  entriistet  den  un- 
hoflichen  Direktor  verlieBen. 

Von  da  ab  wollte  Al  Capone 
nichts  mehr  mit  Filmgesellschaf- 
ten  zu  tun  haben, 

Llebe  Weltbuhne! 

^  ach    der    Faustauff iihrung    eine 
Dame    zur   andern:     nSiehste, 
Metropolis     haste     damals     auch 
nicht  verstanden." 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Kollektiv  Bildender  Kunstler.  Ausstellung  im  ehem allien  Kunstlerhaus,  Bellevuestr.  3 
Wochentags  10.00  bis  19.00.    Sonntags  11.00  bis  13.00. 

Hamburg 

Hamburger  Schauspieler-Kollektiv.  Sonntag  11.00  vormittags  Volksoper.  Urauffuhrung : 
Unser  Schaden  am  Bein. 

Mannheim 

Stadtische  Kunsthalle.    Ausstellung:  Der  Frauenspiegel. 

Bucher 

M.  j.  Bonn:  Wahrungsprojekte   —  und  warum?  S.Fischer,  Berlin. 

Oskar  Maria  Graf:  Notizbuch  des  Provinzachriftstellers  Oskar  Maria  Graf  1932.  Zinnen- 

Verlag,  Basel. 
Karl  KauUky :  Krieg  und  Demokratie.    I.  H.  W.  Diets,  Berlin. 

Thomas  Mann:  Goetbe  als  Reprasentant  des  bUrgerlichen  Zeitalters.   S.  Fischer,  Berlin. 
August  Scholtis:  Ostwind.  S.  Fischer,  Berlin. 
Carl  Steuermann:  Der  Mensch  auf  der  Flucht.  S.Fischer,  Berlin. 
Jakob  Wasaermann:    Rede  an  die  Jugend  fiber  das  Leben  im  Geiste.    S.  Fischer,  Berlin. 

Rundfunk 

Dfensta?.  Berlin  16.30:  Zeitromane,  Walther  Victor.  —  Mittwoch.  Berlin  16.05:  2.  Akt 
der  Zauberflfite  von  Mozart.  —  Leipzig  21.50;  Von  den  Widersprfichen  in  der  Kritik, 
E.  K.  Fischer  und  Hans  Natonek.  —  Donnerstag.  Langenberg  15.30:  Dichtung  und 
Technik,  Erich  Franzen.  —  Breslau  17.00:  Arnold  Ulitz  liest  aus  seinem  Tonfilm- 
manuskript.  —  Frankfurt  19.05:  Kleine  Piosa  von  Ossip  Kalenfer.  -  Konigsberg  19.20: 
Mexiko  treibt  Handel  von  B.  Traven.  -  Sonnabend.  Leipzig  21.00:  Walther  Franke- 
Ruta  Heat. 

687 


Antworten 


Republikaner.  Du  refest  dich,  gemeinsam  mit  dem  Stahlhelm, 
iiber  landesverraterische  AuBeruiigen  nationalsozialistischer  Fiihrer 
im  Osten  auf,  Sie  haben  sich  dabei  geauBert,  sie  wiirden  bei  einer 
kriegerischen  Verwicklung  mit  Polen  sich  am  Schutze  des  Landes 
nicht  beteiligen,  solange  ihre  Partci  nicht  die  innenpolitische  Macht 
hatte.  Das  ist  sehr  interessant  und  beachtlich  nur  als  Zeugnis  des 
patriotischen  Geistes  der  NSDAP.  Aber  welche  Realitat  steckt  da- 
hinter?  Mit  welch  grauenhafter  Selbstverstandlichkeit  wird  rechts 
und  links  wieder  von  der  Moglichkeit  eines  Krieges  im  Osten  ge- 
sprochenf  Republikaner  und  Stahlhelm  sprecben  davon,  als  ware 
das  eine  ausgemachte  Sache,  und  die  Nazis  werden  nur  geriiffelt,  weil 
sie  nicht  dem  ..System"  dienen  sondern  den  Krieg  nur  unter  eigner 
Regie  fuhren  wollen. 

Weinblatt.  Neustadt  an  der  Haardt.  Wir  haben  bier  neulich  an- 
laBlich  der  Anzeige  eurer  Goethe-Wein-Nummer  ganz  leise  gefragt, 
wer  sich  denn  eigentlich  den  Wein  kaufen  solle.  Darauf  antwortet 
ibrt  die  Weinpreise  seien  standig  zuriickgegangen,  den  Winzern  gehe 
es  nicht  gut,  und  wir  sollten  uns  doch  lieber  dafur  einsetzen,  dafi 
„der  gute  reine  deutscbe  Wein  zum  Volksgetrank  wird",  Wir  sind 
eine  rubige  und  anstandige  Antwort  von  angegriffenen  Fachleuten 
kaum  noch  gewohnt,  daher  wollen  wir  eben  so  freundlich  zuriick- 
antworten:  Ihr  wart  gar  nicht  beschuldigt,  Es  ist  aber  doch  so,  daft 
sich  diese  kapitalistische  Wirtschaft  im  fehlerhaften  Kreise  dreht;  daB 
die  Kartelle  das  Land  bedrticken  (und  nicht  etwa  allein  der  Vertrag 
von  Versailles);  dafi  Arbeitslose  keinen  Wein  kaufen  konnen  und  dafi 
unser  Wein,  nebenbei  bemerkt,  meist  nicht  so  rein  ist  wie  er  sein 
konnte.  Aber  das  ist  eine  Sorge  fur  spatere  bessere  Tage.  Wenn 
ihr  wissen  wollt,  wer  den  Wein  kaufen  soil:  vielleicht  sagen  es 
euch  die  I.  G,  Farben,  der  Reichs-Landbund  und  die  Stahl-  und 
Kohleherren. 

Melancholiker.  Kauf  Dir  sofort  die  Hitler-Sondernummer  von 
,Le  Rire'  mit  den  Zeichnungen  von  Sennep.  Und  dann  sieh,  was 
Satire  noch  in  einem  Lande  zu  leisten  vermag,  das  nicht  von  der 
Zensur  geschuriegelt  wird.  Wenn  man  das  bei  uns  versuchen  wollte 
—  nein,  so  viele  Strafkammern  gibt  es  in  ganz  Moabit  nicht. 

Johannes  Buckler.  Am  Anfang  Ihres  ersten  Saarartikels  im 
vorigen  Heft  ist  durcb  ein  technisches,  Versehen  ein  Irrtum  entstan- 
den.  Es  muB  heiBen:  „Es  wird  in  Deutschland  wenig  beacbtet,  daB  es 
sich  nach  dem  Wortlaut  des  Versailler  Vertrages  hier  nicht  um  eine 
Mufivorscbrift    sondern  nur  um  eine  Sollvorschrift  bandelt." 

Berliner  Schubertchor.  Ihrl  veranstaltet  am  nachsten  Sonntag  in 
der  Singakademie,  7.30  Uhr,  die  Urauffuhrung  des  Oratoriums  „Mann 
im  Beton"  von  Walter  Gronostay.  Text:  Stemmle  und  Weisenborn. 
Dirigent:  Helmut  Koch.     Regie:   Gerhart  Henschke, 

Hamburger.  Freitags  aller  14  Tage  finden  sich  die  Weltbuhnenleser 
Ihrer  Stadt  im  Cafe  Timpe,  Grindelallee  10,  zusammen;  Dabei  stehen 
Referate  iiber  Politik  und  Wirtschaft,  Sozial-und  Kulturpolitik  zur  De- 
batte.  Ein  „Politischer  Wochenbericht"  stellt  die  Verbindung  zu  den 
Tagesfragen  her.  Anfragen  und  Zuschriften  an  das  Cafe  Timpe. 

Manuskripte  Bind  nur  an  die  Redaktion  der  Wehbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  162,  zu 
richten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Ruckscndung  erfolgen  kann. 
Das  Auffuhrungsrecht,  die  Verwertung  von  Titelnu.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanlsche  Wiedereabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortrfigen 
bleiben  Htr  alle  in  der  Weltbtthne  erscheinenden  BeitrSge  ausdrUcklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossielzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  Tucholsky  geleitet  —  Verantworilich :    Carl  v.  Ossietzky,   BerJin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

TelepSon:  C  1,  Steinplatz  7757.   —  Poetscheclckonto:  Berlin  1J958. 
Bankkonto:    Darmstadter    u.    Nationalbank.      Depo&itenkasie    Charlottenburg,    Kantstr.    112. 


XXV1I1.  Jahrgang  10.  Mai  1932  Hummer  Id 

RechenSChaft  von  Carl  v.  Ossietzky 
Ich  mufi  sitzenl 

In  diesen  Tagen  beziehe  ich  ein  preuBisches  Gefangnis,  urn 
die  achtzehn  Monate  abzusitzen,  die  mir  der  Vierte  Straf- 
seriat  am  23.  November  vorigen  Jahres  wegen  Landesverrats 
und  Verrats  militarischer  Geheimnisse  zudiktiert  bat,  Es  ist 
also  cler  Augenblick  gekommen,  wo  ich  meine  Tatigkeit  an  der 
fWeltbuhne'  unterbrechen  muB.  Eine  so  von  auBen  erzwuagene 
Casur  ist  wichtig  genug,  um  Rechenschaft  abzulegen  iiber  das, 
was  in  den  letzten  Monaten  geschehen  ist  und  zugleich  den 
Hint  ergr  und  zu  zeichnen,  von  dem  sich  der  JustizLall  Welt- 
buhne  abhebt 

Der  von  der  Verteidigung  am  30,  Dezember  an  den  Reichs- 
prasidenten gerichtete  Antrag  auf  Begnadigung  ist  vor  kurzem 
abgelehnt  worden,  MThe  quality  of  mercy  is  not  strain'd",  sagt 
Portia,  GewiB  ist  die  Qualitat  der  Gnade  bei  tins  nicht  geringer 
als  in  Venedig,  nur  mit  der  Quantitat  hapert  es.  ,,Sie  tropfelt 
wie  der  milde  Tau  vomHimmel",  und  sie  tropfelt  meistensnach 
rechts,  Dennoch  wurde  ich  es  vollig  verstehen,  wenn  Herr 
von  Hindenburg,  den  ich  immer  eine  Fehlbesetzung  auf  dem 
President  ens  tuhl  genannt  habe  und  gegen  dessen  Wiederwahl 
ich  geschrieben  habe,  einen  Huldbeweis  verweigerte.  Kein 
Wort  also  gegen  Herrn  von  Hindenburg,  wenn  er  einen  solchen 
EntschluB  wirklich  gefaBt  haben  sollte. 

Nun  sprechen  aber  einige  Griinde  dafur,  da#  das  Gesuch 
meines  Freundes  Doktor  Apfel,  das  spater  no ch  durch  eine  be- 
sondere  Eingabe  des  Rechtsanwalts  Professor  Alsberg  gesttitzt 
wurde,  niemals  von  der  allerhochsten  S telle  gepriift  worden 
ist.  Das  Gnadenyerfahren  diirfte  bereits  im  Reichsjustiz- 
ministerium  gescheitert  sein.  Herr  Reichsjustizminister  Joel 
verweigerte  die  verfassungsmaBige  Gegenzeichnung,  womit  das 
Ganze  fur  das  Staatssekretariat  beim  Reichsprasidenten  ein 
gewohnlicher  Bureauakt  wurde.  Ebenso  wurde  ein  etwas 
spater  vom  P.E.N.-Klub  und  der  Deutschen  Liga  fur  Menschen- 
rechte  gemeinsam  gestelltes  Gesuch  ,  auf  Umwandlung  der 
Strafe  in  Festungshaft  abgelehnt.  Das  ist  nicht  verwumderlich, 
aber  die  Antragsteller  waren  doch  sehr  erst  aunt,;  als  sie  den 
Bescheid  nicht,  wie  sie  erwarten  muBten,  von  dem  Herm 
Reichsprasidenten  sondern  von  dem  Herrn  Reichsjustizminister 
erhielten.  Nach  einer  weitverbreiteten  Meinung  ist  am  10,  April 
Herr  Generalfeldmarschall  von  Hindenburg  gewahlt  worden 
und  nicht  Herr  Df,  jur.  Joel. 

Kiirzlich  ist  in  einer  Zeitungsmeldung  die  Behauptung  auf- 

gestellt  worden,  die  Sache  hatte  zunachst  nicht  so  schlecht  ge- 

standen,   bis   dann  Herr   Groener  sich   erhoben   und  die   Ka- 

binettsfnage   gestellt  habe.     Ich  bin  nicht  unterrichtet,  ob   es 

1  689 


wirklick  so  wild;  zugegangen  ist,  aber  man  braucht  kein  Spe* 
zialist  fur  Daktyloskopie  zu  sein,  urn  nicht  in  der  Behandlung 
dieser  Angelegenheit  und  der  knappen  militarischen  Form  der 
Abwimmelung  die  BertillonmaBe  des  Reichswehrministeriums 
deutlich  zu  erkennen. 

In  welcher  Wcise  wir  vor  der  Gnadeninstanz  argumentierten, 
wird  in  der  ,Weltbuhne'  noch,  durch  dokumentarisches  Mate- 
rial belegt,  dargestellt  werden,  so  daB  sich  die  Leser  selbst  ein 
Urteil  bilden  konnen.  Das  Eine  indessen  sei  versichert;  wir 
haben  nicht  an  weiche  Gefiihle  appelliert  sondern  Recht  ge- 
fordert,  das  durch  ein  Urteil  verletzt  wurde,  gegen  das  keine 
Rechtsmittel  geltend  gemacht  werden  konnen.  Das  Reichs- 
gericht  ist  ja  erste  und  letzte  Instanz,  ein  Vorzug,  <d«r  min- 
destens  dessen  politischen  Senat  nicht  zur  besondern  Sorg- 
faltigkeit  verieitet.  Revision  gibt  es  nicht,  nur  nocb  Wieder- 
gutmachung  durch  die  hochste  Stelle  der  Deutschen  Republik. 

Zudeni  raubte  uns  der  Zwang  zur  Geheimhaltung  die 
Chance,  mit  journalistischen  Mitteln  zu  arbeiten  und  der 
Offentlichkeit  unsre  Sache  zu  unt er.br eit en,  Hier  wenigstens 
hat  der  Vierte  Strafsenat  auBerst  solide  gearbeitet  und  die 
Sorge  um  die  Sicherheit  des  Reichs  mit  der  um  die  eigne  groB- 
ziigig  verschmolzen.  Man  hat  uns  zum  Stummsein  verurteilt. 
Wie  ernst  es  damit  steht,-  dafiir  nur  das  eine  Beispieh  unsre 
Verteidiger  waren  gehalten,  das  schriftiiche  Urteil,  das  nur  in 
eihem  Exemplar  gegeben  wurde,  nach  Kenntnisnahme  wieder 
zu  den  Akten  zu  reichen.  So  blieb  also  nur.  die  Anrufung  der 
Gnadeninstanz  ubrig,  und,  wie  gesagt,  unsre  Begriindung  ver- 
hallte  im  Vorzimmer.  Zwischen  uns  und  der  Person  des  Herrn 
Reichsprasid-enten  stand  der  Herr  Reichsjustizminister  wie  die 
Wand  im  n.Sommernachtstraum",  und  kaum  ein  Wispern  wurde 
jenseitig  gehort.  Wenn  sich  friiher  im  Prasidentenpalais 
schwierige  juristische  Probleme  hauften,  diann  pflegte  der  selige 
Ebert  zu  sagen:  „Herr  Jol"  wird  das  schon  machen!'*  Herr  Jol 
hat   das  auch  dies  ma  1  ganz   ausgezeichnet  gemacht. 

Ober  eines  mochte  ich  keinen  Irrtum  aufkommen  lassen, 
und  das  betone  ich  fur  alle  Freunde  und  Gegner  und  besonders 
fur  jene,  die  in  den  nachsten  achtzehn  Monaten  mein  juristi- 
sches  und  physisches  Wohlbefinden  zu  foetreuen  haben:  —  ich 
gehe  nicht  aus  Griinden  der  Loyalitat  ins  Gefangnis,  sondern 
weil  ich  als  Eingesperrter  am'  unbequemsten  bin.  Ich  beuge 
mich  nicht  der  in  roten  Sammet  gehullten  Majestat  des  Reichs- 
gerichts  sondern  bleibe  als  Insasse  einer  preufiischen  Straf- 
anstalt  eine  lebendige  Demonstration  gegen  ein  hochstinstanz- 
liches  Urteil,  das  in  der  Sache  politisch  tendenzios  erscheint 
und.  als  juristische  Arbeit  reichlich  windschief. 

Diesen  Protest  lebendig  zu  erhalten,  das  bin  ich  alien 
dfenen  schuldig,  die  fur  mich  eingetreten  sind,  obgleich  die 
Umstande   es   verweigerten,    ihnen  genaue  Kenntnis    von    der 

690 


Materie  zu  geben.  Das  bin  ich  auch  den  namenlosen  prole- 
tarischen  Opfern  des  Vierten  Strafsenats  schuldig,  urn  die  sich 
niemand  auBer  den  Parteifreunden  gekummert  hat.  Denn  der 
Fall  Weltbuhne  ist  der  einzige  seit  langem,  der  eklatant  ge- 
worden  ist  und  die  Offentlichkeit  wirklich  erregt  hat.  Die  groBe 
Spinne  von  Leipzig  soil  einen  Bissen  zu  viel  geschluckt  haben. 

Damit  beantworte  ich  zugLeich  eine  Frage,  die  mich  vom 
Abend  des  23.  November,  wo,  ich  auf  dem  Anhalter  Bahnhof 
von  einer  Deputation  journalistischer  Ehrenjungfrauen  emp- 
fangen  wurde,  bis  heute  in  einigen  hundert  Brief  en  und  Ge- 
sprachen  bedrangt  hat.  Diese  Frage  heiBt  ganz  simpel; 
(1Mensch,   warura  tiirmst   du  nicht?" 

Natiirlich  bestreite  ich  das  Recht  des  Publizisten  nicht, 
sich  dem  Zugrtff  der  herrschenden  Gewalten  durch  die  Flucht 
zu  entziehen.  Ein  Recht,  das  tibrigens  jeder  unschiildig  Ver- 
urteilte  hat,  dem  der  normale  Weg  zur  Rehabilitation  versperrt 
ist  oder  der  den  Glauben  an  die  richterliche  Objektivitat  ver- 
loren  hat.  Es  handelt  sich  aber  in  jedem  Einzelfalle  darum,  das 
Wirksamere  zu  tun.     Das  all  ein  muB  entscheidend  bleiben. 

Das  Reichsgericht  hat  mich  vorsorglich  in  unangenehmster 
Weise  abgestempelt.  Landesverrat  und  Verrat  militarischer 
Geheimnisse  —  das  ist  eine  hochst  diffamierende  Etikette,  mit 
der  sich  nicht  leicht  leben  laBt.  Geht  man  damit  ins  Ausland, 
so  wird  die  gesamte  Rechtspresse  aufjubeln:  Zum  Feind'e  ge- 
flohen!  Und  manche  von  den  Leichtschwankenden  werden  die 
Achseln  zucken:  es  muB  doch  etwas  an  der  Sache  sein!  Der 
Oppositionelle,  der  uber  die  Grenze  gegangen  ist,  spricht  bald 
hohl  ins  Land  herein.  Der  ausschlieBlich  politische  Publizist 
namentlich  kann  auf  die  Dauer  nicht  den  Zusammenhang  mit 
dem  Ganzen  entbehren,  gegen  das  er  kampft,  fiir  das  er 
kampft,  ohne  in  Exaltationen  und  Schiefheiten  zu  veriallen. 
Wenn  man  den  verseuchten  Geist  eines  Landes  wirkungsvoil 
bekampfen  will,  miuB  man  dessen  allgemeines  Schicksal  teilen. 

Ich  gehore  keiner  Partei  an  —  wohin  also?  Keine  der 
Internationalen  nimmt  mich  auf,  stellt  mich  an  einen  netted 
Platz.  Es  gibt  drauBen  viele  flotte  Herren,  die  gern  den  Frie- 
den  hochleben  lassen,  wenn  sie  ihr  neues  Militarprogramm  gliick- 
lich  durchgedriickt  haben,  und  die  den  deutschen  Militarismus 
so  verabscheuen,  als  ware  er  der  einzige  in  der  Welt.  Sollte: 
der  gef liichtete  antimilitaristische  Deutsche  in  ihrem  Schatten 
gegen  seine  Generale  und  Bellizisten  schreiben,  das.,  hielie 
seiner  Arbeit  einen  falschen  Akzent  geben.  ,  Denn  dann.  dieni 
er  gewollt  oder  ungewollt  einem  fremden  Interesse,.  er  wird 
eines  der  vielen  Mundstiicke  fremder  Propaganda.  Er  muB  zu 
dem  schweigen,  was  er  sieht,  um  sich  iiber  das  zu  entriisten, 
was  er  hinter  sich  gelassen  hat  und  was  mit  der  Zeit  nicht  nur 
den  Augen  sondern  auch  der  Urteilskraft  entriickt.  Der  poli- 
tische Journalismus  ist  keine  Lebensversicherung:  das  Risiko 
erst  gibt  seinen  besten  Antrieb. 


Die  .Weltbuhne'  hat  in  langen  Jahren  fur  deutsche  An- 
gelegenheiten  oft  die  scharfsten  und  schroffsten  Formulierun- 
gen  gef.umden.  Sie  hat  dafiir  von  rechts  den  Vorwurf  der  Ver- 
raterei,  von  links  den  des  verantwortungslos  krittelnden  in- 
dividualistischen  Asthetentums  einstecken  miissen.  Die  ,Welt- 
buhne'  wird  auch  weiterhinj  das  sagen,  was  sie  fiir  notig  be- 
findet;  sie  wird  so  unabhangig  bleiben  wie  bisher,  sie  wird  so 
hoflich  oder  frech  sein,  wie  der  jeweilige  Gegenstand  es  er- 
fordert.  Sie  wird  .auch  in  diesexn  unter  dem  Elefantentritt  des 
Fascismus  zittemden  Lande  den;  Mut'  zur  eignen  Meinung  be- 
h  alt  en.  Wer  in  den  m  oralis  ch  trubsten  Stunden  seines  VoLkes 
zu  opponieren  wagt,  wird  immer  bezichtigt  werden,  das  Na- 
tionalgefiihl  verletzt  zu  haben.  Die  ,Weltbuhne'  hat  immer  eine 
gatiz  bestimmte  und  deutlich  gezeichnete  Haltung  eingenom- 
men,  und  daraus  ergibt  sich  fur  sie  eine  besonders  verpflich- 
tende  Bindung  an  jene,  die  auf  sie  horen  und  die  an  sie  glau- 
ben.  Ihre  Stimme  kann  nur  Klang  behalten,  wenn.  ihr  verant- 
wortlicher  Herausgeber  seine  ganze  Person  einsetzt  und  dann, 
wenn  es  ungemiitlich  wird,  nicht  die  bequemere  Losung  wahlt 
sondern  die  notwendige. 

Etwas  ahnliches  muB  wohl  auch  das  Reichsgericht  emp- 
finden,  Denn  bis  zum  Vorabend  meines  Strafantritts  hat 
niemand  meine  Bewegungsfreiheit  beeiigt,  erst,  heute  hat  man 
mir  meinen  PaB  abgefordert.  Meiner  Abreise  stand  nichts  im 
Wage,  Schon  aus  diesem  Grund'e  weiB  ich,  daB  sie  ein  Fehler 
gewesen  ware.  Es  ist  nicht  meine  Aufgabe,  dem  Reichsgericht 
das  Leben  angenehmer  zu  machen. 

Kreiser 

Ich  bin  in  der  Lage,  die  Richtigkeit  meines  Entschlusses 
an  der  Haltung  zu  kontrollieren,  die  mein  Mitverurteilter  Walter 
Kreiser  seitdem  eingenommen  hat.  Dem  dringenden  Rat  aller 
Unt'errichteten  entgegen  habe  ich  iiber  dieses  Kapitel  bisher 
geschwiegen.  Heute  muB  endlich  gesagt  werden,  was  vorge- 
gangenist. 

Kreiser  hat  sich  schon  eine  Woche  nach  der  Urteilsver- 
kundung  nach  Paris  begeben  und  dort  spater  unter  Verwen- 
dung  des  in  seiner  Hand  befindlichen,  iibrigens  sehr  liicken- 
haften  ProzeBmaterials  im  ,Echo  de  Paris'  eine  Campagne 
gegen  die  deutsche  Militarpolitik  eroffnet.  Niemand  von  uns 
•hat  etwas  von  Kreisers  Flucht  gewuBt,  wir  sind  davon  aufs  un- 
angenehmste  iiberrascht  worden.  In  einem  Brief  aus  Paris  hat 
Kreiser  sowohl  mir  als  auch  Doktor  Apfel  dias  Versprechen  ge- 
geben,  keine  Publikation  ohne  meine  Zustimmung  zu  unter- 
nehmen.  An  dieses  Versprechen  hat  er  sich  nicht  gehalten. 
Er  salviert  sich  nur,  indem  er  in  seinem  ersten  pariser  Artikel 
vom  9.  April  erklart,  die  Veroffentlichung  geschahe  ohne  mein 
Vorwissen: 

692 


Eofin,    je  dois  aj outer  que  j'ai   sollicite  la  publication  de 

cet  expose  sans  le  concourts  et  a  l'insu  de  M.  von  Ossietzky  et 

de   ses   avocats,   qui,   pour   des   motifs   juridiques,   auraient  pu 

ne  pas  l'approu,vcr. 

Nein,  es  sind  nicht  our  juristische  Motive;   hicr  irrt  Kreiser. 

Scin  Vorgehen  ist  nicht  nur  politisch  schadlich  sondern  auch 

in  jedem  unpolitischen  Sinn  einfach  wahnwitzig.     Er  hat  den 

roten  Talaren  von  Leipzig  den  tinerhorten  Gefallen  getan,  ihr 

Urteil  nachtraglich  zu  rechtfertigen. 

Ich  verstehe  durchaus,  daB  dieses  Urteil  bei  den  Betroffe- 
nen  Ressentiments  hervorrufen  konnte,  aber  hier  muBte  eine 
natiirliche  Lebenskkigheit  regulieren  und  desperate  Akte  ver- 
hindern.  Kreiser  hat  uns  die  Moglichkeit  genommen,  nach  einem 
bestimmten  Plan  zu  arbeiten.  Er  hat  es  nicht  fur  notig  befun- 
den,  sich  mit  unsern  Anwalten  fiber  die  kiinftige  Taktik  auszu- 
sprechen.  .  Er  hat  sich '  still  entlernt  und  unter  dem  Patronat 
des  Herrn  Pironneau,  eines  erzchauvinistischen  franzosischen 
Militarschriftstellers,  seinen  eignen  Krieg  eroffnet. 

Dam  it  hatte  Kreiser  uns  alle  lahmgelegt,  Ein  paar  Tage 
nach  dem  ProzeB  konnten  wir  uns  noch  nicht  liber  die  kunftige 
Strategie  klar  sein-  Wir  muBten  Pressestimmen,  Auslandswir- 
kung  ab  wart  en.  Nur  iiber  eines  bestand  bei  uns  nicht  der 
mindeste  Zweifel;  wir  wollten  diese  Sache  nicht  auf  uns  sitzen 
lassen,  wir  wollten  unsre  juristische  Rehabilitation  betreiben, 
Unser  femes,  zunachst  nur  vage  durch  Zukunftsnebel  schim- 
merndes  Ziel  hieB;  Wiederaufnahme!  Das  war  in  dem  Augen- 
blick  in  Frage  gestellt,  wo  einer  der  beideni  Verurteilten  ab- 
handen  gekommen  war. 

Der  Fall  hieB  zunachst  Kreiser-Ossietzky.  Heute  heiBt  er 
tiberhaupt  nicht  mehr.  Es  gab  eine  gemeinsame  Sache,  das 
Recht  auf  Kritik  an  der  Verwendung  offentlicher  Mittel  zu  ver- 
teidigen,  auch  wenn  dadurch  unberechtigte  Sonderinteressen 
des  militarischen  Ressorts  verletzt  werden  sollten.  Kreisers 
Artikel  „Windiges  aus  der  deutschen  Luftfahrt"  hatte  fiir  alle 
vernunitigen  Menschen  nur  eineni  Sinn:  er  mahnte  zur  Budget- 
gerechtigkeit,  zur  sparsamen  Verwendung  von  Steuergeldern. 
Dem  Reichsgericht  war  es  vorbehalten  geblieben,  durch  seine 
Auslegung  das  normalste  staatsburgerliche  Recht  zum  Ver- 
brechen  umzubiegen.     Hier  war  der  Hebel  anzusetzen, 

Eine  gemeinsame  Sache  Kreiser-Ossietzky  gibt  es  nicht 
mehr.  Nach  Kreisers  privater  Kriegserklarung  an  den  deut- 
schen Militarismius  muBte  ich  den  Mund  halten,  denn  was  eben 
noch  anstandige  grade  Linie  hatte,  warf  plotzlich  einen  fatalen 
kruinmen  Schatten.  Die  ,Weltbuhne*  war  durch  Kreisers  Ar- 
tikel zwar  gefahrlich  aber  hochst  ehrenvoll  engagiert.  Diese 
Position  gait  es  zu  festigen,  statt  dessen  hat  Kreiser!  sie  zer- 
stort.  Von  nun  an  hatte  ich  nicht  mehr  eine  Sache  sondern 
nur  noch  meine  personliche  Integritat  zu  verteidigen.  Von  nun 
an  lebte  ich  buchstablich  von  dem  Vertrauen  der  Leute,  keiner 

2  693 


Schweinerei  fahig  zu  sein,  Dieser  Kredit  ist  mir  —  im  ganzen 
genommen  —  gewahrt  worden.  Abcr  cine  politische  Kampf- 
basis  ist  das  grade  nicht.  Wahrend  Kreiser  in  Paris  auf  Teufel 
komm  raus  publiziert,  sitze  ich  hier  in  Deutschland  gleichsam 
als  Geisel  fur  sein  weiteres  Verhalten.  Ich  gestehe  Kreiser 
gera  zu,  <daB  er  mit  seimen  Aufsatzen  im  ,Echo  de  Paris'  nur 
der  Wahrheit  zu  dienen  glaubt  und,  sich  als  Instrument  einer 
hahem  sittlichen  Ordnung  betrachtet.  Mit  der  Fuhllosigkeit 
des  echten  Moralist  en  t  diem  es*  nur  darauf  ankommt,  der  Ge- 
rechtigkeit  zu  dienen,  hat  er  jedoch  nicht  einen  Augenblick 
darauf  Riicksicht  genommen,  daO  dadurch  andre  zu  Schaden, 
mindestens  in  hochst  dubiose  Beleuchtung  kommen  konnten. 
Ich  mache  ihm  keinen  Vorwurf  daraus,  wahrscheinlich  ist  ihm 
die  bloBe  Vorstellung  davon  ganzlich  fern  geblieben. 

Das  ,Echo  de  Paris'  ist  ein  hochkapitalistisclies,  der 
Rustungsindustrie  nahestehendes  Organ.  Sein  leitender  Mann, 
Herr  Henri  de  Kerillis,  war  in  dem  eben  beendeten  Wahl- 
kampfe  der  Manager  der  franzosischen  Rechten,  In  seiner  ge- 
samten  innien-  und  auBenpolitischen  Haltung  entspricht  es  aufs 
Haar  der  ,Berliner  Borsenzeitsung*,  die  deun  auch  mit  fahrplan- 
maBiger  Piinktlichkeit  uber  Kreisers  Aufsatze  hergefallen  ist, 
Zwar  wagt  sie  nicht  off  en,  mich  der  Mitschuld1  zu  verdachtigen, 
aber  sie  konstatiert  doch  die  „gleiche  Gesinnung"  und  dehnt 
das  gleich  auf  den  gesamten  deutschen  Pazifismus  aus,  urn  mit 
einem  kraftvollen  Appell  an,  Groener  zu  schlieBen,  jetzt  die 
ganze  Gesellschaft  endlich  hopp  zu  nehmen.  Sollte  dies  ber- 
liner  Echo  nicht  Kreiser  uber  das  belehren,  was  er  ange- 
richtet  hat? 

Erschiitternd  wirkt  die  Art,  wie  er  sich  mit  dem  Charak- 
ter  des  Organs  auseinandiersetzt,  das  ihm  als  Tribune  dieht: 

Mais  si  dans  la  presse  francaise  j'ai  choisi  l'Echo  de  Paris, 

c'est  que  oe  journal  m'est  apparu  comme  un  des  plus  francs, 

et    qu'il    a    tou jours    voulu    que   Ton    definisse    exactement   les 

buts    de   la    politique  Internationale,   avant   de   fixer    les   bases 

d'une  entente*     La  position  de  l'Echo  de  Paris  en  matiere  de 

politique  m'est  indifferente, 

Trotzdem   lafit   dieses   ,,freimutige"   Organ   seinen  neuen   Mit- 

arbeiter  nicht  ohne   eine  hochst  blamable  Quarantine  passie- 

ren,    Kreisers  erster  Aufsatz  erscheint  mit  einer  redaktionellen 

Praambel  aus  der  Feder  des  Herrn  Pironneau,    Zunachst  ein- 

mal  entschuldigt  die  Redaktion  sich,  daB  einem  Deutschen  das 

Wort  gewahrtf  werde. 

M,  Walter  Kreiser  nous  a  demands  de  faire  paraitre  Tar- 
ticle  qu'on  trouvera  ci-dessous. 

Bien  que,    jusqua   present,   nous    ayons,   pour   des    raisons 

sur  lesquelles  il  est  inutile  d'ihsister,  refuse  l'hospitalite  de  nos 

colonnes  a  diverses  personnalites  allemandes  —  journalistes  oil 

hommes   politiques   —   qui    1'avaient   sollicitee,   nous  avons^cru 

devoir,   a  titre  exceptionnel,  satisfaire  au  desir   de  M.  Kreiser. 

Und  dann  darf  der  also  bevorzugte  Gast  am  Katzentisch  Platz 

nehnien  und  das  Wort  an  die  Leser  des  ,Echo  de  Paris1  richten, 

694 


die  hoffentlich  ihr  Blatt  nicht  abbestellen  werden,  wcil  ein 
Deutscher  darini  geschrieben  hat. 

Kreiser  wollte  den  deutschen  Militarismus  entlarven.  Gut, 
Aber  was  er  verkennt,  das  ist,  daB  es  heute  nichts  mehr  zu 
entkrven  gibt.  Die  Welt  hat  sich  still  damit  abgefunden, 
Deutschland  als  einen  Sonderfall  zu  betrachten  und  iiber  ge- 
legentlich  wieder  auis  Tapet  gebrachte  militarpolitische  Eska- 
paden  ruhig  zur  Tagesowlniingf  uberzugehen.  Es  ist  nicht  mehr 
so  wie  in  den  Tageni  Poincares,  wo  jedes  bei  Stargafd  oder 
Bentschen  aus  einem  Dunghaufen  gebuddelte  Maschinengewehr 
die  Gemiitssicherheit  der  ehemaligen  Mitglieder  der  heute  auf- 
gelosten  Firraa  Feindbund  &  Co,  erschiitterte.  Ob  das  offizielte 
Deutschland  sich  in.  militarischer  Hinsicht  an  den  Friedensver- 
trag  halt  oder  nicht,  interessiert  im  Grunde  niemanden  mehr. 
Die  groBere  Anteilnahme  der  Welt  gehSrt  heute  dem  inoffi- 
ziellen  Deutschland,  dem  Fascismus,  der  schon  morgen  die  ein- 
zige  Macht  im  Reich  sein  kann.  Aber  republikanisches  oder 
iascistisches  Deutschland,  im  Hintergrunde  wartet  etwas,  das 
groBer  und  beunruhigender  ist  als  beide,  das  die  Nerven  der 
kapitalistischen  Staaten  in  viele  argere  Schwankungen  ver- 
setzt,  und  das  ist  Sowjet-RuBIand.  Daneben  riickt  Deutsch- 
land, werde  es  von  Briining  oder  Hitler  beherrscht,  auf  den 
dritten  Platz.  Kreiser  beachtet  nicht,  daB  die  deutschen  Mili- 
tarfragen  viel  von  ihrer  einstigen  Sensation  verloren  haben. 
Ich  mochte  ihm  diesen  Irrtum  nicht  ankreiden,  er  teilt  ihn  mit 
seinem  wiirttembergischen  Landsmann  Groener. 

Aber  was  ihm  jeder  deutsche  Friedensfreund  ankreiden 
mufi,  das  ist  die  Wahl  seiner  Tribune.  Das  .Echo  de  Paris1  ist 
keine  Lehrkanzei  fiir  Ideen  iiber  die  Schadlichkeit  des  deut- 
schen Militarismus.  Kreiser  glaubte  gewiB  von  einem  wich- 
tigen  internationalen  Pliatz  zur  ganzen  Welt  zu  sprechen,  von 
einem  durch  seine  Person  gleichsam  neutralisierten  Forum,  In 
Wahrheit  hat  er  nur  von,  Le  Creusot  aus  gesprochen  und  da- 
mit entwertet,  was  an  seinen  Absichten  noch  diskutabel  war. 
Er  hat  geglaubt,  der  Befreiung  Deutschlands  vom  Geiste  des 
Militarismus  zu  dienen,  und  in  Wirklichkeit  ist  seine  Hand  ge- 
ftihrt  worden  von  journalistischen  Werkzeugen  franzosischer 
Kanotnenlabrikanten,  deren  unsichtbarer  und  unfreiwilliger  Auf- 
traggeber  doch  der  deutsche  Nationalismus  ist.  Es  ist  kein  Zu- 
fall,  daB  unter  den  deutschen  Blatt ern  die  .Berliner  Borsen- 
zeitung'  am  leidenschaftlichsten  reagicrt  hat.  Das  entspricht 
den  Bewegungsgesetzen  der  Blutigen  Internationale.  Was  aber 
mag  die  franzosische  Linke  iiber  einen  deutschen  Gesinnungs- 
freund  denken,  der  sich  mitten  im  Wahlkampf  dem  Blatt  zur 
Verfugung  stellt,  das  am  wiistesten  fiir  die  innenpolitische  Re- 
aktion  und  gegen  die  Verstandigung  mit  Deutschland  kampfte, 
die  doch  das  Progfamm  aller  linken  Gruppen  ist? 

Die  frankfurter  Zeitung1  hat  kiirzlich  die  Bemerkung  ge- 

695 


macht,  ich  muBte  nun  dafiir  biifien,  weil  ich  mich  in  dem  Cha- 
rakter  Kreiscrs  getauscht  hatte.  Ich  halte  cs  nicht  fur  die 
Auigabe  des  Redakteurs,  Charakterologie  zu  treiben,  und  ubri- 
gens  hat  mir  Kreiser  niemals  AnlaB  zum  MiBtrauen  gegeben. 
Er  gehorte,  wenn  er  auch  in  dcr  fWeltbu-hne'  sclten  genug  auf- 
getreten  ist,  zu  dem  alten  Mitarbeiterstamm  aus  der  Zeit  von 
S.  J."  Der  Redakteur  mufl  von  dem  Schriftsteller  stichfestes 
Material  fur  die  in  seinen  Aufsatzen  aufgestellten  Behauptunr 
gen  fordern.  Weitere  Anspriiche  hat  er  nicht  zu  stellen.  Der 
Redakteur  ist  ein  vielbeschaftigter  Mensch,  der  sich  nicht  noch 
nelbenbei  mit  Tiefenpsychologie  befassen  kanrn.  Und  die 
Voraussetzung  der  substanziellen  Echtheit  hat  Kreisers  Arbeit 
aufs  glanzvollste  erfiillt.  Weil  der  Artikel  stimmte,  deshalb  sind 
wir  ja  so  hart  verurteilt  worden.  Hatte  er  sich  als  unwahr 
herausgestellt  —  das  ist  eben  die  Absurditat  der  reichsgericht- 
lichen  Judikatur  in  Landesverratsprozessen  —  so  waren  wir 
viel  billiger  davongekommen.  Gesetzt  aber,  die  Behauptungen 
des  inkriminierten  Artikels  hatten  nicht  gestimmt  und  der  Hohe 
Senat  hatte  tins  nur  wegen  Verbreitung  falscher  Nachrichten 
einen  kleinen  RippenstoB  versetzt  —  ware  Kreiser  dann  ein 
besserer  Charakter  gewesen? 

Nein,  ich  lehne  die  als  mildernden  Umstand  gedachte 
Konstruktion  ab,  ich  ware  einem  schlechten  Menschen  aufge- 
sessen.  Ich  wiederhole  auch  heute  noch,  was  ich  unmittelbar 
naoh  dem  ProzeD  schrieb,  daB  Kreiser  sich  wahrend  der  Ver- 
handlungen  ausgezeichnet  gehalten  hat.  Das  werden  auch 
unsre  Anwaite  gern  bestatigen.  Ich  denke  nicht,  ihn  in  dent, 
was  zu  dem  ProzeB  gefiihrt  und  sich  wahrend  seiner  Dauer  ab- 
gespielt  hat,  preiszugeben.  Was  nachher  geschehen  ist  —  da- 
mit  beginnt  eine  neue  Geschichte,  wie  der  Dichter  sagt. 

Kreiser  hat  mich  spater  gewiB  aufs  schlimmste  enttauscht 
Er  hat  seine  Sache  von  der  gemeinsameri  getrennt  und  sich  zu 
Handlungen  hinreiBen  lass  en,  die  nur  noch  als  verriickt  zu  be- 
zeichnen  sind.  Aber  es  gibt  fur  all  das  nur  einen  Schuldigen: 
das  ist  der  Urteilstenor  vom  24,  November.  Es  gibt  in  dieser 
ganzen  Aff  are  ~  keinen  Landesverrat,  keine  enthiillten  mili- 
tarischen  Geheimnisse.  Es  gibt  nur  diesen  Urteilstenor. 
tJberzeugung  —  oder  was  sonst? 

Dcr  Rentenempfanger  Otto  Liesch 

hat   Deutschland   an  Polcn  verraten. 

Man  hat   ihm   zwei   Jahrchen  aufgebrummt 

fur  seine  abscheulichen   Taten! 


Ich  hab     es  gehort!    Und   ganz  genau! 
Er  hat  dem  Polen  verraten: 
Die    Zukunft    von    Deutschland  sei  nebelgrau 
und    es   gebe    ne   Masse    Soldaten!  PschtT 

Walter  Mehrin£ 
Als  ich  kurz  nach  meiner  Verurteilung  in  der  ,Weltbuhne* 
und  an  andrer  S  telle  das  Wort  nahm,  konnte  ich  gut  en  Glau- 
696 


bens  schreiben,  das  G#richt  hatte  den  Verurteilten  die  soge- 
nannte  Oberzeugungstaterschaft  zugebilligt.  Wenigstens  war  in 
der,  mundlichen  Urteilsverktindung  dieser  Pumkt  uberhaupt 
nicht  berucksichtigt  Aus  dem  einen  Monat  spater  zugestell- 
-ten>  schriftlicheni  Urteil  ergab  sich  indessen  die  Aberkennung 
der  Uberzeug-ungstaterschaft.  ^ 

Nur  eine  kleine  Minder heit  unter  den  Menschen  wird  sich 
durch  eine  gerichtliche  Verurteilung  nicht  ungerecht  behandelt 
ftifalen,  Der  Sohuldigste  noch  wird  fur  sich  so  etwas  wie  ein 
anstandiges  Motiv  herausfinden  und  sich  rabulistisch  daran 
klammern.  Das  ist  eine  Sache  der  menschlichen  Selbstbehaup- 
tung,  vitale  Abwehr  gegen  die  drosselnde  Verzweiflung,  Es  be- 
gibt  sich  jeden  Tag,  daB  Verurteilte  in  ohnmachtiger  Wut 
gegen  ihre  Richter  die  Faust  ballen.  „Hasohierte  Hintern!" 
brullt  der  Kellner  bei  Ferdinand  Bruckner  einem  Hohen  Senat 
iris  Gesicht,  und  ein  Hoher  Senat  hort  kaum  hin,  denn  er  kennt 
aus  langjahriger  Erfahrumg  derlei  Reaktion,  Aber  aJs  ich  zum 
erstenmal  jenes  voluminose  Schrift  stuck  las,  in  dem  mir  f fir 
eine  politische  H auditing  die  Oberzeugung  ahgestritten  wurde, 
da  ersuchte  ich  zunachst  m einen  Anwalt,  gegen  die  endesunter- 
fertigten  Herren  eine  Beleidigungsklage  anzustrengen. 

Ich  Hirchte  den  Vorwurf  nicht,  aus  der  Sache  zu  viel  We- 
sens  zu  machen,  t,Was  erwarten  Sie  andres  von  einem  Klas- 
sengericht?"  fragt  der  Marxist.  Nein,  ich  erwarte  gar  nichts. 
Der  Vierte  Straf senat  hat  immer  wieder  bewiesen,  dafi  er  nicht 
daran  denkt,  Linksbppositionelle  objektiv  zu  wiirdigen,  und 
darin  unterscheidet  er  sich  nicht  von  den  politischen  Gerichten 
in  aller,  Welt,  Politische  Justiz  hat  liberal!  den  Zweck,  mifi- 
liebige  Kopfe  entweder  rollen  zu  lassen  oder  bestimmte  Zeit 
auszuschalten.  Das  schlieBt  nicht  ein  Zeichen  der  Achtung  fur 
den  Mann  auf  der  Anklagebank  aus. 

Nun  haben  einige  der  Nachkrie-gsdiktaturen  herausgefun- 
den,  dafl  es  doch  bedenklich  sei,  jemanden  gleichsam  mit  Ehren- 
bezeugungen  auf  dem  Sandhaufen  zuj  fiihren.  Deshalb  koppelt 
man  den  politischen  Angeklagten  mit  gewohnlichen  Kriminal- 
verbrechern  zusammen,  Oder  gefallige  Hande  stellen  eine 
zweifelhafte  Situation,  und  die  Polizei  setzt  den  SchluBpunkt, 
Politisches  Martyrium  wirkt  ansteckend;  Diebstahl^  Betrug 
oder  gar  Sexualvergehen  diskreditieren  Mann  und  Programm. 
Indem  das  Reichsgericht  in  umbestreitbaren  politischen  Fallen 
die  Oberzeugun<g  abspricht,  wie  das  neuer  dings  Obung  zu  wer- 
den  scheint,  unternimmt  es  einen  erst  en  verheiBungsvollen 
Schritt  nach  dieser  Richtung.  Wann  wird  man  MiBliebige  mit 
Bigamisten  oder  Defraudanten  zusammenketten? 

Das  Reichsgericht  hat  mir  die  Oberzeugung  abgesprochen, 
Wenn  ich  aber  nicht  aus  Oberzeugung  handelte  —  aus  welchem 

'   697 


Grunde  sonst?  Geld  — ?  Das  hat  das  Urteil  nicht  ausge- 
sprochen,  Es  hat  sich^  auf  die  allgemeine  Diffamierung  be- 
scforaitkt,  ohne  sich  iiber  die  Griinde  naher  zu  aufiera.  Gabe 
es  eine  Revisionsinstanz,  so  konnte  auf  Klarstellung  gedrungen 
werden.  Sagte  mir  ein  politischer  Gegner  das,  so  wiirde  ich 
Deutlichkeit  verlangen,  und  wenti  er  sich  driickte,  ihn  ver- 
klagen. 

In  keiner  Phase  des  Prozesses  ist  von  einem  derartigen 
Motiv  die  Rede  gewesen.  Ebensowenig  in  der  Urteilsverkiin*- 
dungs  vom  23.  November.  Erst  vier  Wochen  spater  in  dem 
definitiven  Urteil  ist  eine  dunkle  ehrabschneiderische  Andeu- 
tung  enthalten,  ohne  daB  das  Gericht  sich  bemiihte,  audi  nur 
ein  einziges  argumentierendes  Wort  dafur  anzufiihren.  Juris  ten 
mogen  beantworten,  ob  es  statthaft  ist  oder  auch  nur  Brauch, 
in  das  schriftiiche  Urteil  eine  Bewertung  der  Angeklagten  und 
ihrer  Handlungen  hineinzubringen,  die  bis  zum  Verhandlungs- 
schluB  iiber  haupt  keine  Rolle  spielte  oder  in  der  mundlichen 
Verktindung  noch  nicht  existierte.  Hat  das  Gericht  post  festum 
eine  Erleuchtunig,  w^s  schlieBKch  denkbar  ist  —  darf  es  die  als 
neues  und  umwertendes  Moment  in  seinem  Urteil  verwenden, 
ohne  einen  vollig  neuen  Fall  zu  schaffen?  Ich  wage  als  juristi- 
scher  Laie  keine  Meinung  dariiber  zu  haben.  Aber  als  Kenner 
der  Presse  muB  ich  sagen,  daB  das  hochste  Gericht,  Ober- 
gericht  a<uch  fiir  Pressedelikte,  indem  es  eine  diistere  infamie- 
rende  Kennzeichnung  auf  den  Weg  gibt,  ohne  die  Beschwer- 
lichkeiten  einer  Motivierung  auch  nur  zu  versuchen,  sich  da- 
mit  einer  Methode  bedierit,  die,  aufs  Journalistische  iibertragen, 
einer  hochst  bedenklichen  Ubung  den  Weg  weisen  wiirde, 

Immer  wieder  bin  ich  durch  den  Zwang  gehandicapt,  iiber 
die  ProzeBmaterie  selbst  zu  schweigen.  Ich  kann  also  nur  auf 
AuBerlichkeiten  Bezug  nehmen,  die  allerdings  sehr  geeignet 
sind,  eini  Bild  zu  geben,  wie  es  zu  dieser  Justif  ikation  kam. 

Jeder  Kenner  der  Justiz  weiB,  daB  Gericht e,  die  nicht 
yollig  im  Mittelalter  stecken  geblieben  sind,  heute  die  besondere 
Art  eines  Angeklagten,  sein  Milieu,  seine  Tatigkeit,  die  Quel- 
len  seiner  Willens-  und  Meinungsbildung  mehr  als  frtiher  be- 
rucksichtigen.  Gbgleich  Herr  Reichsgerichtsrat  Baumgarten,  der 
Vorsitzende  des  Vierten  Strafsenats,  die  Verhandlungen  in  tin- 
ge wo  hnlich  urbanen  Formen  fuhrte,  hatte  er  doch  eine  in  lan- 
ger  Ubung  ausgebildete  Methode,  iiber  das  hinwegzuh6ren,.was 
die  Angeklagten  sag  ten  und  was  sie  iiber  sich  selbst  auszusagen 
genotigt  war  en.  Herr  Baumgarten  ging  daran  mit  einer  fiir  die 
Angeklagten  hochst  unerfreulichen  Technik  vorbei.  Dieser 
sehr  hofliche  Herr  erweckte  von  der  ersten  Minute  an  den 
Eindruck,  nicht  nur  seine  Linie'  sorudern  auch  schon  seine  ab- 
geschlossene  Meinunjg  zu  haben. 

Werin  ich  iiber  mich  selbst  erzahlen  soil;  so  kann  ich  an- 
fiihreti,   daB  ich  seit  zwolf    Jahren    in    der  Redaktion    groBer 

698 


Blatter  gearJbeitet  und  als  Tagesschriftsteller  eine  viclialtigc 
Tatigkeit  ausgeiibt  habe,  daB  ich  in  jeder  Phase  bemiiht  ge 
wesen  bin,  mir  eigne  Augen  trad  eigne  Haltung  zu  wahren. 
Dariiber  setzten  sich  Herr  Raumgarten  und  sein  Richter- 
kollegium  mit  einer  staunenswerten  Virtuositat  hinweg.  So 
habe  ich  diese  Gesichter  in  Erinnierung:  wenn  die  Angeklagten 
sprechen,  werden  sie  kiihl,  abwehrend,  umglaubig  undi  verharren 
«ndlich  in  einer  Mischung  von  Skepsis  und  Gelangweiltheit,  ein 
Ausdruck,  der  sich  erst  lost,  wenn  der  militarische  Saqhy'er- 
standige  das  Wort  nimmt.  Dann  kommt  eine  neue  freundliche 
Spannung  in  die  Mienen. 

Was  wir,  die  Angeklagten,  ausfuhrten,  war  dem  Richter- 
tisch  vollig  belanglos.  Es  ist  charakteristisch,  dafi  nicht  eine 
Frage  fiel  nach  dem  Wesen  der  tWeltbuhne',  nach.  ihrer  be- 
sondern  Art  und  ihren  Lebensbadingungen.  Es  wurde  alles  un- 
versucht  gelassen,  was  das  Gericht  irgendwie  hatte  zur  Ob- 
jektivitat  verfiihren  konnen.  So  wurde  aber  auch  der  Eindruck 
vermieden,  es  handle  sich  um  eine  Generalabrechnung  mit 
einem  miBliebigen  Blatte.  Das  ist  die  taktische  Leistung  dieses 
Prozesses.     Sie  ist  grofler  als  die  juristische. 

Nur  ein  Moment  fesselte  aufs  lebhafteste:  daB  ich  unmittel- 
bar  nach  dem  Kriege  etwa  ein  Jahr  lang  Sekretar  einer  pazi- 
fistischen  Gesellschaft  gewesen  bin.  Daraus  wurde  eine  dauernde 
„antimilitaristische  Einstellung"  gefolgert.  Ich  hatte  zur  Ver- 
vollstandigung  meiner  Biographie  hinzufugen  konnen,  daB  der 
organisierte  Pazifismus  in  meiner  innern  und  auBern  Existenz 
nicht  mehr  als  eine  knappe  Episode  bedeutete.  DaB  ich  mit  den 
meisten  von  seinen  Fiihrern  seitdem  verzankt  bin,  daB  ich  ihre 
Politik  ftir  verkehrt  und  selbstzerstorerisch  halte,  Ich  ver- 
zichtete  darauf,  denn  es  ware  mir  ekelhaft  erschieneri,  mir  eine 
Folie  zu  geben  auf  Kosten  von  Menschen,  die  der  gleichen 
Verfolgung  preisgegeben  sind  wie  ich.  Ich  hatte  hinzufugen 
konnen,  daB  ich  seit  meiner  Trennung  von  den  organisierten 
Pazifisten  mich  ganz  dem  groBen  UmschmelzttngsprozeB  der 
Zeit  anvertraut  und  mir  eine  besonders  profilierte  Stellung,  er- 
rungen  habe.  DaB  mein  Verstand  sich  noch  immer  zu  der  heute 
so  verschmahten  Demokratie  bekennt,  wahrend  mein  Herz  un- 
widerstehlich  dem  Zuge  der  proletarischen  Massen  folgt,  nicht 
dem  in  Doktrinen  einigekapselten  Endziel  sondern  dem  leben- 
digen  Fleisch  und  Blut  der  Arbeiterbewegung,  ihren  Menschen, 
ihren  nach  Gerechtigkeit  brennenden  Seelen.  Das  hatte  ich 
sagen  konnen  —  aber  wozu?  Ein  Blick  auf  diese  Gesichter 
bannte  die  Zunge. 

Abgestempelt  war  ich  ja  doch.  Was  hatte  es  fur  Sinn  ge- 
habt,  einer  einseitigen  und  lacherlich  simplifiziefcenden ,:  Cha- 
rakterisierung  entgegenzuhalten,  daB  ich  in  den  ersten  im  Zeichen 
der  mJonarchistisehen  Konterrevolution  stehenden  NachJkriegs- 
jahren  mich  an    den  Versuchen    beteiligt    ha.be,    eine   rejpubli- 

699 


kanische  Bewegung  auf  die  Beine  tax  stellen?  DaB  ich  seit  1920 
in  der  Redaktion  der  , Berliner  Volkszeitung'  an  der  Schaffung 
der  ersten  republikaniscben  Abwehrorganisationen  mitgewirkt 
habe,  die  dann  spater  von  der  Entwicklung  verschlungen  wur- 
den  oder  im  Reichsbanner  aufgegangen  sind.  Tempi  passati. 
Warum  m  iler  Erinnerung,  wuhlen?  Und  es  ware  ja  doch  ver- 
schwendet  gewesen.  Ich  lieB  es  bleiben,  Und  die  innere  Kon- 
trolle  warnte  mich  auch,  davon  Gebrauch  zu  machen.  Ich  hatte 
das  dumpfe  BewuBtsein,  vor  diesem  Gremium  hochster  republi- 
kanischer  Richter  wiirde  mir  das  raicht  mehr  niitzen  als  vor 
dem  Sanhedrin  des  Dritten  Reiches  mit  Goebbels  als  Ober- 
priester.  Ich  hatte  auch  scharfer  herausarbeiten  konnen,  daB 
zu  der  Zeit,  als  der  inkriminierte  Artikel  erschien,  im  Marz 
1929,  das  Auswartige  Amt  unter  Stresemanns  Leitung  noch 
nicht  naziverseucht  war,  daB  sein  damaliger  Kurs  sich  noch  von 
Generalsumtrieben  und  Eigemnachtigkeiten  des  militarischen 
Ressorts  gestort  ftihlte,  daB  an  diese  S telle  vornehmlich  das  in 
Kreisers  SchluBsatzen  enthaltene  und  fiir  das  Publikum  unver- 
standliche  Warnungssignal  gerichtet,  war.  Wozu  — ?  Die  skep- 
tisch  machende  Erfahrung  sagte,  daB  unter  den  Herren  Reichs- 
richtern  gewiB  der  Eine  oder  Andre  auch  den  Locarnopakt 
fiir  ein  landesverraterisches  Unternehmen  halt,  daB  Stresemann, 
wenn  er  noch  lebte,  heute  vielleicht  selbst  als  Angeklagter  vor 
dem  Staatsgerichtshof.  stiinde.  1st  der  Kelloggpakt  nicht  Wehr- 
verrat?  Haben  nicht  richterliche  Beamte  in  Zeitungen  und 
offentlichens  Reden  die  deutschen  Unterzeichner  des  Youngplans 
fiir  zuchthauswurdig  erklart? 

Fur  das  Reichsgericht  geniigt  schon  die  Kenntnis  „anti- 
militaristischer  Einstellung".  Das  ist  Landesverrat.  Ein  sol- 
ches  Subjekt  muB  auch  bestechlich  sein.  Und  wenn  zufallig 
nicht  —  nun,  Friedensfreund  sein,  ist  an  sich  schon  Kriminal- 
verbrechen,  nicht  Uberzeugung.  So  wie  Kommunist  sein  gleich- 
bedleutend  ist  mit  Hochverrater,  Verschworer,  Bombenwerfer. 
Das  sind  die  beiden  Schemen  des  Reichsgerichts. 

Als  ich  im  August  1929  von  dem  Untersuchungsrichter 
Braune  vernommen  wurde,  fragte  er  mich  zu  meinen  Per- 
spnalien,  ob  ich  gedient  hatte  und  im  Kriege  gewesen  ware. 
Ichi  lehnte  die  Fraige  ab.  Es  ginge  das  Reichsgericht  der  Re* 
publik  ohne  Wehrpflicht  nichts  an,  in  welchem  Militarverhalt- 
nis  einer  in  der  Kaiserzeit  gestanden  hatte.  Herr  Braune  sah 
mich  zuerst  fassoingslos  an,  dann  antwortete  er  mit  der  Stimmie 
ernes  verbissenen  Schulmeisters :  „Sie  wollen  das  nicht  sagen? 
Das  Reichsgericht  wirds  schon  herausbekommen!"  Das  ist  nur 
eine  kleine  Episode,  die  aber  den  ganzen  Kern  der  Affare 
bloBlegt.  Wie  der  Beschuldigte  zum  Militar  steht,  das  ist  das; 
Einzige,  was  das  Reichsgericht  wirklich  interessiert, 

Im  Grunde  sind!  diese  Herren  Reichsrichter  unsicher  ge- 
wordene  Menschen,  die  ihr  Schicksal  in  eine  Zeit  gestellt  hat* 
700 


wo  lilies  aus  den  Fugen  geht.  Besitz,  Familie,  Namen,  alles  ist 
fragwurdig  geworden.  Was  diesc  Herren  Reichsrichter  leisten, 
wenn  sie  unpolitische  Rechtsialle  vor  sich  habert,  kann  ich  nicht 
beurteilen.  Aber  in  politischen  Fallen  sind  sie  bei  aller  richter- 
lichen  Tenue,  die  sie  der  roten  Samtrojbe  schuldig  sind,  treue 
Abotaienten  der  ,Leipziger  Neuesten  Nachrichten,  Trager  eines 
verkniffenen  Provinzpatriotismus,  der  mit  dieser  Welt,  wo 
Konzerne  verkrachen  und  die  Jugend  rtackt  baden  geht,  nicht 
mehr  fertig  wird  Der  Globus  tanzt  naeh  einem  Jazzorchester, 
alte  Familiengrundstucke  shaken  auf  Pfennigwert.  Eim  Land- 
gerichtsrat  erschieOt  seine  ganize  Familie.  Die  Frau  will  ein 
neues  Abendkleid  und  qualt  den  Gatten  mit  biirgerlichen  Vor- 
kriegsanspruchen.  Die  Tochter  hat  ein  Verhaltnis  mit  einem 
Monteur.  Eine  Autoritat  mu8  es  doch  geben!  Diese  Autoritat  ist 
wirklich  da.  In  dem  Weltbild  der  Richter  gibt  es  doch  einen 
starken,  ruhenden  Punkt.  Auf  diesem  Filmband,  wo  alles  durch- 
einander  geht,  ist  ein  groBer  gespornter  Offiziersstiefel  iiber- 
kopiert.  Das  ist  die  letzte  Autoritat,  an  die  sie  glauben.  Das 
ist  die  Uberzeugung,  die  ich  ihnen  nicht  abzusprechen  vermag. 

Generalswirtschaft 

Keine  der  groBen  bewegenden  Fragen  der  Zeit  stand  in 
unserm  ProzeB  zur  Debatte,  nichts  von  den  ungeheuren  Ge- 
gertsatzen  zwischen  kapitalistischem  und  sozialistischem  Den- 
ken,  die  heute  die  ganze  Welt  in  zwei  Lager  teilen,  Dieser 
ProzeB  fuhr  auf  einem  besondern  deutschen  Nebengleis,  und 
deshalb  wurde  er  auch  im  Auslande  so  wenig  verstanden. 
Uiisre  Siinde  ist,  daB  wir  einen  deutschen  Lieblingsgedanken 
nicht  teilen:  wir  glauben  nicht  an  den  Primat  des  Militarischen 
in  der  Politik.  Das  warf  den  breiten  Graben  auf  zwischen 
tins  und  unsern  Richtern. 

liberal!  wird  heute  mehr  geriistet  als  vor  1914.  Oberall 
tonen  mehr  Clairons,  klirren  mehr  Tschinellen  als  vor  dem 
Weltkriege,  Die  Technik  hat  die  Stahlfabriken  in  die  zweite 
Reihe,  die  Chemie  in  die  -erste  geschoben  und  die  gesamte  In- 
dustrie in  ein  einziges  Arsenal  verwandelt.  Aber  nirgendwo 
glaubt  man  so  inbrunstig  wie  in  Deutschland  an  den  Krieg  als 
vomehmstes  politisches  Mitt  el,  nirgendwo  ist  man  eher  geneigt, 
iiber  seine  Schrecken  hinwegzusehen  und  seine  Folgen  zu 
miBachten,  nirgendwo  feiert  man  kritikloser  das  Soldatentum 
als  die  gelumgene  Hochstzuchtung  mehschlicher  Tugenden/,  und 
nirgendwo  setzt  man  Friedensliebe  so  gedankenlos  person- 
licher  Feigheit  gleich.  Auch  Frankreich,  das  sich  mit  einem 
Betonwall  giirtet  und  oft  genug  bereit  ist,  europaische  Ver- 
nunft  einem  zweifelhaften  Sicherheitsbegriff  zu  opferny  kennt 
nicht  diese  populare  Vergotzung  der  Soldatenjacke,  wie  sie 
bei  uns  gang  und  gabe  ist.  Selbst  im  fascistischen  Italien  ist 
die  Tragerin  eines  Programm-Nationalismus  nicht  die  Armee 
sondern  die  fascistische  Miliz,  und  Mussolini  und  seinGfandi 

8  701 


verstchen  sich  als  AuBenpolitiker  heute  besser  auf  die  euro* 
paische  Flote  als  auf  die  Tuba  d'es  rSmischen  Imperialismus. 

So  hat  sich  Deutschland  durch  seine  Uberbewertung  des 
Militarischen  geistig  zunehmend  isoliert.  Es  entbehrt  nicht 
einer  gewissen  Ironie,  daB  der  deutsche  Kult  des  Soldatentums 
in  eine  Epoche  fallt,  in  der  Soldatentum  im  herkommlichen 
Sinne  immer  mehr  zuni  Anachronismus  wird.  Jedesmal,  wenn 
die  Romantik  sich  einer  Sache  bemachtigt  und  Gloriolen  um 
sie  webt,  dann  ist  d-eren  Zeit  schon  voriiber,  und  die  Sehnsucht 
nur  macht  aus  der  Erinnerung  einen  wiinschenswerten  Zu- 
kunftstraum.  Deutschland,  unter  den  groBen  Staaten  der  ein- 
zige  mit  so  engen  Rustungsschranken,  traumt  die  wilde  roman- 
tische  Cimbernschlacht,  wo  Mann  gegen  Mann  steht  und  das 
Herz  entscheidet  und  nicht  die  technische  Oberlegenheit.  So 
traumt  Deutschland  mitten  in  einer  Entwicklung,  wo  die 
Dreadnoughts  altes  Eisen,  gut  genug  zur  Verschrottung,  wer- 
den,  und  die  Fachmanner  den  raffiniertesten  franzosischen 
Fortifikationen  nicht  viel  mehr  Verteidigungswert  zumessen  als 
den  Palisaden  nackter  Wilder, 

Die  Republik  hat  es  nicht  verstanden,  den  spontanen  Anti- 
militarismus,  den  unsre  Heere  aus  dcm  Kriege  mitbrachten,  im 
eignen  Interesse  zu  fundieren.  Sie  hat  inm,  im  Gegenteil,  unter- 
driickt,  wie  sie  nur  konnte,  und  den  chauvinistischen  Gegen- 
stromungen  eine  Konzession  nach  der  andern  gemacht,  ohne 
daB  es  ihr  gelungen  ware,  sie  mit  ihrer  Existenz  zu  versohnen. 
Aus  alledem  aber  wuchs  als  gefahrlichste  Frucht:  die  Supre- 
matie  der  Militars  in  der  Politik.  Alle  Schwierigkeiten  selbst 
dieser  krisenhaften  Zeitlauftei  waxen  nicht  so  arg,  wenn  nicht 
fortwahrend  die  Herreu   Generate  dazwischen  regierten, 

Aus  welchem  Grunde  grade  in  Deutschland  die  Militars 
ihre  Machtanspriiche  erheben,  ist  schwer  erf  indlich.  Man  kann 
den  Herren  eine  Unmenge  Fahigkeiten  und  Verdienste  zu- 
sprechen,  die  innerhalb  ihres  gelernten  Berufes  liegen,  aber 
eines  ist  ihnen  immerhin  nicht  gelungen;  sie  haben  namlich 
den  Krieg  nicht  gewonnen!  Es  mutet  etwas  absurd  an,  daB 
ein  Stand,  der  die  Angelegenheiten  der  Nation  mit  so  ekla- 
tantera  MiBerfolge  verwaltet  hat,  der  die  Million  enheere  dezi- 
micrt  und  geschlagen  ans  Vaterland  zuriickgeliefert  hat,  seine 
Pratentionen  auf  biirgerliche  Gebiete  richtet,  von  denen  er 
nicht  das  mindeste  versteht.  Was  wiirde  Herr  von  Schleicher 
wohl  sagen,  wenn  ein  ehrgeiziger  Zivilist  sein  hemuhen  darauf 
richtete,  das  Kommando  iiber  eine  Division  zu  erlangen  oder 
sich  gar  das  erste  Wort  im  Reichswehrministerium  zu  sichern? 

Niemals  ist  in  der  Deutschen  Republik,  die  Generalswirt- 
scnaft  resolut  bekampft  worden.  Kein  ernsthaftes  Burger- 
bewuBtsein  zog  jemals  die  Grenzlinien  der  Befugnisse.  Der 
Kampf,  diet  in  der  dritten  franzosischen  Republik  mit  denDik- 
taturpianen  Mac  Mahons  begann  und  mit  der  zahneknirschen- 

702 


den  Unterwerfung  des  Marschalls  Foch  unter  den  gewaltigen 
Jakobinerwillen  des  greisen  Clemenceau  endete,  ist  in 
Deutschland  noch  gar  nicht  getraumt  worden,  Zwar  war 
alle  paar  Jahre  ein  ungluckliches  Intermezzo  fallig,  aber  es 
schloB  immer  nur  mi  t  ein  em  Person  en-  nicht  mit  einem  Sy- 
stemwechsel  Weder  der  Kapp-Putsch  noch  das  Debakel  der 
Schwarzen  Reichswehr,  noch  die  Verabschiedung  Seeckts  fuhrte 
zu  einer  Revision,  die  die  Autoritat  des  biirgerlichen  Staates 
im  militarischen  Ressort  gesichert  hatte.  Statt  dessen  folgten 
militarische  Extratouren  ins  burgerlich-geschaftliche  Gebiet  wie 
die  Lohmannspekulationen  mit  ihren  phantastischen  Millionen- 
verlusten,  es  folgte  das  auch  heute  noch  nicht  wirklich  auf- 
gehellte  Kapitel  Canaris,  dessen  Schatten  die  tWeltbiihne'  in 
fruhern  Jahren  wiederholt  aufzufangen  versucht  hat,  Und 
heute  sind  wir  gliicklich  so  weit,  daB  der  General,  der  vom 
Reichswehrministerium  aus  liber  die  gesamte  Exekutive  ver- 
fiigt,  sich  seiner  Haut  wehren  muB  gegen  Untergebene,  die 
schon  drangen,  ihm  die  Vollmachten  aus  der  Hand  zu  reiBen, 
die  ihm  eine  biirgerliche  Regierung  anvertraut  hat,  um  sie  fur- 
d'erhin  nicht  mehr  auf  schwachliche  konstitutionelle  Rechts- 
titel  sondern  auf  eini  Biindnis  mit  dem  offenen  Fascismus  ge- 
stiitzt,   auszuxiben, 

Im  La  life  dieser  letzten  Jahre  haben  die  biirgerlichen  Ge- 
walten  in  zunehmendem  MaBe  rait  den  Militars  teilen  miissen, 
und  sie  sind  dabei  zusehends  geschrumpft.  Das  ist  auch  in 
andem  Landern  schpn  vorgekommen,  aber  einzigartig  ist  die 
Lethargie,  mit  der  die  deujtschen  Linksparteien  das  hinmehmen, 
Wenn  sich  morgen  eine  Offiziersjunta  alleindiktierend  auf- 
machtei,  so  wiirden  gewiB  viele  brave  Liberate  und  Sozialisten 
den  Nachweis  beginnen,  aus  welchem  Grunde  dies  das  kleinere 
Obel'  ist.  Die  gelernten  Marxisten  zuckeni  die  Achseln:  Das  ist 
halt  der  Kkssenstaat!  Und  die  parteiamtlich  vereidigten  Stali- 
nisten  fiigen  noch  hinzu,  daB  auch  das  reyolutionare  Proletariat 
die  Idee  der  Nation  und  der  Wehrhaftigkeit  nicht  negiere,  daB 
zum  Beispiel  in  China . . .  Gut  en  Abend.  Der  Mann  aus  der 
Staatspartei  hebt  die  Hande:  Sehr  bedauerlich!  Aber  was 
solf  man  denn  machen  — ?  Als  vor  ein  paar  Monaten  Hem 
General  von  Schleicher  die  inzwischen  umgekippte  Fruhstiicks- 
tafel  mit  Adolf  Hitler  eroHnete,  pries  mir  einer  unsrer  klar- 
sten  und  kliigsten  biirgerlichen  Demokraten  in  einem  Gesprach 
die  Weisheit  Schleichers,  der  alles  nur  zum  Besten  der  Repu- 
blik  tue.  Im  Grunde  genommen  also  iiberall  das  Gleiche; 
Kapitulation  vor  den  Militars,  die  sich  unter  diesen  Umstan- 
den  naturlich  wie  hohere  Wesen  vorkommen  mussen.  Die 
Einenj  resignieren.  wortlos,  die  Andtern  ziehen  mit  klingendem 
Spiel  ab.  Aber  sie  ziehen  ab. 

Einmal  wird  der  Kampf  gegen  die  Superioritat  der  Mili- 
tars in  der  Republik  wieder  einsetzen.    Wann  — ?     Heute  ist 

703 


dazu  noch  nicht  cinmal  der  Boden  vorbereitet.  Aber  im  Ge- 
gensatz  zu  den  Kommunisten  glaubc  ich  nicht,  daB  da  erst  die 
proletarische  Revolution  Remedur  schaffen  kann,  daB  erst  der 
Sozialismus  die  richtige  Einordnung  der  Arm«e  voilftihren  wird. 
Wir  haben  nicht  so  lange  Zeit  zu  warten.  Allmachtsgefuhle 
politisierender  Offiziere  zu  dampfen,  das  ist  die  aktuelle  Auf- 
gabe  des  Staates,  wie  er  ist,  und  nicht  die  des  Staates,  wie  er 
sein  soil  und  hoffentlich  einmal  sein  wird. 

Es  dreht  sich  heute  nicht  mehr  urn  die  verjahrte  Frage, 
ob  die  Reichswehr  „zuverlassig  ist".  Das  ist  ste  insofern, 
als  sie  ihr  en  Fiihrern,  wie  es  auch  kommen  moge,  unbedragt 
gehorchen  wird.  Es,  handelt  sich  urn  diese  Fuhrer  selbst,  ura 
ihre  Anspriiche  auf  EinfluB  jenseits  ihres  durch  die  Verfassung 
abgesteckten  Bereiches. 

In  den  letzten  Monaten  hat  die  ,Weltbuhne'  nicht  auf- 
gehort,  vor  den  katastrophalen  Moglichkeiten  militarischer 
Praponderanz  zu  warneni,  die  sich  aus  der  Ernennung  Groeners 
zmn  Reichsinnenminister  ergeben  konnten.  Wir  haben  Woche 
fur  Woche  auf  die  erhohten  Spannungen  verwiesen,  die  eine 
natiirliche  Folge  dieser  Persona lunion  waren.  Und  jetzt  ist  der 
Eklat  da.  Heute  wissen  wir,  daB  die  kraftvolle  Soldatengeste, 
die  das  biirgerliche  Recht  auf  Kritik  wie  die  Insubordination 
eines  Rekruten  mit  Arrest  bei  Wasser  und  Brot  bedrohte,  nur 
ein  ausgedehntes  Inirigenspiel  verdeckte,  das  wohl1  komisch  zu 
nennen  ware,  weim  es  nicht  Hitler  nahe  an  das  Ziel  seiner 
machtgierigen  Wunsche  gebracht  hatte. 

Jetzt  sind  sie  mit  einmal  alle  verzankt,  unsre  Herren  Dik- 
tatoren.  Die  Dioskuren  Schleicher-Hammerstein  kreisen  ge- 
trennt.  Groener  ware  beinahe  von  seinem  Vertrauensmann 
durch  eine  Falltiir  geworfen  word'en.  Die  Besuche  des  Haupt- 
manns  Rohm  im  Reichswehrministerium  waren  nicht  so  harm- 
los,  wie  offiziell  dargestellt,  die  Fruhstticksgemisse  der  Re- 
pulblik  nicht  so  bekommlich,  wie  die  Demokraten  glaubten.  Und 
auch  MeiBner  hat  mitgemacht,  der  vortrefHiche  Staatssekre- 
tarius,  der  dem  ersten  Reichsprasidenten  noch  bescheiden  in 
die  Gummischuhe  geholfen  hat  und  unter  dem  zweiten  jetzt 
selbst  in  die  hohe  Politik  steigen  mochte.  Diese  gauze  frSh- 
liche  Wissenschaft  verdanken  wir  nicht  irgend  einem  ehr-  und 
wehrvergessenen  Pazifisten,  den  man  sofort  wegen  Staatsge- 
fahrdun)g  einbuchten  kann,  sondern  einer  ganz  oMiziosen  bay- 
rischen  Stelle,  die  sich  nicht  scheut,  von  f,bolivianischen  Me- 
thoden"  zu  reden  und  einen  General,  der  «ben  noch  als  Saule 
des  Regimes  Bruning  gait,  einen  „Primo  de  Rivera"  zu  heiBen 
und1  des  geplanten  Kanzlersturzes  zu  verdachtigen.  Die  groBe 
Explosion  ist  da,  ihr  Umfang  und  ihre  Konsequenzen  sind  kaum 
abzusehen,  nur  ihr  Geruch  ist  unverkendbar. 

Jetzt  haben  die  Herren  Generale  ein  paar  Monate  regiert, 
und  das  Resultat  ist  ein  kaum  losbarer  Wirrwarr,  wenn  nicht 
704 


Argeres.  Der  Fascismus  ist  dabei  groB  und  fett  gewbrden* 
und  der  Verkehr  mit  zwei  von  Militars  reprasentierten  Mi* 
nisterien  hat  ihm  das  Air  einer  Nebenregierung  gegeben, 
Wemn  es  zuerst  hieB,  die  Generale  bemitihten  sich,  Hitler  die 
Elemente  der  Legaiitat  beizubringeui,  so  hat  er  diesen  Kursus 
nicht  umsonst  durchschmarutzt  sondern  genug  gelernt,  urn  die 
beflissenen  Padagogen  auf  dbrchaus  legale  Weise  auf  den  Kom- 
posthaufen  zu  w  erf  en. 

Es  liegt  mir  fern,  Personlichkeiten,  deren  martialischer 
Cnarakter  tiber  alien  Zw-eifel  erhaben  ist,  mit  einem  unfreund- 
lichen  Vergleich  kranken  zu  wollen.  Aber  im  Effekt  unter- 
scheidet  sich  eine  Herrschaft  von  Generalen  kaum  von  dem, 
was  man  van  alters  Weiberwirtschaft  nennt.  Wenn  die  kiih- 
len  d'isziplinierten  Herren  mit  den  silbernen  Tressen  selbst- 
tatig  zu  politisieren  anfangen,  so  sieht  das  nicht  viel  anders 
aus,  als  wenn  liebenswiirdige  Wesen,  deren  Intelligenz  im 
Uterus  sitzt,  den  Staat  nach  ihrem  Gusto  ausstaffieren,  Kabale, 
Alkovengetuschel,  Machinationen,  Begegnungen,  von  denen 
niemand  nichts  weiB;  purzelnde  Minister,  aufsteigende  No- 
bodies, krankelnder  Staat,  Und  am  Ende  ein  riesengroBer 
Skandal.  Ein  Verbindungsof  f  izier  wird  in  England  Liaison 
officer  genannt.  Der  Tit  el  sollte  auch  in  der  Bendler-Strafie 
eingefuhrt  werden. 

Nun  kann  man  den  Herren  Generalen  kaum  einen  Vor- 
wurf  daraus  machen,  dafl  sie  ihre  Vormachtstellung  befestigen 
und  selibst  noch  weiter  vorstoBeiu  Denn  sie  ist  ihnen  ja  ein- 
geraumt  worden  von  einer  btirgerlichen .  Regierung,  die  sich 
gewifl  sehr  schlau  vorkam,  als  sie  Groener  und  Schleicher  im 
Vordlergrund  plazierte.  Vielleicht  hat  man  auchi  gedacht,  daB 
in  diesen  von  Btirgerkriegswahn  durchseuchten  Zustanden 
schlieBlich  einer  von  den  Herren  Lust  haben  konnte,  den 
Primo  dei  Rivera  zu  spielen,  und  da  heifit  es  vielleicht  mane  he 
Schererei  ersparen,  wenn  die  Regierung  ihren  Primo  selber  er- 
n-ennt,  Diese  Kalkulation  ist  mit  Getose  zusammengebrochen. 
Die  Aera  Groener  endet  mil  einer  solennen  Generalsrauferei, 

Der  eigientliche  Besiegte  aber  ist  der  Herr  Reichskanzler. 
Wir  wissen,  daB  Briining  vom  ersten  Tage  seiner  Kanzler- 
schaft  an  die  Konzeption  einer  autoritaren  Demokratie  im 
Kopfe  trug,  bei  der  ein  katholisch-konservativer  Block  den 
Ausschlag  geben  sollte.  Kein  Kamzler  hat  bisher  dem  Libe- 
ralismus  und  der  sogenannten  formaleri  Demokratie  ablehnen- 
der  und  skeptischer  gegenubergestanden.  Immer  wieder  wwrde 
Briining  mit  dem  Monsignore  Ignaz  Seipel  verglichen,  ohne  daB 
sich  besonderes  dagegen  einwenden  lieB.  In  dieser  Konzeption 
Bf  linings  spielte  die  Reichswehr  wohl  die  yornehmste  Rolle. 
Ihr  fiel  dabei  die  Verkorperung  von  Staatsmacht  zu,  sie  war 
die  Symbolisierung  von  Rute  und  BeiL  Ein  Von  christkatho- 
lischer  Ethik  tiberglanzter  straffer  Militarstaat,   kategorischer 

705 


preufiischer  Imperativ  mit  Weihrauch  und  OrgelkLanig,  das  war 
Brunings  Idee,  als  er  vor  zwei  Jahren  die  Erbschaft  der 
GroBen  Koalition   antrat, 

Sclten  hat  ein  Staatsmann,  der  bei  aller  komplizierten 
Gedankenverkrausehing  dock  kein  dilettantischer  Doktrinar 
ist  sondern  ein  mit  Realitaten  rechnender  Mensch,  solche  Ent- 
tauschungen  erfahren,  Seine  Versuche,  die  Hugenbergpartei 
zu  zerschlagen,  haben  nicht  zur  Bildung  eincr  neuen  parlamen- 
tarischen  Rechten  gefuhrt  Statt  einer  deutschen  Torypartei,  die 
zwar  reaktionar  ist  aber  auf  gute  Formen  halt,  ist  dei*  Fascis- 
mus  gekommen,  der  nicht  nur  seiacn  Anieil  sondern  das  Ganze 
fordert,  und  der  selbst,  wo  er  als  Partner  auftritt,  in  der  Tasche 
den  Revolver  knacken  laBt.  Und  als  Bruning  damn  in  hochster 
Wassersnot  die  Reichswehr  wie  einen  rocher  de  bronce  stabili- 
sierte,  da  machten  deren  Fiihrer  sich  selbstandig.  Es  wurden 
Faden  gesponnen  zum  Hauptquartier  des  Fa  seism  us,  unsicht- 
bare  Hande  woben  ein  Komplott,  urn  den  eben  wiedererwahl- 
ten  Reichsprasidenten  offentlich  gegen  den  Kanzler  auszuspie- 
len.  Und  dieser  gleiche  Kanzler,  der  sich  anschickte,  aus  decn 
Zusammenbruch  der  alten  schwarzrotgoldenen  Demokratie  ein 
neu-es  konservatives  und  christliches  Deutschland  hervorzu- 
zaubern,  muB  sich  nun  auf  jene  Krafte  stiitzen,  die  er  hatte  aus- 
merzen  wollen,  und  muB  es  sich  nun  gef alien  Lassen,  von  denen, 
die  er  fur  immer  hatte  aus  der  Leitung  des  Staates  dirangen 
wollen,  als  letzter  Hort  des  Liberalismus,  als  letzte  Saule  der 
Republik  gefeiert  zu  werden.  Der  einzige  Kanzler  seit  1918, 
der  mit  einer  wirklichen  Idee  in  sein  Amt  gegangen  war,  muBte 
erleben,  daB  er  nicht  nur  kein  Bruchteilchen  davon  verwirk- 
lichen  konnte,  sondern  muB  sich  schliefiiich  mit  einem,  vagen 
ni^kasionismus  begniigen,  der  ihn  von  Tag  zu  Tag  weiter- 
balanzieren  laBt  —  so  lange,  bis  der  wankende  Aufbau  end- 
lich  unter  ihm  zusammenbricht  und  das  ganze  Wundertheater 
krachend  ins  Parkett  rollt.  O  Pitt,  je  rends  hommage  a  ton 
genie!  rief  Camill-e  Desmoulins  dem  londoner  Manager  der 
europaischen  Konterrevolution  zu,  der  sich  bei  aller  Kunst- 
fertigkeit  am  Ende  doch  so  schrecklich  verrechnet  hat, 

Gute  Zeiten  fur  strebsame  Offiziere.  Die  biirgerliche  Ge- 
walt  ist  trotz  Artikel  48  und  Notverordnung  auf  ein  Laisser 
faire  eingeschworen  und  ftirchtet  nichts  mehr  als  die  Folgen 
einer  eignen  Kraftanstrengung.  Da  tritt  das  Militar  breit  in 
die  Mitte.  Denn  da  klappt  noch  alles,  da  bewegt  noch  jener 
Gehorsam,  der  alien  andern  Teilnehmern  des  Staates  fehit, 
automatisch  die  Glieder.  Disziplin  — ?  Ja,  der  Muschkote  hat 
sie.     Aber  auch  die  Herren  Generale? 

Doch  dieses  Gebilde  sieht  noch  immer  verteuielt  kompakt 
aus,  Es  stromt  eine  Wolke  nationaler  Mystik  aus.  Das  Herz 
des  Patrioteni  ist  leicht  zu  verfuhrea.  Wena  er  eine  stramm 
marschierende  Truppe  bewundert,  so  vergiBt  er,  daB  der  Sol- 
706 


dat  heute  am  wenigsten  ein  besonderes  Werkzeug  Gottes  ist, 
<Jas  VaterXaod  wieder  in  Ruhm  und  Glanz  zu  fuhreiv  sondern 
ein  Beamter  wie  andre  auch,  Kein  auserlesenes  Wesen  son- 
dern cine  Gehaltsklasse.     Wie  die  Post  oder  Feuerwehr. 

Die  Generalitat  hat  diesen  Nimbus  ebenso  sicher  auszu- 
nutzen  verstanden  wie  die  Schwache  der  burgerlichen  Machte, 
Sie  verteidigt  ihre  Forderungen  mit  der  Wucht  absolutistischer 
Herrscher.  Kritik  wird  AnmaBung,  ja  Verleumdung.  Anfech- 
tuag  ihrer  Anspriiche  Verbrechen  an  der  Wehrhaftigkeit  des 
Volkes.  Ein  Versuch,  diese  Anspriiche  aus  dem  militarischen 
Geheimkabinett  ins  Licht  des  Tages  zu  Ziehen,  Verrat  raili- 
tarischer  Geheimnisse,  Verrat  an  der  ganzen  Nation. 

Vor  ein  paar  Monaten,  als  ich  die  Bedingungen  dieses  selt- 
samen  Zustandes  untersuchte,  schrieb  ich  an  dieser  S telle 
(Nr.  7  vom  16.  Februar):  „Es  ist  das  stUle  Vorrecht  der  meisten 
Kriegsminister,  gelegentlich  den  Mund  etwas  voll  zu  nehmen 
und  sich  und  ihre  Leute  als  den  Hort  des  best  en  und  aus- 
erwahltesten  Patriotismus  zu  feiern.  Das  kommt  auch  in  Lan- 
dern  mit  guter  demokratischer  Tradition  vor.  Dort  ist  der 
Kampf  zwischen  Militar-  und  Zivilgewalt  schon  historisch  ge- 
worden  und  zugunsten  des  burgerlichen  Elements  entschieden. 
Dort  ist  der  Patriotismus  im  allgemeinen  bereits  in  eine  teste 
Form  gegossen,  und  selbst  seine  gelegent  lichen  Exzesse  tun 
aus  diesem  Grunde  nicht  mehr  wen.  Kein  Kriegsminister  wiirde 
es  dort  wagea>,  Leuten,  die  seine  Politik  nicht  gutheiBen,  die 
anstandige  nationale  Gesinnung  abzusprechen.  Aber  Deutsch- 
land  ist  ohne  freiheitliche  Tradition,  ihm  fehlt  das  wirkliche 
BtirgerbewuBtsein,  ihm  fehlt  der  Stolz  des  Zivilisten  gegenuber 
der  Uniform.  Immer  wieder  ist  den  deutschen  Untertanen  in 
der  Kaiserzeit  eingebleut  worden,  daB  es  ein  Frevel  am  Volke 
sei,  dem  Militarismus  irgend  etwas  zu  verweigern.  Das  ist  in 
der  Republik  um  kein  Jota  besser  geworden,  im  Gegeateil. 
Und  diese  Situationen  benutzen  nun  seit  zehn  Jahren  die 
Reichswehrchefs,  um  dem  Herrschaftswillen  ihres  Amts  immer 
neue  Gebiete  zu  unterwerfen  und  sich  in  Dinge  einzumischen, 
die  sie  nicht  das  mindeste  angehen.  Wir  haben  es  zum  Bei- 
spiel  erlebt,  daB  General  von  Seeckt  gern  auf  eigne  Faust 
AuBenpolitik  trieb.  Damals  erhoben  Stresemann  und  zahl- 
reiche  biirgerliche  Politiker,  denen  es  durchaus  nicht  an  star- 
kem  deutsch-patriotischem  Gefiihl  im  herkommlichen  Sinne 
fehlte,  Einspruch  und  wiesen  den  General  in  seine  Schranken 
zuriick.  Heute  jedoch  kommt  das  nicht  mehr  vor,  und1  es  ist 
auch  gar  nicht  mehr  notig,  weil  sich  die  AuBenpolitik  in  aller 
Ruhe  dem  Reichswehrministerium  angepaBt  hat . . .  Heute 
sind  wir  so  weit  gekommen,  daB  der  sogenannte  Wehrgeist 
ausschlieBlich  im  Mittelpunkt  der  Politik  steht;  der  Staats- 
biirger  wird  nicht  mehr  danach  gefragt,  wie  er  es  mit  der 
Hepublik  halt,  sondern  ob  er  ,wehrfreudig'  ist." 

707 


Ich  habc  dem  heute  nichts  mehr  hinzuzufugen.  Alles  das 
gehort  zum  Hintergrund  unsrcs  Prozesses,  den  wir  juristisch 
verloren  haiben,  den  wir  aber  einmal  vor  ciner  andern  Instanz 
politisch  gewinnen  wef  den.  Gemessen  an  den  entscheidenden 
Fragen  der  heutigen  Welt  fuhr  unser  PrazeB  nur  auf  einem 
deutschen  Nebengleis.  Aber  er  liihrte  in  die  zentrale  Fragje 
der  innern  deutschen  Politik. 

Kleines  Testament 

Und    item   Maistre    Bassanier 

und    Jean     Moutaint,     den    strengen  Richtern, 

wiinsch  ich  ein  grofies  Renomme 

bei  Mordern,  Raubern,  Diebsgelichtern* 

Villon 

In  den  nachsten  Wochen  wird  der  Panter,  mein  lieber 
Kollege,  wahrscheinlich  einige  Nettigkeiten  iiber  mich  schrei- 
ben,  Glauiben  Sie  ihm  nicht.  Leider  bin  ich  nicht  in  der 
Lage,  von  meinem  neuen  Platz  eine  pressegesetzliche  Berichti- 
gung  einzusemden.     Wahr  ist . . , 

Es  sind  in  diesen  Tagen  so  ziemlich  fiinf  Jahre  vergangen, 
seit  mir  die  Leitung  der  .Weltbuhne'  anvertraut  wurde.  Da 
stand  das  Erbe  von  S.  J.  in  einer  Zeit,  die  schnell  alles  von 
dem  verlieren  sollte,  was  die  ,Weltbuhne'  hatte  wachsen 
lassen.  Niemand  weiB  besser  als  Jch,  wie  viel  ich  dem  edlen 
altenGlanz  schuldig  bleiben  muBte.  Die  tWeltbuhne1  war,  so  wie 
ich  sie  von  S.  J,  ubernommen  habe,  ein  wimderbar  getriebenes 
MetallgefaB,  in  dem  die  schonsten  Dinge  gesammelt  waren,  mid 
so  funkelte  es  verfuhrerisch  im  Abendrot  der  biirgerlichen  Zeit  — 
ein  letzter  Kampfer,  der  in  edler!  Linie  focht. 

Hetite  ist  alles  mit  Politik  und'  Okonomie  vollgestopft,  und 
aus  einem  Refugium  der  Sohonheit  ist  ein  Depot  aller  Sorgen 
gewor  den.  Aber  die  .Weltbuhne'  hat  diesen  Ubergang  gut 
iiberstandien,  und  ich  verlasse  die  Redlaktion  in  dem  BewuBt- 
sein,  ,,das  Blattchen",  wie  S.  J,  so  gem  sagte,  unversehrt  durch 
ein  paar  Jahre  getragen  zu  haben,  die  als  Kriegsjahre  zahlen 
mussen  und  in  denen  noch  mehr  Charaktere  als  kaufmannische 
Unternehmungen  zusammengebrochen  sind. 

Die  politische  Leitung  wird  Hellmut  von  Gerlach  liberneh- 
men,  der  uns  seine  reiche  Erfahrung  zur  Verfiigung  stellt  und 
durch  eine  ehrenvolle,  niemals  durch  Konzessionen  befleckte 
Vergangenheit  die  Garantie  gibt,  daB  an  der  Haltung  der  ,Welt- 
buhine'  nichts  geandert  wird.  Vor  mehr  als  dreiBig  Jahren  be- 
griindete  S.  J.  an  der  ,Welt  am  Montag'  unter  Hellmut  von 
Gerlach  seinen  Ruf  als  Theaterkritiker.  Vor  mehr  als  zwanzig 
Jahren  bildete  ich  als  blutjunger  Mensch  meine  ersten  Afbei- 
ten  an  seineni  Beispiel. 

Jag  durch  die  Welt  vom  nordlichen  bis  zum  sudlichen  Kap  — : 
es  spielt  sich  alles  unter  zweihundert  Menschen  ab 
so  dichtete  Theobald  Tiger. 

708 


Jctzt  geb  ich  meinen  Degen  also  in  der  Garderobe  ab. 
Was  ist  noch  zu  sagen? 

Die  schone  Schildpattbrille  mit  den  blauen  Glasem,  die 
mir  eine  meiner  zahlreichen  Verehrerinnen  ftir  die  Flucht  ge- 
widmet  hat*  vermache  ich  Herrn  General  von  Schleicher,  Item 
den  falschen  Bart,  den  mir  ein  alter  Abonnent  in  Prag  gestiftet 
hat.     Er  wird  das  einmal  brauchen  konnen. 

Item  soil  Herr  Reichsanwalt  Jorns  ei»  gut  erhaltenes 
Exemplar  der  Rede  von  Paul  Levi  erben,  die  sich  mit  seiner 
Person  befaBt. 

Ioh  danke  alien  guten  Menschen,  die  mich  fur  die  Zeit 
meiner  Gefangenschaft  mit  Schokolade  versorgen  wollen.  Da 
mir  nicht  viel  an  SiiBigkeiten  liegt,  bitte  ich,  sie  giitigst  an  den 
Vierten  Strafsenat  richten  zu  wollen,  Wahrend  des  Prozesses 
habe  ich  die  Beobachtung  gemacht,  daB  die  Herren  Reichs- 
richter  jedesmal  in  der  Stunde  vor  der  Tischpause  Zeichen  von 
Unruhe  und  hoher  Ermiidung  bemerkbar  werden  lieBen.  Schon 
Julius  Casar  sprach  das  Lob  der  wohlgenahrten  Manner. 
Ware  er  nicht  Diktator  gewesen  sondern  Angeklagter,  so 
wiirde  er  gewiB  gesagt  haben:  Hungrige  Richter  sind  ge- 
fahrlich 

Item  sindi  mir  zugedachte  auslandische  Zeitungen  an  Herrn 
J6I  zu  senden,  der  gem  hervorhebt,  ein  sachlicher,  unpoliti*, 
scher  Beamter  zu  sein  und  nioht  viel  auf  Pressestimmen,  und 
namentlich  auslandische,  zu  geben.  Die  Deutsche  Justiz  konnte 
davon  profitieren> 

Alle  Autoren,  die  ich  zu  lange  auf  den  Abdruck  ihrer 
Manuskripte  warten  lieB,  bitte  ich  hiermit  instandigst  um  Ver- 
gebung.  Item  alle,  zu  denen  ich  am  Telephoh  sagte:  Nachste 
Woche . . :  Item  bitte  ich  Herrn  Walter  Mehring,  mir  zu  ver- 
zeihen,  daB  ich  sein  Buch  noch  nicht  besprochen  habe.  Er 
soil  bald  uber  Paris  schreiben. 

Item  bitte  ich  das  deutsche  Volk,  einig  in  alien  seinen 
Stammen,  sich  nicht  gegenseitig  ausrotten  zu  wollen,  damit  es 
der  ,Weltbiihne'  nicht  an  Stoff  fehlt.  Ich  glaube,  es  wird  in 
den  nachsten  achtzehn  Monaten  nicht  langweilig  sein  iu 
Deutschland. 

Es  haben  mir  in  diesen  Monateti  viele  Kollegen,  mit  denen 
ich  friiher  die  Klinge  kreuzen  muBte,  Sympathie  gezeigt  und 
Freundlichkeiten  erwiesen.  Es  sind  viele  Damen  und  Herren 
tatkraftig  fur  mich  eingetreten,  die  sich  oft  iiber  die  ,Welt- 
biihne'  geargert  haben.  Ich  danke  ihnen  alien,  daB  ihr  Solidary 
tatsgefuhl  sich  starker  erwies  als  ihr  Gedachtnis, 

Von  alien  aber,  die  meine  Arbeit  in  dem  roten  Heft  freund- 
lich  oder  feindlich  verfolgt  haben,  verabschiede  ich  mich  wie 
der  brave  Soldat  Schwejk  von  dem  alten  Sappeur  Woditschka: 
„A1so  nachn  Krieg,  um  sechs  Uhr  Abend  im  ,Kelch'!" 

709 


Bemerkungen 

Deutsch lands  Freiheitskampf 

r\afi  Deutschland  um  seine  Fred- 
~  heit  kampft,  wird  neuerdings 
.auch  von  amtlichen  Stellen  an- 
erkannt.  Der  Reichskanzler  sagte 
es  in  seiner  konigsberger  Rede, 
jund  auch  in  der  Proklamation, 
mit  der  sich  der  Reichsprasident 
nach  seiner  Wiederwahl  ans  Volk 
wandte,  fehlte  nicht  der  Hinweis 
darauf. 

Oberfltissig,  die  Frage  aufzu- 
werfen,  was  damit  gemeint  ist. 
Deutschlands  Regierer  finden  ge- 
wiB  nicht,  die  Verfassung  gebe 
dem  Volk  zu  wenig  Freiheit  oder 
gar  die  Verfassung  werde  nicht 
genugend  beachtet.  Die  Sorge  um 
jene  Freiheit,  die  seit  Jahrhun- 
derten  Menschen  auf  Barrikaden 
und  Schaffotte  trieb,  stort  in  den 
hohern  Regionen  unsres  Landes 
niemandes  Schlaf,  und  kein 
Marquis  Posa  durfte  unangemel- 
det  die  Schwelle  der  Raume  be- 
treten,  in  denen  die  Entscheidun- 
gen  getroffen  werden.  (Die  Parla- 
mente  gehoren  nicht  zu  diesen 
Raumen.) 

Die  Freiheit,  die  sie  meinen, 
bezieht  sich  nur  auf  die  AuBen- 
politik.  Nach  der  Auffassung 
hoher  und  hochster  Amtsinhaber 
sind  wir  kein  freies  Volk,  weil 
wir  fUr  den  verlornen  Krieg  be- 
zahlen  miissen.  Augenblicklich 
sind  wir  zwar  im  GenuB  eines 
Moratoriums,  aber  schon  daB  wir 
um  seine  Verlangerung  verhan- 
deln  sollen,  erscheint  als  Ein- 
engung  unsrer  Freiheit, 

Frei  waren  wir  demnach  erst, 
wenn  wir  einfach  erklaren  konn- 
ten:  wir  zahlen  nicht  mehr.  Was 
aber  geschieht,  wenn  ein  Staat  auf 
den  Widerstand  andrer  Staaten 
stoBt  und  nicht  mit  ihnen  verhan- 
deln  will?  Dann  bleibt  ihm  nur 
ubrig,  zur  ultima  ratio  regis  **ii 
greifen:  zum  Krieg.  Und  eben  das 
konnen  wir  nicht,  denn  uns  fehlt 
*„die  Wehrhoheif. 

„Voila !"  sagen  die  Zauberer, 
wenn  die  zersagte  Dame  wieder 
hereinkommt.  Da  haben  wir  es! 
Die  Freiheit  eines  Volkes  richtet 
sich  also  nach  der  Zahl  seiner 
Geschtitze,  Tanks,  Flugzeuge  und 

710 


Unterseeboote.  Talleyrand  hatte 
freilich  dariiber  gelachelt,  jedoch 
fur  einen  Talleyrand  ware  auch 
kein  Platz  in  der  hohen  Politik 
Deutschlands, 

Sogar  im  Konversauonsiexikon 
stent,  daB  Freiheit  in  der  Politik 
die  Unabhangigkeit  des  Staates 
und  der  Gesellschaft  von  der 
Willkiir  einzelner  ist,  DaB  ein 
Volk  nicht  frei  ist,  wenn  es  nicht 
die  Macht  hat,  zu  rusten  und 
Krieg  zu  fuhren,  stammt  selbst- 
verstandlich  von  den  Leuten,  die 
alle  Begriffe  in  diesem  Lande  ver- 
wirrt  haben.  Die  deutschvolkische 
,,Freiheitspartei"  existiert  aller- 
dings  nicht  mehr,  aber  ihre 
Rechtsnachfolger  sind  die  Nazis, 
Und  von  den  Nazis  ruhrt  auch 
die  Behauptung  her,  wir  seien 
versklavt,  eine  Behauptung,  die 
iibrigens  einen  hochst  unpatrioti- 
schen  Minderwertigkeitskomplex 
enthullt. 

Jetzt  sprechen  schon  Reichs- 
prasident und  Reichskanzler  von 
dem  Kampf  um  Deutschlands 
Freiheit,  Bewiesen  wird  dadurch 
nicht  nurf  wie  stark  die  Regierung 
unter  dem  EinfluB  nationalsozia- 
Hstischer  Gedankengange  steht; 
bewiesen  wird  dadurch  auch,  daB 
wir  uns  nach  Meinung  der  Regie- 
rung  mitten  in  einem,  wenn  auch 
unblutigen  Krieg  befinden. 

Die  Rede,  die  Bruning  in  Ko- 
nigsberg  hielt,  ist  leider  nirgends 
im  Wortlaut  erschienen,  nur  der 
ttichtige  Goebbels  hat  sie  auf 
Schallplatten  aufgennommen.  Man 
muB  also  dem  Sinn  nach  zitieren. 
„Es  sind  uns  im  Sommer",  so  un- 
gefahr  sagte  der  Reichskanzler, 
„Kredite  angeboten  worden,  Wir 
haben  sie  abgelehnt,  weil  die  Be- 
dingungen  zu  schwer  waren."  Die 
Regierung  hat  es  demnach  vor- 
gezogen,  den  deutschen  Be- 
freiungskrieg  fortzusetzen  und 
durchzuhalten, 

Moglicherweise  waren  die  Be- 
dingungen,  unter  denen  diese  Kre- 
dite  angeboten  wurden,  wirklich 
unannehmbar.  Im  Sommer  jedoch 
wurde  von  Amts  wegen  immer 
wieder  erklart,  es  seien  iiberhaupt 
keine  Kredite  zu  bekommen,  und 


die  Zeitungen,  die  daran  zu 
zweifeln  wagten,         erhielten 

Zwangsauflagen  und  Verbots- 
drohungen/'  Heute  darf  man  viel- 
leicht  fragen,  welche  Opfer  so  un~ 
ertraglich  waren,  daB  die  Regie- 
rung  die  herrschende  Misere  ihnen 
vorzog? 

Man  darf  fragen,  aber  wir  wer- 
den  keine  Antwort  bekommen. 
Denn  die  Eigenheit  des  Freihetts- 
krieges,  den  die  Regierung  fiihrt 
und  den  die  Massen  erdulden 
mussen,  ist  es,  daB  mit  auBer- 
ordentlicher  Diskretion  gekampft 
wird.  Es  gibt  nicht  einmal  Kriegs- 
berichte,  Um  etwas  tiber  das 
deutsche  Memorandum  zur  Do- 
naufdderation  oder  die  deutschen 
Vorschlage  auf  der  Abrtistungs- 
konferenz  zu  erfahren,  muB  man 
schon  zu  auslandischen  Zeitungen 
greifen. 

Die  Regierung,  die  einen  waf- 
fenlosen  Krieg  fiihrt,  um  einen 
mit  Waffen  fiihren  zu  konnen,  be- 
weist  so  das  Gegenteil  von  dem, 
was  sie  beweisen  will:  daB  man 
namlich  doch  einen  Krieg  ohne 
Waffen  fiihren  kann.  Das  deutsche 
Volk  ist  also  gar  nicht  ver- 
sklavt,  es  brauchte  eigentlich  kei- 
nen  Krieg  um  seine  auBenpoli- 
tische  Freiheit  und  konnte  sich 
getrost  mit  der  Sorge  um  seine 
innenpolitische  Freiheit  befassen. 
Hanns-Erich  Kaminski 

Richter  erzahlen  Marchen 

Im  letzten  Winter  schwebte  in 
Dresden  ein  ProzeB  gegen  die 
Frau  des  pazifistischen  Generals 
von  Bresler,  Sie  hatte  in  der 
StraBenbahn  den  Ausdruck 
f,BocheM  gebraucht,  durch  den 
sich  Personen  beleidigt  fuhlten, 
auf  die  sich  dieser  Ausdruck  gar 
nicht  bezogen  haben  konnte. 
Trotzdem  wurde  sie  in  zwei  In- 
stanzen  zu  der  unverhaltnismaBig 
hohen  Strafe  von  tausend  Mark 
mit  einer  ungeheuerlichen  Begriin- 
dung  verurteilt, 

Bei  der  Verhandlung  der  ersten 
Instanz  erklarte  der  Gerichtsvor- 
sitzende  Doktor  Danziger,  „durch 
Gertchtsurteil  sei  festgestellt,  daB 
die  Deutsche  Friedensgesellschaft 
von  fremden  Regierungeni  Gelder 
beziehe". 


Herr  Doktor  Danziger  hat  eine 
Spezifizierung  seiner  Behauptung 
vermieden.  Es  wurde  ihm  auch 
schwer  gefallen  sein,  das  von  ihm 
zitierte  Gerichtsurteil  naher  zu 
bezeichnen.  Es  existiert  namlich 
nicht. 

In  der  zweiten  Instanz  wurde 
von  der  Gerichtsstelle  aus  mit  an- 
dern,  aber  nicht  minder  kuhnen 
Behauptungen  operiert.  Den  Tat- 
bestand  gibt  am  besten  nach- 
stehende  Eingabe  wieder,  die  die 
Liga  fur  Menschenrechte  am 
19.  Marz  an  den  Landgerichts- 
direktor  Doktor  Knoth  in  Dresden 
gerichtet  hat; 

,,In  dem  ProzeB  gegen  die  Ehe- 
frau  des  Generals  von  Bresler,  der 
durch  Urteil  Ihrer  Strafkammer 
vom  1.  Februar  1932  abgeschlos- 
sen  worden  ist,  soil  en  Sie  nach 
den  uns  vorliegenden  Akten  die 
Angeklagte  gefragt  haben,  ob  ihr 
nicht  bekannt  sei,  daB  bei  Eroff 
nung  der  ersten  Volkerbundsver- 
sammlung  der  franzosische  Mi- 
nisterprasident  Viviani  ausgerufen 
habe:  ,Diese  heiligen  Hallen  wird 
der  Boche  niemals  entweihenP 

Samtlichen  Mitgliedern  unsres 
Vorstandes  war  dieser  angebliche 
Ausspruch  Vivianis  vollig  neu.  Bei 
unsrer  Kenntnis  der  Person 
Vivianis  und,  seiner  Redeweise 
wie  des  in  Genf  im  Volkerbund 
herrschenden  Tones  schien  es  uns 
fast  ausgeschlossen,  daB  sich 
Viviani  in  dieser  Weise  ausge- 
druckt  haben  konnte. 

Wir  haben  die  amtlichen  Druck- 
sachen  der  ersten  Volkerbunds- 
versammlung  durchgesehen  und 
unsre  Annahme  bestatigt  gefun- 
den,  daB  Viviani  weder  dem 
Wortlaut  noch  auch  dem  Sinn 
nach  sich  so  ausgedruckt  hat,  wie 
Sie  in  der  Verhandlung  angegeben 
haben.  Bei  der  Debatte  uber  die 
etwaige  sofortige  Aufnahme 
Deutschlands,  die  durch  den 
schweizer  Delegierten  Motta  an- 
geregt  war,  hat  Viviani  wortlich 
erklart: 

.Deutschland  wird  hier  ein- 
ziehen,  wenn  es,  entsprechend 
dem  Geiste  und  dem  Artikel  1 
der  Volkerbundssatzung,  den  Tat- 
beweis  seines  aufrichtigen  Willens 
zur  Erfullung  seiner  Verpflichtun- 

711 


gen  geliefert  haben  wird  .  - .  Ich 
enthalte  mich,  hier  irgendein  Wort 
des  Hasses  vorzubringen/ 

Viviani  hat  also  durcbaus  den 
ktinftigen  Eintritt  Deutschlands  in 
den  Volkerbund  ins  Auge  gefaBt, 
kann  daher  gar  nicht  den  Aus- 
spruch  getan  haben,  daB  Deutsch- 
land  niemals  diese  heiligen  Hallen 
entweihen  werde. 

Er  hat  ferner  ausdriicklich  von 
Worten  des  Hasses  absehen  zu 
wollen  erklart.  Deshalb  kann  er 
unmoglich  den  herabsetzenden 
Ausdruck  Boche  gebraucht  haben. 

Die  Quellen,  auf  die  Sie  Ihren 
Ausspruch  gestiitzt  haben,  konnen 
keine  amtlichen  gewesen  sein,  da 
wir,  wie  gesagt,  das  amtliche 
Material  genau  durchgesehen 
haben.  Wir  waren  Ihnen  zu  Dank 
verpflichtet,  wenn  Sie  uns  mittei- 
len  wollten,  worauf  Sie  Ihre  AuBe- 
rung  iiber  Viviani  gegrundet  ha- 
ben, damit  wir  der  Sache  weiter 
nachforschen  konnen, 

Unsre  Organisation  dient  der 
Verstandigung  der  Volker,  insbe- 
sondre  der  des  deutschen  und 
franzosischen  Volkes.  Die  Ver- 
standigung wird  naturlich  er- 
schwert,  wenn  eine  Legendenbil- 
dung  franzosischen  Staatsmannern 
gehassig  gegen  Deutschland  klin- 
gende  Ausspriiche  in  den  Mund 
legt.  Da  Ihre  AuBerung  in  einer 
offentlichen  Verhandlung  gefallen 
ist,  ist  sie  Gegenstand  der  offent- 
lichen Erorterung  geworden. 

Wir  diirferi  annehmen,  daB 
Ihnen  selbst  am  meisten  an  einer 
Klarung  der  Angelegenheit  ge- 
legen  ist,  und  bitten  Sie  deshalb 
urn  mdglichst  baldige  freundliche 
Beantwortung  unsrer  Anfrage," 

Doktor  Knoth  erwiderte  auf 
diese  Eingabe  am  21,  Marz,  daB 
er  sie  zu  deni  Strafakten  genom- 
men  habe,  da  es  ihm  nicht  zu- 
stehe,  sich  zu  einer  von  ihm  ge- 
t  fiihrten  Strafsache  auBeramtlich 
zu  auBern.  Eine  Eingabe  der  Liga 
an  das  sachsische  Justizministe- 
rium  zeitigte  kein  besseres  Ergeb- 
nis.  Unter  dem  24,  April  wurde 
ihr  nur  kurz  erwidert,  daB  das 
Ministerium  keinen  AnlaB  gefun- 
den  habe,  gegen  Doktor  Knoth  im 
Wege  der  Dienstaufstcht  etwas  zu 
verfugen. 

712 


Das  Justizministerium  der  sach- 
sischen  Rechtsregierung  scheint  es 
also  als  unanfechtbar  anzusehen, 
wenn  einer  seiner  Richter  seine 
Befugnisse  dazu  miflbraucht,  in 
aller  Offentlichkeit  einen  ver- 
storbenen  franzosischen  Staats- 
mann  zum .  Gegenstand  einer  Le- 
gendenbildung  zu  machen. 

Was  wurden  die  sachsischen 
Justizherren  dazu  sagen,  wenn 
franzosische  Gerichte  deutschen 
Staatsmannern  Ausspriiche  in  den 
Mund  legten,  die  zwar  nicht  ge- 
fallen, dafiir  aber  um  so  mehr  ge- 
eignet  sind,  die  deutsch-franzosi- 
schen  Beziehungen  zu  vergiften? 

Unsre  Strafjustiz  ist  schlimm, 
wenn  sie  sich  rait!  Rechtsfragen 
befaflt,  die  die  Innenpolitik  strei- 
fen,  Begibt  sie  sich  gar  auf  das 
Gebiet  der  AuBenpolitik . . . 

Es  ware  reizvoll,  die  Quellen 
der  aufienpolitischen  Kenntnisse 
des  Herrn  Doktor  Knoth  kennen 
zu  lernen.  Aber  jeder  Versuch 
dazu  scheint  einer  am  untaug^ 
lichen  Objekt  zu  sein,  Ebenso  gut 
konnte  man  sich  vielleicht  beim 
Dalai  Lama  um  ein  Interview  be- 
werben, 

Heltmut  von  Gerlach 

Liebe  Schweiz? 

VV7ir  haben  dich  doch  alle  sehr 
"  gerne;  viele  von  uns  freuen 
sich,  wenn  sie  zu  dir  fahren 
konnen,  und  wir  wiinschen  dir  so- 
weit  alles  Gute. 

Nun  hast  du  da  in  Wien  ein 
Reisebureau  aufgemacht;  preisend 
mit  viel  schonen  Reden  ist  das 
eroffnet'  worden,  und  deine  Zei- 
tungen  berichten  gar  freudig  da- 
von.  In  dens  el  ben  Zeitungen  aber 
steht  noch  etwas  andres. 

Da  kann  man  namlich  lesen, 
daB  ihr  eure  Zollsatze  standig 
erhoht,  derart  erhoht,  daB,  was 
ihr  da  treibt,  einem  Einfuhrver- 
bot  gleichkommt.  Was  das  mit 
dem  Reisebureau  zu  tun  hat? 

Liebe  Schweiz  I  Wenn  die  Kauf- 
leute  in  Paris  und  in  Berlin  und 
in  Wien  auf  das  schweizer  Ge- 
schaft  verzichten  mussen,  dann 
gehn  die  Geschafte  schlecht.  Und 
wenn  die  Geschafte  schlecht  gehn, 
dann  konnen  die  Leute  nicht 
reisen,   Und  wenn  die  Leute  nicht 


reisen  konnen:  wozu  dann  ein 
Reisebureau?  Wie  kann  man  die 
Kundschaft  anlocken,  in  die 
Schweiz  zu  kommen,  und  ihr  zu 
gleicher  Zeit  die  Geschafte  ver- 
derben?  Siehst  du  das  nicht(  Hebe 
Schweiz  — ? 

Das  siehst  du. 

Du  wirst  dir  und  mir  aber  sa- 
gen:  t,Wir  sind  ein  kleines  Land, 
Wir  haben  mit  diesen  Zollkontin- 
gentierungen  nicht  angefangen, 
Jetzt  aber  mtissen  wir.  Was  sollen 
wir  tun?    So  ist  eben  Europa." 

So  ist  Europa.  Jedes  Land 
macht  dieselben  Dummheiten  und 
ist  dann  hdchst  erstaunt,  dafi  es 
nicht  klappt.  Die  kleinern  Staa- 
ten  den  groBen  nachwackeln  zu 
sehen,  hat  et was  Jammervoll es ; 
friiher  sind  sie  doch  so  eine  Art 
Hort  der  Vernunft  gewesen,  und 
nun  machen  sie  denselben  patrio- 
tischen  Unfug  wie  die  groBen,  nur 
eben  drei  Nummern  kleiner. 
Deine  Hoteliers,  liebe  Schweiz, 
werden  schon  jammern  in  diesem 
Sommer.  Die  franzosischen  Par- 
liimfabrikanten  jammern  desglei- 
chen.  Die  schwedischen  Hand- 
schuhmacher  auch.  A^lle,  alle 
jammern.  Und  alle  tun  ihr  Men- 
schenmogliches,  urn  wenigstens 
eines  zu  erreichen;  der  eignen 
Kundschaft  das  Geschaft  zu  ver- 
derben.  Und  das  ist  ja  denn  auch 
im  weitesten  Umfang  gelungen. 

Jeder  ist  sich  selbst  der  nachste. 
Rett  or  rong,  mei  kontrieh,  Das 
ist  meinem  Vater  ganz  recht,  daB 
mir  die  Hande  frieren  —  warum 
kauft  er  mir  keine  Handschuhef 

Liebe  gute  Schweiz  . . .  Auch 
du  — ?   Auch  du  — ? 

Ignaz  Wrobel 


Drehorgel 

CtraBensanger  gibt  es  jetzt 
^  viele,  bemiiht,  durch  den  Zau- 
ber  der  Musik  zu  riihren  der  Men- 
schen  steinern  Herz.  Sie  singen, 
einzeln  oder  im  Verein,  von 
Liebe,  vollen  Bechern,  frohlicher 
Wanderschaft  und  dergleichen 
Unaktualitaten  mehr,  haben  auch 
Riihrendes  in  ihrem  Repertoire, 
aber  riihrender  als  die  ruhrenden 
sind  die  muntern  Lieder  des 
StraBensangers,  der  das  Leben 
hoch  leben  laBt,  weil  er  anders 
nicht  zu  leben  hat. 

Trubseliger  noch  als  fidele  Stra- 
Bensanger  sind  Drehorgeln,  die 
es  auch  noch  gibt  oder  schon 
wieder  gibt.  Eine  Drehorgel,  heut- 
zutage,  unter  demselben  Himmel, 
zu  dem  der  Tonfilm  schreitl  Eine 
Drehorgel  im  Zeitalter  des  Radio, 
wo  jeder  Burger,  und  nicht  nur 
Sonntags,  seinen  Tauber  im  Topf 
hat! 

Diese  hier,  auf  die  grau  gereg- 
nete  VorstadtstraBe  hingestellt, 
macht  einen  ganz  besonders  klag- 
Hchen  Eindruck.  Wie  hervor- 
gekratzt  aus  langjahrigem  Grabe, 
und  gezwungen,  noch  ein  Restchen 
nachzuleben.  Von  Zeit  zu  Zeit, 
sie  ist  es  eben  nicht  mehr  ge- 
wohnt,  geht  ihr  die  Luft  aus,  sie 
verschluckt  ein  paar  Tone  ganz, 
oder  holt  sie,  nach  der  asthma- 
tischen  Pause,  in  iibertriebenster 
Eile  nach.  Larm  der  Autos  und 
der  StraBenbahnen  deckt  ihr  Ge- 
wimmer  zu.  Ihr  durft  sie  Ana- 
chronismus  nennen, 

Trotzdem  oder  eben  deshalb 
bleiben  Vortibergehende  stehen 
und  gucken,  ein  biBchen  schief, 
auf  das  Musik-Gespenst.   Aus  den 


Soeben  erschien 

HERBERT  SCHLUTER 

Die  Riickkehr 
der  verlorenen  Tochter 

Roman 

Leinen  4.50 

TRANSMARE   VERLAG   A.-G.,   BERLIN:  W   35 

713 


Geschaftsladen  ringsum,  in  die 
selten  jemand  hineinkommt,  kom- 
men  die  dort  beschaftigten 
Nichtbeschaftigten  heraus,  dank- 
bar  fur  die  Unterbrechung  der  Ta- 
ges-Monotonie,  und  machen  be- 
kummert-heitre  Miene  zum  lacher- 
lichen  Spiel. 

Der  Mann,  der  die  Kurbel 
dreht,  ist  so  mager  wie  der  Klang 
seines  Instruments,  mit  dem  er 
wahrscheinlich  in  langer  Ver- 
bundenheit  gealtert  ist.  Gleich 
ihm  dem  Leierkasten  eng  ver- 
bunden,  aber  durch  effek- 
tives  Kettchen,  vollzieht  ein  Affe 
Luftspninge.  Ob  aus  Obermut 
oder  aus  getarnter  Schwermut 
oder  in  Erfiillung  einer,  unter 
Strafsanktion  ihm  auferlegten, 
Pflicht,  possierlich  zu  sein,  oder 
weil  inn  friert:  wer  blickt  in  die 
Tierseele?  Moglich  auch,  daB 
der  Affe,  der  noch  dtinner  ist  als 
sein  Herr  (man  konnte  ihn  wie 
erne  Boa  um  den  Hals  legen);  daB 
er  hupft,  weil  er  Hunger  hat.  Be- 
wegung   als  Nahrungsersatz. 

Das  Geschaft  scheint  nicht  gut 
zu  gehen.  Wahrend  der  Minuten, 
in  denen  ich  zusah,  waren  die  Ein- 
nahmen  gleich  null.  Ein  Schelm, 
heiBt  es,  der  mehr  gibt,  als  er 
hat.  Was  haben  die  Menschen 
heutzutage?  Zeit.  Davon  gaben 
sie  etwas  dem  Drehorgelmann.  In 
einem  Stockwerk  des  Hauses,  vor 
dem  er  werkelte,  offnete  sich  ein 
Fenster,  eine  Frau  sah  heraus, 
der  Mann  zog  bitt-grufiend  die 
Kappe,  die  Frau  verschwand  vom 
Fenster  und  kam  mit  einem 
Kinde  wieder,  dem  sie  den  Affen 
zeigte.  Das  Kind  klatschte  in 
die  Hande.  Also,  wenn  auch  kein 
materieller,  so  doch  zumindest  ein 
kleiner  moralischer  Erfolg. 

Was  aber,  Zeitgenos-se,  glaubst 
Dut  spielte  die  Drehorgel?  Was 
quackte  sie  mit  ihrer  verwesten 
Greisenstimme?  Die  Melodie,  zu 
welcher  der  Text  lautet:  „Ich  bin 
ja  heut  so  glucklich,  so  glucklich, 
so  glucklich",  und  dann  weiter: 
l(Ich  mocht*  vor  Gliick  zersprin- 
gen,  zerspringen,  zerspringen". 
Dieser  Jubelsang  j  ammerte  aus 
dem  Leierkasten. 

Daruber  fing  est  begreiflicher- 
weise,  heftiger  zu  regnen  an.  Die 

714 


Frau  oben  schloB  das  Fenster,  die 
Passanten  gingen  weiter,  die  Ge- 
schaftsleute  in  ihre  Laden  zuruck, 
der  Affe  steckte  den  Kopf  zwi- 
schen  die  Hande,  und  der  Geist 
der  Zeit,  welcher  nattirlich  auch 
bei  diesem  geringen  Vorfall  zu- 
gegen  war,  stand  da  wie  vom 
Schlager   geruhrt. 

Alfred  Polgar 

Tugend  in  zwei  Versionen 

Zwei  gute  Filme,  auf  dem  Spiel- 
plan  der  pariser  Kinothea- 
ter,  erregen  das  offentliche  Inter- 
esse  und  etwas  AnstoB;  „Le  Ro- 
sier de  Madame  Husson"  und 
„Madchen  in  Uniform".  Denn  hat 
Fleischessiinde  das  franzosische 
Volk  in  jenen  Abgrund  gestiirzt, 
wo  es  j  etzt  vegetiert,  so  f indet 
dort,  nicht  minder  wie  auf  Ger- 
maniens  Hohen,  ein  Artikel  biir- 
gerlicher  Kultur  noch  ein  krisen- 
f reies  Absatzgebiet :  die  Sittlich- 
keit.  Und  so  emporten  sich  die 
Burger  von  Le  Havre  gegen  den 
lfRosier"  und  beschnitt  der  Herr 
Zensor  von  Paris,  M,  Edmond  See, 
die  „Madchen  in  Uniform".  Zwei 
Filme,  der  eine  urpreufiisch  wie 
der  andre  urfranzosisch,  zwei 
Filme,  in  denen  die  Hiiter  der 
Moral  Tugend  saen  und  Siinde 
ernten.  In  beiden  Filmen  auch 
wird  aus  der  Tugend  eine  Staats- 
affaire  gemacht;  im  Franzosischen 
ist  sie  ein  Volksfest,  im  Deut- 
schen  eine  Parade;  im  Deutschen 
spielen  junge  Madchen  Soldaten, 
im  Franzosischen  spielt  ein  Jung- 
ling  Jungfrau;  n  ami  ich  der  Dorf- 
trottel  eines  Provinznestes  wird 
zum  Rosenbrautigam  gektirt,  weil 
kein  weibliches  Wesen  fur  Ro- 
senbraut-verwendungsfahig  befun- 
den  wurde.  „Rosenbraut'*  erklart 
der  Larousse;  ,tJunges  tugend- 
haftes  Madchen,  dem  man,  in 
einigen  Gegenden,  feierlich  eine 
Belohnung"  zuerkennt.  Der  Preis 
bestand  einst  in  einem  Rosen- 
kranz;  heute  besteht  er  in  einer 
Geldsumme".  Der  „Rosier  de  Ma- 
dame. Husson"  stammt  aus  einer 
Erzahlung  Maupassants,  also  aus 
einer  Epoche,  in  der  die*  Vertru- 
stung  noch  nicht  so  weit  vorge- 
schritten  war,  daB  die  Quantitat 
in  allem,  selbst  in  der  Moral,  die 


Qualitat*  iibervorteilt  hatte.  Zahlt 
man  wirklich  noch  fur  die  Tu- 
gend, so  zahlt  man  noch  mehr 
fur  das  Kinderkriegen,  denn  auch 
die  Tugend  hat  sich  unter  dem 
Kapitalismus,  der  eine  Erfindung 
der  Bolschewisten  ist,  in  ihr  Ge- 
genteil  verkehrt. 

Der  „Rosier  de  Madame  Hus- 
son"  ist  im  Film  eine  uberaus 
komische  Figur,  bei  Maupassant, 
wo  er  als  Lump  endet,  eine  tra- 
gische;  er  ist  ini  jedem  Falle  ein 
Opfer  der  Sittlichkeit  wie  die 
„Madchen  in  Uniform".  Die  ganze 
Stadt  lacht  sich  scheckig  iiber 
den  Trottel,  dessen  Blodheit  an 
Tugend  grenzt.  Aber  als  der 
Trottel  von  amtswegen  dafur  ge- 
kront  wird  —  die  Glocken  lau- 
ten,  der  Burgermeister  schnauzt 
sich  die  Running  aus  der  Nase, 
und  aus  dem  Grammophontrich- 
ter  erschallt  der  Sermon  der 
Staatsautoritat,  der  eigentlich  fur 
eine  Mastviehausstellung  gedacht 
war  — ,  da  wandelt  sich  das  Ge- 
lachter  in  die  Wiirde  der  Nation, 
da  f unit  sich  j  eder  Einwohner 
teilhaftig  jener  ..gloire1*,  fiir  die 
der  Trottel  mit  seiner  komischen 
Enthaltsamkeit  gezahlt  hat.  Und 
dann  ziehen  alle,  einen  heben  auf 
die  fremde  Tugend,  und  dem 
Trottel  steigt  der  Alkohol  und 
der  Preis  so  zu  —  sagen  wir: 
zu  Kopf,  daB  er  ins  Piiffchen  der 
nachsten  Kreisstadt  verschwindet, 
wo  seine  Belohnung  in  einem 
Strumpf  und  sein  Rosenkranz  auf 
dem  Mtillhaufen  endet,  Vier 
Feuerwehrleute  tragen  feierlich 
auf  einer  Bahre  den  Rosenkranz 
in  die  tobende  Ratsversammlung; 
und  an  aller  Schande,  die  den 
Ort,  nein,  die  Ganz-Frankredch 
traf,  ist  naturlich  nur  die  poli- 
tdsche  Richtung  des  Biirgermei- 
sters  schuldj  welche  das  ist,  wird 
nicht  gesagt,  bleibt  auch  ohne 
Bedeutung. 

Im  franzosischen  Film  also 
wurde  die  Tugend  zur  Komodie, 
im  deutscheu  die  Sittlichkeit  zur 
Tragodie;  doch  ernst  in  beiden 
der  soziale  Hintergrund.  Die 
franzosischen  Untertitel  fur 
„Madchen  in  Uniform"  sind  von 
Madame  Colette.  Sie  ist  eine 
groBe    Schriftstellerin,    aber     den 


Film  hat  sie  ganzlich  mifiverstan- 
den  und  muBte  ihn  miBverstehen, 
Sexualnot  und  Sexualreiz  der 
Uniform:  das  lafit  sich  nicht  sinn- 
gemafi  ubertragen.  Wenn  die 
Oberin  sagt,  um  das  gute  Ge- 
schaft  der  Sparsamkeit  national 
zu  motivieren;  „Wir  PreuBen  ha- 
ben  uns  grofigehungert!",  wenn 
sie  droht:  MWer  sich  nicht  an- 
standig  benimmt,  dem  wird  sonn- 
tags  beim  Ausgang  die  Uniform 
entzogenl",  dann  hallt  das  nicht 
im  franzosischen  Publikum  wie* 
der.  (Den  Rest,  wie  gesagt,  be- 
schnitt  der  franzosische  Zensor 
mit  deutscher  Griindlichkeit.) 

Und  doch  wird  in  beiden  Ge- 
schichten  derselbe  Schwindel  ent- 
larvt;  und  in  beiden  geht  daran 
ein  Mensch  zugrunde,  Und  in 
beiden  wird  eine  „nationale 
Sache"  daraus,  an  der  dann  Mil- 
lionen  zugrunde  gehen. 

„Mein  Lieber ',  sagt  der1  Mann, 
den  Maupassant  die  Lokal- 
geschichte  vom  Rosenbrautigam 
erzahlen  laBt,  „trotz  meinem 
Verlangen,  mich  an  den  Deut- 
schen  zu  rachen,  hasse  ich 
sie  '  nicht  so,  so  instinkt- 
maBig,  wie  ich  die  Englander 
hasse ...  Alle  Englander  sind 
Saufbolde;  das  sind  alles  tRosen- 
brautigams',    alles    Scheinheilige!" 

Aber  der  Vorwand  andert  sich 
schnell;  in  der  Moral  wie  in  der 
Politik;  und  nur  der,  Effekt  bleibt 
der  pleiche. 

Walter  Mehring 

Immer  neuer  Abbau 

Mach  der  letzten  Notverordnung 
"  waren  die  okonomischen  Fra- 
gen  in  Deutschland  anscheinend 
etwas  in  den  Hintergrund  getre- 
ten.  Es  gab  die  Reparations-  und 
die  Abrtistungskonferenz,  es  gab 
die  Reichsprasidentenwahl  und 
die  PreuBenwahlen,  Die  Politik 
schien  alles  zu  uberschatten. 
Aber  schon  beim  KrisenkongreB 
der  freien  Gewerkschaften,  der 
vor  den  PreuBenwahlen  stattfand, 
erklarte  Stegerwald,  daB  sich  ge- 
wisse  —  wenn  auch  nicht  ein* 
schneidende  —  Veranderungen  in 
der  deutschen  Lohngestaltung 
bald  als  notwendig  erweisen  wur- 
den.  Die  PreuBenwahlen  stiegen, 
und   nach  ihrem  Ausgang   wurde 

715 


Stegerwald  schon  viel  offenherzi- 
ger„  Hatte  er  auf  dem  Krisen- 
kongreB  gesagt,  daB  von  einem 
allgemeinen  Lohnabbau  nicht  die 
Rede  sein  konne,  so  meinte  er 
jetzt,  daB  die  Lohne  in  den  Bin- 
nenmarktindustrien  starker  abge- 
baut  werden  miifiten.  Aber  was 
sind  Binnenmarktindustrien?  So 
sicker  es  ist,  daB  der  deutsche 
Kapitalismus  untrennbar"  mit  dem 
Weltkapitalismus  verbunden  ist, 
so  sicher  ist  es,  daB  auch  in  der 
Krise  der  grofite  Teil  der  Pro- 
duktion  noch  im  Inlande  abge- 
setzt  wird,  Selbst  fiir  England, 
das  am  starksten  mit  der  Welt- 
wirtschaft  verkniipft  ist,  wird  der 
Anteil  des  AuBenhandels  an  der 
Produktion  im  Hochstfalle  mit 
einem  Drittel  angenommen;  in 
Deutschland  liegt  er  sicherlich 
darunter,  Wenn  man  erst  einmal 
mit  dem  Lohnabbau  bei  den  Bin- 
nenmarktindustrien beginnt,  so 
wird  der  allgemeine  Lohnabbau 
nicht  mehr  zu  bremsen  sein.  Und 
wenn  Stegerwald  bereits  bei  sei- 
nen  sehr  vorsichtigen  Formulie- 
rungen  auf  dem  KrisenkongreB 
dort  Unruhe  und  Widerspruch 
hervorrief ,  dann  deswegen,  well 
man  sich  daruber  klar  war,  wo- 
hin  die  Reise  geht. 

In  einem  andern  Punkt  aber 
ist  Stegerwald  heute  noch  offen- 
herziger.  Und  der  betrifft  die 
gesamte  Sozialpolitik.  Hatte  er 
friiher  immer  wieder  erklart,  daB 
man  auch  iiber  die  Krise  den 
Grundstock  der  gesamten  Sozial- 
politik retten  mtisse,  so  ist  er 
nach  den  PreuBenwahlen  etwas 
andrer  Meinung  geworden,  Auf 
der  Tagung  des  Verbandes  der 
Katholischen  Kaufmannischen 

Vereinigung  in  Erfurt  hielt  er 
eine  programmatische  Rede,  in  der 
er  unter  anderm  folgendes  sagte; 
„Die  gesetzliche  Sozialversiche- 
rung,  insbesondere  die  Arbeits- 
losenfiirsorge  und  die  Invaliden- 
versicherung,  befindet  sich  gegen- 
wartig  in  einer  sehr  schwierigen 
Lage.  Fiir  das  Jahr  1932  fehlen 
den  Fiirsorgeeinrichtungen  und 
Versicherungszweigen  noch  viele 
Hunderte  von  Millionen  Mark, 
Mit  Beitragserhohungen  und 
Steuererhohungen  ist  dem  Defizit 

716 


nicht  wesentlich  beizukommen. 
Damit  wiirde  bei  der  gegenwar- 
tigen  Kreditlage  und  der  <iber- 
drehten  deutschen  Steuerschraube 
nur  neue  Arbeitslosigkeit  ge- 
schaffen  . , .  Wir  kommen  nicht 
darum  herum,  die  Sozialversiche- 
rung  in  steigendem  MaBe  den 
Versicherten  zu  iiberantworten. 
Damit  wiirde  sowohl  der  Streit 
iiber  die  staatliche  Sozialpolitik 
wie  der  Streit  zwischen  Arbeit^ 
gebern  und  Versicherten  weit- 
gehend  zuriickgedrangt  werden 
konnen,  Die  Arbeitgeber  hatten 
einen  durch  Gesetz  festzusetzen- 
den  Beitrag  zu  entrichten,  wofur 
sie  in  bestimmten  Fragen  mitzu- 
entscheiden  hatten,  wahrend  fiir 
den  Rest  des  Beitrags  die  Ver- 
sicherten selbst  aufzukommen 
hatten,  wie  ihnen  auch  dieDurch- 
fiihrung  der  Sozialversicherung 
bei  entsprechender  Staatsaufsicht 
einzuraumen  ware/' 

Stegerwald  stellt  hier  also  ein- 
mal fest,  daB  bei  den  heutigen 
Versicherungsleistungen  im  Jahre 
1932  in  alien  Zweigen  der  So- 
zialpolitik ein  Defizit  entstehen 
wiirde,  das  in  die  Hunderte  von 
Millionen  geht,  Bei  der  Arbeits- 
losenversicherung  allein  wird  es 
nach  gewissen  Schatzungen  kaum 
unter  einer  halben  Milliarde  lie- 
gen.  Die  Antwort  des  Staates 
wird  nach  Stegerwald  nicht  darin 
bestehen,  daB  er  irgendwelche 
staatliche  Mittel  zur  Deckung 
dieses  Defizits  aufbringen  wird 
—  erklarte  Stegerwald  doch  aus- 
drucklich,  daB  eine  Erhohiing 
der  Steuern  zum  Beispiel 
nicht  in  Frage  komme  —  son- 
dern  die  Antwort  des  Staa- 
tes wird  die  sein,  daB  die 
Leistungen  der  gesamten  Sozial- 
politik, der  Kranken-  wie  der 
Invalidenfursorge  und  vor  allem 
der  Arbeitslosenversicherung  ab- 
gebaut  werden. 

Und  zwar  wird  das  auf"  die 
Weise  geschehen,  daB,  wie  Steger- 
wald ausdriicklich  betont,  die 
Arbeitgeber  wie  bisher  einen  be- 
stimmten Beitrag  zu  entrichten 
hatten,  den  Rest  die  Arbeiter- 
schaft,  und  der  Staat  sich  ledig- 
lich  eine  Aufsicht  iiber  die  Ver- 
waltung  vorbehalt.    Das  aber  be- 


deutet  grade  bei  einer  weitern 
Verscbarfung  der  wirtschaftlicben 
Situation  cinea  auBerordentlich 
starken  Abbau  der  Sozialpolitik. 
Es  ist  bekannt,  dafi  die  Industrie- 
arbeiterschaft  von  der  Arbeits- 
losigkeit  besonders  schwer  betrof- 
fen  wird.  Die  freien  Gewerk- 
schaften  zeigen  in  ihrer  Statistik, 
dafi  im  Fruhling  nur  ein  Drittel 
ihrer  Mitglieder  voll  beschaftigt 
war*  zirka  zwei  Drittel  Kurz- 
arbeiter  oder  arbeitslos.  Wenn  die 
Lasten  der  Arbeitslosenversiche- 
rung  neben  den  Beitragen  der 
Unternehmer  lediglich  von  den 
Arbeitern  getragen  werden  sollen, 
dann  bedeutet  das  —  im  Gegen- 
satz  zu  all  dem,  was  Steger- 
wald  bisher  erklarte  —  einen  ra- 
dikaien  Abbau  der  Arbeitslosen- 
versicherung,  der  nattirlich  den 
Unternehmern  die  Voraussetzung 
schafft,  auch  den  beschaftig- 
ten  Arbeitern  den  Lohn  starker 
als  bisher  abziibauen, 

Es  ist  notwendig,  schon  heute 
auf  diese  Plane  hinzuweisen,  da 
sie  fur  die  weitere  Gestaltung  der 
Regierungsbildung  in  Preufien  und 
im  Reich  von  sehr  entscheiden- 
der  Bedeutung  werden  konnen. 
K.  L.  Gerstorff 

Praktisch 

Cme  Menge  deutscher  Sprach- 
"  unarten  scheinen  aus  dem 
Englischen  zu  kommen,  „Prak- 
tisch"  kommt  wohl  auch  daher. 

Das  Wort  wurde  friiher  im 
Sinne  von  nutzlich,  bequem  ge- 
braucht  —  wenn  man  von  der 
etwas  altmodischen  Zusammen- 
setzung  wie  praktischer  Arzt  ab- 
sieht.  Eine  Vorrichtung  war  fur 
den  Benutzer  praktisch  —  das 
Wort  war  zwar  nicht  schon,  doch 
seine  Bedeutung  recht  klar,  Jetzt 
hat  sich  etwas  Neues  eingebiirgert. 

Die  Adverbialkrankheit,  die 
die  deutsche  Sprache  durchzieht, 
laflt  „praktisch"  als  Adverb  auf- 
tauchen.  Die  Brille  blitzt,  und 
los  gehts ;  , f Theoretisch  konnen 
Sie  ja  Armenunterstutzung  bean- 
spruchen,  aber  praktisch  werden 
Sie  sie  kaum  bekommen."  Also 
bekomme  ich  sie  nicht  —  was 
quatscht  mich  die  Sprache  da  an! 
Gemeint     ist;     in     Wahrheit,     in 


Wirklichkeit  —  im  Gegensatz  zu 
einer  Abstraction,  die  ja  kein 
guter  Deutscher  aufier  Acht  laBt 

Nun  ist  aber  dieser  Zusatz,  der 
vielleicbt  in  dem  englischen  practi- 
cally" seinen  Ursprung  hat,  vdllig 
iiberf  liissig.  Es  ist  eines  j  ener 
Worter,  die  die  deutsche  Sprache 
so  unleidlich  aufblahen  —  viele 
Leute  konnen  ja  iiberhaupt  nicht 
mehr  sprechen,  sondern  nur  nocb 
einen  Brei  von  Terminologien  zu- 
sammensprudeln,  «,Er  wird  prak- 
tisch sein  Amt  nicht  ausiiben ..." 
das  ist  doch  Wahnwitz.  Ob  er  es 
nach  den  Buchstaben  irgend  eines 
toten  Buches  ausiiben  konnte, 
will  ja  niemand  wissen  —  iibt  er 
es  aus  oder  ubt  er  es  nicht  aus? 
Er  iibt  es  nicht  aus,    Dann  sags. 

Die  verteufelte  Anwendung  die 
ses  dummen  Wortes  entstammt 
der  Wichtigtuerei,  von  der  so 
mancher  besessen  ist  —  den  Leu- 
ten  ist  nicht  wohl,  wenn  sie  eia- 
fach  sagen  sol  Hen:  ltEr  mag' 
keine  Gurken,"  Das  freut  ja  kei- 
nen.  „Er  hat  einen .  Gurken- 
komplex"  —  so  heiBt  das,  Und 
daher  auch:  „Praktisch  wird  den 
Arbeitslosen  keiner  entschadigen," 
Dahinter  sitzt  dann  jene  Riick- 
versicherung,  der  Blick  auf  die 
Theorie:  es  gibt  vielleicht  ein  Ge- 
setz,  wonach  der  Arbeitslose  ent- 
schadigt  werden  mtiflte,  ohof  hier 
herrscht  Ordnung!  —  aber  was 
ein  richtiges  Gesetz  ist,  das  ist 
langst  durch  eine  Notverordnung 
aufgehoben,  Denn  wir  haben 
eine     Verfassung.      Aber     prak- 


tisch . , . 


Peter  Panter 


Konfektion 


LJimmelfahrt.  Das  beliebte 
*  *  Moderennen  im  Grunewald* 
Fur  eine  halbe  Stunde  sind  die 
Pferdchen  abgelost  durch  M&d- 
chen,  die  mit  Pelzen,  Manteln, 
Hiiten  behangt  auf  dem  glor- 
reicheir  Rasen  einen  kleinen  Trab 
vorfuhren.  Erregt  starren  dieZu- 
schauerinnen  auf  die  Ftille  un- 
bezahlbarer  Kreationen.  Die  Gla- 
ser  der  Herren  richten  sich  ge- 
wohnheitsmafiig  auf  Kniegelenke 
und  Fesseln,  urn  die  Chancen  ab- 
zuscbatzen.  Mit  einem  Wort : 
Grofle  Welt  Gespenstische  Sache, 
DaB  es  das  noch  gibt! 

717 


Hinter  so  vergnuglicher  Fassade 
steckt  die  krampfhafte  .  Anstren- 
gung,  die  erlahmende  Modeindu- 
strie   anzukurbeln. 

Diesc  Branche  sitzt  in  Berlin 
bekanntlich  rings  um  den  Haus- 
vogteiplatz.  Der  Name  hat  bei- 
nahe  mystischen  Klang.  Sehr  be- 
liebt  bei  Film-  und  Romanschrei- 
bern,  Nicht  zuletzt  deshalb,  weil 
dem  Beruf  der  Mannequins  seit 
seligen  Gelbsternzeiten,  alien  De- 
mentis zum  Trotz,  etwas  Roman- 
tisch-Erotisches  unausrottbar  an- 
haftet  (Nebenbei:  Das  hat  Wil- 
helm  Speyer  einmal  sehr  hubsch 
entlarvt,  —  einer  der  bei  tins  so 
seltenen  Hersteller  verniinftiger 
Unterhaltungsschmdker.) 

Die  wirkliche  Konfektion  aber, 
ihre  Arbeit,  ihre  Organisation, 
ihre  Methoden,  das  ist  ein  dunk- 
les  Kapitel,  Ganz  besonders  jetzt 
im  allgemeinen  Niedergang.  Aber 
sehr  schon  war  das  wohl  nie.     , 

Es  ist  eine  Branche  mit  primi- 
iiyer,  fnihkapitalistischer  Produk- 
tionsweise,  wie  das  grade  bei  den 
Industrien,  die  reine  Luxusdinge 
herstellen,  ofter  vorkommt.  Siehe 
Spielwaren,  Die  Arbeitsformen 
sind  patriarchalisch.  Der  Chef 
steht  mitten  unter  seinen  Leuten, 
greift  mit  zu«  kennt  Jeden,  gibt 
sich  jovial.  Um  so  grundlicher 
ist  die  Ausbeutung.  Da  gibts 
keine  Arbeitszeitbeschrankung* 
Tarife  werden  allgemein  unter- 
boten.  Am  iibelsten  aber  ist  das 
System  der  Zwischenmeister,  de- 
:  neri  die  Naharbeiten  vergeben 
werden.  In  dumpfen  Raumen  hok- 
Tken  Tausende  von  Madchen  und, 
sticheln  fur  unglaubhaft  niedrige 
Lohne*  Hier  existiert  mitten  in 
Berlin  eine  Sklaverei,  die  keine 
Metapher  ist,  sondern  schlichte 
Wirklichkeit. 

Werner  Tiirk  beschreibt  diese 
unbekannte,  falsch  gekannte  Welt 
in  einem  eben  erschienenen  Buch 
CKqnfektion",  :im  ■  Agis-Verlag) . 
Unwesentlich  daran  ist  die  lite- 
rarische  Fassung  als  Roman, 
wertvoll  und  packend  die  Tat - 
saqhenfulle  des  kerintnisreichen 
Berichts. 

,  Erzahlt  wird  das  Leben  des 
Proletarierjungen  Willi  Kruger. 
Der    ist   besessen   von    jenem   un- 

"718 


bedingten  Willen  zum  Vorwarts- 
kommen,  den  die  Lobredner  des 
Kapitalismus  preisen  und  in 
einer  sozialistischen  Wirtschaft 
fiir  undenkbar  halten.  Hoffent- 
lich  ha  ben  sie  recht.  Denn  grade 
aus  dies  em  Buch  wird  klar,  wie 
oft  der  beriihmte  Elan  nach  oben 
gleichbedeutend  ist  mit  Erniedri- 
gung,  Luge,  Feigheit,  Verrat  am 
Klassengenossen.  Aufsticg  erfor- 
dert  Bereitschaft  zu  jeder  Schwei- 
nerei,  vom '  Streikbruch  bis  zur 
kleinen  Erpressung.  Auf  solche 
Art  macht  Willi  Kruger  seinen 
Weg.  Er  wird  Zurichter,  Reisen- 
der,  Zwischenmeister  mit  eigner 
kleiner  Bude.  Macht  sich  mit 
einer  hubschen  Pleite  gesund. 
Tritt  endlich  als  Teilhaber  in  die 
Firma  ein,  bei  der  er  gelernt  hat, 

Mdglich,  dafi  es  sich  um  einen 
uberdeutlich  konstruierten  Fail 
handelt,  (Turk  bestreitet  das.) 
Ganz  echt  und  tiberzeugend  ge- 
schildert  ist  die  Umwelt,  in  der 
man  sich  auf  solche  Art  durch- 
setzt:  Die  muffigen  Nahstuben; 
Lager  voll  armselig  schuftender 
Angestellter;  die  verangstigten 
oder  frech-vertraulichen  Manne- 
quins im  Umkleideraum;  die 
Bureau-Mussolinis  und  Miniatur- 
Lustlinge  im  Chefkontor. 

Tiirk  beschreibt  das  alles  in 
einer  derben,  unmifiverstandlichen 
Art.  Sein  Buch  ist  handfeste 
literarisch-politische  Konfektion, 
Also  eine  nutzliche  Gebrauchs- 
ware,  die  wir  leider  heute  ndtiger 
haben  a'ls  je. 

Axel  Eggebrecht 

Vom  Schlechten  zum  Guten 

Wahrscheinlich  ist  es  in  jeder 
Zeit  der  Not  so  wie  heute, 
dafi  namlich  zugleich  die  unehr- 
lichsten  und  die  ehrlichsten  Hei- 
fer als  Prediger  des  Optimismus 
auftreten,  wahrend  der  Pessimis- 
mus  die  Wirksamkeit  und  den 
Wert  verliert,  die  er  in  guten  Zei- 
ten  besitzt.  Die  gefahrlichen1  Opti- 
misten  beteuern  uns:  die  Zeitea 
werden  sich  andern,  auch  wenn 
sie  sich  nicht  andern.  Sie  verord- 
nen  uns  sonniges  Gernut,  Gottyer- 
trauen  und  Einigkeit,  was  gettau 
so  ist,/  als,  riete  man  einem 
Schwerkranken,  zu  lacheln,  zu  be- 


ten  und  sich  mit  seineni  Bazillen 
in  Gute  zu  einigen.  Sic  zeigen  in 
ihren  Filmen,  wie  man  durch 
Muhsal  zu  den.  Gestirnen  gelangt. 
Gott,  der  heute  regnen  laBt,  wird 
morgen  die  Sonne  scheinen  lassen. 
Gegen  etwaige  Sonnenflecken  hilft 
nur  Geduld.  Dean  so  hoch  reicht 
keine  Leiter.  Man  muB  das  Beste 
hoffen. 

Mit  heiterm  Zuspruch,  der 
Hoffnung  erweckt,  schutten  sie 
die  helfende  Medizin  beiseite.  Und 
diesen  Leuten  allerdings  kann 
man  nicht  deutlich  genug  sagen, 
daB  ihre  Trostpredigten  falsch 
sind  und  daB  die  Welt  schlecht 
und  verdorben  ist.  Aber  es  gibt 
einen  andern  Optimismus,  namlich 
den  revolutionaren,  gegen  den 
der  Pessimismus  nichts  besagt, 
weil  dieser  Pessimismus  namlich 
mit  ibm  verglichen  nicht  tiefer 
und  wahrer  sondem  oberflach- 
licher  und  unproduktiver  ist, 

Daraus  f  olgt  die  Notwendig- 
keit  einer  Umwerttmg  fur  die- 
jenigen,  die  aus  der  Vorkriegszeit 
gewohnt  waren,  im  Kulturkampf 
das  Recht  auf  Pessimismus,  auf 
die  Darstellung  des  „Unerfreu- 
lichen"  gegemiber  denen  zu  ver- 
teidigen,  die  sich  von  der  Kunst 
„erheben"  —  sie  meinten:  erhei- 
tern  —  zu  lassen  wunschten, 
Denen,  die  fur  Hauptmann  und 
Ibsen,  fur  Strindberg  und  Kate 
Kollwitz  gekampft  haben,  will  es 
schwer  einleuchten,  daB  die  re- 
volutionare  Kunst  heute  grade 
nicht  deprimierend  und  zermiir- 
bend  son  der  n  optimistisch,  an- 
feuernd  und  erhebend  sein  miisse. 

Es  war  eine  groBe  und  notwen- 
dige  Leistung,  das  (,Unsch6ne"  fur 
die  Kunst  zu  erobern.  Nachdem 
sie  vollbracht  ist,  gilt  es  heute  fiir 
den  Kunstler,  den  zweiten  Schritt 
zu  tun:    die   Folgerungen   klarzu- 


legen,  die  sich  aus  dem  Vorhan- 
densein  des  Schlechten  in  der 
Welt  ergeben.  Die  Uberwindlich- 
keit  des  Schlechten  zu  verkunden. 
In  einem  Aufsatz,  den  W.  EJ. 
Suskind  neulich  im  tBerIiner 
Tageblatt'  veroffentlicht  hat,  wird 
gegen  den  Optimismus  gesagt,  daB 
es  doch  von  jeher  die  Voraus- 
setzung  der  Kunst  geweseh  sei,  kei- 
nen  Unterschied  zwischen  „strah- 
lendem  und  trubem  Lichte"  zu 
machen,  Aber  grade  wenn  man 
fordert,  daB  der  Kunstler  ein 
schonungsloser  Aufklarer  sein 
solle,  kommt  man  zu  dem  SchluB: 
die  Kunst  muB  heute  optimistisch 
sein!  Wenn  der  Kunstler  namlich, 
wie  Suskind  sagt,  das  Leben  als 
ungeordnetes  Spiel,  also  pessi- 
mistisch  auffaBt,  wenn  er  (,die 
Welt  als  Verhangnis"  sieht,  dann 
beweist  er,  daB  er  kurzsichtig  ist, 
und  ein  Kunstler  darf  nicht  kurz- 
sichtig sein.  Dann  spielt  er  den 
Reaktionaren  in  die  Hande,  Denn 
die  ..Armeleute-Kunst",  die  dem 
heutigen  Revolutionar  gefahrlich 
und  etwas  lacherlich  erscheint, 
dient  ja  der  Reaktion  zum  Werk- 
zeugf  um  als  unabanderlich  und 
schicksalhaft  hinzustellen,  was 
nur  von  Menschen  falsch  einge- 
richtet  ist.  Der  Trick  besteht 
darin,  wirkliches  Schicksal,  wirk- 
Hche  Tragik,  wie  sie  aus  der 
menschlichen  Natur  folgt,  zu  ver- 
quicken  mit  den  Auswirkungen 
unheilvoller  Einrichtungen,  >  die 
beseitigt  werden  miissen,  So  wie 
fiir  uns  heute  gewisse  Dramen 
ihren  tragischen  Gehalt  verloren 
haben,  weil  sie  vom  Kampf  gegen 
Sittlichkeits-  oder  Ehrbegriffe 
handeln,  die  wir  als  falsch  und 
zeitgebunden  erkennen,  so  miissen 
wir  jede  Kunst  ablehnen,  die  den 
Kampf  gegen  die  heutige  Gesell- 
schaftsordnung    als     einen     hoff- 


Als  Sachverwalier  der  geistigen  Werte,  die  uns  B6  Yin  Ra, 
**  J,  Schneiderfranken,  zur  buchhandlerischen  Verbreitung  an- 
yertraut  hat>  seheh  wir  uns  gen5tigt,  immer  wieder  auf  die 
Bo  Yin  Ra-Bficher  aufmerksam  zu  machen,  die  unserer  sehr 
begrundeten  Ueberzeugung  nach  das  schlechthin  Wichtigste  des 
zeitgendssischen  Schrifttums  darstellen.  Wir  sind  bisher  noch 
keinem  urteilsreifen  Leser  begegnet,  der  anders  dachte.  Einen 
Schlflssel  zu  seinem ,  Gesamtwerk  bildet  sein  neuestes  Buch 
„Der  Weg  meiner  Schiller"  (gebunden  RM.  6.—)  Kober'sche 
Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 


719 


nungslosen  Kampf  gegen  ein 
Schicksal  schildert.  Nicht  weil 
sic  uns  nicht  in  den  Kram 
paBt,  sondern  weil  sie  gegen 
den  Grundsatz  der  kiinstle- 
rischen  Wahrhaf  tigkeit  verstoBt ; 
weil  sie  nicht  tief  genug  sieht, 
Wenn  in  dem  Film  f(Kuhle 
Wampe"  ein  Arbeitsloser  Selbst- 
mord  begeht,  so  ist  das  nicht  als 
Tragodie  gemeint  sondern  als  das 
Beispiel  eines  Menschen,  der,  in- 
dem  er  aus  dem  Fenster  springt, 
zu  kurz  springt.  Eines  Menschen, 
der  zu  kurz  denkt, 

Pessimisten  denken  zu  kurz  und 
daher  reaktionar.  Deswegen  muB 
die  Kunst  heute  optimistisch  sein. 
Ihre  wichtigste  Aufgabe  ist,  die 
unheilvolle  Sinnlosigkeit  der  heu- 
tigen  Welt  aus  der  feierlichen  Ge~ 
sellschaft  echter  Schicksale  zu 
vertreiben:  ihre  Unfeierlichkeit  zu 
zeigen,  urn  den  Mut  zu  ihrer  Be- 
kampfung  zu  starken.  Sie  deut- 
lich  abzusondern  von  dem,  was 
seinem  Wesen  nach  wirklich  „ver- 
hangnisvoll"  und  tlungeordnetes 
Spiel**  in  dieser  Welt  ist. 

So  zeigt  sich,  daB  der  Kiinstler, 
der  zu  denken  versteht,  mit  sei- 
nem Bestreben  nach  wahrhafter 
Darstellung  zugleich  auch  die  ge- 
wtinschte  Wirkung  erzielt,  die 
beste  Tendenz  proklamiert.  Dieser 
Tage  fand  ich  in  einem  Horspiel 
von  Fritz  Peter  Buch  ein  Stuck 
aus  der  Rede  zitiert,  die  Reinhold 
Michael  Lenz  in  StraBburg  (iber 
Goethes  Gotz  gehalten  hat  Es 
waren  erstaunHche,  zeitgemaBe 
Satze,  „Unsre  heutigen  Schaubiih- 
nen  wimmeln  von  lauter  Meister- 
stucken,  die  es  aber  freilich  nur  in 
den  Kopfen  der  Meister  selber 
sind.  Laflt  uns  einen  neuen  Weg 
einschlagen,  meine  Briider,  Schau- 
spiele  zu  beurteilen  —  laBt  uns 
einmal  auf  ihre  Folgen  sehen,  auf 
die  Wirkung,  die  sie  im  Ganzen 
machen.  Wenn  ihr  einen  Stein 
ins  Wasser  werft,  so  beurteilt  ihr 
die  GroBe,  MaB  und  Gewicht  des 
Steins  nach  den  Zirkeln,  die  er  im 
Wasser  beschreibt.  Also  sei  unsre 
Frage  bei  jedem  neuen  heraus- 
kommenden  Stiick  das  groBe,  das 
gottliche  Cui  bono?  —  das  heifit: 
Wem  dient  es?  Welche  Wirkung 
bringt  es  hervor,  welche  Verande- 

720 


rung  an  der  lebendigen  Substanz 
des  Menschen  wie  der  Welt?  Die 
Produkte  all  der  tausend  franzo- 
sischen  Genies  auf  unsern  Geist, 
auf  unser  Herz,  auf  unsre  ganze 
Existenz?  Behute  mich  der  Him- 
mel,  ungerecht  zu  sein,  Wir  neh- 
men  ein  suBes  Gefiihl  mit  nach 
Hause,  so  gut,  als  ob  wir  eine 
Bouteille    Champagner   ausgeleert 

—  aber  ^as  ist  auch  alles,  Eine 
Nacht  drauf  geschlafen,  und  alles 
ist  wieder  getilgt.  Wo  ist  der  le- 
bendige  Eindruck,  der  sich  in  Ge- 
sinnungen,  Taten  und  Handlungen 
hernach  einmischt,  der  pro- 
metheische  Fuoke,  der  sich  so  un- 
vermerkt  in  unsre  innerste  Seele 
hineingestohlen,  daB  er,  wenn  wir 
ihn  nicht  durch  ganzliches  Still - 
liegen  in  sich  selbst  wieder  ver- 
glimmen  lassen,  unser  ganzes  Le- 
ben*  beseligt?  Das  sei  also  unsre 
Gerichtsfrage,  nach  der  wir  auch 
mit  unverbundenen  Augen  den 
Wert  eines  Stiickes  bestimmen . .  ,'* 

Die  beste  Wirkung  aber  erzielt, 
wer  die  Wahrheit  am  tiefsten  er- 
fafit.  Und  wo  schlechte  Wirkung 
erzielt  wird,  da  muB  man  Un- 
wahrheit  vermuten.  Es  gibt  keinen 
Unterschied  zwischen  Tendenz- 
kunst  und  reiner  Kunst.  Von 
einem  pessimistischen  Kunstwerk 
nehmen  wir  „ein  suBes  Gefflhl" 
mit  nach  Hause,  das  des  Mitleids 

—  und  das  falsche  Weltbild  eines 
Kurzsichtigen.  Eine  gelungene 
Darstellung  aber  feuert  una  an, 
die  Welt  zu  andern.  Sie  weist  auf 
ein  happy  end  hin,  das  nicht  „er- 
schlichen"  wird,  wie  das  der 
Opiumfilme,  sondern  erkampft. 

Rudolf  Arnheim 

Zum  Thema  Buchkritik 
F\em  literaturbeflissenen  Leser, 
*^  der  sich  daran  orientieren 
mochte,  was  ihm  die  entsprechen- 
den  Spalten  seiner  Zeitung  oder 
Zeitschrift  bieten,  wird  baldklar 
werden,  daB  dies  einbeinah  nutz- 
loser  Versuch  ist.  In  dieser  Ru- 
hrik  ist  ein  heilloses  Neben-  und 
Durcheinander  eingerissen,  das 
mit  dem,  was  besprochen  wird, 
anfangt,  Es  ist  beinahe  so, 
daB  jeder  jedes  kritisiert,  und 
nicht  nur  das  ihm  GemaBe.  Da 
haben    sich     ein     paar    Dutzend 


Universalgenies  etabliert,  die  be- 
neidenswert  unbekummert  iiber 
Biicher  mit  den  allerverschieden- 
sten  Themen  zu  Gericht  sitzen. 
Oberall  picken  die  Herren  nur 
die  Oberflache  an,  weil  sie  kerne 
Zeit  haben,  sich  naher  mit  dem 
Produkt  einzulassen,  auf  dem 
Schreibtisch  harrt  ihrer  schon 
wieder  ein  andres,  Und  so 
kommt  es,  daB  dem  Leser  wahl- 
los  durcheinandergemixte  Ge- 
richt e  vorgesetzt  werden,  an  de- 
nen  er  sich  bestimmt  den 
Magen  verdirbt;  wobei  das 
Schlimmste  ist,  daB  der  Rezen- 
sent  immer  den  Objektiven  her- 
ausbeiOt  und  heute  an  diesem 
geistigen,  literarischen,  politi- 
schen  oder  kunstlerischen  Stand- 
punkt  etwas  Schatzenswertes  ent- 
deckt  und  morgen  an  jenem.  Von 
welch  em  geistigen  Prinzip  aus  e. 
urteilt,  das  wird  man  vergeblich 
festzustellen  versuchen. 

Man  konnte  einwenden:  ich  • 
iiber sehe  eine  Richtung  in  der  Li- 
teraturkritik,  die  von  einem  ganz 
bestimmten,  sogar  sehr  scharf  kon- 
turierten  Weltbild,  namlich  dem 
marxistischen,  ausgeht,  Stimmt, 
doch  wurde  hier  nicht  nur  ein- 
ma!  nachgewiesen,  daB  eine  der- 
artige  Kritik  glatt  an  wesent- 
I  ich  en  Dingen  vorbeireden  muB, 
weil  .sie  diese  ihrer  theoretischen 
Fundierung  nach  einfach  nicht  zu 
erfassen  vermag.  Auf  dem  Ge- 
T>iet  geistiger  Produktion  ist 
andres  als  das  Okonomische  mafi- 
gebend, 

Neben  jenen  Madchen  fur  alles 
und  diesen  hier,  die  mit  einem 
auflerkunstlerischen  Prinzip  an 
Kiinstlerisches  heranzugehen  ver- 
suchen, fiihrt  ein  einsames  Da- 
sein  eine  Handvoll  Kritiker,  de- 
ren  Nervenenden  begluckend  in- 
stinktsicher  reagieren.  Der  ein- 
zige  Einwand,  der  gegen  sie  zu 
erheben  ware:  sie  urteilen  alle 
fiir  sich,  von  ihrer  Ecke  aus. 
Doch  ein  neues  Weltbild  laBt 
sich  nicht  aus  dem  Bo- 
den  stampfen,  es  formt  sich 
heute  erst  in  ganz  wenigen,  und 
auch  da  ist  es  noch  reichlich  un- 
geklart.  Man  sollte  sich  also, 
um  die  arg  ramponierte  Litera- 
turkritik   wieder  auf  ein   einiger- 


maBen  ansprechendes  Niveau 
bugsieren  zu  konnen,  die  Me- 
thode  dieser  Wenigen  zu  eigen 
machen.  Was  zeichnet  sie  aus? 
Sie  besprechen  nicht  wahlloa  all- 
ies, was  ihnen  Verleger  odWRe- 
dakteur  ins  Haus  schicken,  son- 
dern  nur  das,  was  sie  anspricht. 
Nicht  jedes  Buch,  das  dem  Er- 
lebniskreis  dieser  Zeit  seinen 
Stoff  entnimmt,  ist  schon  des- 
balb  wichtig.  Es  gibt  da  eine 
Flachheit  der  Gesinnung,  die  sich 
am  starksten  in  der  formalen 
Schlampigkeit  dokumentiert.  LaBt 
das  von  vornherein  beiseite,  es 
lohnt  sich  nicht.  Ordnen  wir 
erst  ein  wenig,  nehmen  wir  uns 
nur  das  vorj  wo  sich  sofort  eine 
innere,  die  Kritik  befruchtende 
Beziehung  einstellt.  Und  dies 
wenige  soil  dann  auch  dem  Le- 
ser so  vorgefuhrt  werden,  daB  er 
sich  ein  Bild  machen  kann:  von 
dem  Inhalt,  der  Form,  den  Quel - 
len,  die  das  Buch  speisten,  von 
der  Weltanschauung,  die  es  in 
sich  tragt  und  von  der  es  getra- 
gen   wird. 

GewiB  liegt  die  Gefahr  vor, 
daB  dabei  nur  ein  wenn  auch 
sehr  interessantes  Nebenein- 
ander  glanzender  Einzelleistun- 
gen  herauskommt,  erzeugt  durch 
die;  teilweise  kontxarsten  Ansich- 
ten  von  Individuen.  Aber  die- 
ses Widerspiel  dient  doch,  ab- 
gesehn  von  seinem  Reiz,  dazu, 
daB  sich  allmahlich  auch  von 
diesem  Lebensausschnitt  her 
etwas  kristallisiert,  was  AHge- 
meingiiltigkeit  fiir  sich  in  An- 
spruch   nehmen  darf. 

Hat  die  Buchkritik  eine  per- 
sonliche  Note,  dann  hilf  t  der 
Kampf  der  echten,  erlebten  Mei- 
nungen,  der  Meinungen,  die  sich 
die  Rezensenten  in  der  Ausein- 
andersetzung  mit  ihrem  Objekt 
erobert  haben,  das  mitschaffen, 
was  uns  heute  fehlt;  den  MaB- 
stab,  der  aus  dem*  Neben-  ein 
Miteinander    macht, 

Walther  Karsch 

Staatshilfe  verpflichtet 
r\ie      Wandlung      der      Rechts- 
*■*'  anschauungen,     die    seit    Be- 
stehen    der     deutschen     Republik 
vor    sich   gegangen   ist,   hat   auch 

721 


zu  einer  Anderung  des  Eigen- 
tumsbegriffes  gefuhrt  Die  Reichs- 
verfassung  erkennt  grundsatzlich 
die  wirtschaf tliche  Freiheit  des 
Einzelnen  an,  sie  gewahrleistet  in 
Art,  153  das  Eigentum  und  stellt 
den  kategorischen  Imperativ  auf: 
„Eigentum  verpflichtet.  Sein  Ge- 
brauch  soil  zugleich  Dienst  sein 
fiir  das  gemeine  Beste",  Wenn 
auch  die  Bestimmungen  iiber  die 
Pflichten  des  Eigentums  rccht 
allgemein  gehalten  sind'  und  sich 
nur  zarte  Andeutungen  einer 
Bo  den-  und  Wirtschaftsreform 
in  der  Verfassung  finden,  so  kann 
andrerseits  aber  auch  von  Rech- 
ten  des  Besitzes  gegen  den  Staat 
keine  Rede  sein,  Bemerkenswert 
ist  es,  wenn  jetzt  Hilferding  im 
HaushaltsausschuB  die  ausdriick- 
liche  Erklarung  abgibt,  daB  die 
Reichsgarantie  hinter  den  Grofi- 
banken  stehe  und  in  Kriegszeiten 
ef fektiv  werden  musse.  Diese  An- 
scbauung  diirfte  im  wesentlichen 
vom  iiberwiegenden  Teil  der  Be- 
volkerung  —  einschlieBlich  der 
Mehrheit  der  Arbeiterschaft  — 
geteilt  werden,  Eigentum  ver- 
pflichtet also  nicht  allein,  son- 
dern  berechtigt  auch  nach  unge- 
schriebenen  Gesetzen  zur  Staats- 
hilfe, Es  ware  durchaus  falsch, 
hierin  eine  Wandlung  der  Staats- 
auffassung  von  der  Demokratie 
zur  Plutokratie  zu  sehen.  Nicht 
den  Bankdirektoren  zu  Liebe  sind 
die  Banken  gestiitzt  worden,  son- 
dern  weil  zwischen  ihnen  und  der 
gesamten  Volkswirtschaft  eine 
Notgemeinschaft  besteht.  Aus  ahn- 
licheit  Griinden  wie  in  Deutsch- 
land  ist  man  in  zahlreichen  an- 
dern  Lander  n  zu  Banken  sanie- 
rungen  geschritten.  Das  Reprasen- 
tantenhaus  Amerikas  ist  zumBei- 
stpiel  durchaus  nicht  besonders 
bankenfreundlich  gesinnt  sondern 
sieht  nur  in  dem  Zusammenbruch 
der  Kreditwirtschaft  eine  Gefahr, 
die  im  Interesse  der  Gesamt- 
bevolkerung  um  jeden  Preis  ver- 
hindert  werden  muB,  So  hat  auch 
fast  jedes  europaische  Land  im 
Laufe  des  letzten  Jahres  Banken 
gestiitzt. 

Mit  der  allgemeinen  Anerken- 
nung  einer  solchen  Gefahren- 
gemeinschait      haben      die      Kre- 

722 


ditinstitute  aber         aufgehort, 

privatwirtschaftliche'  Unterneh- 
mungen  zu  sein,  die  in  ihren 
Entschlussen  vollig  unabhan- 
gig  sind.  Dies  gilt  nicht  al~ 
lein  von  j  enen  Banken,  deren 
Mehrheit  sich  im  Staatsbesitz  be- 
finden  oder  von  den  andern,  die 
nur  durch  erhebliche  Subventio- 
nen  ihr  Dasein  fristen  konnen, 
sondern  auch  von  der  Gesaxntheit 
des  Kreditgewerbes,  soweit  die 
praktische  Staatsgarantie  hinter 
ihm  steht.  Da  das  mittlere  und 
kleinere  Bankgewerbe  im  Fall  von 
Schwierigkeiten  keine  Staatshilfe 
bekommen  hat,  kann  man  ihm 
auch  keine  Beschrankungen  sei- 
ner Handlungen  auferlegen.  Die 
GroBbanken  aber,  die  im  Besitz 
jener  off  enen  oder  stillen  Garan- 
tie  sind,  mtissen  sich  wohl  oder 
(ibel  nach  den  Interessen  des  Ga- 
ranten  richten,  ' 

Besonders  grotesk  wirkt  es  da- 
her,  wenn  em  Institut,  dessen 
Majoritat  sich  im  Besitz  des 
Reiches  befindet,  bewuBt  gegen 
die  Wunsche  der  Regierung  ver- 
stoBt.  Um  dieses  zu  verhindern, 
braucht  man  sich  auf  keine  Ver- 
fassung  und  auf  keine  Rechts- 
anschauung  allgemeiner  Natur  zu 
berufen,  man  braucht  auch  nicht 
iiber  den  Undank  der  durch 
Staatshilfe  vor  dem  Zusammen- 
bruch geretteten  Bank  zu  klagen. 
Das  Handelsgesetzbuch  gibt  dem 
Majoritatsinhaber  einer  Aktien- 
gesellschaft  das  Recht,  seinen 
EinfluB  im  Aufsichtsrat  geltend 
zu  machen.  Das  Reich  hat  bei 
den  Banken  davon  Abstand  ge- 
nommen,  sich  im  Aufsichtsrat  em 
zahlenmaBiges  Ubergewicht  zu 
sichern,  damit  die  Kreditinstitute 
nicht  bureaukratisiert  werden, 
Nach  den  im  HaushaltsausschuB 
des  Reichstages  von  den  verschie- 
densten  politischen  Parteien  ge- 
auBerten  Ansichten  miissen  aber 
kiinftig  die  mit  der  Wahrneljnung 
der  Reichsinteressen  beauftragten 
Aufsichtsratmitglieder  einen  an- 
gemessenen  EinfluB  austiben.  Die 
Reichsregierung  muB  diesem 
Wunsche  sehr  bald  Rechnung  tra- 
gen  und  daffir  sorgen,  daB  kfinl* 
tig  ein  Institut  wie  die  Commerz- 
und  Privatbank,  dessen  Majoritat 


sich  bcim  Reich  befindet,  dem  be- 
rechtigten  Verlangen  der  reichseig- 
nen  Viag  nach  Aufsichtsratsman- 
daten  in  der  Use  Bergbau  A.-G. 
nicht  dauernd  Widerstand  ent- 
gegensetzt.  Wie  der  j lings te  Ab- 
schluB  der  Viag  gezeigt  hat,  ha- 
ben  die  reichseignen  Unterneh- 
mungen  im  allgemeinen  durchaus 
nicht  schlechter,  meistens  aber 
besser  als  privatwirtschaftliche 
Gesellschaften  gearbeitet.  Es  zeugt 
von  einem  hochgradigen  Mangel 
an  Staatsgesinnung .  in  unsrer 
Wirtschaft,  wenn  die  offent- 
liche  Hand  mit  den  scharfsten 
Mitteln  bekampft  wird  und  nur 
dann  willkommen  ist,  wenn  die 
Unternehmungen  unmittelbar  vor 
dem  Ruin  stehen.  Da  nurwenige 
Unternehmer  fiber  die  Forderun- 
gen  der  Wirtschaftsethik  zu  be- 
lehren  sind,  so  bleibt  dem  Staat, 
welche  Form  ihm  auch  immer  ge- 
geben  sein  mag,  nichts  andres 
iibrig,  als  fur  die  Anerkennung 
der  Doppelseitigkeit  des  unge- 
schriebenen  Notgemeinschaftsver- 
trages  zwischen  Wirtschaft  und 
Gesellschaft  Sorge  zu  tragen. 

Bernhard  Citron 

Die  Animierdame  stOflt  Bescheid 

Teh  sitze  nachts  auf  hohen 
*  Hockern, 

berufen,  Herrn  im  Silberhaar 
moralisch  etwas  aufzulockern. 
Ich  bin  der  Knotenpunkt  der  Bar. 

Sobald   die    Onkels    Schnaps    be- 
stellen, 


rutsch  ich  daneben,  lad  xmch  eim 
und  sage  nur:  „Ich  heiBe  Ellen.. 
Lafit  dicke   Manner   urn   mich 
sein!" 

Man    darf    mich    haargenau    be- 

trachten. 
Mein    Oberteil    ist    schlecht     ver- 

hfillt.    ' 
Ich  habe  nur  darau!  zu  achten, 
dafi  man  die  Glaser  wieder  fullt. 

Wer  fiber  zwanzig  Mark  verzehrt, 
der  darf  mir  in  die  Seiten  greifen. 
und    (falls   er   solcherlei   begehrt) 
mich  in  den  Heiniglobus  kneifen. 

Selbst    wenn    mich    Einer    Hure 

riefe, 
obwohl  ich  etwas  Bessres  bin,  — 
das  ist  hier  Alles.  inklusive 
und   in    den  Whiskys    schon   mit 

drin. 
So  sauf  ich  Schnaps  im  Kreis  der 

Greise 
und  nenne  dicke  Bauche  Du 
und  hore,  gegen  kleine  Preise, 
der  wachsenden  Verkalkung  zu. 

Und  manchmal  fahr  ich  dann  mit 

einem 
der  Jubelgreise  ins  Hotel, 
Vergnfigen    macht    es    zwar    mit. 

keinem. 
Es  lohnt  sich  hochstens  finanziell. 

Falls  aber  Einer  glauben  wollte, 
mir  konne  Geld  im  Bett  geniigen, 
also:  l 

Wenn    ich    die    Wahrheit     sagen* 

.    sollte, 
mfiBt  ich  lfigen! 

Erich  Kdstner 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Liga  fur  Menachenrechte.  Donnerstag  20.00.  Lehrervereinshaus,  Alexanderplatz:  Krieg 
and  Fascismus.    Es  sprechen:  Leon  Jouhaux  and  Erik  Nolting. 

Gruppe  Revolutionarer  Pazifisten.  Reichskonfereoz.  Cafe  Friediger  am  Po  ts  darner  Platz 
(Sitzangssaal).  Freitag  20.00:  Eugen  Brehm:  Ostasien  und  Genf,  oder  Die  Impotenz 
des  Volkerrecbts;  Kurt  Hiller:  Ober  die  Urtachen  des  nationalsozialistiscben 
Erfolges.  —  Sonnabend  20.30:  Chemiker  Dr.  Herbert  Buscb:  1st  ein  wirksamer  Luft- 
ichutz  mSglich  ?  Karl  Frank :  Wie  kommen  wir  endlich  zur  Einheitsfront  ?  —  Referate 
und  Aussprache  offentlich. 

Essen 

Weltbuhnenleier.  Treffpunkt  jeden  Freitag  20.00  im  Restaurant  des  Schauspielhauses, . 
Hindenburgstrafie. 

Rundfunk 

Dlenstag.  Konigsberg  19.15:  Musikalische  Plagiate,  Hans  Reimann.  —  Berlin  1935: 
Bruno  Nelissen-Haken  liest.  —  Breslau  20.30:  Shaws  Candida.  —  Mittwoch.  Langen- 
berg  18.15:  tfber  den  Dilettantismus,  Erik  Reger.  —  MOhlacker  19.30:  Hermann 
Kesser  liest.  —  Leipzig  20.30:  Neue  H  off  nun  g  im  Drama.  —  Berlin  22.00:  Hilfe  fur 
die  Donaustaaten  7  Zeitbericht  von  Actualis.  —  Freitag.  Frankfurt  11.00:  Goethe- 
Feier,  yeranstaltet  von  dem  Comite  permanent  dea  Lettres  et  des  Arts  des  Volker- 
bundes.  —  Berlin.  21.10 :  Das  Unaufhorlicoe  von  Gottfried  Benn  und  Paul  Hindemith.  — 
Sonnabend.  Hamburg  17.55:  Zu  Strindbergs  20.  Todeitag,  Lutz  Weltmann.—  Kdnigs- 
berg  1935:  Strindberg  im  Selbstbildnis. 

723 


Antworten 

Kube,  M.  d.  L.  Wie  man  hort,  streben  Sie  auf  Grand  einer 
parlamentarischen  Kombination  mit  dem  Zentrum  nach  der  Mini- 
sterprasidentschaft  in  PreuBea.  Vielleicht  interessiert  es  Sie,  daB 
Ihr  Gesinnungsgenosse  Ernst  Krieck  in  seinem  1931  veroffentlichten 
Buch  „Volkischer  Gesamtstaat  und  nationale  Erziehung"  also  schreibt: 
„Was  von  den  auBersten  Fliigeln  ansturmt,  Nationalsozialisten  und 
Kommunisten,  hat  nur  den  Anscbein  der  Parted,  ist  in  Wirklichkeit 
revolutionare  Bewegung  nicht  nur  gegen  die  biirgerliche  Staatsfortn 
und  die  staatstragende  Mitte,  sondern  gegen  den  Individualismus, 
auf  dem  zuletzt  alle  Parteien  grtinden.  Die  Gefahr  fur  diese  Be- 
wegungen  liegt  aber  schon  im  Anschein;  werden  sie  wirklich  zu  Par- 
teien, essen  sie  yom  Parlamentarismus,  so  gehen  sie  daran  zugrunde." 
Wollen  Sie  vom  Parlamentarismus  essen  und  Ihre  Partei  damit  toten? 
Allerdings,  das  Brot  der  Ministerprasidentschaft  ist  fur  den  davon 
Betrof f enen    j  a    leidlich    nabrbaf t. 

Filmsnob,  Wer,  vor  Jahren,  gegen  Carl  Dreyers  M Johanna"- 
Film  Einwande  erhob,  der  stand  einsam  und  wie  Sebastian  mit  Pfei- 
len  gespickt  auf  weiter  Flur.  Dreyers  neuer  Film  tlVatnpyr"  gefiel 
bei  der  ersten  Vorstellung  nur  drei  Personen,  die  erregt  fuchtelnd  und 
mit  rotem  Kopf  die  Sacbe  der  Kunst  gegen  das  ubrige  Publikum  ver- 
teidigten,  das  frohlich  pfeifend  und  aufgekratzt  wie  nur  je  nach 
einem  Lustspiel  das  Kino  verlieB.  Der  Film  bietet  ein  kummerliches 
Versteckspiel  zwischen  Blutsaugern  und  Blutarmen;  bei  strahlendem 
Sonnenschein  werden  ganze  Armleuchter  voll  Kerzen  angeztindet,  der 
Stimmung  halber,  und  der  Vampyr  heiBt  Frau  Chopin,  sieht  aber 
raus  wie  Franz  Liszt.  Der  selige  „Nosferatu"  mit  StoBzahnen  und 
Ratten  im  Sarg  stellt  dies  wohlausgeleuchtete  Schauerstuck  bei  wei- 
tem  in  den  Schatten. 

Konsul  Henry  Bernhardt  In  seinem  Aufsatz  „Stresemanns  Ver- 
machtnis"  meinte  Harms-Erich  Kaminski,  Stresemann  hatte  es  vielleicht 
als  die  Tragik  seines  Schicksals  empf  unden,  daB  sein  NachlaB  bed  Ullstein 
erscheint,  Dazu  schreiben  Sie  dem  Autor:  „DieTatsache,  daB  der  NachlaB 
'Stresemanns  im  Verlag  Ullstein  erscheint,  ist  in  erster  Linie  dadurch 
geschaffen,  daB  Stresemann  selbst  im  Jahre  1927  einen  Vertrag  mit 
dem  Verlag  Ullstein  sozusagen  paraphiert  hatte,  der  das  Erscheinen 
des  von  Stresemann  geplanten  eignen  Memoirenwerkes  im  Verlag 
Ullstein  vorsah."  Hanns-Erich  Kaminski  hat  keinesfalls  andeuten 
wollen,  Sie  oder  die  iibrigen  NachlaBverwalter  Stresemanns  hatten 
durch  die  Wahl  des  Verlags  Ullstein  pietatlos  gegen  den  Verstorbenen 
gehandelt,  DaB  das  Vermachtnis  des  Fuhrers  der  Deutschen  Volks- 
partei  von  einem  demokratischen  Haus  hexausgebracht  wird,  bleibt 
jedoch  liberraschend.  Und  daB  Stresemann  selbst  k einen  seiner  Partei 
naherstehenden,  Verlag  fand,  beweist  nochmals,  wie  weit  er  sich  von 
seinen  alten  Weggenossen  entfernt  hatte.  Ist  die  Bezeichnung  „tra- 
gisch"  daftir  wirklich  so  ubertrieben? 

Alfred  Braun.  Man  ist  vor  dem  eignen  Mikrophon  nicht  sicher. 
Der  Hellseher  Hanussen  hat  neulich  vor  alien  Rundfunkhorern  be- 
hauptet,  Sie  hatten  Geld  in  Liechtenstein.  Mit  dem  Rundfunk-Uber- 
wachungsausschuB  ist  es  offenbar  wie  mit  den  Polizisten.  Wenn  man 
.sie  braucht,  sind  sie  nicht  da. 

Manuakripte  find  nur  an  die  Redaction  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  162,  ru 
richten ;  es  wlrd  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegea,  da  sonst  keine  Rfickseodung  erfolgen  katn. 
t>aa  Auf  f uhrangsrecht,  die  Verwertung  von Titelnu.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musflc- 
mechaniache  Wiedergabe  alter  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  tod  Radiovortrttgeo 
bleiben   fttr  alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitrfiye  ausdriicklich  Torbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung  von   Kurt  Tucholsky  geleitet.  —  Verantwortlicb :   Carl  v.  Ossietzky,   Berlin; 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Tclephon:  Cl,  Steiuplatz  7767.  —  Postscheckkonto :  Berlin  11958. 
Bankkonto:     Darmstadter    u.    Nationalbank.       Depositenkasae    Cbarlottenburg,    Kantstr.   lift. 


XXVHI.Jahrgang 17.  Mai  1932 Nommer  20 

Militafdiktatur  von  Hanns-Erich  Kaminski 

Am    12.    Mai    1932   hat   ein   neuer    Abschnitt   der    deutschen 

Geschichte  begonnen.     Scit  dem   12.  Mai  1932  herrscht  in 
'  Deutschland'  die  Militardiktatur. 

'  Wir  leben  nicht  mehr  in  der  demokratischen  Republik,  wir 
stehen  langst  an  der  Schwelle  des  Dritten  Reichs,  Um  uns 
liber  dicse  Schwelle  zu  stupsen,  haben  jetzt  die  Generale  des 
Reichswehrministeriums   die  Macht   iibernommen. 

Da6  Offiziere  zum  Reichskanzler  gehen  und  ihm  erkla- 
ren,  sie  hatten  kein  Vertrauen  mehr  zu  ihrem  Vorgesetzten, 
dafi  der  Reichskanzler  eine  solche  Demarche  widerstandslos 
hinnimmt  und  dafi  der  Reichswehrminister  darauf  tatsachlich 
zuriicktritt,  umfaBt  alle  Kennzeichen  eines  Staatsstreichs.  Die 
Blatter  der  Rechten  versuchen  allerdings,  gestiitzt  auf  eine 
amtliche  Verlautbarung,  das  Auftreten  der  Generale  abzuleug- 
nen,  obgleich  es  der  .Lokalanzeiger'  schon  einen  Tag  vorher 
anigekiindigt  hatte.  Wozu  eigcntlich  diese  Vertuschung.sver- 
such«?  Haben  die  Sieger  ein  schlechtes  Gewissen?  Soil  der 
Anschein  der  Legalitat  immer  noch  auirechterhalten  werden? 

Die  .Weltbiihne'  wird,  solange  wir  hier  noch  schreiben 
diirfen,  nicht  zur  Verschleierung  der  Wahrheit  beitragen.  Und 
die  Wahrheit  ist,  dstQ  die  Weimarer  Verf assung  nicht  mehr 
existiert.  Darum,  nur  darum  ist  die  Aktion  der  Generale  kein 
Staatsstreich,  In  einem  verfassungslosen  Regime  gibt  es  keine 
Staatsstreiche.  In  einem  verfassungslosen  Regime  gibt  es  nur 
Intrigen,  Prommciamientos  und  Palastrevolutionen, 

Von  Miinchen  aus  war,  wohl  nicht  ohne  Zutun  des  Reichs- 
kanzlers,  schon  vor  einigen  Tagen  auf  die  Umtriebe  der  Reichs- 
wehrgenerale  hingewiesen  worden.  Derartige  Zustande  seien 
bolivianisch,  meinte  das  munchner  Blatt.  Aber  warum  in  die 
Feme  schweifen,  bis  in  die  zweite  Heimat  des  Herrn  Rohm? 
Die  Reichswehr  halt  bekanntlich  die  Traditionen  der  alten  Armee 
hoch.  Und  was  jetzt  Schleicher  und  Hammerstein  —  ja,  auch 
der  unpolitische,  verfassungstreue  Hammerstein!  —  getan  ha- 
ben, ist  genau  dasselbe,  was  Hindenburg  und  Ludendorff  tateni, 
als  sie  von  Wilhelm  die  Verabschiedung  Bethmann-Hollwegs 
erzwangen.  Auch  damals  hatte  der  Kaiser  langst  aufgehoft, 
zu  regieren;  auch  damals  bezeichnete  die  Militardiktatur  die 
letzte  Phase  eines  in  der  Auflosung  begriffenen  Systems, 

In  solchen  Augenblicken  kommt  alles  zusammen,  um  die 
Zustande  zu  demonstrieren.  Es  hat  nichts  mit  dem  Riicktritt 
Groeners  zu  tun,  dafi  Hitlers  Femerichter  den  Reichstag,  zu 
einem  nationalsozialistischen  Verkehrslokal  gemacht  habea, 
in  d!em  MiBliebige  niedergeschlagen  werden.  Es  fallt  auch  kaum 
noch  auf,  dafi  dem  Parlament  nicht  einmal  ein  provisorischer 
Etat  vorgelegt  wurde  und  dafi  die  sogenannten  Volksvertreter 
auseinandergingen,  bevor  iiber  zahlreiche  Antrage,  die  auf  der 
1  725 


Tagesordnung  standen,  abgestimmt  wurde.  Dennoch  bilden 
diese  Vorgange  die  Folie  zum  Beginn  der  Militardiktatur,  Sic 
zeigen,  daB  sich  kein  Mensch  mehr  urn  den  Reichstag  kummert, 
am  wenigsten  die  Generale,  die  nicht  einmal  seine  Vertagung 
abwarteten. 

Wenn  es  jetzt  so  hingestellt  wird,  ais  sei  Groener  iiber 
seine  Reichstagsrede  gesturzt,  mutet  das  wie  ein  Witz  an. 
Ich  habe  die  Rede  gehort.  Sie  war  mehr  ais  klagiich.  Groe- 
ner  bekam  keinen  zusammenhangenden  Satz  heraus,  er  stot- 
terte,  er  machte  Pausen,  er  verhedderte  sich,  man  merkte  ihm 
deutlich  an,  wie  unangenehm  es  ihm  war,  gegen  die  Nazis  und 
die  Brutusse  in  seinem  eignen  Ministerium  auftreten  zu  mus- 
sen.  Aber  seit  wann  sind  die  paar  Offiziere,  die  sich,  pars 
pro  toto,  immer  ,,die  Wehrmacht"  nennen,  so  parlamentarisch, 
diafi  sie  keinen  Chef  ertragen  konnen,  der  den  Anforderungen 
der  Parlamentstribune  nicht  gewachsen  ist? 

Groener  ist  nicht  gesturzt  worden,  weil  seine  Autoritat 
gelitten  hat.  Er  ist  auch  nicht  gesturzt  worden,  weil  er  seinen 
Untergebenen  zu  weit  links  stand.  Er  ist  gesturzt  worden, 
weil  sein  Stab  in  einer  militarischen  Frage  andrer  Mei- 
nung  war  ais  er,  Groener  hielt  die  SA.  fur  eine  Gefahr  fiir 
die  Landesverteidigung.     Schleicher  halt  sie  fiir  ein  Reservoir. 

Ober  Groener  sind  die  Akten  nun  geschlossen.  Es  ist 
charakteristisch  fiir  ihn,  dafi  er  nach  den  DolchstoBen  des 
treuen  Schleicher  und  des  braven  Hammerstein  nicht  sein 
Haupt  verhiillt  und  ganzlich  verschwindet,  sondern  Reichs- 
innenminister  bleibt.  Mit  diesem  Amt,  das,  ohne  Exekutive, 
bedeutungsloser  ist  ais  das  des  Reichspostministers,  hat  er 
jetzt  die  Stellung,  die  seiner  politischen  Bedeutung  entspricht. 

Aber  das  gehort  zum  deutschen  Schicksal.  Wer  die  Reichs- 
wehr  hat,  der  erscheint  immer  ais  der  Mann  von  Eisen,  urn 
den  sich  alle  reiBen.  Nach  einiger  Zeit  erweist  sich  dann, 
daB  das  Eisen  Blech  ist,  und  dann  taucht  hinter  dem  Reichs- 
wehrminister  allemal  der  Chef  der  Heeresleitung  auf.  So  stand 
Liittwitz  hinter  Noske,  Seeckt  hinter  GeBler,  Schleicher  hin- 
ter Groener,  Wie  lange  wird  wohl  Schleicher  fiir  kiug  und 
energisch  gelt  en?  Der  Unterschied  ist  immerhin,  daB  Liittwitz 
und  Seeckt  geholt  wurden,  wahrend  Schleicher  sich  selber 
vorgedrangt  hat. 

Die  Frage  ist  jetzt,  wie  lange  Bruning  sich  noch  halten 
kann.  Nachdem  der  Nimbus  Groeners  zerstort  ist,  tragt  der 
Reichskanzler  unter  lauter  Staatssekretaren  und  ,,neutralenM 
Fachministern  das  Kabinett  allein  auf  seinen  Schulterri,  DaB 
er  eine  parlamentarische  Mehrheit  besitzt,  kann  ihm  dabei 
nicht  helien,  in  Deutschland  kommt  es  ausschlieBlich  auf  das 
Vertrauen  des  Reichsprasidenten  an.  Der  Fall  Groener  be- 
weist,  diaB  dieses  Vertrauen  erschiittert  werden  kann.  Der 
Angriff  auf  Groener  aber  war  ein  Flankenangriff  auf  Bruning. 
Warumj  soli  nicht  eines  Tages  Schleicher  erklaren,  die  Wehr- 
macht   habe   auch   kein  Vertrauen   mehr   zum  Reichskanzler? 

726 


Und  warum  sollen  die  Gencrale  dann  nicht  ebenso  Erfolg 
habcn  wie  dicsmal?  Die  Militardiktatur  ist  zwar  durchaus 
neben  oder  viclmchr  iiber  einer  Scheinregierung  moglich,  aber 
Briining  bctrachtet  sic  zweifcllos  als  ein  Hindernis  fiir  ihrc 
vollige  Machtentfaltung, 

Man  soil  in  der  Politik  nicht  prophezeien.  Trotzdem  wage 
ich  die  Voraussage,  daB  die  Regierung  Briining  die  Konferenz 
von  Lausanne  nicht  iiberlebenj  wird.  Die  Schuld  daran  tragt 
der  Kanzler  selbst.  Seine  Haltung  hat  die  Militardiktatur  erst 
ermoglicht.  Seine  Politik,  alle  Verantwortlichkeiten  zu  ver- 
schieben  und  das  Programm  der  Rechten  mit  Hilfe  der  Linken 
durchzusetzen,  konnte  nur  gerechtfertigt  werden,  wenn  er  den 
nationalen  Freiheitskrieg  gewinnt  Und  weil  das  unmoglich 
ist,  mufi  er  scheitern. 

Immer  wieder  hat  Briining  versprochen,  er  werde  die  Rii- 
stungsgleichheit,  die  Streichung  der  Reparationen  und  dadurch 
eine  Milderung  der  Wirtschaftskrise  erreichen.  In  seiner  Ietz- 
ten  Reichstagsrede  hat  er  sogar  erklart,  er  befande  sich  hun- 
dert  Meter  vor  dem  Ziel.  Wenn  das  der  Fall  ware,  dann 
brauchte  der  Reichskanzler  doch  gar  nicht  mehr  nach  Lausanne 
zu  fahren.  Auf  eine  Konferenz  geht  man,  urn  zu  verhandeln. 
Wenn  man  sich  von  vornherein  auf  feste  Preise  kapriziert,  sind 
Verhandlungen  iiberHiissig. 

„Ich  habe  gesagt",  heifit  es  in  der  Kanzlerrede,  „daB  ich 
es  als  meine  Pflicht  auffasse,  dem  deutschen  Volk  die  Wahr- 
heit  iiber  seine  Lage  zu  sagen/1  Das  sei  Doktor  Briining  gem 
geglaubt.  Aber  wenn  er  seine  Schilderung  der  Lage  fiir  rich- 
tig  halt,  ist  er  auBerordentlich  schlecht  unterrichtet.  Es  ist 
leider  vollkommen  ausgeschlossen,  daB  die  iibrigen  Staaten  so- 
weit  abriisten  wie  es  der  Friedensvertrag  den  Besiegten  vor- 
schreibt;  daB  sie  auBerdem  definitiv  auf  die  Zahlung  von  Re- 
parationen verzichtenj  und  daB  sie  schlieBIich  auch  noch  ihre 
Zolle  abbauen  und  Deutschland  obendrein  Kredite  geben. 

Die  Art  und  Weise,  in  der  Briining  seine  Forderungen 
stellt,  ist  dabei  keineswegs  dazu  angetan,  den  andern  Regie- 
rungen  ein  Entgegenkommen  zu  erleichtern.  Was  sollte  das 
Wort  von  dem:  Munwiirdigen  Drangen  unsrer  Glaubiger"?  Und 
die  Ablehnung  ,,unklarer  internationaler  oder  humahitarer  Ge- 
dankengattge'1,  zu  der  sich  der  Kanzler  in  seiner  Rede  vor  der 
ausiandischen  Presse  bekannte,  sollte  wohl  eine  Morgengabe 
fiir  Herriot  sein? 

Aber  der  Reichskanzler  will  eben  nicht  verhandeln.  Er 
will  den  Nationalsozialisten.  zeigen,  dsiQ  er  auch  national  ist, 
er  wirft  ihnen  sogar  vor,  sie  seien  zu  gr5Bern  Zugestandnissen 
bereit  als  er.  So  ist  er  aus  Furcht  vor  den  Nazis  immer  mehr 
in  deren  Fahrwasser  geraten.  In  diesem  Fahrwasser  aber  muB 
er  Schiffbruch  erleiden. 

Was  stiirzt,  fatlt  nach  einem  physikalischen  Gesetz  immer 
schnellen  Deutschland  geht  nach  dem  Weltkrieg  und  dem 
Ruhrkrieg  seiner  dritten  Niederlage  entgegen,  und  der  Zti- 
sammenbruch  wird  die  letzten  Tragbalken  des  1918  begriinde- 
ten  Systems  mit  sich  reiBen/  Die  Militardiktatur  ist  immer 
der  Anfang  Vom  Ende. 

727 


Die  franzdsischen  Wahlen  von  victor  b&scd 

pin  Sieg  der  Linked  ein  groBerer  Sieg,  als  die  Optimistisch- 
sten  unter  uns  ihn  vorausbercchnct  hatten.  Wir  wuBten 
wohl,  dafi  die  Radikalsozialisten,  mitgerissen  von  der  energi- 
schen  Fiihrung  Herriots,  im  Sturm  eine  betrachtliche  Anzahl 
Sitze  erobern  wiirden.  Aber  weniger  sicher  war  man  lib er  den 
Erf  big  der  Sozialisten:  im  besten  Fall,  schatzte  man,  werden 
sie  inre  Stellung  halt  en-  Aber  es  kam  anders,  sie  haben  sieb- 
zehn  Mandate  gewonnen, 

Dieser  Sieg  ist  um  so  bemerkenswerter,  als  die  Linke 
unter  den  ungunstigsten  Bedingungen  in  den  Kampf  zog.  Zu- 
nachst  hat  die  Rechte  versucht,  den  Triumph  der  Hitlerleute 
auszubeuten.  Dann  kam  die  tragische  Ermordung  d'es  Prasi- 
denten  der  Republik,  die  die  offiziose  Presse  —  obwohl  sie  die 
Tat  eines  Verriickten  zu  sein  scheint,  und  zwar  eines  Verriick- 
ten,  der  zu  den  WeiBen  Russen  gehort  und  der  sich  zu  Musso- 
lini und  Hitler  bekennt  ~  als  von  der  Sowjetregierung  an- 
gestiftet  zu  bezeichnen  wagte.  Besonders  aber  und  in  der 
Hauptsache  war  es  die  gemeine  Kampfart  der  Regierung^  die 
behauptete,  daB  ein  Sieg  des  Linkskartells  die  Entwertung  d'es 
Franken  aul  einen  Sou  bedeutete;  ein  Kampf,  der  sieh  auf  Bor- 
senmanover  stiitzte,  dank  denen  die  alte  dreiprozentige  Staats- 
anleihe,  das  Barometer  der  offentlichen  Meinung,  um  einen 
Punkt  zuriickgegangen  war  und  in  ihren  Sturz  alle  franzo- 
sisdhen  Werte  mitgezogen  hatte. 

Alles  das  hat  aber  die  machtige,  aus  der  Tiefe  kommende 
Welle  nicht  aufhalten  konnen,  die  seit  einigen  Monaten  am 
Horizont  sichtbar  war.  Die  franzosischen  Wahlen  gehorchen 
einer  Reflexbewegung  von  sonderbarer  RegelmaBigkeiL  Nach 
einer  Kammer  der  Nationalen  Einheit  die  des  Kartells,  nach 
der  verschiedenfarbig  schillernden  Kammer  von  1928  die  des 
radikalsozialistischen  und  soziaiistischen  Triumphs.  Das  poli- 
tische  Pendel  schlagt  von  links  nach  rechts  aus,  um  immer  wie- 
der  mit  ausgesprochener  Weisheit  auf  jenen  Mittelpunkt  zu- 
ruckzukehren,  zu  dem  trotz  alien  augenscheinlichen  Abweichun- 
gen,  die  aber  stets  im  Rahmen  bleiben,  der  kluge  Durchschnitt 
der  franzosischen  Meinung  neigt,  die  einerseits  von  ihren 
Geistigen  und  den  Arbeitermassen  zu  kuhnen  Abenteuern  mit- 
gerissen, aber  immer  wieder  von  der  bodensicheren  Vernunft 
ihrer  die  feste  und  stabile  Mehrheit  der  Bevolkerung  aus- 
machenden  Bauern  zuriickgehalten  und  gebremst  wird. 

* 

Es  ist  also  ein  Sieg  der  Linken,  aber  ein  Sieg,,  der  unter 
solchen  Bedingungen  davongetragen  wurde,  daB  sich  zur  Stunde 
noch  nicht  sagen  laBt,  wie  er  ausgewertet  werden  wird,  Wie 
damals  Gambetta  sagte:  Wenn  die  Stunde  der  Gefahr  vorbei 
ist,  dann  fangen  die  Schwierigkeiten  erst  an. 

Edpuard  Herriot,  dem  bestimmt  gleich  nach  der  Wahl 
Albert  Lebruns  zum  Prasidenten  der  Republik  die  Bildung  der 
Regierung  anvertraut  werden  wird,  durfte  in  der  Tat  in  groBer 
Verlegenjieit  sein,  Zunachst  durch  die  Wahl  des  Prasidenten 
selbst,  der  tdurch  seine  Vergangenheit  ein  Spiegelbiltf  der  so- 
eben  aufgelosten  Kammer    und  durch    seine  Eigenschaft    als 

728 


Lothringer  mit  Nationalismus  durchtrankt  ist,  den  Spuren 
Poincares  zu  folgen  scheint  und  keineswegs  der  neugewahlten 
Kammer  entspricht.  Was  ganau  dcr  Lage  gleicht,  in  dcr  sich 
1924  Millerand  befand.  Die  Entscheidung  wird  ihm  ierner 
durch  die  beiden  moglichen  Wege  erschwert,  die  er  einschlagen 
kann  und  der  en  Wahl  sehr  unbequem  ist. 

Zwei  Mehrheitsbildungen  sind  in  der  Tat  in  der  kommen- 
den  Kammer  moglich:  Eine  Majoritat  des  Kartells  aus  Radikal- 
sozialisten, Sozialisten  und  Nachbarparteien,  eine  Mehrheit 
Herriot-Blum,  die  mindestens  320  von  607  Abgeordneten  um- 
faBt,  und  eine  Majoritat  aus  Radikalsozialisten  und  der  Mitte, 
eine  Mehrheit  Herriot-Tardieu,  die  sich  aus  ungefahr  325  Stim- 
men  zusammensetzt* 

Zwischen  diesen  beiden  Koalitionen  wird  Herriot  sich  zu 
entscheiden  haben.  Gegen  beide  von  ihncn  sprechen  so  ge- 
wichtige  Grtinde,  daB  man  zur  Stunde  noch  nicht  ubersehen 
kann',  zu  welcher  der  zukiinftige  Kabinettschef  neigen  wird. 

Gegen  eine  Linkskartellbildung  spricht  die  Stellung,  die 
Herriot  zu  den  sogcnannten  nationalen  Fragen  —  Abriistumg 
und  Re  pa  rat  ion  en  —  einnimmt,  und  zu  den  Bedingungen,  "die 
Leon  Blum  fur  jede  Zusammenarbeit  mit  den  Radikalsozialisten 
stellt:  sofortige  und  fiihlbare  Herabsetzung  der  Militarkreditet 
ein  nationales  Versicherungssystem  gegen  Arbeitslosigkeit, 
arbeits-  und  landwirtschaftliche  Gefahren,  Nationalisierung  des 
Versicherungswesens  und  der  Eisenbahnen.  Ferner  die  Fest- 
stellung  Herriots,  daB  er  entschlossen  ist,  nicht  wieder  die 
Politik  der  ,,wonlwollenden  Neutralitat"  mitzumachen,  die  er 
von  1924  bis  1926  geduldet  hat. 

Andrerseits  wendet  sich  gegen  seine  Zusammenarbeit  mit 
der  Partei  Tardieu^-Reynaud  ein  betrachtlicher  Teil  der  Radi- 
kalsozialisten, alle  jungen  und  aktiven  Element e  der  Parla- 
mentsfraktion  undf  wie  ich  glaube,  auch  die  Mehrheit  der 
Wahler,  die  jede  gemetnsame  Arbeit  mit  Herrn  Tardieu,  gegen 
den  jeder  wahrhaft  links  Gerichtete  einen  wiitenden  HaJS  emp- 
findet,  als  einen  Verrat  betrachten  wiirde,  den  sie  ihrem  Fiihrer 
nicht  verzeihen  wiirden. 

Wie  soil  er  aus  dieser  Sackgasse  herauskommen?  Durch 
—  wie  Herriot  es  absichtlich  unbestimmt  ausgedriickt  hat  — 
ein  Ministerium  a  la  Waldeck-Rousseau,  das  heiBt  ein  Ministe- 
rium,  das  von  den  Sozialisten  bis  zu  den  Linksrepublikanern 
geht  oder,  um  Namen  anstatt  Ideen  zu  setzen,  von  Renaudel 
und  Paul-Boncour  bis  zu  Tardieu-Reynaud.  Nun  ist  aber  sicher, 
daB  die  Sozialisten,  wenn  sie  zu  einer  Beteiligumg  bereit  sind  — 
was  zweifelhaft  ist  — ■  sich  glatt  weigern  werden,  mit  Tardieu 
zusammenzugehen,  und  auch  nicht  iiber  die  von  Leon  Blum 
formulierten  Bedingungen  mit  sich  handeln  lassen;  Bedingun- 
gen,  die  Herriot  nicht  annehmen  kann.  Und  so  wird  er  kaum 
ein  noch  aus  wissen,  Wenn  man  zu  diesen  politischen  Schwie- 
rigkeiten  noch  die  wirtschaftlichen  und  finanziellen  hinzurech- 
net,  denen  die  neue'  Regierung  sofort  zu  begegnen  hat,  ferner 
die  der  Abriistungskpnferenz  und  der  von  Lausanne,  so  darf  man 
daraus  schlieBen,  daB  der  Sessel,  der  Edouard  Herriot  angeboten 
werden  wird,   kein  beneidenswerter  ist. 

* 

2  '  729 


Die  Frage,  die  wahrscheinlich  Dcutschland  mehr  als  die 
innere  Politik  interessiert  und  die  die  neue  franzosische 
Kammer  zu  losen  haben  wird,  ist:  welche  Haltung  wird 
das  Kabinett,  das  aus  dieser  Kammer  hervorgeht,  zu  den 
deutsch-franzosischen  Beziehungen  einnehmen? 

Es  ist  wichtig,  die  deutsche  offentliche  Meinumg  vor  jeder 
Illusion  zu  warnen.  Die  franzosische  AuBenpolitik  von  morgen 
wird  sich  im  Grunde  wenig  von  der  von  gestern  unterscheiden, 

Jedes  Ministeriurn,  welches  es  auch  sei,  muB  mit  der  An- 
schauung  des  Durchschnittsfranzosen  rechnen.  Der  Seelenzu- 
stand  dieses  Durchschnittsfranzosen  ist,  wenn  ich  mich  nicht 
tausche,  so;  Er  ist  cin  gliihender  Anhanger  des  Friedens,  dank 
einer  eifrigen  Propaganda,  an  der  Organisationen  wie  die  fran- 
zosische Liga  fur  Menschenrechte  den  Hauptanteil  tragen,  iund 
vollkommen  bereit  zu  einer  aufrichtigen  Verstandigung  mit 
Deutschland.  Aber  er  glaubt  mit  seinem  einfachen  Menschen- 
verstand,  daB  zu  jeder  Verstandigung  zwei  gehoren,  und  er  hat 
feststellen  mussen,  daB  je  mehr  er  zur  Versohnung  neigt,  desto 
widersp  ens  tiger  sich  sein  Partner  verhalt  Er  mochte  nichts 
lieber,  als  sich  in  der  Schulden-  und  Reparationsfrage  entgegen- 
kommend  zu  zeigen,  Er  weiB,  daB  Deutschland  augenblicklich 
zahlungsunfahig  ist,  sowohl  was  die  geschiitzten  als  auch  die 
ungeschiitzten  Annuitaten  bctrifft.  Aber  er  will  nicht,  daB 
Deutschland  einseitig  einen  Vertrag  bricht,  den  es  unter- 
schrieben  hat,  weil  er  durch  seine  lateinische  Abstammung  an 
dem  Buchstaben  juristischer  Vertrage  hangt,  Er  will  wohl  im 
Augenblick  auf  Zahlungen  verzichten,  da  sein  Schuldner  in- 
solvent ist,  aber  er  will,  daB  dieser  seine  Schuld  anerkennt  und 
sich  nicht  im  voraus  weigert  zu  zahlen,  selbst  fur  den  Fall,  dafi 
seine  finanzielle  Lage  sich  bessern  sollte, 

Ebenso  mochte  'dieser  Durchschnittsfranzose  Deutschland 
gern  aus  sein  en  gegenwartigen  Schwierigkeiten  heraushelfen. 
Im.  Gegensatz  zu  dem,  was  so  viele  Deutsche  denken,  versteht 
er  die  Not  des  Reichs  und  nimmt  daran  teil.  Aber,  was  er 
nicht  zulassen  kann,  ist,  daB  Deutschland  sich  einerseits  an  den 
GroBmut  Frankreichs  wendet  und  ihm  andrerseits  die  Faust 
zeigt,  Entweder,  meint  er,  hat  Deutschland  Frankreichs  Hilf e 
no  tig,  und  dann  kann  dies  zum  wenigsten  verlangen,  daB  man 
es  nicht  mit  Beleidigungen  uberschiittet  und  nicht  mit  Drohungen 
schreckt.  Oder  Deutschland  will  seiner  Neigung  zur  Gewalt- 
tatigkeit  nachgeben,  und  dann  soil  Frankreich  das  Reich  nur 
sich  selbst  iiberlassen, 

AuBerdem  ware  der  Durchschnittsfranzose,  der  den  Ab- 
riistungsplan  Tardieus,  dessen  Grundgedanken  ubrigens  ganz 
der  Linken  entnommen  sind,  fiir  den  einzigen  halt,  der  einen 
soliden  Frieden  aufzubauen  versucht,  durchaus  bereit,  einer 
sofortigen,  wesentlichen  Abriistung  zuzustimmen.  Aber  auch 
hier  stoBt  er  sich  an  der  Brutalitat  der  deutschen  Forderun- 
gen  und  an  dem  Mangel  an  Verstandnis,  das  Deutschland  fair 
die  franzosischen  Besorgnisse  hat.  Warum  versteht  man  nicht, , 
daB  angesichts  des  Hitlersiegs,  angesichts  der  Drohungen,  die 
Frankreich  einerseits  von  den  Nazifuhrern,  andrerseits  von 
Mussolini  entgegengeschleudert  werden,  dieses  Land  nicht  auf 

730 


das  verzichten  will,  was  cs,  zu  Rccht  oder  Unrecht,  fur  seine 
Sicherheit  halt?  Man  stelle  sich  einen  Augenblick  vor,  daB 
die  deutschen  Wahlea  den  franzosischen  analog  verlaufen 
waren,  dafi  eine  wahrhaft  friedensbereite  Linksmehrheit  aus 
den  Urnen  hervorgegangen  ware;  man  konnte  sicher  sein, 
daB  alle  verniinftigen  Franzosen  —  und  diese  bilden  die;  un- 
geheure  Mehrheit  der  Bevolkerung  —  energisch  fiir  eine  so- 
fortige  und  starke  Abriistung  eingetreten  waren. 


Dies  sind  die  Gefuhle  des  Durchschnittsfranzosen,  die  Ge- 
fiihle,  die  die  Politik  des  neuen  Kabinetts  leitetn  werden,  das 
von  jenen  Radikalen  gestiitzt  wird,  die  im  wesentlichen  aus 
diesen  Durchschnittsfranzosen  mit  ihren  Vorziigen  und  ihren 
Fehlern  bestehen, 

Zweifell'os  ware  eine  andre  Politik  moglich,  eine  Politik 
der  Kiihnheit,  des  Muts,  eine  Politik,  die  ein  Risiko  in  sich 
birgt,  ein  groBes  Risiko  vielleicht,  aber  ein  schones,  wie  die 
Manner  der  auBersten  Linken,  die  groBen  republikanischen 
Vereinigungen,  wie  die  der  Liga  fiir  Menschenrechte  es  von  der 
neuen  Regierung  verlangen  werden. 

Ein  neuer  Kabinettschef  miiBte  sich,  anstatt  sich  an  alte, 
vorsichtige,  tastende  und  eingefahrene  Methoden  zu  halteoj 
mit  dem  Ftihrer  der  deutschen  Regierung  treffen,  und,  anstatt 
angstlich  alle  brennenden  Fragen  zu  vermeiden,  die  zwischen 
den  beiden  Landern  offen  sind,  wagen,  sie  offen  und  freimiitig 
zur  Diskussion  zu  stellen,  ohne  etwas  zu  verschweigen  und 
ohne  Hintergedanken.  Er  miiBte  den  deutschen  Regierungs- 
chef  fragen,  was  er  von  Frankreich  will,  Er  miiBte  priif en,  was 
von  diesen  Wunschen  annehmbar  und  vielleicht  sofort  zu  be- 
friedigen  i'st.  Er  diirfte  ihm  nicht  den  Buchstaben  der  Vertrage 
gegeniiberhalten.  Er  dtirfte  sich  nicht  weigern,  iiber  eine  Ab- 
anderung  zu  sprechen,  sondern  nur  aufzeigen,  wie  sehr  eine  un- 
bedachte  Revision  Kriegsgefahren  heraufbeschwore,  Er  bote 
ihm  eine  wirksame  Hilfe  durch  wirtschaftiiche  ,und  finan- 
zielle  Zusammenarbeit  an.  Er  zeigte  ihm,  daB  eine  deutsch- 
franzosische  Zusammenarbeit  auf  alien  Gebieten  nicht  nur  den 
europaischen  Frieden  dauernd  sichern  konnte,  sondern  auch 
Deutschland  erlaubte,  wieder  zu  Reichtum  zu  kommeii',  ohne 
daB  Frankreich  den  seinen  einbuBte.  Er  verlangte  zum  Aus- 
gleich  fiir  das  alles  von  Deutschland  einen  Verzicht  aui  alle 
Gewaltmethoden  und  einen  aufrichtigen,  wahren  und  tiefen 
Fried enswill  en. 

Diese  Politik  mit  allem  Gut  em,  was  fiir  die  Welt  aus  ihr 
folgt,  ist  keine  Utopie,  Wir  Kampfer  der  Linken  sind  bereit, 
sie  zu  verfechten,  Aber  finden  sich  in  Deutschland  Regierungs- 
fiihrer,  die  fahig  sind,  sie  zu  begreifen  und  zu  befolgen,  die  no t- 
wendigen  Worte,  und  zwar  im  Namen  ihres  Volkes  auszu- 
sprechen,  mit  der  GewiBheit,  daB  dieses  Volk  sie  billigen  und 
verwirklichen  wiirde? 

Das  ist  eine  Frage,  auf  die  nicht  wir,  sondern  die  Deut- 
schen antworten  mussen. 

Deutsch  von  Milly  Zirker 
731 


HeiT  Brfinitlg!  von  Hellmut  v.  Gerlach 

/~*rade   acht   Jahre   ist    es  her.      Die   Maiwahlen  Frankreichs 

hat  tea  der  Link  en  einen  so  iiberwaltigenden  Si  eg  gebracht, 
daB  nicht  nur  die  Ministerprasidentschaft  Poincares,  sondern 
sogar  der  reaktionare  President  der  franzosischen  Republik, 
'Millerand,  daran  zerbrach,  Herriot  war  der  Herr  Frankreichs. 
Mit  heiBem  Herzen  wollte  er  den  wirklichen  Frieden  mit 
Deutschland, 

Die  Volkerbundsversammlung  trat  in  Genf  zusammen.  . 
Herriot  vertrat  Frankreich.  ,  MacDonald'  England-  Noch  nie 
hatte  der  Weltareopag  so  sehr  den  Stempel  des  Pazifismus  ge- 
tragem.  Allerdings,  Deutschland  hatte  noch  nicht  den  Antrag 
auf  Aufnahme  gestellt.  Aber  von  Tag  zu  Tag  wurde  er  er- 
hofft  Die  reglementmaBige  Frist  war  schon  verflossen.  Aber 
Herriot  sagte  inir:  „Und  wenn  der  deutsche  Antrag  am  Tage 
vor  dem  SchluB  unsrer  Beratungen  einlauft,  wir  nehmen 
Deutschland  noch  auf.  Wie  diirften  Fristen  in  einem  solchen 
Falle  eine  Rolle  spielen!" 

Der  deutsche  Antrag  lief  nicht  ein.  Dafiir  traf  eine  andre 
Kunde  aus  Berlin  ein:  Die  Reichsregierung  hatte  in  einer  feier- 
lichen  Erklarung  die  deutsche  Kriegsunschuld  beteuert. 

In  Genf  wirkte  das  ifast  wie  eine  neue  Kriegserklarung,  zu- 
mal  die  erste  Nachricht  von  einer  zweiteri  gefolgt  wurde:  Die 
deutsche  Regierung  wolle  ihre .  Erklarung  — i  die  zunachst  nur 
fiir  den  Hausgebrauch  des  reaktionaren  Reichstags  bestimmt 
war  —  in  amtlicher  Form  alien  Unterzeichnern  des  Versailler 
Friedensvertrags  notifiziereiu 

Erschiittert  sagte  mir  Herriot:  „Wenn  die  Notifikation  er- 
folgt,,  muB  ich  sofort  im  Namen  der  franzosischen  Regierung 
eine  Gegenerklarung  versenden.  Damn  gibt  es  keine  Briicke 
zwischen  Frankreich  und  Deutschland  mehr." 

Fridjof  Nans  en,  der  groBe  Europaer  und  wahre  Freund 
Deutschlands,  war  fast  noch  erregter  als  Herriot;  „Die  Noti- 
fikation ware  ein  Ungliick  fiir  Europa,  fiir  den  Weltfrieden, 
aber  besonders  fiir  Deutschland.  Was  kann  geschehen,  um  sie 
zu  verhindern?" 

Ich  sagte  ihm,  daB  er  von  alien  in  Genf  Anwesenden  am 
me  ist  en  dazu  tun  konne,  weil  seine  Stimmej  von  jedem  Deut- 
schen  als  die  eines  wahrhaft  Unparteiischen  angesehen  werde. 
Und  ich  bat  ihn,  sich  sofort  an  den  Reichskanzler  zu  wenden. 
Was  er  versprach  und  tat. 

Die  bekanntesten  der  in  Genf  weilenden  deutsohen  Jour- 
nalisten  telegraphierten  an  den  Reichskanzler,  setzten  ihm  die 
Wirkung  der  berliner  Nachrichten  auf  die  Volkerbundsver- 
treter  auseinander  undf  warnten  vor  weitern  Sehritten, 

Der  nicht  wieder  gutzumachende  Schade  einer  amtlichen 
Notifikation  wurde  vermieden.  Was  an  Schaden  zuriickblieb, 
war  noch  groB  genug.  Die  Internationale  Autoritat  grade  der 
Deutschland  bestgesinnten  Staatsmanner  hatte  geiitten.  Die 
Stimmung  in  Genf  war  verdorben.  Besorgt  fragten  sich  die 
Neutralen:  Haben  die  Verantwortlichen  Deutschlands  immer 
noch  nicht  begriffen,  dafi  man  die  groBe  Aufienpolitik  nicht 
kleinen  Augenblickssrfolgen  der  Innenpolitik  ypfern  darf? 

732 


Wieder  haben  die  Wahlen  Herriot  zum  maBgebenden 
Manne  Frankrcichs  gemacht.  Deutschland  hat  eine  neue 
Chance.    Soil  es  ihr  ergehen  wie  der  von  1924? 

Die  Gefahr  ist  groB.  Die  heutige  deutsche  Regierung  steht 
genau  so  unter  dem  Eindruck  des  nationalsozialistischen  Sieges, 
wie  die  Regierung  Marx  1924  unter  dem  Eindruck  des  Sieges 
der  Deutschnationalen  bei  den  damaligen  deutschen  Maiwahlen 
gestanden  hatte:  Man  muB  den  Rechtsradikalen  den  Wind  aus 
den  Segeln  nehmen,  in  dem  man  nicht  bloB  ihr  en  nationalisti- 
schen  Forderungen,  sondern  auch  ihrer  nationalistischen  Ter- 
minologie  moglichst  weit  entgegenkommt! 

Einen  schlimmern  FehlschluB  kann  es  nicht  geben.  An 
Worten  wird  immer  die  Opposition  der  Regierung  iiberlegen 
sein.  Und  macht  man  sich  samtliche  Forderungen  der  Oppo- 
sition zu  eigen,  so  kommt  sie  morgen  mit  neuen. 

Briining  steht  genau  in  derselben  Gefahr,  der  Marx  1924 
unterlag.  Er  ist  ihr  fast  noch  mehr  ausgesetzt  als  sein  Vor- 
g  anger,  M^rx  war  wenigstens  Zivilist  durch  und  durch.  Brii- 
ning hat  aus  seiner  Vergangenheit  als  Offizier  die  Offiziersseele 
behalten. 

1924  scheiierte  die  Verstandigung  zwischen  Herriot  utnd 
Marx  an  der  Kriegsschuldfrage.' 

'  1932  kann  die  Verstandigung  zwischen  Herriot  und  Brii- 
ning scheitern,  wenn  von  deutscher  Seite  die  Abriistungs-  und 
Reparationsfrage  in  dem  Ton  behandelt  wird,  den  General 
Hoffmann  1917  in  Brest  Litowsk  den  Russen  gegeniiber  an- 
schlug. 

Der  Ton  macht  die  Musik.  Der  Ton,  den  Briining  in  seinen 
beiden  letzten  Redien  angeschlagen  hat,  wird  in  Frankreich  zum 
mindesten  von  den  Mannern  der  linken  Mitte  als  MiBton  emp- 
funden.  Diese  linke  Mitte  aber  muB  Deutschland  fur  sich 
haben,  wenn  es  in  Abriistungs-  und  Reparationssachen  zu 
einenn  positiven  Ergebnis  kommen  will. 

Wer  in  der  Lotterie  spielt,  hat  Aussicht  auf  das  groBe  Los. 
Diese  Aussicht  ist  genau  so  groB  wie  die,  bei  der  Parole  „alles 
oder  nichts!"  alles  zu  bekommen. 

Als  ich  im  Januar  in  offentlichen  Versammlungen  in  Frank- 
reich sprach,  platzte  die  Meldung  hinein,  Briining  habe  er- 
klart,  Deutschland  wolle  keine  Reparationen  mehr  bezahlen. 
Die  ehrlichsten  Freunde  Deutschlands  gerieten  in  eine  fast  ver- 
zweifelte  Stimmung.  Will  Briining  Bethmanns  Spuren  falgen, 
wieder  einen  Vertrag  fiir  einen  Fetzen  Papier  erklaren? 

Eine  gewisse  Beruhigung  trat  erst  ein,  als  richtig  gestellt 
wurde,  es  handle  sich  nicht  urn  eine  Erklarung  iiber  das  Wol- 
len,  sondern  iiber  das  Konnen.  Allerdings,  ein  gewisses  Kopf- 
schiitteln  blieb.  Man  bietet  Deutschland  ein  bedingungsloses 
neues  Moratorium  von  einem  Jahr  an,  und  es  sagt  nein.  Wie 
wiirde  man  einen  Privatmann  nennen,  der  so  handelt? 

Natiirlich  ware  das  Ideal,  daB  Amerika  seinen  europaischen 
Schuldnern  ihre  Verpflichtungen  erlieBe,  daB  diese  dann 
Deutschland  frei  und  ledig  jeder  Schuld  erklarten.  Jedermann 
wiinscht  das1  aber  Wiinsche  sind  noch  keine  Politik. 

Wenn  die  Konferenz  in  Genf  auch  nur  den  einen  BeschlttB 
faBte,  daB  alle  Staaten,  die  bisher  utnbegrenzt  riisten  durf ten, 

733 


ihrc  Militarausgaben  urn  fiinfundzwanzig  Prozent  einschranken 
muss  en,  so  ware  das  em  ungeheurer  Erfolg  im  Sinne  der  Ab- 
rustung.  L'appetit  vient  en  mange  ant.  Wenn  die  Steuerzahler 
merkea1  daU  es  mit  fiinfundzwanzig  Prozent  weniger  Militar- 
ausgaben geht,  werden  sie  sehr  bald  Appetit  auf  fiinfzig  Pro- 
zent  Abstrich  bekommeinu    Und  so  weiter! 

Wenn  in  Lausanne  Deutschland  ein  Moratorium  von  fiinl 
Jahren  zugebilligt  wird,  so  ware  das  ein  glanzender  Erfolg  der 
deutschen  AuBenpolitik,  Die  Atempause  wurde  zahlen.  Was 
nach  fiimf  Jahren  notig  oder  moglich,  sein  wird  —  Herr  Brii- 
ning,  wir  wollen  doch  nicht  Hanussen  ins  Handwerk  pfuschen. 

Stresemann  wurde  1923  Staatsmann,  als  er  auf,  Kraftaus- 
driicke  und  Kraftmeierei  verzichtete. 

Was  auch  in  Genf  und  Lausanne  beschlossen  werden  moge, 
Hitler  und  Hugenberg  werden  schimpfen. 

Ihnen,  Herr  Bruning,  hat  der  8.  Mai  eine  Moglichkeit  ge- 
geben,  Mit  Herriot  kann  ein  Deutscher  Politik  machen.  Will 
er  freilich  eine  Politik  des  f,alles  oder  nichts"  machen,  dann 
wird  es  ihm  scheinen,  als  ob  Herriot  und  Tardieu  Zwillings- 
briider  seien, 

Fiir  Carl  v.  Ossietzky 

General-Quittung  von  Kurt  Tu chol sky 

/^arl  von  Ossietzky  geht  fur  achtzehn  Monate  ins  Gefangnis, 

weil  sich  die  Regierung  an  der  Weltbiihne  rachen  will, 
rachen  fiir  alles,  was  hier  seit  Jahren  gestanden  hat.  Ossietzky 
geht  ins  Geiangnis  nicht  nur  fiir  den  Mitarbeiter,  der  den 
inkriminierten  Artikei  geschrieben  hat  —  er  geht  ins  Gefang- 
nis fiir  alle  seine  Mitarbeiter.  Dieses  Urteil  ist  die  Quittung 
der  Geherale. 

Der  HexenprozeB  wurde  unter  sehr  erschwerenden  Um- 
standen  gefuhrt, 

Um  Ossietzky  zu  verhindern,  beizeiten  loszuschlagen, 
wurde  die  Anklage  auch  wegen  militarischer  Spionage  erhoben, 
ein  Delikt,  das  nicht  vorgelegen  hat;  der  einschlagige  Para- 
graph bestimmt  aber,  daB  wie  bei  einem  ProzeB  der  west- 
falischen  Feme  oder  wie  in  einem  Verfahren  der  Inquisition 
die  Offentlichkeit  nicht  einmal  von  der  Erhebung  der  Anklage 
etwas  wissen  darf.  Ossietzky  konnte  sich  also  vor  dem  Pro- 
zeB iiberhaupt  nicht  zur  Wehr  setzen, 

Der  ProzeB  fand  hinter  verschlossenen  Tiiren  statt  Die 
Angeklagten  hatten  vor  der  Offentlichkeit  nichts  zu  befiirchten 
—  .die  Regierung  alles.  Die  Angeklagten  hatten  ein  gutes 
Gewissen.     Die.  Regierung  hatte  das  nicht. 

Den  Angeklagten  und  den  Verteidigern  wurde  strenge 
Schweigepflicht  auferlegt;  es  durfte  nichts  iiber  das,  was  Ge- 
genstand  der  Verhandlung  gewesen  war,  veroffentlicht  wer- 
den —  auch  nicht  nach  dem  Urteilsspruch.  Es  ist  eine  Frage 
der  Taktik  und  des  Temperaments,   ob  man  das  befolgt. 

Ossietzky  hat  alle  diese  Schweigebote  nicht  nur  befolgt  — 
er  hat  sich  in  gradezu  heroischer  Weise  hinter  die  Sadie  ge- 

734 


stellt.  Vom  ersten  Augenblick  an  bis  heutc  gibt  es  keinen 
Satz,  den  diescr  Mann  geschrieben  oder  gesprochen  hatte,  wo 
er  sich  beklagt,  sich  ruhmt,  sich  herausstellt.  Ossietzky  hat 
mirt  als  das  Urteil  herausgekommen  1st,  ebenso  freundschaft- 
lich  wic  fest  verwehrt,  ihn  (1anzusingenM  —  ich  habe  also 
damals  nicht  sagen  konnen,  was  alle  Beteiligten  langst  wissen: 
wic  er  noch  im  ProzeB  versucht  hat,  sich  vor  den  Schreiber 
des  Artikels  zu  stellen;  wie  er  versucht  hat,  die  ganze  Schuld 
auf  sich  zu  nehmen  und  wie  phrasenlos  und  still  er  diese  bose 
Wartezeit  durchgestanden  hat.  Nicht  wissen,  was  morgen  mit 
einem  geschieht  — *  und  dabei  seine  Arbeit  tun:  das  ist  nicht 
leicht.  Das  hat  Ossietzky  seit  etwa  zweieinhalb  Jahren  getan. 
,  Es  ist  nun  nachtraglich  versucht  worden,  den  ErlaB  der 
Strafe  oder  die  Umwandlung  der  Gefangnisstrafe  in  eine 
Festungshaft  auf  dem  Gnadenwege  zu  erreichen,  und  dazu  ist 
Folgendes  zu  sagen; 

Carl  von  Ossietzky  hat,  wahrend  diese  Bestrebungen  im 
Gange  waren,  selbstverstandlich  nicht  nur  Groener,  sondern 
auch  den  Mann,  der  let z ten  Endes  iiber  das  Gnadengesuch  zu 
entscheiden  hat,  dauernd  angegriffen.  Er  hat  gegen  Hinden- 
burg  geschrieben,  also  genau  das  Gegenteil  dessen  getan,  was 
man  als  Opportunisms  bezeichnen  konnte.  Diese  Angriffe 
hat  er  mit  s einem  Namen  gezeichnet. 

Grund  genug,  um  nach  gewissen  Begrif  f en  deutscher  Ritter- 
lichkeit  zu  argumentieren:  „Er  greift  uns  ja  doch  an  —  wozu 
soil  man  so  einen  be^nadigen?" 

Ein  Funke  von  Ritterlichkeit  auf  der  amtlichen  Seite  ware 
vielleicht  zu  erwarteh  gewesen  —  ich  habe  das  nie  erwartet, 
und  es  hat  auch  nicht  gefunkt,  Der  „alte  Herr"  versteht  in 
Sachen  der  Armee  keinen  SpaB,  die  Weltbiihne  auch  nicht  — 
tuid  Ossietzky  geht  ins  Gefangnis.  Die  meisten  Begnadigungs- 
versuche  sind  dem  Reichsprasidenten  gar  nicht  erst|  vorgelegt 
worden. 

Nach  Kermtnis  der  auslandischen  Pressestimmen  fasse  ich 
zusammen: 

Die  behaupteten  Tatsachen  sind  wahr.  Das  Reichswehr- 
ministerium  hatte  Butter  auf  dem  Kopf, 

Es  ist  gar  nichts  verraten  worden  —  und  zwar  deshalb  nicht, 
weil  die  behaupteten  Tatsachen,  insbesondere  bei  den  Franzo- 
«en,  bekannt  gewesen  sind.  Es  ist  also  auch  vom  Stan'd- 
punkt  des  Militars  der  deutschen  Republik  kein  Schade  ent- 
standen.  Nicht  die  Enthiillung  hat  ge schade t  —  die  Tatsachen 
haben  geschadet. 

Die  gegnerische  Presse  tut  so,  als  wollte  Carl  von  Ossietzky 
liir  sich  eine  Extrawurst  gebraten  haben.     Das  ist   unrichtig. 

Die  Begnadigungsaktion  will  geschehnes  Unrecht  mildern, 
iveiter  nichts.  Demi  hier  ist  ein  schweres  Unrecht 
geschehn.  Fiir  dieses  Delikt,  das  keines  ist,  iiber  einen  solchen 
Mann  wie  Carl  von  Ossietzky  diese  Strafe  zu  verhangen,  das 
ist  eine  Schande.    Sie  auf  sich  zu  nehmen  ist  keine. 

Die  Strafe  ist  und  bleibt  nichts  als  die  Benutzung  einer 
formalen  Geiegenheit,  einem  der  Regierung  sehr  unbequemen 
Kreis  von  Schriftstellern  eins  auszuwischen.  Die  Mitarbeiter 
aind!  die  Leser  der  Weltbiihne  haben  in  der  Tat  etwas  getan, 

735 


was  den  fascistischen  Gegner  bis  auf  s  Blut  gereizt  hat:  er  ist 
hier  ausgeiacht  worden,  Hier  ist  gelacht  worden,  wenn  andrc 
gedonnert  haben.  Hier  sind  jene  nicht  ernst  genommen  wor- 
den, Und  sie  konnen  ja  vieles.  Aber  eines  konnen  sie  nicht. 
Sie  konnen  nicht  erzwingen,  daB  man  zu  ihnen  anders  spricht 
als  von  oben  nach  unten,  Im  geistigen  Kampf  werden  sie  auch 
weiterhin  so  erledigt  werden,  wie  sie  das  yerdienen.  Und  das 
muB  doch  gesessen  haben.  Denn  sonst  waren  jene  nicht  so 
wiitend  und  versuchten  es  nicht  immer,  immer  wieder,  Es 
wird  ihnen  nicht  s  he  If  en, 

Es  ist  mir  unmogiich,  einem  so  unpathetischen  und  stiilen 
Kameraden  wie  meinem  Freunde  Ossietzky  markige  Abschieds- 
worte  zuzurufen;  wir  sind  keine  Vereinsvorsitzende.  Ichwtinsche 
ihm  im  Namen  aller  seiner  Freunde,  daB  er  diese  Haft  bei 
guteni  Gesundheitszustande  iibersteht. 

Alle  anstandig  empfindenden  Menschen  werden  die  Be- 
gnadigung  fordern.  Gummikniippel  sind  keine  Argumente.  Und 
weiter  ist  dieses  Urteil  nichts. 

Das  Blatt  aber  wird,  getragen  von  dem  gewaltigen  Auf trieb, 
den  ihm  Carl  von  Ossietzky  gegeben  hat,  das  bleiben,  was 
es  immer  gewesen  ist. 

Anderthalb  Jahre  Gef angnis  f iir  eine  gute  Ware  erhalten 
zu  haberi  —  das  kann  bescheinigt  werden. 

Die  Ware  wird  weitergeliefert 

*  *  * 

Eingabe  an  den  Herrn  Justizminister  von  Max  Alsberg 

Berlin,  131  Februar  1932. 
Sehr  verehrter  Herr  Justizminister! 

'Durch  Urteil  des  A.  Strafsenats  des  Reichsgerichts  vom 
25,  November  1931  sind  der  verantwortliche  Schriftleiter  der 
^eltbuhne',  Carl  von  Ossietzky,  und  der  Schriftsteller  Wal- 
ter Kreiser  wegen  Verbrechens  gegen  §  1  Abs.  2  des  Ge- 
setzes  gegen  den  Verrat  militarischer  Geheimnisse  ein  jeder 
zu  einem  Jahr  sechs  Monaten  Gef  angnis  verurteilt  worden, 
Gestatten  Sie  mir  als  Verteidiger  des  Verurteilten  Carl  von 
Ossietzky,  nachdem  mein  Mitverteidiger,  Rechtsanwalt  Dr. 
Apfel,  in  seiner  Eingabe  an  den  Herrn  Reichsprasidenten  be- 
reits  die  historisch-politische  und  menschlich-personliche  Seite 
des  Falles  beleuchtet  hat,  an  die  Verurteilung  noch  einige  kri- 
tische  Bemerkungen  rein  juristischer  Natur  zu  kmipfen,  Frei- 
lich  erscheint  es  mir  zu  ihrem  vollen  und  richtigen  Verstand- 
nis  wichtig,  zu  beachten,  daB  auch  eine  solche  auf  das  rein 
Rechtliche  beschrankte  -  VWirdigung  gehemmt  ist  durch  die 
Grenzen,  die  das  alien  Beteiligten  auf erlegte  strenge  Schweige- . 
gebot  jeder  kritischen  Auseinandersetzung  mit  den  Urteils- 
griinden  zieht. 

Urn  das  Ergebnis  vorweg  zu  nehmen,  so  mochte  ich  von 
vornherein  meiner  vollen  juristischen  Oberzeugung  dahin  Aus- 
druck  geben,  daB  das  Urteil  des  4,  Strafsenats  rechtlich  un- 
haltbar  ist,  namlich  vom  gelauterten  Standpunkt  einer  straf- 
rechtlichen  Entwicklung  aus,  welche  die  Behandlung  des  Lan- 
desverratsbegriffs  und  der  verwandten  Begriffe  des  Verrats 
militarischer  Geheimnisse  in  Wissenschaft  und  Rechtsprechung 

736 


grade  in  der  letztverflossenen  Zeit  bedeutsam  erfahren  hat, 
vom  4.  Strafsenat  aber  in  dem  vorliegenden  Urtcil  nicht  be- 
achtet  ist. 

Ich  mochte  ankniipfen  an  die  meines  Wissens  jiingste 
monographische  Behandlung  der  bezeichneten  strafrechtlichen 
Themen,  die  urn  ihrer  Betrachtungsweise  allein  vom  Stand- 
punkt  der  reichsgerichtlichen  Rechtsprechung  aus  hier  be- 
sondere  Beachtung  verdient,  die  Arbeit  des  jenenser  Pro- 
fessors Hellmuth  von  Weber  liber  „Die  Verbrechen  gegen  den 
Staat  in  der  Rechtsprechung  des  Reichsgerichts",  Reichs- 
gerichtspraxis  V.  Band  (1929)  Seite  173  if.  Wie  schon  die 
Oberschrift  zu  erkermen  gibt,  gliedert  von  Weber  auch  den 
Verrat  miiitarischer  Geheimnisse  hier  mit  Recht  systematisch 
unter  die  MStaatsverbrechen"  ein.  Geschtitztes  Rechtsgut  ist 
namlich  hier,  ebenso  wie  beim  Landesverrat,  das  StaatswohL 
Ist  dem  aber  so,  dann  muB  auch  eine  richtige  Interpretation 
des  Tatbestandes  des  Geheimverrats  mit  von  Weber  schlieBen: 
Mit  der  Forderung  des  Staatswohls  entfallt  die  Geheimhal- 
tungsnorm.  Solche  Auslegung  wird  allein  der  durchaus  eigen- 
artigen  Deliktsnatur  des  Verrats  miiitarischer  Geheimnisse  g,e- 
recht.  Geheimnisverrat  ist  ein  eminent  politisches  Verbrechen. 
Die  inkriminierten  Verhaltungsweisen  gehoren  hier  durchweg 
politischen  Gebieten  an.  Bei  der  Politik  aber  liegen  Mittel 
und  Zweck  so  nahe  beieinander,  es  gibt  in  der  Politik  so  selten 
die  reine  Losung  des  ausschlieBlichen  Nutzens  fur  das  eigne 
Vaterland,  vielmehr  ist  das  Do  ut  des-Prinzip  ein  so  anerkannt 
notwendiges  Mittel  im  politischen  Leben,  daB  grade  im  Bereich 
politischer  Delikte  fur  die  strafrechtliche  Qualifikation  sich  die 
Niitzlichikeit  oder  Schadlichkeit  eines  Verhaltens  dantach  be- 
stimmt,  ob  seine  giinstigen  oder  ungtinstigen  Wirkungen  iiber- 
wiegen.  Ich  verweise  hier  auf  die  Ausfiihrungen  von  Webers 
a.  a.  0.  Seite  199  in  dies  em  Sinne.  Mit  vollem  Recht  be- 
kampft  von  Weber  hier  Versuche  der  Praxis,  Verurteilungen 
wegen  Geheimnisverrats  durch  Berufung  auf  zweifellos  schad- 
liche  Teirwirkungen  zu  begriinden. 

Die  Richtigkeit  der  mehr  als  zweifelhaften  Ausfiihrungen 
des  Urteils  zum  Tatbestandsmerkmal  der  „Nachrichten,  deren 
Geheimhaltung  im  Interesse  der  Landesverteidigung  erfordter- 
lich  ist",  kamn  deshalb  ganz  dahingestellt  bleiben.  Untersteilt 
man  selbst,  daB  im  Interesse  d)er  Landesverteidigung  g'eheim- 
zuhaltende  Nachrichten  preisgegeben  sind,  so  ist  nach  dem 
Dargelegten,  um  Radbruch  zu  zitieren,  immer  noch  ,,zu  er- 
wagen,  ob  nicht  voriibergehende  Benachteiligung  einziges  Mit- 
tel zum  niitzlichen  Enderfolg,  ob  nicht  ungiinstige  Teilwirkung 
durch  giinstige  Gesamtwirkung  weit  iibertroffen  wird,  ob  nicht 
die  taktische  EinbuBe  strategischen  Gewinn  bedeutet;  com- 
pensate lucri  cum  damno  nennen  d'as  die  -  Lehrer  des  Zivil- 
rechts.  Ob  trotz  der  Passivposten,  ob  nicht  grade  wegen  der 
Passivposten  zuletzt  ein  Aktivsaldo  bleibt,  darauf  kommt  es 
an".  (Radbruch  bei  Brammer,  „Der  ProzeB  des  Reichsprasi- 
denten"  [1925]  S.  169.) 

Ich  hatte  bereits  in  meinem  Plaidoyer  die  von  mir 
hier  angedeuteten  Gedankengange,  insbesondere  das  Er- 
fordernis  sorgfaltiger  Abwagungen  der  Wirkungen  des  inkrimi- 

3  737 


nierten  Verhaltens,  unter  Anfuhrung  der  genannten,  sowie 
weiterer  Autoren  ausfiihrlich  cntwickclt  und  zugleich  versucht, 
sic  noch  zu  vertiefen  durch  ihrc  Eingliederung  in  den  umfas- 
senden  Zusammenhang  des  Problemkreises  der  neuerdings  viel 
diskutierten  materiellen  Rechtswidrigkeit.  Von  dieser  bemerkt 
Heinitz,  f,Materielle  Rechtswidrigkeit"  (1926)  S.  46,  treffend; 
„Hamdeln  im  Later  esse  und  zum  Wohl  dessen,  der  durch  die 
Norm  geschiitzt  werden  soil,  ist  nicht  rechtswidrig."  In  der 
neusten  (18.)  Auflage  hat  Frank  Ilia,  E.  Vorbem.  zum  IV.  Ab- 
schnitt  S.  144,  das  Fazit  dieser  Anschauung  dahin  gezogen: 
„Wer  formell  einem  Verbot  zuwiderhandelt,  durch  das  be- 
stiramte  Interessen  geschiitzt  werden  sollen,  hand^elt  ihm  sach- 
lich  nicht  zuwidler,  wenn  seine  Handlung  eben  diesem  Inter- 
esse  dlenen  soil  und  dient."  Denselben  Gedanken  hat  Graf 
Dohna  in  DIZ.  1925  S.  146  ff.  dahin  formuliert:  „Eine  Handlung, 
deren  Zweck  es  ist,  ein  Rechtsgut  zu  erhalten  und  zu  fordern, 
kann  nicht  zugleich  der^enigen  Norm  widerstreiten,  die  dieses 
Rechtsgut  zu  schiitzen  berufen  ist." 

Der  auBere  AnlaB,  an  den  die  eben  zitierten  Worte  Graf 
Dohnas  ebenso  wie  iibrigens  auch  die  oben  zitierten  Satze 
Radbruchs  ankniipfen,  war  jenes  Urteil  des  magdeburger 
Schoffengerichts  in  dem  BeleidigungsprozeB  des  verstorbenen 
Reichsprasidenten  Ebert  gegen  den  Schriftsteller  Rothard,  das 
zur  Inzidentfeststellung  eines  von  Ebert  begangenen  Landes- 
verrats  fuhrte.  Den  Tatbestand  des  Verbrechens  hat  das 
Landgericht  diarin  erblickt,  daB  Ebert  in  einem  Munitions- 
arbeiterstreik,  der,  wenn  auch  nur  fur  einige  Tage  und  nur 
speziell  die  Riistungsindustrie,  lahmlegte,  als  Mitleiter  auf- 
getreten  war.  Unzweifelhaft  geschah  dies  mit  dem  Ziele,,  dem 
Streik  so  bald  wie  moglich  ein  Ende  zu  bereiten.  Tatsachlich 
brach  dter  Streik  auch  nach  wenigen  Tagen  zusammen.  Kaum 
etwas  andres  hat  die  Dogmatik  der  politischen  Verbrechen  — 
leider  zunachst  freilich  auch  nur  die  Dogimatik  —  mehr  be- 
fruchtet  als  die  Diskussion  dieses,  grade  in  Juristenkreisen  mit 
scharfstem  Protest  aufgenommenen  magdeburger  Fehlurteils. 

An  dieser  Diskussion  habe  auch  ich  mich  seinerzeit  in 
einem  wichtigen  Punkte  beteiiigt,  auf  den  ich  im  vorliegenden 
Zusammenhang  noch  kurz  eingehen  muB. 

Gegeniiber  der  Auffassung  des  magdeburger  Gerichts,  die 
Reweggriimde  Eberts  in  seinem  Verhalten  im  Munitionsarbei- 
terstreik,  die  mit  seiner  Haltung  in  Wahrheit  verfolgten  Ab- 
sichten,  den  Streik  (1abzudrosseln",  seien  nur  von  politisch- 
historischem  Interesse,  fiir  die  strafrechtliche  Beurteilung  da- 
gegen  ohne  Bedeutung,  habe  ich  schon  damals  in  einem  den 
„Lehren  des  magdeburger  Beleidigungsprozesses"  gewidmeten 
Aufsatz  in  der  ,Vossischen  Zeitung'  die  —  iibrigens  an  gleicher 
Stelle  von  Kahl  vertretene  —  Meinting  geauBert,  dafi  Landes- 
verrat,  wenn  auch  nicht  formell,  so  doch  materiell,  ein  Ab- 
sichtsdelikt  sei.  Im  Sinne  derselben  Rfcchtsauffassung  habe 
ich  auch  im  vorliegenden  Falle  fiir  den  Verrat  militarischer 
Geheimnisse  plaidiert.  Daraus  folgt  aber  grade  die  rechtliche 
Unhaltfoarkeit  des  vom  4.  Strafsenat  hier  wieder  eingenomme- 
nen  Standpunkts,  der  die  vom  Gericht  durchaus  nicht  in  Zwei- 
fel    gezogenen  weltanschaulich    bedingten    idealen  Ziele    Carl 

738 


von  Ossietzkys  tibergehen  zu  konnen  gjlaubt.  Ich  habe  ferhcr 
auch  in  meinem  Piaidoyer  —  wie  tibrigens  auch  schon  in  dem 
erwahnten  Zeitungsartikel  —  mich  gegen  die  Verfehltheit  die* 
ser  Psychotomic  gewandt,  die  bei  einem  inhaltlich  gedachten 
und  einheitlich  gewollten  Handeln  da  cine  Cacsur  machen  will, 
wo  d'er  vollendete  Deliktstatbestand  vorliegt,  ungeachtet,  ob 
das  weitere  Handieln  des  Taters  den  zunachst  von  ihm  erzielten 
Erfolg  al's  nicht  gewollt  erweist,  weil  eben  das  von  vornberein 
gewollte  Weiterhand'eln  den  primaren  Erfolg  verhindern  sollte. 

Der  4,  Strafsenat  des  Reichsgerichts  hat  sich  die  Begriin- 
dting  seines  Urteils  nicht  zu  schwer  gemacht  und  es 
nicht  fur  notig  befunden,  sich  mit  den  schlieBlich  auch  von 
namhaften  Vertretern  der  Straf  rechtswissenschaft  verfochtenen 
alligemeinen  Gedlankengangeo  meines  Plaidoyers,  wic  ich  sie  in 
kurzer  Zusammenfassung  dargelegt  habe,  auch  nur  auseinander- 
zusetzen,  sei  es  in  noch  so  ablehmendem  Sinne,  Diese  Tat- 
sache  wtirde  freilich  fur  die  sachliche  Wiirdigung  des  Urteils 
an  sich  nicht  viel  besagen.  Aus  ihr  erhellte  lediglich,  daB  das 
Reichsgericht,  wie  auch  sonst  zuweilen,  wieder  einmal  zur  — 
hier  uberdies  selten  einmiitigen  —  Ansicht  der  Wissenschaft 
in  bewuftten  Gegensatz  tritt. 

Was  mich  recht  eigentlich  zu  diesen  Zeilen  an  Sie, 
sehr  verehrter  Herr  Justizminister,  getrieben  hat,  ist 
der  Urn  stand,  daB  das  Reichsgericht  mit  seinem  Urteil 
im  „WeltbuhnenprozeB'\  wie  ich  heute  riachzuweisen  in 
der  Lagd  bin,  sich  in  Widerspruch  gesetzt  hat  nicht 
etwa  nur  mit  der  .  einhelligen  Theorie,  sondern  vor 
allem  auch  mit  der  eignen  Praxis,  Es  liegt  mir  ein  am 
20.  Oktober  1931  ergangenes,  noch  unveroffentlichtes,  dem- 
nachst'  mit  einer  Bemerkung  von  mir  in  der  ,Juristisphen 
Wochenischrift'  publiziertes  Urteil  des  1,  Strafsenats  des 
Reichsgerichts  vor,  d'essen  Begriindung  in  der  Sache  genau  diem 
von  mir  zum  objektiven  wie  subjektiven  Tatbestantd  des  Lan- 
desverrats  bzw.  des  Verrats  militarischer  Geheimnisse  Ausge- 
fuhrten  entspricht.  Bei  Wiirdigung  des  objektiven  Tatbestan- 
des  wird  unier  zutreffender  Berufung  iibrigens  auf  das  be- 
riihmt  gewordene  Urteil  des  vereinigten  zweiten  und  dritten 
Strafsenats  beim  Reichsgericht  vom  5,  April  1915  gegen  den 
lubecker  GroBkaufmann  Possehl,  ausdriicklich  verlangt,  „das 
gesamte  Verhalten  auf  seinen  Beeintrachtigungsgehalt,  also 
auch  daraufhin  zu  priifen,  ob  nicht  etwa  eine  compensatio  lucri 
cum  damno  vorliegt".  Aber  auch  bei  der  Priifung  der  sub- 
jektiven Seite  „durfen  wiederum  nicht  einzelne  Handlungen 
aus  dem  Zusammenhang  gerissen  und  fur  sich  betrachtet,  es 
muB  vieimehr  das  Gesamtverhalten  ins  Auge  gefaBt  werden. 
Ergibt  sich,  daB  das  Gesamtverhalten  durch  das  Ziel  beherrscht 
wird,  von  dem  Deutschen  Reich  groBere  Nachteile  abzuwen- 
den  und  nur  zu  diesem  Zweck  die  geringer  benachteiligenden 
Handlungen  in  Kauf  zu  nshmen,  dann  fehlt  eben  in  bezug  auf 
das  Gesamtverhalten,  von  dem  jene  tatbestandmaBigen  Einzel- 
handlungen  nur  untrennbare  Teile  sind,  das  BewuBtsein  und 
der  Wille  der  Benachteiligung, 

Schon  diese  wenigen  Zitate  beweisen  eine  mir  selbst 
auBerordentlich  frappante  Ubereinstimmung  bis  in  den  Wort- 

739 


laut  zwischen  den  Urteilsgriinden  des  1,  Strafsenats  und  den 
vora  4.  Strafsenat  vollig  ubergangenen  Ausfuhrungen  meines 
Plaidoyers.  Diese  Ubereinstiinmung  wird  in  gradezu  ver- 
bliif fender  Weise  abgerundet  durch  den  auch  den  SchluB 
meines  Plaidoyers  bildenden  abschlieBenden  Hinweis  des  Ur- 
teils  des  1.  Strafsenats  auf  die  normative  Schuldtheorie,  wie 
man  ihn  in  dieser  Ausdrticklichkeit  in  Entscheidungen  des 
Reichsgerichts  nur  ganz  selten  findet.  Wie  kaum  ein  andres 
Delikt  bildet  grade  der  Tatbestand  des  Geheimnisverrats  in 
seiner  immateriellen  Natur  eine  Ansatzmoglichkeit,  die  norma- 
tive Schuldauffassung  fruchtbar  zu  machen.  Denh  das  Wesen 
dieser  Schuldauffassung  ist  darin  zu  erblicken,  daB  sie  ,,fur  die 
Vorwerfbarkeit  einer  Handlung  neb  en  dem  soigenannten 
psychologischen  Moment  des  Vorsatzes  das  normative  Moment 
der  Pflichtwidrigkeit  als  Schuldelement  fordert".  DaB  aber 
eine  solche  Sehuldlehre  in  Anbetracht  der  vom  Gericht  ja  an- 
erkannten  ideellen  Gesinnung  Carl  von  Ossietzkys  ebenfalls 
zur  Verneinung  seiner  Schuld  kommen  muB,  liegt  auf  der 
Hand. 

JBei  dem  nur  geringen  zeit lichen  Abstand,  in  welchem  auf 
das  eben  von  mir  besprochene  Urteil  des  1.  Strafsenats  das 
Urteil  des  4.  Strafsenats  im  „WeltbuhnenprozeB"  folgte,  ist  es 
fiir  mich,  wie  fur  jeden,  dier  die  Verhaltnisse  beim  Reichs- 
gericht  und  den  Umfang  des  dortigen  Geschaftsbetriebs  eini- 
germaBen  kennt,  ohne  weiteres  klar,  daB  die  Urteilsgninde  des 
1.  Strafsenats  dem  4.  Strafsenat  beim  ErlaB  des  Urteils  gegen 
Carl  von  Ossietzky  noch  nicht  bekannt  waren. 

Ich  stehe  nicht  an,  zusammenfassend  zu  erklaren,  diafi 
andernfalLs  eine  Verurteilung  Carl1  von  Ossietzkys  nach  meiner 
Ansicht  niemalsj  erfolgt  ware. 

Mit  vorziiglicher  Hochachtung 
ergebenst 

gez.  Prof,  Br.  Alsberg,  Bechtsanwalt 
*  *  * 

Auf  die  Obersendung  des  von  Rechtsanwalt  Doktor  Apfel 
an  den  Reichsprasidenten  gerichteten  Gnadengesuches  schrieb 
Justizrat  Mamroth: 

Breslau,  2.  2.  32. 

Ich  darike  verbindlichst  fiir  frdl,  Zusendung  eines  Abdrucks 
Ihres  Gnadengesuchs. 

Ich  habe,  man  darf  wohl  sagen,  wie  „alle  Welt'1  im  In-  und 
Ausland  und  von  Rechts  bis  Links  zur  Zeit  von  dem  Urteil  des 
Reichsgerichts  vom  23.  11.  31  kopfschuttelnd  Kenntnis  genom- 
men.  Ich  bin  mir  aber  a  us  47jahriger  Vert  eidiger  erf  ahrung  be- 
wuBt,  daB  man  bei  kritischer  Wiirdigung  richterlicher  Urteite, 
deren  Grundlagen  man  nur;  aus  Zeitungsberichten  kennt,  sehr 
vorsichtig  sein  muB,  zumal  wenn,  wie  hier,  das  Gericht  mit  so 
auBerordentlichem  Eifer  darauf  bedacht  gewesen  ist,  die  offent- 
liche  Meinung  auszuschalten  und  eine,  weite  Kreise  berechtig- 
ter  Weise  lebhaft  interessierende,  Streitsache  gewissermaBen 
zu  einem  Geheimakt  der  Justiz  zu  machen. 

Nachdem  ich  nun  aber  durch  die  Ausfiihrungen  Ihres  Gna- 
dengesuchs ein,  trotz  der  Abdrosselung  durch  das  ttSchweige^ 

740 


gefoot"  fur  den  Juristcn  klarcs  und  aktenmaBig  zuverlassiges 
Bild  von  der  Sach-  und  Rechtslage  gewinnen  kontnte,  ist  an 
SteLlc  meines  Kopfschuttelns  auBerstes  Befremden  getreten, 
und  ich  stchc  nicht  an,  das  Urteil  nicht  nur  mit  dem  Reichs- 
tagsprasidenten  Lobe  als  ,fvollkommen  unverstandlich",  sondern 
als  direkt  unbegreiflich  zu  bezeichnen. 

Es  sind  wohl  kaum  je  einem  hochsten  Gerichtshof  von 
hoher  Warte  so  erschiitternd  bittere  Worte  gesagt  wordcn,  wie 
dies  der  verstorbene  hamburger  Strafrechtslehrer  Pofessor  Dr. 
Liepmann  in  seinem,  im  Jahre  1928  im  Drei-Masken-Verlag  er- 
schienenen  ,,Rechtsgutachten"  getan  hat.  Wer  die  tiberragende 
Personlichkeit  Liepmanns  und  die  vornehme  und  mafivolle  Art 
seiner  wissenschaftlichen  Polemik  gekannt  hat,  der  glaubt  ihm 
die  Versicherung  seiner  Vorrede  aufs  Wort,  dafi  es  ihm  eine 
unendlich  schwere  Aufgabe  erschienen  ist,  die  Rechtsprechung 
des  Reichsgerichts  in  politischen  Delikten  als  ,,Irrlehren,  in  die 
es  sich  verrannt  hat"  zu  kennzeichnen,  dafi  er  sich  aber  zu  dem 
Satz  bekennen  muB: 

Die  handgreifliche  Riicksicht  auf  das  Ansehen  unscrer 
Justiz,  die  menschlich  zu  r  es  pek  tier  end  e  Scheu  vor  Angriffen 
gegen  die  Welt  der  eigenen  Fachgenossen  mufi  zuriicktreten, 
sobald  sich  zeigt,  daB  diese  Rechtsprechung  fast  unfaBbare, 
jedenfalls  aber  untragbare  Wege  der  Befangenheit  und  Ver- 
irrung  eingeschlagen  hat. 

Wenn  Liepmann  das  Urteil  Ossietzky  erlebt  hatte,  so 
hatte  er  sicherlich  darin  eine  schmerzliche  Bestatigung  fiir  die 
Berechtigung  seiner  Klagen  erblickt. 

Ich  wunsche  Ihnen,  sehr  verehrter  Herr  Kollege,  von  Her- 
zen  Erfolg  fur  Ihr  jetziges  Vorgehen,  das  einen  ,,Kampf  urns 
Recht"  bedeutet,  auch  wenn  es  als  ultima  ratio  nun  die  Gna- 
deninstanz  anruft. 

Mit  ergebenstem  GruB  und  vorzuglicher  Hochachtung 

*     Ihr 

gee.  Dr.  Mamroth 

*  *  * 

Thomas  Mann  antwortete: 

Munchen,  10.  Januar  1932. 

Ich  weiB  Ihnen  auf  rich  tig  Dank  fiir  die  Mitteilung  Ihres 
Gesuchs  an  den  Reichsprasidenten,  das  so  klar  und  eindringlich 
abgefaBt  ist,  bei  aller  Leidenschaftlichkeit  so  besonmen,  daB 
man  kaum  an  der  Wirkung  zweifeln  kann,  Der  Fall  Ossietzky 
ist  auch  mir  sehr  ruahe  gegangen,  und  ich  habe  g;radezu  auf 
eine  s chick liche  Gelegenheit  gewartet,  dem  tief  uiiheimlichen 
Gefuhl  Ausdruckj  zu  geben,  das  das  Urteil  dies  vierten  Straf- 
senats  des  Reichsgerichts  in  mir  erweckt  hat.  Unnotig,  auch 
meinerseits  auszusprechen,  warum.  Was  Sie  selbst  in  Ihrem 
Expose  sagen  und  was  Sie  tan  Erganzungen  aus  der  deutschen 
und  auslandischen  Presse  hinzufii-gen,  enthalt  all  die  schweren 
Bedenken,  die  sich  in  jedem  dem  Rechtsgedanken  anhang- 
lichen  Menschen  gegen  das  Urteil  erheben.  Es  ist  eine  furcht- 
bare  und  demutigende  Vorstellung,  in  einem  Lande  zu  leben, 
wo  iiber  Erscheinuagen  der  Unordnung  gewaltsam  mit  Hilfe 
der  Justiz  Stillschweigen  gebreitet  werden  soil,  und  ich  meine, 

741 


man  sollte  die  Mundtotmachung  der  offentlichen  Kritik  der 
fascistischen  Diktatur  vorbehalten,  untcr  der  dann,  was  in 
einem  freien  Volk  of  fen  ausgesprochen  wird,  heimlich  und 
£eige  von  Mund  zu  Mund  geht,  Es  ist  nicht  lantge  her,  dafi  der 
Reichsprasident  sioh  zum  Dolmetscher  des  allgemeinen  Ge- 
ftihls  machte,  indem  er  die  Gerechtigkeit  mit  allem  Nachdruck 
fur  die  Gmndlage  des  Staates  und  alien  offentlichen  Lebens 
erklarte.  Das  Urteii1  des  Reichsgerichts  ist  aber,  so  muB  man 
fiirchten,  kein  Rechtsspruch  im,  strengen  und  reinen  Sinn  des 
Wortes,  sondern  ein  politischer  Akt,  der  die  Abneigung  g<e- 
wisser  Machte  und'  Interessen  gegen  jede  offentliche  Kontrolle 
zu  deckeni  bestimmt  ist.  Ich  teile  vollkommen  Ihre  Oberzeu- 
gung,  daB  dem  hoheren  Interesse  Deutschlands  und  auch  seiner 
Stellung  auf  der  bevorstehenden  Abrustungskonferenz  mit  die- 
sem  Urteii  keineswegs  gedient  war,  denn  wie  leicht  es  vom 
Auslande  gegen  die  d'eutsche  Vertrauenswiirdigk^it  ausnutz- 
bar  ist,  zeigen  die  fremden  Pressestimmen,  auf  die  Sie  hinwei- 
sen.  Es  ware  fur  den  Anhanger  kritischer  Freiheit  und  fur  den 
Vaterlandsfreund  (diese  beiden  Eigenschaften  konnen  sich  sehr 
wohl  in  einer  Person  vereinigen)  eine  groBe  seelische  Erleichte- 
rung,  wenn  ein  Spruch,  der  so  vielen  ernsten  Beurteilern  als 
Fehlspruch  gilt,  von  jener  S telle,  die  uns  alien  der  Inbegriff  der 
Loyalitat  ist,  aufgehoben  werden  wiirde.  ^*  ** 

*  *  * 

Ossietzky  geht  ins  GefSngnis  von  Alfred  Polgar 

T\  ienstag  vormittags  haben  wir  Abschied  genommen  von 
unserm  Freunde  Ossietzky,  der  nun  achtzehn  Monate  Zeit 
hat,  fern  von  der  tWeltbuhne'  (wo  er  niemals  welohe  hatte) 
iiber  verschiedenes  nachzuidenken,  zum  Beispiel  iiber  die 
Schrullen  der  Ethymologie,  die  fest  behauptet,  Justiz  komme 
von  justitia, 

Achtzehn  Monate.  Ein  Sommcr,  ein  Herbst,  ein  Winter, 
ein  Fruhjahr,  noch  ein  Sommer  und  noch  ein  Herbst.  Andert- 
halb  Jahre  Gefangnis.  Dafiir  konnte  man  sich,  auBer  auf  dem 
Gebiet  der  freien  MeinungsauBerung,  nach  dem  Tarif  des  deut- 
schen  Strafgesetzbuches  Verschiedenes  leisten.  Zum  Beispiel: 
die  Schandung  von  ein  paar  minder jahrigen  MMdchen;  oder 
mehrere  Einbruchsdiebstahle;  oder  die  Unterschlagung  groBerer 
Summea  Und  ebenfalls  anderthalb  Jahre  also  muB,  wenn 
nicht  Gnade  vor  Unrecht  ergeht,  Ossietzky,  dieser  bis  in  den 
letzten  Seelenwinkel  integre  Mann,  Pein  und  Unehre  des  Ge- 
fangnisses  dulden,  fiir  ein  Delikt,  das  selbst  nach  der  Meinung 
unbedingter  Gegner  des  Verurteilten,  keines  war,  und  das  er, 
wenn  es  eines  ware,  aus  reiner  Oberzeugung  und  achtbarem 
Motiven  begangen  hatle.  Sicher  wird  ihm  das  Bewufitsein  un- 
tadeligen  Handelns  eine  Hilfe  ^ein  in  den  langen  Tagen  langer 
Haft;  aber  es  scheint  fraglich,  ob  einem  Strafgefangenen  die 
Vorstellting,  er  siihne  fiir  irgendwelche  Schuld,  nicht  leichter 
verdaulich  ist,  als  die,  er  suhne  fiir  etwas,  das  er  nicht  began- 
gen hat.  Im  Kerker  mag  vielleicht  das  schlechte  Gewissen  ein 
sanf teres  Ruhekissen  sein  als  das  gute.  Es  kommt  da  wohl 
ganz  auf  die  geistige  Konstitution  und  das  Temperament  dessen 
an,  dens  trifft. 

742 


Schwer,  einen  Menschcn,  dcm  allc  Freundschaft  von  der 
ihm  aufgeladenen  Not  nichts  abnehmen  kann,  solcher  Freund- 
schaft zu  versichern,  und  ihm  zu  sagen,  man  schmccke  das 
Bittre,  das  er  allein  durchkosten  muB,  mit.  Es  ist  schwer,  weil 
es  so  leicht  ist.  Den  engeren  Kollegen,  die  Dienstag  vormittags 
Ossietzky  von  seiner  Arbeitsstatte  zu  dem  Ausflug  nach  Tegel 
abholten,  half  er  aus  der  Verlegenheit,  Er  hatte  es  durch- 
aus  nicht  notig,  ,,aufgerichtet"  zu  werden,  er  hielt  sich  so  grade 
wie  in  der  ganzen  Zeit  seit  dem  ungeheuerlichen  Urteil,  die 
ihm  an  Plagen,  Widrigkeiten  und  enttauschten  Hoffnungen 
nichts  schenkte.  Wie  er  in  diesen  letzten,  durch  die  Spannung 
der  UngewiBheit  f iir  ihn  wohl  kaum  ertraglichen,  Wochen  nicht 
einen  Augenblick  schlapp  machte,  die  ganze  Angelegenheit 
mehr  unter  dem  Gesichtspunkt  ihrer  politischen  und  morali- 
schen  Auswirkungen  sah,  als  unter  dem  des  Obels,  das  sie  fur 
ihn  selbst  bedeutete,  wie  er  dieses  Obel  weder  grofi  beklagte, 
noch,  um  gute  Haltung  zu  wahren,  bagatellisierte,  all'en  Ver- 
fuhrungen,  iiber  die  Grenze  zu  gehen,  ein  gelassenes  Nein  ent- 
gegensetzte,  mit  dem  gleichen  stillen  Fanatismus  wie  immer 
bei  seiner  Arbeit  blieb,  die  auch  unterm  Druck  der  uniabwiend- 
bar  gewissen  achtzehn  Monate  in  keiner  Zeile  die  Full'e  der 
inneren  und  auBeren  Ablenkungen  von  ihr  verriet,  aber  mit 
vielen  Zeilen  Ossietzkys  Ruhm  als  glanzender  politischer  Kri- 
tiker  und  Polemiker  mehrte . . .  das  war  schon  bewunderns- 
wert  an  diesem  Mann  vont  alles  eher  als  robuster  Nervenver- 
fassung.  Beim  Abschied  haben  weniger  die  Freunde  ihm,  als  er 
ihnen  die  Sache  leicht  gemacht.  Fast  durfte  man  Ossietzky 
glauben,  daB  erf  zumindest  fiir  die  erste  Zeit,  an  die  Ruhe  und 
Einsamkeit  der  Zelle  nicht  mit  Unlust  denke.  Und  er,  wenn 
irgend  einer,  konnte  es  wohl  auch  fertig  bringen,  aus  dem  Zu- 
stand  des  Gefanigenseins  nicht  nur  das  Qualvolle,  sondern  auch 
das  erlebnishaft-Besondere  herauszuspiiren,  gewissermaBen  als 
kleinen  Gewinn  des  Freiheitsverlustes.  (So  trostet  sich  der 
Mensch  iiber  das  Ungliick  des  Nebenmensohen.) 

Obschon  ich  es  gern  tate,  kann  ich  doch  nicht  sagen,  daB 
Ossietzky,  als  er  an  jenem  Vormittag  das  Zimmer  der  ,Welt- 
buhne'  verliefi,  seinem  Arbeitstisch  einen  wehmiitigen  Blick 
zugeworfen  hat.  Eher  ihm  der  Tisch,  an  dem  er  fiinf  Jahre 
lang  das  schriftstellerische  Hand-  und  Geistwerk,  als  Meister 
der  Profession,  iibte.  Einen  besseren  Herrn  wird  das  Mobel 
nicht  so  bald  finden. 

Tegel  ist  ein  freundlicher  Vorort  Berlins.  Sogar  das  Ge- 
fangnis  macht,  im  Mittagssonnenschein  des  wunderschonen 
Monats  Mai,  und  besonders,  wenn  man  beim  Tor  wieder  um- 
kehren  und  nach  Hause  gehen  darf,  keinen  finsteren  Eindruck. 
Sehr  viele  Kollegen  waren  da,  um  Ossietzky  Lebewohl  zu  sa- 
gen, auch  viele  Menschen,  die  ihn  gar  nicht  kannten,  aber  ge- 
kommen  waren,  um  ihre  Sympathie  fiir  den  Verurteilten  und 
ihre  Oberzeugung  zu  bekunden,  daB  er  dies  zu  unrecht  ware. 
Leute,  die  auf  der  StraBe  gingen.  oder  radelten,  machten  neu- 
gierig  halt  und  sahen  mit  Erstaunen  zu,  wie  alles  sich  drangte, 
einem  Ver^brecher  die  Hand  zu  schiitteln  und  einem  als  un- 
ehrenhaft  Gebrandmarkten  Achtung  zu  erweisen,  Es  wurde 
auch  eine  Ansprache   an  Ossietzky    gehalten    und  er  gab    als 

743 


Antwort  —  in  dcren  Tonfall  die  zuriickgestaute  Erregung  der 
letztcn  Tage  merkbar  wurdc  —  der  Hoffnung  Ausdruck,  das 
starkere  Echo  seines  Falls  werde  von  Nutzen  sein  fur  die  acht- 
eirihaLbtausend  politischen  Gefangenen,  die  in  deutscKen  Ge- 
fangnissen  fiir  ihre  Gesinnung  biiBen.  Hernach  sagten  ihm  alle 
und  er  alien  ,,Auf  Wiedersehen".  Dann  ging  er  den  ersten 
Schxitt  in  den  langen  Schacht  seiner  achtzehn  Monate,  dte 
andern  in  die  Stadt  zuriick,  zu  ihrer  Arbeit  oder  Arbeitslosig- 
keit,  und  ziindeten  sich  eine  Zigarette  an,  was  in  jenem  Augen- 
blick  der  Strafgefangene  Carl  von  Ossietzky  schon  nicht  mehr 
durfte. 

Leiter  des  Gefangnisses  Tegel  ist  Herr  Oberstrafanstalts- 
direktor  Brucks.  Tegel-Erfahrene  berichten,  der  Oberstraf- 
anstalt&direktor  lieBe  es  die  Menschenwiirde  seiner  Haftlinge 
nicht  entgelten,  daB  sie  ihre  biirgerliche  Wurde  verloren  hatten, 
und  fasse  sein  Amt  nicht  als  das  eines  irdischen  Racheengels 
auf#  Und  die  Rechtsanwalte,  die  dabei  waren,  sagen,  die  erste 
Begegiuung  des  Direktors  mit  Ossietzky  ware  so  verlaufen,  daJ3 
allet  die  um  das  Schicksal  des  ausgezeichneten  Schriftstellers 
bangen,  Vertrauen  haben  durf en,  es  werde  ihm  als  Strafge- 
fangenen  nicht  mehr  Unbill  wid«rfahren,  als  schon  in  der  Tat- 
sache,  Strafgefangener  zu  sein,  einbegriffen  ist, 

*     .      *  * 

C.  v.  0.  von  Edith  Jacobsohn 

A  nfangs  war  Carl  von  Ossietzky  fiir  mich  eine  mythische  Ge- 
^^  stalt,  d'enn  S.  J.  brachte  ihm  ein  mehr  als  phantastisches 
Vertrauen  entgegen.  Ossietzky  sandte  seine  Artikei  in  die 
Setzerei,  ohnc  daB  sie  den  Priifungsweg  iiber  unser  sommer- 
liches  Kampen  zu  machen  brauchten.  Ossietzky  war  der  Ein- 
zi,ge,  an  d'essen  Artikeln  der  fanatischste  aller  Redakteure  nichts 
zu  andern,  nichts  zu  korrigieren  hatte.  Ich  erwahne  sicher- 
lich  kein  Einzelschicksal,  wenn  ich  gestehe,  daB  mich  Ossietzky 
das  Abrakadabra  der  Politik  lieben  und  verstehen  gelehrt  hat. 
Nach  Ossietzkys  Artikeln,  nach  den  Gesprachen,  die  ich  mit 
meinem  Mann  iiber  ihn  fuhrte,  stellte  ich  mir  ihn  als  einen 
jener  weiBhaarigen,  ewig  jungen  alt  ere  n  Herr  en  vor,  in  denen 
sich  Weisheit  mit  Esprit,  sich  abgewogenes  Wesen  und  Un- 
gestiim  liebenswiirdig  paaren. 

Ossietzky  lernte  ich  erst  nach  dem  Tode  meines  Mannes 
kennen.  Es  war  notig  umzuschalten,  und  meine  Verehrung 
auf  einen  Mann  in  der  zweiten  Halfte  der  DreiBiger  zu  uber- 
tragen.  In  langen  und  tastenden  Gesprachen  erwogen  wir  die 
Frage,  daB  er  die  Leitung  des  Blattes  iibernahme,  Ich  war  von 
Anfang  am  zuversichtlich  und  um  Vieles  iiberzeugter  von  ihm 
als  er  von  sich.  Vor  fast  genau,  ftinf  Jahren  wurde  er  Leiter 
der  ,Weltbuhme\  Ich  habe  meine  Oberzeugung  nicht  einen  Tag 
zu  bereuen  gehabt.  Das  Geschick,  das  er  fiir  die  ,Weltbuhne't 
fiir  das  Blatt  S,  J,s  trug  und  tragt,  hat  mich  ihm  fester  verbunden, 
die  Art,  wie  er  es  tragt,  meine  Bewunderung  und  Dankbarkeit 
fiir  den  Mann  Ossietzky  gesteigert. 

Seit  dem  Abend  des  23.  November,  als  wir  den  ritter- 
lichen  Politiker  Carl  von  Ossietzky  mit  dem  ,,diffamierenden 
Urteil  gebrandmarkt"   vom   Bahnhof  abholten,  und  er  auf  der 

744 


schweigsamen  Riickfahrt  als  Antwort  auf  diesen  Raub  von  an* 
dcrthalb  Jahren  Licht  und  Freiheit  die  Marseillaise  vor  sich 
hinsummte,  hat  er  die  nervenzerrenden  sechs  Mo^ate  dies  War- 
tens  mit  einem  Kampflied  auf  den  Lippen  getragen.  Es  wird 
ihn  in  den  noch  schwereren  achtzehn  Monaten  der  Haft  nicht 
veriassen.  Ich,  die  ich  an  jenem  Abend  mit  ihm  durch  das 
dunkle  Berlin  fuhr,  werde  jene  Fahrt  nicht  vergessen.  Der 
Verlag  der  ,Weltbuhne'  wird  keinen  Weg  unbeschritten  lassen, 
der  Ossietzkys  Haft  kiirzen  oder  erieichtern  kann.  Qa  ira! 
Wir  alle  warten  auf  Sie,  Carl  von  Ossietzky. 

Die  Weltkrise  nimtnt  weiter  zu  von  Thomas  Tarn 

YT  on  den  Vereinigten  Staaten  kommt  die  Nachricht,   daB  das 

Reprasentantenhaus  beschlossen  habe,  den  Wert  des  Dol- 
lars auf  ungefahr  die  Halfte  herabzusetzen.  Wenn  dies  durch- 
gefiihrt  werden  wiirde,  so  heiBt  das,  daB  man  auf  gesetzlichem 
Wege  eine  Inflation  von.  hundert  Prozent  zu  organisieren  habe. 
Es  kann  als  sicher  gel  ten,  daB  der  BeschluB  weder  beim  Senat 
noch  bei  Hoover  Gegenliebe  finden  wird  und  daB  diese  In- 
flationsplane  wenigstens  vorlaufig  noch  nicht  Realitat  werden, 
Aber  sie  sind  charakteristisch  fur  die  wirtschaftliche  Panik- 
stimmung,  die  immer  weitere  Kreise,  vor  allem  die  amerika- 
nischen Mittelschichten  ergreift. 

Seit  dem  Borsenkrach  vom  September  1929  hatte  man 
ihnen  fast  alle  drei  Monate  versprochen),  da.Q  die  Krise  endlich 
liquidiert,  der  Silberstreifen  kommen  werde.  Und  immer 
wieder  hat  ten  sich  diese  Prophezeiungen  als  falsch  erwiesen. 
So  ist  es  kein  Zufall,  daB  d!ie  Landwirte  und  kleinern  In- 
dustriellen,  die  dem  amerikanischen  Reprasentantenhause  die 
meisten  Mitglieder  stellen,  hoffen,  durch  Wahrungsexperimente 
ejnen  Teil  dier  Krisenwirkungen  von  sich  abwalzen  zu  konnen. 
Denn  sie  haben  zu  einem  (iberwiegenden  Teil  Schulden  auf- 
genommen,  be  vor  die  Deflation  eingetreten  war,  und  werden 
jetzt  infolge  der  standigen  Hoherbewertung  des  Dollars  natiir- 
lich  immer  mehr  in  Mitleidenschaft  gezogen. 

Der  BeschluB  des  amerikanischen  Reprasentantenhauses 
ist  nicht  ganz  ohne  Wirkung  geblieben.  In  den  letzten  Tagen 
hat  eine  neue  Dollarflucht  eingesetzt.  Die  Goldexporte  der 
Vereinigten  Staaten  sind  sprungartig  von  zwei  Millionen  auf 
rund  38  Millionen  Dollar  gestiegen.  Und1  es  ist  sicher,  daB  die 
Unruhe  auf  den  Weltmarkten  dadurch  ruoch  vers t ark t  wurde. 

Der  tiefere  Hintergrund  ist,  daB  die  Krise  in  den  Vereinig- 
ten Staaten  sich  standig  weitef(  vertieft.  Die  Antwort  der 
amerikanischen  GroBindustrie  ist  ein  weiterer,  sehr  betracht- 
licher  Lohnabbau.  In  Amerika  gibt  es  ein  en  Index,  der  be- 
rechnet,  wie  sich  die  Lohnsummen  der  gesamten  Arbeiterschaft 
in  den  letzten  Jahren  gestaltet  haben.  Bei  diesem  Index  wird 
also  auch  die  Kurzarbeit  und  die  Arbeitslosigkeit  berucksich- 
tigt.  Danach  hatte  die  amerikanische  Arbeiterschaft  bereits 
Anfang  1932  die  Halfte  ihres  Bruttoeinkommens  gegeniiber 
1929  verloren.  Jetzt  sollen  wiederum  die  Gehalter  von  zwei- 
hunderttausend  Angestellten  und  Arbeitern  des  amerikanischen 
Stahl trusts  ab  Mitte  Mai  urn  fiinifzehn  Prozent  gekiirzt  werden; 

745 


wobei  besonders  zu  betonen  ist,  dafi  in  dicser  Branche  bcreits 
im  Oktaber  1931  eine  zehnprozentige  Lohn-  und  Gehaltsredu- 
zierung  erfolgt  wan  Es  ist  ganz  klar,  dafi  dieser  neue  Abbau 
die  Konsumindustrien  in  den  Vereinigten  Staaten  aufs  nach- 
kaltigste  beeinflussen  muB.  Denn  wie  im  Oktober  die  Lohn- 
kiirzung  beim  Stahltrust  das  Signal  fur  einen  Aligemeinabbau 
der  amerikanischen  Lohne  war,  so  wird  es  auch  diesmal  im 
Mai  sein.  Und  das  Gesamteinkommen  der  amerikanischen!  Ar- 
beiter  und  Angestellten  nimmt  ja  nicht  allein  durch  diesen  Ab- 
bau sondern  auch  durch  die  weitere  Steigerung  der  Arbeits- 
losigkeit  ab.  Auch  in  Deutschland  haben  wir  seit  der  Krise  von 
Jahr  zu  Janr  eine  steigende  Kurve  in  der  Arbeitslosigkeit. 
Trotzdem  trat  bei  uns  im  vergangenen  Jahr  und,  wenn  auch  in 
abgeschwachter  Weise,  in  diesem  Jahr  wahrend  der  Fruhlings- 
und  Sommermonate  eine  gewisse  Entlastung  auf  den  Arbeits- 
markten  ein.  Im  Gegensatz  dazu  betonte  der  Fuhrer  der  ameri- 
kanischen Gewerkschaften,  Green,  daB  noch  im  April  die  Zahl 
der  Arbeitslosen  in  den  Vereinigten  Staaten  urn  Hunderttau- 
sende  gestiegen  ist  —  ein  neuer  Beweis  daf  iirf  wie  weit  die 
amerikanische  Wirtschaft  von  jedem  konjunkturellen  Anstieg 
entfernt  ist. 

Die  Vertiefung  der  Wirtschaftskrise  hat  sich  nicht  auf  die 
Vereinigten  Staaten  beschrankt.  So  bildete  der  franzosische 
Kapitalismus  zunachst  innerhalb  der  Weltwirtschaftskrise 
eine  gewisse  Oase.  Sogar  nach  dem  amerikanischen  Borsen- 
krach  ging  dort  die  Kurve  der  Produktion  auf  warts,  und  noch 
im  Jahre  1930  konnte  Frankreich  auslandischen  Arbeitern  Be- 
schaftigung  geben.  Die  Produktion  lag  1930  um  etwa  dreiSig 
Prozent  uber  diem  Fried ensniveau.  Seit  1931  ist  sie  rucklaufig, 
und  das  Tempo  der  wirtschaftlichen  Verschlechterungi  hat  sich 
in  den  erst  en  Monaten  dieses  Jahres  noch  erheblich,  verscharft. 
Heute  steht  die  franzosische  Produktion  im  besten  Fallie  noch 
auf  dem  Vorkriegsniveau.  Wir  haben  in  Frankreich  ebenso 
wenig  wie  in  den  Vereinigten  Staaten  eine  genaue  Statistik 
tiber  die  Arbeitslosigkeit,  wir  haben  nur  Zahlen  tiber  die 
(inters tut zt en  Arbeitslosen.  Aber  die  Tendenz  der  Ent wick- 
lung  laBt  sich  b  ere  its  an  diesen  Zahlen  eindeutig  erkennen.  Ende 
1930  wurden  reichlich  1000,  Ende  1931  schon  150  000  und  im 
Friihling  dieses  Jahres  bereits  300000  Arbeitslose  unterstiitzt. 
Man  wird  nicht  zu  hoch  gehen,  wenn  man  die  wirkliche  Zahl 
der  franzosischen  Arbeitslosen  auf  eine  reichliche  Million 
schatzt,  wozu  noch  mehr  als  drei  Millionen  Kurzarbeiter  kom- 
men.  Die  Aufwartsentwicklung  der  franzosischen  Wirtschaft 
noch  im  Laufe  des  Jahres  1930  hatte  grade  fur  den  Welt- 
handel  wesentliche  Konsequenzen.  So  konnte  der  deutsche 
Kapitalismus  einen  Teil  des  Terrains,  das  er  in  der  Krise  auf 
den  Weltmarkten  verloren  hatte,  durch  den  gesteigerten  Ex- 
port nach  Frankreich  wie  der  ausgleichen.  Der  Riickgang  der 
framizosischen  Produktion,  die  Steigerung  der  Arbeit  slosen- 
ziff em  in  Frankreich  und  igleichzeitig  der  Riickgang  des  ge- 
samten  franzosischen  AuBenhandels  bringen  es  natiirlich  mit 
sich,  daB  die  Konkurrenizkampfe  auf  den  Weltmarkten  beim 
allgemeinen  Riickgang  des  Welthandels  rioch  verscharft 
werden, 
746 


Undi  in  derselben  Richtung  wirken  die  letzten  Etappen  der 
englischen  Politik.  Soeben  ist  im  eniglischen  Parlament  ein 
Budget  vorgelegt  worden,  mit  dem  England,  endgiiltig  aus  der 
Reihe  der  Freihandelslander  geschied'en  ist.  Das  Budget  wird 
mir  dadurch  balanciert,  d'aB  maw  mit  einer  Mehreinnahme  aus 
den  neuen  Zollen  in  Hohe  von  nicht  weniger  als  dreiunddreiBig 
Millionen  Pfund  Sterling  rechnet.  Das  heiBt  also:  Wirtschaft 
und  Staat  sehen  in  der  Schutzzollpolitik  keineswegs  eine  vor- 
iibergehende  Erscheinung.  Daher  muB  auch  Deutschland  damit 
rechnen,  daB  England  auf  lang'e  Zeit  hinaus  seinen  Schutzz oil- 
panzer  anbehalten  wird. 

Fur  die  deutsche  Wirtschaft  ist  dieser  Tatbestand  van  ganz 
auBerordentlicher  Bedeutung.  .Wir  wissen,  d'aB  die  verhaltnis- 
maBig  igiinstige  Gestaltung  des  deutschen  Aufienharadels  im 
Jahre  1931,  mit  einem  AushihriiberschuB  von  etwa  2,7  Milli- 
arden,  in  den  ersten  Monaten  1932  nicht  aufrechterhalten)  wer- 
den  konnte;  ein  wesentlicher  Faktor  fur  den  ibetrachtlichen 
Riickgang  war  die  Einschrankung  der  Handelsbeziehungen  mit 
England  und  einen  Teil  seiner  Dominions.  Die  Gestaltung 
des  englischen  Budgets  beweist,  daB  es  sich  hierbei  um  eine 
Veranderung  in  der  Struktur  der  weltwirtschaftlichen  Be- 
ziehungen  handelt,  die  nicht  voriibergehend  sein  wird.  Die 
Lage  des  deutschen  Kapitalismus  auf  den  internationalen 
Markten  wird  sich  also  wegen  der  Verscharfung  der  aUge-meinen 
Krise,  wegen  der  besonderen  MaBmahmeni  der  englischen  Politik 
fraglos  verschlechtern,  Man  nruB  diese  weitere  Zuspitzung  der 
wirtschaftlichen  Situation  ganz  eindeutig  erfassen,  wenn  man 
sich  ein  reales  Bild  von  den  politischen  Veranderungeni  machen 
will,  die  Deutschland  m  absehbarer  Zeit  erleben  wird. 

Sire,  geben  Sie  Gedankenfreiheit!  RudoiToiden 

In  der  amtlichen  Begriiindung  der  Notverordnung  vom,  5.  Mai 
1932,  die  dem  Proletarischen  Freidenkerverband1  den  Garaus 
machte,  steht  zu  lesen:  „Diese  MaBnahme  ist  auch  geboten  zur 
Wahrung  der  durch  die  Reichsverfassung  garantierten  Glau- 
hens-  und  Gewissensfreiheit."  Da  der  ibekannte,  einstmals  de- 
mokratische  Ministerialdirigent  im  Reichsinnenministerium,  der 
iiber  die  Materie  referierte,  ein  gtiter  Jurist  ist,  so  kamn  er  den 
Satz  nicht  ernst  gemeint  haben.  Aber  auch  die  Verhohnung, 
nicht  nur  die  Verleugnung  liberaler  Prinzipien,  weckt  heute  in 
Deutschland  kein  Echo,  mehr,  Ein  fruher  liberates  Blatt 
schrieb  zu  dem  Verbot;  ,,So  notwendig  es  war,  der  kommu- 
nistischen  Zersetzungspropaganda  Einhalt  zu  tun,  die  sich  in 
wilden  Exzessen  und  Beschimpfungen  gegen  alles  Religiose  er- 
ring . . ."  Wir  haben  andre  Sorgen.  Bei  der  allgemeinen  Ver- 
wiiderung  des  RechtsbewuBtseins  ist  es  nicht  merkwurdig,  daB 
auch  auf  diesem  Nebenkriegsschauplatz  die  Argumente  wild 
durcheinandergehen,  Haben  die  Freidenker  die  Glaubensfrei- 
heit  der  Kirchen  und  ihrer  Angehorigen  beeintrachtigt?  Der 
alerteste  Ministerialreferent  wird  est  mag  er  noch  so  eifervoll 
dem  neuen  Kurs  nachlaufen,  nicht  behaupten  wollen.  Sondern 
der  Schutz,    den    der    Artikel    135    der    armen    zerfledderten 

747 


Weimarer  Verf  assung  den.  Religiosen  und  ebenso  den  Irreligiosen 
gewahren  wollte,  richtet  sich  gegen  Eingriffe  dcs  Staats,  nicht 
gegen  die  Agitation  Andersdenkender, 

Schon  das  Allgemein«  Landrecht  sagte:  „Die  Begriffe  der 
Einwohner  des  Staats  von  Gott  und  gottlicheri  Dingen,  der 
Glaube  und'  der  innere  Gottesdienst  konnen  kein  Gegenstand 
von  Zwangsgesetzen  sein."  Gieses  Kommentar  zur  Reichsver- 
fassung  stellt  fest:  „Jeder  obrigkeitliche  Druck,  die  Ge-  und 
Verbote  des  Gewissens  zu  verleugnen,  ist  unzulassig."  Darum 
handelt  es  sich  und  um  nichts  andres;  Zwangsgesetze  und 
obrigkeitlicher  Druck  gegen  jederlei  Religionsubung  und  Be- 
tatigung  einer  Weltanschauung  sollten  ausgeschlossen  werden. 
Bismarcks  Kulturkampf  lag  noch  nicht  so  lange  zuriick,  daB 
zum  Beispiel  das  Zentrum  1919  nicht  hatte  wtinschen  sollen, 
die  katholische  Kirche  durch  das  Grundgesetz  vor  jeder  Ver- 
folgun£  durch  den  Staat  und  die  Behorden  zu  bewahren.  Ko- 
misch  kommt  uns  das  heute  vor,  wie?  Aber  damals  war  es 
ernst  und  kann  morgen  wieder  ernst  werden.  DaB  die  Natio- 
nalsozialisten  behaupten,  eigentlich  seien  sie  die  bessern 
Christen,  ist  auch  erst  von  gestern,  Vorgestern  neigten  sic 
noch*  dazu,  Wotan  zu  verehren,  und  waren  jiidischen  Mythen 
nicht  geneigt. 

.  Auch  die  Sozialdemokraten,  die  lange  genug  versichert 
hatten,  Religion  sei  Opium  furs  Volk,  sicherten  sich,  als  sie  mit  * 
dem  Zentrum  zusammen  das  Reich  neu  schufen.  Darum  heiBt 
es  in  Artikel  137:  „Den  Religionsges  ells  chaf  ten  werden  die 
Vereinigungen  gleichgestellt,  die  sich  die  gemeinschaftliche 
PHege  einer  Weltanschauung  zur  Aufgabe  machen."  Und  das 
ist  eine  Bestimmung,  die  in  der  alten  Verfassung  nicht  zu  fin- 
den  ist.  ,,Z.  B.  Monismus,  Atheismus,  Materialismus  und  ahn- 
liche  religionsfreie  oder  irreligiose  Weltanschauungen  von  Frei- 
denkern.  Fiir  solche  Biind«  igelten  dieselben  Vorschriften 
etcetera  wie  fiir  die  Religionsgesellschaften."  Sagt  der  Kom- 
mentar. Nimmt  man  es  genau,  so  hat  dJer  Verband  proletari- 
scher  Freidenker  in  Deutschland  dieselben  Rechte  wie  die  ka- 
tholische Kirche,     Da  staunste. 

Wir  nehmen  es  nicht  mehr  genau.  Denn  waren  die 
Broschiiren,  Zeitschriften  und  Bildtafeln  der  GottLosen  noch  so 
excessiv  gewesen,  so  reichte  der  Gotteslasterungsparagraph 
aus,  um  sie  zu  vernichten  und  ihre  Urheber  zu  bestrafen,  Nach- 
folger  aber  zuruckzuschrecken,  DaB  die  Gerichte  sich  dem 
Wunsch  der  Regierung,  die  antiklerikale  Propaganda  einzu- 
dammen,  etwa  entzogen  hatten,  kann  niemand  behaupten,  der 
vor  drei  Wochen  in  der  .Weltbiihne'  meinen  Artikel  uber  Po- 
gede  gelesen  hat,  Sechs  Monate  fiir  einen,  der  nur  einmal  an 
der  Freidenkerausstellung  voriibergegangen  war,  das  konnte, 
meine  ich,  geniigen. 

PaBt  also  der  Artikel'  48  schon  deshalb  nicht  auf  die  Not- 
verordnung  gegen  die  Freidenker,  weil  seiner  Anwendung  die 
Artikel  135  und  137  strikte  entgegenstehen,  so  schlagt  es  dem 
FaB>  dlen  Bo  den  aus,  wenn  man  sie  zur  Begriindung  heranzieht. 
Aber  das  FaB  ist  ohnehin  bodenlos. 

An  die  stolze  Tradition  des  Freidenkertums  darf  man  nicht 
denken  bei  dem  Verbot,  bei  der  Begriindung  und  bei  dem  be* 

748 


redten  Schweigen,  das  sic  empfangen  hat,  —  sail  einem  nicht 
die  Galle  hochkommen.  Aber  selbst  die  Tradition  der  verfas- 
sungsmaBigen  Diktatur,  des  Artikels  48,  wird  durch  die  neue 
Verordnung  verletzt.  Staatsnotwendigkeiten  sollen  mit  seiner 
Hilfe  durchgesetzt  werden.  Was  hier  geschah,  ist  eine  Zenisur- 
maBregel.  Und  wie  es  meistens  mit  der  Zensur,  geht,  ist  sie 
auch  diesmal  Geschmacks-  oder  Gefuhlszensur.  DaB  manche 
der  Kundgebungen  der  kommunistischen  Freid'enker  das  Ge- 
fuhl  der  Religiosen  zu  verletzen  geeignet  waren,  das  wird  wohl 
richtig  sein.  Aber  deshalb  das  hochste  Recht  des  Reichsprasi- 
denten  anwenden?  Das  widerspricht  der  Ehrfurcht,  die  diesem 
Recht  zukommt. 

SchlieBlich,  was  ist  Gutes  von  dem  gewalligen  Schlag 
gegen  eine  Maus  zu  erhoffen?  Die  katholische  Kirche  steht 
festj  und  wird  nicht  fester  dadurch,  daB  der  Staat  ihren  Ab- 
meigungen  allzu  bereitwillig  seinen  Arm  leihi.  Wenn  aber  die 
evangelischen-  Kirchen  leer  stehen,  so  hat  das  andre  Grunde 
als  die  Propaganda  der  Gottlosen,  und  ware  sie  noch  so  ge- 
schmacklos,  Ihre  Verwalter  sollten  Einkehr  halten  und  bei 
sich  selbst  nach  den  Ursachen  suchen.     Da  hatten  sie  zu  tun. 


DaS  neue  Spanieil  von  Ernst  Toller 

IV 
Spanische  Arbeiter 

Cpanische  Industrielle  beschuldigen  den  Arbeiter,  er  Hebe 
die  Arbeit  nicht,  und  sie  erzahlen  gerne  die  Geschichte 
von  jenem  Andaiusier,  dem  der  Lohn  verdoppelt  ward,  dar- 
auf  mietete  er  fur  zwei  Pesetas  einen  Ersatzmann,  lieB  den 
in  die  Fabrik  gehen  und  genoB  die  Sonne  und  seine  Faulheit 
fiir  die  ubrigen  zwei  Pesetas.  In  dieser  Geschichte  steckt  ein 
Kornchen  Wahrheit.  Die  Manner  der  sparlichen  sozialen  Fiir- 
sorge  wissen,  wie  schwer  es  halt,  Alte  und  Invalide  in  der  not- 
wendigen  Ordnung  eines  Heims  zu  halten,  lieber  gehen  sie  betteln. 
Der  spanisclie  Arbeiter  macht  aus  der  Arbeit  kein 
Evangelium,  aus  dem  Geld  keinen  Gotzen.  Darum  wird  man 
niemals  in  Spariien  Servilitat  vor  den  Reichen  beobachten, 
deutsche  Unternehmer,  die  es  von^Hause  aus  anders  gewohnt 
sind,  beklagen  sich  bitter  iiber  den  fehlemden  „Respekt"  des 
spanischen  Arbeiters.  Die  Demokratie  des  Alltags  beruht  auf 
Jahrhunderte  wahrend'er  Lebensgewohnheit,  hier  wird  man 
wirklich  in  jedem  Cafe  Menschen  aller  Schichten  beisammen 
finden,  und  Stadtviertel,  in  denen  das  StraBenbild  vom  Bur- 
ger oder  Arbeiter  bestimmt  wird,  sucht  man  in  Spanien  ver- 
gebl'ich.  Sogiar  die  Armee  durchd'ringt  diese  Haltung,  Ich 
sah  in  Algeciras,  daB  Offiziere  bei  der  Zollabfertigung,  nicht 
etwa  bevorzugt  wurden;  wenn  zwanzig  Gemeine  vor  ihnen 
standen,  muBten  sie  warten  und  sioh  die  FtiBe  vertreten,  bis 
die  Reihe  an  sie  kam. 

Das  abscheuliche  Wort  „time  is  money"  begreift  der  spa- 
nische Arbeiter  nicht,  er  lebt  nicht,  um  zu  arbeiten,  er  ar- 
beitet,  weil  er  leben  will  Selbst  die  katholische  Kirche,  die 
kliigste   aller  Kirchen,   hat,   als  sie  noch  entscheidenden  Ein- 

749 


fluO  auf  ihn  ausiibte,  nie  versuoht,  seine  Sinnenfreudigkeit  zu 
dampfen;  wenn  er  faulenzt  und  MsundigtMf  tut  er  es  mit  gu- 
tern   Gewissen, 

Bei  den  Gemeinderatswahlen,  die  das  Schicksal  Alphons 
XIIL  entscheiden  soil  ten,  bot  ein  Gutsbesitzer  in  Kastilien 
einem  Landarbeiter  zehn  Pesetas  an,  wenn  er  fur  die  Mon- 
archic stimmc.  Der  Arbeiter  lehnte  das  ab,  er  hasse  die 
Monarchic  und  er  werde  gegen  sie  stimmen,  „So  wird  man 
Dich  hinauswerfen,  und  Du  wirst  verhungern."  f1Einverstan- 
den",  antwortete  der  Arbeiter,  Mdas  hat  wenigstens  etwas  Gu- 
tesf  wenn  ich  hungere,  kann  mir  keiner  befehlen." 

In  dieser  kl  einen  Begebenheit  zeigt  sioh  der  Charakter 
des  spanischen  Arbeiters.  Der  spanische  Stolz,  die  spanische 
Wiird'e,  das  Gefiihl  fur  Gerechtigkeit,  Freiheit  und  Mensch- 
lichkeit  darf  man  nicht  bei  der  Aristokratie  suchen,  einer 
kulturlosen  und  bigotten  Gesellschaftskaste,  auch  nicht  beim 
arrivierten  Biirgertum,  man  wird  sie  in  jeder  Stadt,  in  jedem 
Dorf,  in  jedem  Weiler,  in  Kastilien  ebenso  wie  in  Andalu- 
sien,  in  Estramadura  und  in  Katalanien,  in  Galicien  und  Ara- 
gon  beim  arbeitenden  Menschen  finden. 

Mehr  als  ftinfzig  Prozent  der  Stadt-  und  Landarbeiter 
sind  Analphabeten,  aber  es  war  kein  Analphabet,  der  mir  in 
Malaga  mit  gezwirbeltem  Schnurrbart  einen  GruB  fiir  den 
groBen  Kaiser  Wilhelm  mit  auf  den  Weg  gab. 

Man  glaube  ja  nicht,  daB  diese  Analphabeten  samt  und 
sonders  Dummkopfe  sind,  ich  habe  darunter  Manner  von  tie- 
fer  Weisheit  und  Kenntnis  der  gesellschaftlichen  Fragen  ge- 
funden,  die  Gesprache  mit  ihnen  zeugten  von  Nachdenklich- 
keit  und!  eignen  Gedanken,  und  mancher  europaische  Intellek- 
tuelle,  der  alle  philospphischen  Theoreme  studiert  und  exzer- 
piert  hat,  stiind'e  beschamt  vor  dem  Lebenswissen  und  der 
Oberlegenheit  dieser   Analphabeten. 

Monarchie  und  Kirche  gingen  dem  Analphabet ismus  nie- 
mals  ernstlich  zuleibe.  Wer  wenig  weifl,  wird  wenig  verlan- 
gen,  wer  nicht  vom  Baum  der  Erkenntnis  gekostet  hat,  wird 
zuf rieden  bleibeit  Im  letzten  Jahr  der  Monarchie  hatte  Spanien 
32  000  Schulen,  die  der  Aufsicht  der  Kirche  unterstanden,  der 
Religionsunterricht  war  obligatorisch,  kein  Lehrer  wurde  ange- 
stellt,  der  der  Kirche  nicht  genehm  war. 

Die  junge  Republik  st elite  einen  Fiiafjahresplan  zur  Liqui- 
dierung  d'es  Analphabetjsmus  auf,  in  iimi  Jahren  sollen  27  000 
neue  Schulen  errichtet  und  der  Schulbesuch  fiir  alle  Kinder  i 
von  sechs  bis  vierzehn  Jahren  obligatorisch  werden,  Den 
kirchlichen  Schulen,  die  selbst  neutrale  Beurteiler  fiir  padar 
gogisch  unzulaniglich  erklarten,  entzog  man  die  staatliche  Un- 
terstiitzung.  In  6sen  erst  en  acht  Monaten  sind  7000  neue  Schu- 
len erbaut  worden,  nur  die  Einfuhrung  der  obligatorisch  en 
Schulpflicht  stoBt  auf  ein  materielles  Hindernis:  die  Kinder- 
arbeit.  Im  Jahre  1930  hat  ten  in  der  Provinz  Avila  von  13  350 
Grundsteuerzahlern  1 1  452  Einkommen  von  weniger  als  einem 
Peseta,  taglioh.  Und  wie  bei  diesen  kleinen  Bauern,  die  man 
eher  Mlandwirtschaftliche  Tagelohner"  nennen  kann,  ist  es 
,  fast   liberall  bestellt,  nur  Minoritaten  stadt ischer  Arbeiter  in 

750 


den  Industriezentren  verdienen  mebr.  Bei  solcher  elenden 
sozialen  Situation  miissen  eben  die  Kinder  schon  von  friihe- 
ster  Jwgend  an  mitschaffen.  Und  wie  werden  diese  armen 
Wiirmer,  die  niemals  sich  ausschlaf  en,  niemals  sich  wirklich 
sattessen  konnen,  bezahlt.  Ich  traf  in  Fuengirola  bei  Malaga 
ein;  Kind  von  elf  Jahren,  das  als  Hausmadchen  drei  Pesetas, 
in  Granada  in  einem  Schallplattengeschaft  einen  Knaben  von 
neun  Jahren,  der  fiinf  Pesetas  im  Monat  erhielt. 

Der  Analphabetismus  der  Kinder  wird  nur  dann  „liqui- 
diert"  werden  konnen,  wenn  gleichzeitig  die  soziale  Lage  der 
Eltern  sich  wandelt.  Das  kulturelle  Grundniveau  eines  Volkes 
beriihrt  sich  mit  seinem  sozialen* 

Hitler  Und  Goethe   Ein  Scbulaufsatz  von  Kaspar  Hauser 

Einleitung 

Wenn  wir  das  deutsche  Volk  und  seine  Geschichte 
uberblicken,  so  bieten  sich  uns  vorzugsweise  zwei  Helden 
dar,  die  seine  Geschicke  gelenkt  haben,  weil  einer  von 
ihnen  hundert  Jahre  tot  ist,  Der  andre  lebt.  Wie  es 
ware,  wenn  es  umgekehrt  ware,  soil  hier  nicht  untersucht 
werden,  weil  wir  das  nicht  auf  haben.  Daher  scheint  es 
uns  wichtig  und  beachtenswert,  wenn  wir  zwischen 
dem  mausetoten  Goethe  und  dem  mauselebendigen  Hitler 
einen  Vergleich  langziehn. 

Erklarung 

Um  Goethe  zu  erklaren,  braucht  man  nur  darauf  hin- 
zuweisen,  daB  derselbe  kein  Patriot  gewesen  ist.  Er  hat 
fur  die  Note  Napoleons  niemals  einen  Sinn  gehabt  und 
hat  gesagt,  ihr  werdet  ihn  doch  nicht  besiegen,  dieser 
Mann  ist  euch  zu  groB.  Das  ist  aber  nicht  wahr.  Napo- 
leon war  auch  nicht  der  groBte  Deutsche,  der  groBte 
Deutsche  ist  Hitler.  Um  das  zu  erklaren,  braucht  man 
nur  darauf  hinzuweisen,  daB  Hitler  beinah  die  Schlacht 
von  Tannenberg  gewonnen  hat,  er  war  blofi  nicht  dabei. 
1  Hitler  ist  schon  seit  langen  Monaten  deutscher  Spiefibiir- 
ger  und  will  das  Privateigentum  abschaffen,  weil  es  jii- 
disch  ist.  Das  was  nicht  judisch  ist,  ist  schaffendes  Eigen- 
tum  und  wird  nicht  abgeschaffen.  Die  Partei  Goethes  war 
viel  kleiner  wie  die  Partei  Hitlers.  Goethe  ist  nicht 
knorke. 

Begriindung 

Goethes  Werke  heiBeni  der  Faust,  Egmont  erster  und 
zweiter  Teil,  Werthers  Wahlverwandtschaften  und  die 
Piccolomini.  Goethe  ist  ein  Marxstein  des  deutschen  Vol- 
kes, auf  den  wir  stolz  sein  konnen  und  um  welchen  uns 
die  andern  beneidem.  Noch  mehr  beneiden  sie  uns  aber 
um  Adolf  Hitler.  Hitler  zerfallt  in  3  Teile:  in  einen  le- 
galen,  in  einen  wirklichen  und  in  Goebbels,  welcher  bei 
ihm  die  Stelle  u.  a.  des  Mundes  vertritt,  Goethe  hat  nie- 
mals sein  Leben  auis  Spiel  gesetzt;  Hitler  aber  hat  das- 
seibe  auf  dasselbe  gesetzt.  Goethe  war  ein  groBer  Deut- 
scher. Zeppelin  war  der  groBte  Deutsche.  Hitler  ist  iiber- 
haupt  der  allergroBte  Deutsche. 

751 


Gegensatz 

Hitler  und  Goethe  stehen  in  einem  gewissen  Gegen- 
satz. Wahrend  Goethe  sich  mehr  einer  schriftstellerischen 
Tatigkeit  hingab,  aber  in  den  Freiheitskriegen  im  Gegen- 
satz zu  Theodor  Korner  versagte,  hat  Hitler  uns  gelehrt, 
was  es  heiflt,  Schnftsteller  und  zugleich  Fiihrer  einer  Mil- 
lionenpartei  zu  sein,  welch e  eine  Millionenpartei  ist, 
Goethe  war  Geheim,  Hitler  Regierungsrat.  Goethes  Wir- 
ken  ergoB  sich  nicht  nur  auf  das  Dasein  der  Menschen, 
sondern  erstreckte  sich  auch  ins  kosmetische.  Hitler  da- 
gegen  ist  Gegner  der  materialistischen  Weltordnung  und 
wird  diese  bei  seiner  Machtiibergreifung  abschaffen  sowie 
auch  den  verlorenen  Krieg,  die  Arbeitslosigkeit  und  das 
schlechte  Wetter.  Goethe  hatte  mehrere  Liebesverhalt- 
nisse  mit  Frau  von  Stein,  Frau  von  Sesenheim  und  Char- 
lotte Puff.  Hitler  dagegen  trinkt  nur  Selterwasser  und 
raucht  auBer  den  Zigarren,  die  er  seinen  Unterfuhrern 
verpaBt,  gar  nicht. 

Gleichnis 

Zwischen  Hitler  und  von  Goethe  bestehen  aber  auch 
ausgleichende  Beriihrungspunkte.  Beide  haben  in  Wei- 
mar gewohnt,  beide  sind  Schriftsteller  und  beide  sind  sehr 
um  das  deutsche  Volk  besorgt,  um  welches  uns  die  an- 
dern Volker  so  beneiden.  Auch  hatten  beide  einen  ge- 
wissen Erfolg,  wenn  auch  der  Erfolg  Hitlers  viel  groBer 
ist.  Wenn  wir  zur  Macht  gelaing«n,  schaffen  wir  Goethe  ab. 

Beispiel 

Wie  sehr  Hitler  Goethe  iiberragt,  soil  in  folgendem 
an  einem  Beispiel  begriindet  werden.  Als  Hitler  in  unsrer 
Stadt  war,  habe  ich  ihn  mit  mehrern  andern  Hitlerjungens 
begriiBt.  Der  Osaf  hat  gesagt,  ihr  seid  die  deutsche  Jugend, 
und  er  wird  seine  Hand  auf  euern  Scheitel  legen,  Daher 
habe  ich  mir  fur  diesen  Tag  einen  Scheitel  gemacht.  Als 
wir  in  die  groBe  Halle  kamen,  waren  alle  Platze,  die  be- 
setzt  w,areni,  total  ausverkauft  und  die  Musik  hat  gespielt, 
und  wir  haben  mit  Blumen  dagestanden,  weil  wir  die 
deutsche  Jugend  sind.  Und  da  ist  plotzlich  der  Fiihrer 
gekommen.  Er  hat  einen  Bart  !wie  Chaplin,  aber  lange 
nicht  so  komisch.  Uns  war  sehr  feierlich  zu  Mute,  und 
ich  bin  vorgetreten  und  habe  gesagt  HeiL  Da  haben  die 
andern  aucfi  gesagt  heil  und  Hitler  hat  uns  die  Hand  auf 
jeden  Scheitel  gelegt  und  hinten  hat  einer  gerufen  still- 
stehn!  weil  es  photographiert  wurde.  Da  haben  wir  ganz 
still  gestanden  und  der  Fiihrer  Hitler  hat  wahrend  der 
Photographie  gelachelt.  Dieses  war  ein  unvergeBlicher 
Augenblick  furs  ganze  Leben  und  daher  ist  Hitler  viel 
groBer  als  von  Goethe. 

Beleg 

Goethe  war  kein  gesunder  Mittelstand.  Hitler  fordert 
fur  alle  SA  und  SS  die  Freiheit  der  StraBe  sowie  daB  alles 
ganz  anders  wird.  Das  bestimmen  wir!  Goethe  als  soldier 
ist  hinreichend  durch  seine  Werke  belegt,  Hitler  als  soldier 
aber  schafft  uns  Brot  und  Freiheit,  wahrend  Goethe  hoch- 
stens   lyrische   Gedichte   gemacht   hat,   die  wir  als  Hitler- 

752 


jugend  ablehnen,  wahrend  Hitler  cine  Millionenpartei  ist. 
Als  Beleg  dient  ferner,  daB  Goethe  kein  nordischer  Mensch 
war,  sondern  egal  nach  Italien  fuhr  und  seine  Devisen  ins 
Ausland  verschob.  Hitler  aber  bezieht  iiberhaupt  kein 
Einkommera,  sondern  die  Industrie  setzt  dauernd  zu. 
Schlufi 

Wir  haben  also  gesehn,  daB  zwischen  Hitler  und 
Goethe  ein  Vergleich  sehr  zu  Ungunsten  des  letzteren  aus- 
fallt,  welcher  keine  Millionenpartei  ist.  Daher  machen 
wir  Goethe  nicht  mit.  Seine  letzten  Worte  waren  mehr 
Licht,  aber  das  bestimmen  wir!  Ob  einer  groBer  war  von 
Schiller  oder  Goethe,  wird  nur  Hitler  entscheiden  und 
das  deutsche  Volk  kann  froh  sein,  daB  es  nicht  zwei  sol- 
cher  Kerle  hat! 

Deutschlanderwachejudaverreckehitlerwirdreichsprasident 
dasbestimmenwir ! 

Sehr  gut! 

Der  Handstand  auf  der  Loreley  Erich  Tastner 

r\ic  Lorelcy,  bekannt  als  Fee  und  Felsen, 

*-*  ist  jener  Fleck  am  Rhein,  nicht  weit  von  Bingen, 

wo   friiher  Schiffer  mit   verdrehten  Halsen, 

von   blonden   Haaren    schwarmend,    untergingen. 

Wir  wand  el  n  uns.     Die  Schiffer  inbegriffen. 

Der  Rhein  ist  reguliert   und  eingedammt. 

Die  Zeit  vergeht.     Man  stirbt  nicht  mehr  beim  Schiffen, 

bloB  weil  ein  blondes  Weib  sich  dauernd  kammt, 

Nichtsdestotrotz  geschieht  auch  heutzutage 
noch  Manches,  was  der  Steinzeit  ahnlich  sieht. 
So  alt   ist  keine  deutsche   Heldensage, 
daB  sie  nicht  doch  noch  Helden  nach  sich  zieht. 

Erst  neulich  machte  auf   der  Loreley 

hoch  iiberm  Rhein  ein  Turner  einen  Handstand! 

Von  alien  Damp  fern  tonte  Angstgeschrei, 

als  er  kopfiiber   oben  auf  der  Wand  stand, 

Er  stand,  als  ob  er  auf  dem  Barren  sttinde. 
Mit  hohlem  Kreuz.    Und  lustbetonten  Ziigen. 
Man  frage  nicht:  Was  hatte  er  fur  Griinde? 
Er  war  ein  Held.    Das   diirfte  wohl  geniigen, 

Er   stand  verkehrt  im  Abendsonnenscheine. 

Da    triibte   Wehmut   seinen   Turnerblick, 

Er  dachte  an  die  Loreley  von  Heine. 

Und  stiirzte   ab.    Und  brach   sich   das   Genick. 

Er  starb  als  He(ld.    Man  muB  ihn  nicht  beweinen, 
'  Sein  Handstand  war  vom  Schicksal  uberstrahlt, 
Ein  Augenblick  mit  zwei  gehobnen  Beinen 
ist  nicht  zu  teuer  mit  dem  Tod  bezahlt! 

P.  S. 

Eins    ware    aller dings   noch   nachzutragen: 
Der  Turner  hinterlieB  uns   Frau  und  Kind. 
Hinwiederum,  man  soil   sie  nicht  beklagen, 
Weil  im  Bezirk  der  Helden  und  der  Sag  en 
die   Uberlebenden    nicht   wichtig    sind, 

753 


ArbeitsdietlStpflicht  von  Bernhard  Citron 

A  llmahlich  ist  in  Deutschland  aus  politischen,  wirtschaftlichen 
'^  und  sozialen  Grunden  die  Arbeitsbeschaffung  zur  zentralen 
Frage  der  Gegenwart  geworden.  Politische  Parteien,  Organi- 
sationen  und  Wirtschaftsverbande  aller  Richtungen  beschafti- 
gen  sich  mit  ihrer  Losung,  DaB  jede  Gruppe  sich  benwiht,  aus 
der  Not  der  Arbeitslosigkeit  die  Tugcnd  cincr  Sonderpropa- 
ganda  fur  die  eignen  Ideen  zu  mac  hen,  lafit  sich  denken,  Zu 
diesen  gewiB  ehrlichen  Vorkampfern  der  Arbeitsbeschaffung 
gehort  der  Volksbund  fur  Arbeitsdienst,  an  dessen  Spitze  General 
Faupel  steht.  Faupel  wies  kiirzlich  bei  einem  Diskussionsabend 
der  Studiengesellschaft  fiir  Geld-  und  Kreditwirtschaft  auf  die 
Erfolge  des  freiwilligen  Arbeitsdienstes  hin.  Nach  seiner  Be- 
rechnung  foetragen  die  Kosten  beim  freiwilligen  Arbeitsdienst 
pro  Mann  780  Mark,  wahrend  ein  Arbeitsloser  durchschnittlich 
846  Mark  Jahresunterstutzung  erhalt.  Infolge  der  Herabsetzung 
der  Unterstiitzungssatze  werden  sich  allerdimgs  die  Ausgaben 
liir  Arbeitslose  und  Arbeitsdienstleute  kiinftig  angleichen.  Die 
Fehlrechnung  liegt  nun  aber  darin,  daB  sich  diese  Satze  auf  die 
nur  zwanzig  Wochen  wahrende  Arbeitslosenunterstutzung  be- 
ziehen,  wahrend  die  Krisen-  und  Wohlfahrtsunterstutzten  ein 
«rheblich  niedrigeres  Unterstutzungseinkommen  haben.  Der 
.Zulauf  zum  freiwilligen  Arbeitsdienst  ist  dadurch  sehr  be- 
schrankt,  daB  nur  Leute,  die  noch  nicht  ausgesteuert  sind,  an- 
genommen  werden  konnen,  Ein  gelernter  Arbeiter  oder  An- 
gestellter,  der  grade  abgebaut  worden  ist,  wird  sich  aber  wohl 
vorerst  urn  eine  Stellung  in  seiner  Branche  bemuhen. 

Nun  verlangt  der  Volksbund  fur  Arbeitsdienst  —  nicht  ohne 
stillschweigende  Unterstutzung  amtlicher  Stellen  —  die  Er- 
setzung  des  freiwilligen  Arbeitsdienstes  durch  eine  Arbeits- 
dienstpflicht,  weil  in  diesem  Falle  550  Mark  pro  Mann  aus- 
reichen  wiirden.  Wir  wollen  einmal  unterstellen,  daB  diese 
Berechnung  zutrifft.  Was  sich  aber  durchaus  nicht  ver- 
billigt,  sind  die  materiellen  Kosten,  die  weder  in  der  Zahl  von 
780  Mark  fiir  den  freiwilligen  noch  von  550  Mark  fur  den  oblr- 
gatorischen  Arbeitsdienst  enthalten  sind.  Diese  Materialaus- 
gaben  durften  sich  durchschnittlich  auf  etwa  zweihundert  Pro- 
.zent  der  personellen  Kosten  belaufen.  SchlieBlich  aber  sind  Hir 
StraBenreparaturen  und  Hochwasserbekampfung,  die  nach  An- 
sicht  aller  Fachleute  zu  den  wichtigsten  Auf  gab  en  der  Arbeits- 
beschaffung gehoren,  gelernte  Arbeiter  notwendig.  Den  Ar- 
beitsdienstpflichtigen  blieben  also  ausschlieBlich  Melio- 
arationsarbeiten  vorbehalten.     Dazu  eine  Armee? 

Der  Ton  im  Worte  „Arbeitsdienstpflicht"  liegt  heute  we- 
iiiger  auf  den  beiden  ersten  Silben  „ArbeitM,  sondern  auf  den 
ietzten  1(Dienstpflicht".  Die  Jugend  soil  wieder  an  preuBische 
Ordnung  und  Zucht  gewohnt  werden.  Sehen  wir  selbst  tiber 
die  auBenpolitischen  Konsequenzen  hinweg,  so  bedeutet  die 
Einfuhrung  der  Arbeitsdienstpflicht  innenpolitisch  einen  schwe- 
reren  Schiag  gegen  die  Grundsatze  der  Demokratie  als  die  all- 
gemeine  Wehrptlicht.  Nicht  zur  Verteidigung  des  Vaterlandes 
sondern  zur  Entlastung  wird  die  Jugend  eingezogen.  So  wohl- 
feil  ist  heute  die  Demokratie. 

754 


Bemerkungen 

Die  Diktatur  in  Peru 

Uor  einem  Jahr  etwa  fuhr  der 
*  Grunder  und  Fiihrer  der  la- 
tein-amerikanischen  Apra  (Aso- 
ciacion  Popular  Revolucionaria 
Americana),  Haya  de  la  Torre, 
als  Prasidentschaftskandidat  von 
Berlin  nach  Peru,  Er  ist  nicht 
President  geworden,  obwohl  er, 
wie  mir  ein  Mitglied  seiner  Partei 
schreibt,  den  Wahlkampf  ge- 
wonnen  hat-  Statt  seiner  hat  sich 
der  junge  Militar  Sanchez  Cerro 
auf  den  Stuhl  gesetzt.  Die  Zu- 
stande  in  Peru  unter  der  Regie- 
rung  dieses  Offiziers,  der  vor  eini- 
gen  Jahren  vom  peruanischen 
Volk  als  Retter  aus  der  Tyrannei 
Leguias  begriiBt  wurde,  sind  tin- 
ertraglich  nicht  nur  fur  die*  Mas- 
sen  jenes  Landes.  Alles,  was  Frei- 
heitswillen  in  Amerika  hat,  wen- 
det  sich  gegen  ihn. 

Das  Schreiben  des  jungen  Pe- 
ruaners  an  mich  ist  ein  gellender 
Ruf  um  Hilfe.  Er  teilt  mir  mit, 
daB  die  noch  existierenden  peru- 
anischen Zeitungen.  nichts  liber 
die  wirklichen  Zustande  Perus 
bringen  diirfen.  Nach  auBen  kon- 
nen  nur  Nachrichten  gelangen,  die 
mit  Freiheits-  und  Lebensgefahr 
uber  die  Grenze  geschmuggelt 
werden.  Die  oppositionelle  Presse 
ist  unterdriickt,  ihre  Redakteure 
sind  ausgewiesen.  Die  Minister 
der  Regierung  Sanchez  Cerro  ha- 
ben  die  Ausrottung  des  Aprismus 
mit  Stumpf  und  Stiel  angekiin- 
digt,  Alle  Parteifiihrer  sind  ge- 
fangen  oder  deportiert,  Auch 
Frauen  hat  man  nicht  geschont, 
Wie  schlimm  muB  eine  Diktatur 
in  einem  Lande  Lateinisch-Ameri- 
kas  sein,  wenn  sie  die  Frauen 
nicht  schont,  Denn  der  Kavalier 
ist  dort  sozusagen  Naturbestand- 
teil  der  men  sch  lie  hen  Gesell- 
schaft.  Viele  Apristen  sind  in  der 
Strafkolonie  ..Fronton"  interniert, 
hunderte  von  proletarischen  Par- 
teimitgliedern  in  der  Kolonie 
„Madre  d«  Dios",  mitten  im  Tro- 
penwalcL 

Die  apristische  Fraktion  von 
dreiBig  Abgeordneten  hat  man 
kurzerhand  im  Gebaude  der  Kam- 
mer  verhaftet  und  dann  verbannt. 


Das  Parlament  hat  also  keine 
Rechtsgultigkeit  mehr,  Aus  dieser 
furchtbaren  Situation  erklart  sich 
das  Attentat,  das  ein  neunzehn- 
jahriger  Peruaner  vor  einiger  Zeit 
gegen  Sanchez  Cerro  beging,  San- 
chez Cerro,  der  verwundet  wurde, 
hat  inzwischen  das  Krankenhaus 
verlassen.  Der  junge  Mensch  und 
mit  ihm  zwei  Apristen  wurde  zum 
Tode  verurteilt.  Jeden  Augen- 
blick  kann  das  Urteil  vollstreckt 
werden,  Man  hat  mir  gesagt,  daB 
die  Verurteilten  als  Geiseln  ge- 
halten  wurden  fur  den  Fall  irgend 
einer  Regung  der  Apra,  Um  zu 
erfahren,  wo  Haya  de  la  Torre 
sich  befindet,  hat  man  viele  Leute 
Torturen  unterworfen.  Es  heifit 
am  SchluB  des  Briefes:  „Damit 
Sie  wissen,  wie  unsre  Situation 
ist,  stellen  Sie  sich  vor,  daB  wir 
in  die  Hande  einer  feindlichen 
Macht  gefallen  sind.  So  ist  es, 
ohne  tJbertreibung/' 

Ich  habe  keine  Ursache,  den 
Mitteilungen  nicht  zu  trauen, 
Aus  stidamerikanischen  Blattern 
habe  ich  schon  vor  einiger  Zeit 
von  der  Schonungslosigkeit  der 
Diktatur  Sanchez  Cerro  erfahren. 
Jedenfalls  bin  ich  verpflichtet,  die 
europaische  Offentlichkeit  zu  in- 
formieren.  Wir  konnen  nicht  dul- 
den,  daB  unsre  Briider,  sei  es 
wo  es  sei,  von  der  Reaktion  ge- 
kerkert  und  geknechtet  werden, 
Haya  de  la  Torre  war  mein  Schu- 
ler  und  mein  Assistent  bei  wissen- 
schaftlichen  Arbeiten  uber  Latein- 
Amerika,  Aber  ich  wiirde  auch 
ohne  diese  personliche  Beziehung 
den  Kampf  gegen  solch  furchtbare 
Unterdriickungen  aufgenommen 
haben.  Die  Apra  ist  eine  Partei 
ohne  Radikalprogramm,  Sie 
kampft  gegen  den  Imperialismus, 
der  Latein-Amerika  zermiirbt,  und 
fur  den  Indio,  die  beste  Kraft 
dieser  Lander.  Aber  diese  Partei 
wehrt  sich  gegen  Tyrannei  von 
auBen  und  im  Innern,  In  Peru 
gibt  es  noch  keine  straffen  prole- 
tarischen Organisationen.  Man 
muB  heute  froh  sein,  daB  dort 
iiberhaupt  fur  Freiheit  gekampft 
wird. 

AHons  Goldschmidt 
755 


Die  letzten  Heroen 
fa  dieser  Woche  politischer  Hoch- 
*  spannung  fiillten  sich  die  ber- 
liner  Zeitungsspalten  mit  Meldun- 
gen  und  Betrachtungen  iiber  ein 
Geschehnis,  das  denn  doch  noch 
ganz  andersi  als  Briinings  Rede 
den  Abonnenten  in  Aufruhr  zu 
bringen  vermochte. 

Ein  jugendlicher  Raubmorder 
war  wenige  Tage  nach  seiner  Tat 
ergriffen  worden.  Man  fand  bei 
ihm  Zeichnungen,  Notizen;  im 
Verhor  erklarte  er  sie  als  Vorbe- 
reitungen  fur  ein  andres,  grofieres 
Unternehmen,  das  er  geplant 
hatte:  einen  Uberfall  auf  eine  der 
bekarintesten  Filmdarstellerinnen. 
Als  vorgeblicher  Autogrammjager 
hatte  er  sich  Zutritt  verschaffen, 
sie  niederschlagen  und  berauben 
wollen. 

Vor  so  blasphemischer  Moglich- 
keit  zitterten  die  Leserherzen. 
Ahnlich  mag  der  besondre  Ab-  ' 
scheu  treuer  Untertanen  vor  der 
unfafibaren  Ruchlosigkeit  des 
Konigsmordes  sein,  Nicht  der 
Raub,  der  Mord  an  sich,  noch 
gar  sein  Hintergrund:  die  fiirch- 
terliche  Not  und  Hoffnungslosig- 
keit  der  Zeit,  wurden  Gegenstand 
erregter  Betrachtungen.  Auch  die 
wirklich  ermordeten  beiden  alten 
Leute  wurden  unwichtig.  Das 
wahre,  tiefe  Erschrecken  gait  dem 
rohen  Mangel  an  Ehrfurcht,  der 
sich  in  einem  solchen  Plan  offen- 
barte.  Selbst  eine  so  allgemein 
geliebte,  angebetete,  halbgottliche 
Person  war,  plotzlich  san  mans 
mit  Schaudern,  nicht  mehr  gefeit 
vor  morderischer  Gefahr, 

Gegen  dergleichen  Attentate 
auf  die  Grofien  der  Welt  traf  von 


jeher  die  Polizei  besondere  Vor- 
kehrungen.  Auch  diesmal  zeigte 
sie  sich  dem  Ernst  der  Sache  ge- 
wachsen,  Konferenzen  fanden,  wie 
der  Zeitungsleser  zu  seiner  Be- 
ruhigung  erfuhr,  sofort  statt.  Ja, 
die  Bedrohte  wurde  aufs  Prasi- 
dium  bemtiht,  um  — i  wie  es  in 
einer  neckischen  Meldung  hiefi  — 
dort  ein  Kolleg  uber  Sicherheits- 
maBnahmen  zu  erhalten.  Es  gibt 
Beispiele  dafur,  daC  die  polizei- 
liche  Vorsorge  sonst  bei  simplen 
Staatsbiirgern,  die  sich  bedroht 
fiihlen,  weit  zogernder  gewahrt 
wird, 

Dafiir  wurde  bei  dieser  Gelegen- 
heit  die  Pflicht  der  Publicity 
nicht  verabsaumt,  In  einer  Zei- 
tung  wird  eine  Grofiaufnahme  ver- 
offentlicht,  auf  der  man  die 
Schauspielerin  sieht,  wie  sie  eben 
aus  dem  Alex  herauskommt:  in 
einem  prachtvollen  Pelzmantel, 
doch  mit  nachdenklich  gesenktem 
Blick. 

Und  neben  ihr  geht  ein  be- 
scheidener  Mann  mit  ernstem, 
mu^dem  Gesicht.  Wiirdig,  doch 
ein  wenig  verlegen,  Vielleicht 
deshalb,  weil  er  einen  so  un- 
ansehnlichen,  zerknautschten  Kon- 
fektionsanzug  tragt,  der  schlecht 
zu  der  noblen  Begleiterin  paBt. 

Dieser  Mann  ist  ein  Kriminal- 
kommissar.  Und  dieses  Bild  ist 
ein  gutes  und  wahrhaftiges  Bild, 
weil  man  auf  ihm  so  deutlich  er- 
kennen  kann,  daB  die  Heldenge- 
stalt  so  vieler  Tonfilme  in  Wirk- 
lichkeit  ein  armer  Teufel  mit 
zweihundert  oder  dreihundert 
Mark  im  Monat  ist,  Aber  man 
darf  sicher  sein:  Freudig  setzt  er 
sein  Leben  ein  fur  die  Guter  die- 


LOURDES  HEILT  -  HEILT  LOURDEST 


Peter  Panter  widmet  diesem  beruhmten 
Wallfahrtsort  hochinteressante  Kapital  in  seinem 

EIN  PYREN'AENBUCH 


•  i 


•  i 

Kartoniert  RM  4,80  •  Leinenband  RM  6,50 

„Lest  das  Bud),  lest  den  Stierkampf,  die  Kapitel  von  der  Republik 
Andorra,  lest  Lourdes,  lest  die  franzdsisdbe  Provinz  und  dann 
werdet  ihr  begeistert  dieses  Buch  aus  der  Hand  legen  und  dabei 
bedauern,  dafi  ihr  es  sdion  ausgelesen  habt."  8-Uhr-Abendblatt,  Berlin 

ROWOHLT  VERLAQ  BERLIN  W  SO 
756 


ser  Welt,  fiir  ihre  Ordnung,  fur 
den  Pelz  und  die  Wertsachen  die- 
ser  netten,  kleinen  Frau,  die  ein- 
fach  durch  ihr  Nettsein  vierzig- 
oder  fiinfzigmal  soviel  verdient 
wie  er, 

Wie  sie  da  nebeneinander  zu 
sehen  sind:  Bedeuten  sie  nicht  die 
wirklichen,  letzten  Heroen  der 
entgotterten  Zeit?  Nicht  der  all- 
zu  grundlich  seiner  Geheimnisse 
eutkleidete  Kreuger,  nicht  der 
herrische  Duce,  nicht  der  braune 
Mann  mit  dem  weitgeoffneten 
Mund,  —  ein  paar  hochbe^ahlte 
Stars  sind  vielleicht  die  letzten, 
■echten  Konige  des  sterbenden 
Kapitalismus.  Und  als  ihre  ge- 
treuen,  anspruchslosen  Ritter 
fechten  diese  bescheidenen  Man- 
ner in  schlechtsitzenden  Anziigen: 
letzte  Kampfer  einer  Welt,  fiir 
die  einmal,  fiir  die  bald  niemand 
mehr  wird  kampfen  wollen. 

Axel  Ettebrecht 

Sklareks,  die  sympathischen 
Menschen 

P\ie  Sklareks  erfreuten  sich  all- 
*~^  gemeiner  Sympathie.  Das  ist 
selbstverstandlich  von        dem 

Augenblick  an,  wo  sie  Geld  und 
Macht  hatten  und  dieses  Geld  und 
diese  Macht  benutzten,  um  andre 
sowohl  am  Geld  wie  an  der 
Macht  teilnehmen  zu  lassen. 
Aber  wie  kamen  sie  erst  an  die 
Macht  und  ans  Geld  und  warum 
waren  sie  aller  Welt  sympa- 
thisch? 

DarauJE  kann  man  mit  zwei 
Worten  erwidern:  weil  sie  tran- 
ken  und  weil  sie  sich  fiir  Pferde 
interessierten.      Ganz    im    Anfang 


der  Sklarekaffare  erklarte  ein 
Staatsanwalt,  der  durch  den 
Skandal  kompromittiert  wurde, 
folgendes:  *  „Auf  der  Rennbahn 
hat  mir  Graf  X  die  Sklareks 
vorgestellt,  Ic}i  bitte,  Graf  X  vom 
Union-Club  und  die  Leute  hat- 
ten  tadellose  Pferde,  da  kann 
man  sich  doch  dann  nichts  den- 
ken." 

So  fing  es  an  und  in  einer  der 
letzten  Sitzungen  der  Beweis- 
aufnahme  trat  Graf  Bredow  auf, 
alter  Aristokrat,  groB  mit  blond- 
weiBem  Vollbart,  und  sang  ein 
hohes  Lied  auf  die  Sklareks.  Er 
sagte:  ,,Die  Leute  waren  wirk- 
lich  groBe  Sportsleute.  Sie  hat- 
ten  tadellose  Pferde,  Der  Derby- 
sieger  war  ein  ausgezeichnetes 
Pferd.  Ein  Skandal,  daft  dieses 
Pferd  fiir  zwanzigtausend  Mark 
verschleudert  wurde,  das  hundert- 
fiinfundzwanzigtausend  Mark  wert 
war.  Sie  haben  viel  fiir  den 
Rennsport  getan.  Sie  hatten  acht- 
zig  Pferde  im  Stall,  Sie  haben 
sich  sehr  um  die;  Arbeit  an  den 
Pferden  gekummert,  sie  haben  nie, 
was  beim  Rennsport  j  a  leider 
vorkommt,  irgendwelche  schiefen 
Sachen  gemacht,  Sie  hatten  nicht 
nur  tadellose  Pferde,  sie  haben 
sie  auch  tadellos  laufen  lassen* 
Es  ist  nicht  wahr,  daB  sie  prot- 
zenhaft  auftraten.  Im  Gegenteil, 
sie  sind  auBerst  bescheiden  auf 
dem  Rennplatz  gewesen.  Ich  kann 
nur  eins  sagen,  der  Union-Club 
hat  es  doch  noch  immer  verstan- 
den,  sich  exklusiv  zu  halten,  Es 
ist  bei  uns  ofter  die  Frage  auf- 
getaucht,  was  ist,  wenn  die  Skla- 
reks, die  schlieBlich  den  groBten 
Stall  haben,  bei  uns  aufgenommen 


S  o  eb  e  n     ers  chi  e  n : 

IN  DIEN  IN  DER  Z ANGE 

DIE  wirtschaftliche  not 

EINES  GROSSEN  VOLKES 
Von  KARL  HINKEL 

MiteinerKarteund9Bildern.  156Seiten. 

Broschiert  3-"~  Mk.  Ganzlein.  \  —  Mk. 
VERLAG  „OFFENTLlCHES  LEBEN",  BERLIN  S  14,  INSELSTRASSE  8 

757 


zu  werden  wiinschen,  Wir  haben 
immer  gesagt,  wir  nehmen  sie 
auf." 

So  der  Feudale.  Und  wie  wurde 
dasVolk  gewonnen?  Wie  erzielte 
man  Popularitat?  Brolat  sagte; 
,(Ich  habe  immer  gesagt,  die  Skla- 
reks, das  sind  richtige  bcrliner 
Jungs,  die  trinken  auch  mal  einen 
tibern  Durst".  Hier  klar  das  Re- 
zept.  Wie  offnen  sich  Ttiren?  Be- 
stechung  allein  tuts  nicht,  Denn 
nicht  von  Jedem  hatten  die  Be- 
amten  die  Anziige  genommen, 
nicht  zu  jedem  waren  sie  zura 
Essen  gegangen,  nicht  mit  jedem 
ins  Tanzpalais.  Aber  unverdach- 
tig  istt  wer  Pferde  fair  laufen 
laBt,  und  Vertrauen  erweckt,  wer 
sich  betrinkt.  Man  kann  ruhig 
sagen,  waren  die  Sklareks  kerne 
Alkoholiker  gewesen,  nie  hatte  es 
eine  Sklarekaffare  gegeben. 

Die  Sklareks  sind  sicher  sym- 
pathische  Menschen,  Leo  ist  ein 
lustiger  Bruder,  mehr  Conferen- 
cier  in  einem  Kabarett  von  WW 
als  Kaufmann,  Willi  ein  Mann 
aus  der  Konfektionsbranche,  Sie 
ziehen  sich  nicht  die  Cutaways 
der  Ehrbarkeit  an,  wie  die  Be- 
amten  der  Stadtbank.  Sie  geben 
sich  nicht  als  Biedermanner,  wo 
sie  raffiniert  die  Psychologie  der 
Stadtrate  benutzt  haben.  Sie  ha- 
.  ben  bestochen,  das  geben  sie  auch 
zu,  sie  sind  naiv,  Leo  sagte  ein- 
mal  in  den  Couloirs  von  Mo- 
abit:  „IchweiB  gar  nicht,  was  der 
Staatsanwalt  gegen  uns  hat.  Wo- 
zu  hat  der  Mann  das  notig,  so 
eine  gehassige  Anklageschrift  zu 
schreiben", 

Sie  sind  tatsachlich  weise 
Skeptiker,  weil  sie  wirklich  diese 
Welt  kennengelernt  haben.  Aber 
nicht  deswegen  galten  sie  allge- 
mein  als  sympathische  Menschen, 
sie  galten  als  sympathisch  wegen 
der     Pferde     und     des    Alkohols. 


Die  irrationale  Komponente  fur 
den  Erfolg  in  der  Verehrung  der 
Menge,  die  in  England  erfolg- 
reiches  Kricketspielen  bedeutet, 
ist  bei  uns  die  Fahigkeit,  viel 
zu  trinken,  Nicht  dem  Klu- 
gen,  nicht  dem  Tuchtigen,  nicht 
dem  Wissenden  ebnen  sich  die 
Wege,  die  Wege  ebnen  sich  dem 
Menschen,  der  sich  besauft,  und 
sicherer  als  jede  Auskunft  er- 
wirbt  Vertrauen  die  bestandene 
Trinkprobe. 

Gabriele  Tergit 

Die  Deutsche  Musikbflhne 

Wahrend  alle  Generalinten- 
danten,  Stadtverordnete  und 
Kultusminister  ob  der  Opernkrise 
nicht  ein  noch  aus  wissen  —  ohne 
all  er  dings  viel  andres  zu  unter- 
nehmen,  als  zwecks  Erhdhung  der 
Arbeitslosigkeit  ein  Theater  nach 
dem  andern  zuzusperren  —  wah- 
rend die  Sanger,  Regisseure,  Ka- 
pellmeister und  alle  Musiker  mit 
ihnen  das  Repertoiretheater  ver- 
fluchen,  in  dessen  ewiger  Hetz- 
jagd  Vollkommenheit  so  selten  ist 
wie  ein  Haupttreffer  bei  armen 
Leuten  —  unternimmt  es  eine  auf 
das  Verschiedenartigste  zusam- 
mengesetzte  Gemeinschaft,  die  sich 
MDeutsche  Musikbuhne"  nennt, 
ihre  in  der  Theorie  gar  nicht 
neuen  Ideale  zum  Leitstern  idea- 
listischer  Praxis  zu  machen.  Die 
Unzulanglichkeiten  und  Halbhei- 
ten,  die  Nachteile  und  Gefahrcn 
des  Opernbetriebs  liegen  auf  der 
Hand  und  wurden  tausendmal  er- 
ortert:  es  ist  kein  Wort  mehr  dar- 
iiber  zu  verlieren.  Will  man  sie 
vermeiden,  dann  hat  man  (gesetzt, 
es  sei  uberhaupt  moglich)  bloB 
das  Gegenteil  von  dem  zu  machen, 
was  dort  gegen  alle  bessere  Ein- 
sicht  der  fuhrenden  Kopfe  von  je 
immer  wieder  verbrochen  wurde 
und  wird:  hier  also  wird 
es      versucht,        Wird      versuchtt 


\\/ir  rechnen  mit  der  Zukunft,  da  uns  das  tiber  hundertjahrige 
vv  Bestehen  unseres  Hauses  dazu  verpflichtet.  Weil  ihnen  die 
Zukunft  gehdrt,  konnen  wir  die  BUcher  von  Bo  Yin  RS,  J.  Schneider- 
franken,  aus  bester  Ueberzeugung  empfehlen.  Das  zuletzt  er- 
schienene  Werk  nennt  sich  „Der  Weg  meiner  Schfller"  und  bildet 
eine  Art  Schltissel  zum  Gesamtschaffen  des  Verfassers.  Preis 
gebunden  RM.  6.— .  Der  Verlag:  Kober'sche  Verlagsbuchhand- 
lung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 


758 


der  notwendigen  Unvollkom- 
menheit  ausnahmslos  zu  wenig 
geprobter  Repertoirevorstellungen 
die  Vollkommenheit  von  Opern- 
auffiihrungen  entgegenzusetzen, 
die  Monate  lang,  die  beliebig 
lange  vorbereitet  werden  konnen; 
wird  versucht,  das  Starsystem 
durch  ein  einheitliches  Ensemble 
uberflussig  zu  machen;  den  ponti- 
fex  maximus  modernen  Theater- 
spiels,  den  allmachtigen  Regisseur 
durch  schauspielerische  Lebendig- 
keit  des  „befreiten  Sangers"  zu 
ersetzen  —  im  Ganzen  also:  das 
Unweseniliche  fortzulassen,  das 
Wesentliche  herauszuarbeiten  und 
sich  kollektiv  zu  betatigen; 

Hier  fragt  es  sich  nur:  was  ist 
nun  dieses  Wesentliche?  Ist  es 
dem  Publikum  wirklich  lieber, 
das  Werk  in  kristallener  musika- 
lischer  Klarheit,  in  einwandfreier 
Dramatik,  in  einleuchtenden 
architektonischen  Bogen  zu  er- 
leben  und  dafur  auf  Rausch  und 
Pomp,  auf  Regiematzchen  und 
Kulissenzauber,  auf  den  ero- 
tischen  Reiz  hochster  (und  hochst- 
bezahlter)  Tone  zu  verzichten  — 
als  umgekehrt?  Anders  ge- 
sprochen:  ist  das  Sinnliche  oder 
das  Geistige  das  ursprunjjliche 
Opernerlebnis  des  deutschen 
Durchschnittshorers,  des  provin- 
ziellen  Horerdurchschnitts,  mit 
dem  hier  gerechnet  werden  mufi? 
Wir  glauben:  das  Sinnliche;*  und 
sehen  in  diesem  Widerspruch 
zwischen  dem  Darstellungsideal 
des  Kollektivs  und  den  An- 
spr iichen  und  Sehnsiichten  eines 
naiven  Publikums  die  groBte  Ge- 
fahr  fiir  das  prachtige  Unterneh- 
men,  Seine  kiinstlerischen  Aktiven 
(die  kompromifilose  geistige  Hal- 
tung)  werden  sich  nur  schwer  in 
geschaftliche  verwandeln  lassen, 
Denn  eigentlich  wollen  sie  ja  gar 
nicht  Oper  spielen.  Oper,  das  ist 
zu  allererst  der  herrlich  singende, 
der  dramatisch  bewegte  Mensch, 
das  ist  ursprtingliches  orgiasti- 
sches  Theatererlebnis,  dem  alle 
Schlamperei,  dem  alle  Unvoll- 
kommenheit,  erlebt  man  es  so, 
nichts  Wesentliches  zu  nehmen 
vermag:  alle  romanischen  Volker 
aber  erleben  es  so,  opernbegab- 
tere,   opernbessere   als  wir  . .  * 


Was  hier  versucht  wird,  das  ist 
im  Grunde  Verwirklichung  des- 
musikdramatischen  Ideals  (auf  die 
Oper  angewandt) ,  das  ist 
plastische  Herausarbeitung  geisti- 
ger  Architektur,  das  ist  der 
Traum  aller  guten  Musiker;  denen 
nicht  der  Sanger  sondern  das  Ge- 
samtkunstwerk,  nicht  das  Spiel 
sondern  die  Partitur  das  Pri- 
mare  ist. 

Was  im  Rahmen  dieser  t)ber- 
zeugung,  was  ohhe  Geld  und  mit 
Begeisterung  allein  geleistet  wer- 
den konnte,  ist  hier  geleistet  wor- 
den:  Unter  Hans  Oppenheims 
musikalischer  Direktion  klappt 
alles  vorziiglich,  Reinkings  Aus- 
stattungskunst,  die  Regie  von  Hu- 
bert Franz,  die  Gesamtleitung 
von  Reufl  bewahren  sich  —  im 
Rahmen  des  erreichbaren  freilich 
—  aufs  Beste,  Auch  Ensemble- 
kunst  ist  vorhanden;  leider  ist 
aber  das  stimmliche  Niveau  dieses- 
Ensembles  noch  zu  tief.  Das  aber 
scheint  uns  eine  Lebensfrage  der 
deutschen  Musikbuhne  zu  sein: 
schon  die  Repertoiretheater,  die 
im  Verhaltnis  iiber  ungeheure 
Geldmittel  verfiigen,  leiden.  Not 
an  wirklich  guten  Stimmen;  wie 
soil  diese  Schwierigkeit  hier  uber- 
wunden  werden?  Durch  Idealis- 
mus  groBer  Sanger?  Durch  Ent- 
decken  und  (was  weit  schwieriger 
ist)  Festhalten  junger  Talente?  Sa 
steht  man  dem  Projekt  mit  kiinst- 
lerischen, organisatorischen,  wirt- 
schaftlichen  Bedenken  gegenuber^ 
wunscht  aber  ihm,  dem  einzig  kon- 
struktiven  Plan  in  dieser  Zeit  des- 
grofien  Theatersterbens,  :  man. 
hatte  unrecht  mit  alien  Bedenken/ 
wunscht  ihm  von  ganzem  Herzea 
viel  Erfolg, 

Arnold  Walter 

Der  Druckfehler 
I  n  der  Generalkommission  der 
1  Abrustungskonferenz,  die  gestern 
nach  dreiwochiger  Pause  ihre 
Arbeiten  wieder  aufnahm  und 
nun  in  eine  entscheidende  Phrase 
eintritt,  forderte  Botschafter  Gib- 
son namens  der  Amerikaner  un- 
erwartet  die  Abschaf  fung  der 
schweren  Artillerie  und  der 
Tanks  als  ausgesprochene  Offen- 
sivwaf  fen. 

fBasler .  Nachrichten' 

759 


Gut  ausgesucht 
r\  er  Schutzverband  Deutscher 
*^  Schriftstellcr  druckt  in  sei- 
ner Verbandszeitschrift  als  „Mu- 
ster  eines  Tonfilm-Manuskripts" 
fur  seine  Mitglieder  in  richtiger 
Erkenntnis  der  Sachlage  ein  Stuck 
Drehbuch  des  Films  „Der  Kon- 
greB  tanzt"  ab,  das  denn  auch 
wie   folgtl  anhebt: 

Wien. 

1.  GroB:  Gegen  freien  Himmel  der  oster- 
reichiscbe  ArtUlerieleutnant  in  der  Uni- 
form der  Befreiungskriege  kommandiert 
lieb  und  fesch: 

»Bitt  schonl  —  Obacht  gebenl  —  Erstes 
Oeschutzl" 

2.  Gesamt:  Vor  der  Gloriette  sind  zwei 
Satterien  aufgefahrea.  Aus  einer  Rohr- 
muadung  pufft  dicker  Rauch.  Wieder  das 
Kommando: 

„Zweites  Geschiitzl  —  Feuerl" 

3.  GroBe  Kanonenmundung.  Dicker 
Rauch  pulft  aus. 

Nacb  diesem  Muster  werden 
nun  hoffentlich  die  Mitglieder  in 
lukrativer  Weisc  aufprotzen. 

Heimkehr 

Ich  bin  etliche  Monate  fern  von 
■  Berlin  gewesen  —  da  mufi  man 
doch  mal  ein  wenig  rundgucken, 
wie  die  Hasen  jetzt  hier  laufen. 

Mein  erster  Besuch  gilt  meinem 
hochverehrten  Oheim,  dem  Herrn 
Bankdirektor.  Er  ist  natiirlich 
verhaftet. 


Ich,  in  meinem  Fami  liens  inn, 
stiirme  zum  Rechtsanwalt,  um 
Naheres,  Biindiges  zu  erfahren. 

Der  Anwalt:  „Herr  Roda,  seien 
Sie  beruhigt!  Das  Strafgesetzbuch 
fiir  das  Deutsche  Reich  hat  370 
Paragraphed  Aber  grade  fiinf 
davon,  derentwegen  man  Ihren 
Herrn  Oheim  anklagt  —  grade 
gegen  diese  fiinf  Paragraphen  hat 
Ihr  Oheim  sich  nicht  vergangen.1' 
Roda  Roda 

Liebe  WeltbOhne! 

P*  ine  Frau  in  Neapel  bekam 
Drillinge,  zwei  Sonne  und  eine 
Tochter.  Sie  nannte  sie  Benito, 
Umberto  und  Italia  und  erstattete 
Mussolini  Anzeige  davon.  Die  er- 
wartete  Folge  war  ein  reiches 
Patengeschenk.  Aber  das  Inter- 
esse  des  Duce  reichte  nock  wei- 
ter,  Nach  14  Tagen  telephonierte 
er  selber  mit  der  dreifachen  Mut- 
ter und  erkundigte  sich  nach  dem 
Befinden  der  SproBlinge.  Die 
Mutter  erwiderte:  ,, Benito  soce, 
Umberto  dorme,  Italia  piange  (B. 
saugt,  U.  schlaft,  L  weint)/'  Die 
Frau  wurde  zu  sechs  Monaten 
Gefangnis  verurteilt. 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Arb  e  i  tsg  erne  ins  ch  aft  Marxistischer  Sozialarbeiter.  Mittwocb  20.00.  Haverlands  Fest- 
sale,  Neue  Friedrichstr.  35 :  Fiirsorgeerziehung  und  Arbeitsdienstpflicht  —  Ausweg 
aus  der  Jugeudverwahrlosung  ?  £s  sprechen:  Hanna  Eisf elder,  Justus  Ehrhardt 
und  Fritz  Grasing, 

Individualpsychologische  Gruppe,  M  on  tag  (23.),  20.00.  Klubhaus  am  Knie,  Berliner 
StraBe  27:  Die  Kierkegaard-Renaissance  und  die  Individualpsychologie,  Alexander 
Neuer. 

Erfurt 

Weltbuhnenleser.    Montag  (23.),  20.00.    Treffpunkt:    Jagdzimmer  von  Rohr. 

Essen 

Weltbfihnenleser.  Freitag  20.00.  Restaurant  des  Schauspielhauses,  HindenburgstraSe. 
Rudi  Josephs  spricht  tiber  literarische  Neuerscheinungen. 

Hamburg 

Weltbuhne«leser.    Freitag  20.00.    Timpe,  Grindelallee  10:   Die  politische  Lage. 
Kollektiv    Hamburger    Schauspieler.    Sonntag    11.00.    Hamburger    Volksoper.    Wieder- 
holung  von  „Unser  Schaden  am  Bern". 

Rundfunk 

Mittwocb.  Leipzig  16.00:  Kastners  Punktchen  und  Anton.  —  Hamburg  16,00:  Ernster 
und  heiterer  Balkan.  Lina  Goldschmidt.  —  Berlin  19.10:  P.Scheerbarts  Begegnungen 
mit  Zeitgenossen,  Erich  Mtihsam.  —  Hamburg  20.00:  Goethes  Iphigenie.  —  Konigs- 
berg  21.10:  Querschnitt  durch  B.  Travens  Werk,  Heinrich  Hauser.  —  Donnerstag. 
Berlin  18.10:  Neben  dem  Recht,  Erich  Frey.  —  Muhlacker  20.00:  Der  Mensch 
Nr.  17381,  Horspiel  von  Leo  Lania.  —  Leipzig  20.30:  Die  Flucht  im  Kreise,  Hor- 
spiel  von  Hans  Natonek.  —  22.45:  Das  neue  Gedicht  in  der  Musik.  —  Freitag:. 
Leipzig  17.30:  Literatur  im  burgerlichen  Zeitalter,  Arno  Schirokauer.  —  Breslau 
18.40:  Die  Zeit  in  der  jungen  Dichtirng.  —  Berlin  20.00:  Potsdaraer  Str.  17a,  Hor- 
spiel von  Werner  Finck  und  Egon  Jacobsbhn.  —  Sonnabend.  Berlin  18.00:  Die 
Erxahlung  der  Woche,  M.  M.  Gehrke. 

760 


Antworten 

Hellmut  v.  Gerlach  an  die  Weltbuhnenleser.  Viele  freundliche, 
manche  minder  freundliche  Worte  sind  an  meine  Adresse  gekommen, 
als  die  Kunde  von  meiner  kiinftigen  Tatigkeit  an  der  ,Weitbuhne'  er- 
gangen  war.  Ich  weiB,  daB  ich  nur  Platzhalter  bin  —  Platzhalter 
nicht  im  Sinne  Horthys,  um  den  Platz  dauernd  zu  halten.  Im  Gegen- 
teil,  mit  dem  Wunsche  und  dem  Bemiihen,  daB  der  falsche  Waldemar 
dem  richtigen  moglichst  bald  den  ihm  zukommenden  Platz  wieder  ein- 
raume.  Der  Platzhalter  wtirde  seine  Rolle  ubel  verkennen,  wenn  er 
sich  herausnahme,  den  Urlaub  des  Eigenttimers  dazu  zu  benutzen, 
seinem  Heim  einen  andern  Charakter  zu  geben.  Andrerseits.  bleibe  icb 
natiirlich  ich  und  wandle  mich  nicht,  weil  mein  Tatigkeitsfeld  sich  ge- 
wandelt  hat.  Was  jedermann  an  Ossietzky  noch  uber  allem  andern 
schatzt,  ist  sein  Charakter:  Impavidum  ferient  ruinae!  Er  am  wenig- 
sten  wiirde  es  billigen,  wenn  auch  nur  einen  Tag  an  seinem  Platz  je- 
mand  stiinde,  der  Ossietzky  kopiert,  statt  ein  Eigener  zu  sein,  Wir 
alle  wollen  daran  arbeiten,  Ossietzky  sein  politisches  Heim,  wahrend 
er  selbst  vorubergehend  verhindert  ist,  sauber  zu  halten.  Konnten  wir 
es  ihm  bei  seiner  Riickkehr  noch  ein  wenig  geraumiger  tibergeben  — 
der  Hausherr  wiirde  nicht  schelten,  Ihm  geht  es  urn  die  Sache,  nur 
um  die  Sache.    Das  ist  das  GroBe  an  ihm. 

General  Groener.  Zwei  Tage,  nachdem  sich  die  Gefangnistiiren 
hinter  dem  Opfer  Ihrer  Militarpolitik,  Carl  v.  Ossietzky,  geschlossen 
hatten,  sind  Sie  von  den  ehrgeizigen  Generalen  Ihres  Bureaus  gesttirzt 
worden.  Statt  uns  so  blindwutig  zu  verfolgen,  ware  es  besser  gewesen, 
Sie  hatten  uns  aufmerksamer  gelesen.  Am  5.  April  dieses:  Jahres 
schrieb  hier  Carl  v.  Ossietzky:  „Groener  hat  den  Ehrgeiz,  gleichzeitig 
an  den  zwei  groBen  politischen  Hochzeiten  teilhaben  zu  wollen.  Ich 
bin  nicht  geneigt,  Herrn  Groeners  Rundimgen  Unrecht  widerfahren  zu 
lassen,  aber  um  zugleich  bei  der  Republik  und  beim  Fascismus  zu 
sitzen,  dazu  langt  nicht  einmal  der  dickste  deutsche  Ministerarsch. 
Groener  wird  bald  zwischen  die  Stiihle  plumpsen,  und  niemand  sollte 
den  Sturz  aufhalten."  Jetzt  sitzen  beide.  Aber  Ihre  Position  zwischen 
den  Stiihlen  scheint  uns  die  minder  ehrenvolle. 

Reichsfinanzministerium.  Aus  Genf  schreibt  man  uns:  „Um  den 
MitgKedern  der  deutschen  Delegation  die  Teilnahme  an  der  Abstim- 
mung  zur  Prasidentenwahl  zu  ermoglichen,  wurden  ihnen  die  Reise- 
kosten  fiir  die  Fahrt  nach  Lorrach  aus  Reichsmitteln  zur  Verfiigung 
gestellt,  und  zwar  den  Herren  zweiter,  den  Damen  dritter  Klasse. 
Zum  Protest  gegen  diese  Unbilligkeit  fuhren  auch  die  Herren  dritter 
Klasse."  Sparsamkeit  ist  gut,  aber  warum  soil  sie  sich  nicht  auf 
beide  Geschlechter  erstrecken?  Oder  teilt  man  an  hoher  Reichsstelle 
die  Auffassung  des  Herrn  Gotftfried  Feder  von  der  Frau  alst  „Magd 
tmd  Dienerin"?  _  ■' 

Reichstagung  der  nationalsozialistischen  Beamtenvertreter,  Also 
ihr  habt  in  Leipzig  beschlossen,  „gegen  die  Terrororganisation  der  sor 
genannten  Republikanischen  Beschwerdestelle  mit  auBergewohnlichen 
Mitteln  vorzugehen".  Warum  so  geheimnisvoll  ?  Was  wollt  ihr  tun? 
Giftgas  oder  Folter,  dritter  Grad? 

HaushaltsausschuB  des  Reiches.  Du  hast  in  Deiner  Sitzung  vom 
3.  Mai  festgestellt,  daB^  das  Geschenk  des  Deutschen  Reiches  an  den 
Exzaren  von  Bulgarien  im  Etat  als  „Abfindung  fiir  einen  bulgarischen 
Kriegsschaden"  verbucht,  das  heiBt  versteckt  worden  ist.  Diirfen  wir 
bei  Dir  anregen,  in  kunftigen  Etats  alle  Zahlungen  des  Reiches  an 
die  deutschen  Expotentaten  und  ihre  Angehorigen  als  „Abfindung  fiir 
einen  deutschen  Kriegsschaden"  zu  rubrizieren? 

Pazifist.  In  diesen  Tagen  wurde  die  ..Internationale  Friedens- 
Korrespondenz"  gegrtindet.  Die  IFK.  will  enge  Verbindungen  iiber 
die  ganze  Erde  knupfen,  Besuche    der  Friedensfreunde  in    den    ver- 

761 


schiedenen  Landern  vermitteln-  Da  die  bis  jetzt  bestehenden  Friedens- 
organisationen  sich  der  Aufgabe,  Korrespondenzen  zwischen  Ange- 
hdrigen  der  verschiedenen  Nationen  zu  vermitteln  und  Mitglieder  ins 
Ausland  zu,  schicken,  nicht  in  dem  MaBe  widmen  kormten,  wie  es  notig 
ware,  urn  moglichst  viel  praktische  Friedensarbeit  zu  lcisteji,  fiillt  die 
neue  Organisation  nur  eine  Lucke  aus,  Nahere  Auskunft  durch;  Carl 
Herche,   wuppertal-Unterbarmen,  Auerschulstr.  9. 

Der  Weltbuhnen-ProzeB,  In  unserm  Verlag  ist  eine  64  Seiien 
starke  Broschure  erschienen,  in  der  aufier  den  in  dieser  Nummer  ab- 
gedruckten  Schreiben.  Professor  Alsbergs,  Justizrat  Mamroths  und 
Thomas  Manns  die  Eingabe  von  Rechtsanwalt  Doktor  Apfel  an  den 
Reichsprasidenten,  Xufierungen  hervorragender  Verlreter  der  deut- 
schen  Offentlichkeit  und  wichtige  Stimmen  der  Weltpresse  zum  Welt- 
btihnenprozeO  veroffentlicht  sind.  Wer  sich  fur  diese  Schrift  inter- 
essicrt,  erhalt  sie  gegen  Einsendung  von  30  Pfennig  in  Marken  an  den 
Verlag  der  .Weltbiihne',  Berlin-Charlottenburg  2,  Kantstr,  152. 

Allen  Freunden  und  Lesern  der  ,Weltbiihne',  die  zum  Strafantritt 
Carl  v.  Ossietzkys  seiner  und  unser  in  einer  Unzahl  von  Briefen  ge- 
dacht  haben,  mussen  win  auf  diesem  Weg  unsern  herzlichstcn  Dank 
aussprechen,  da  es  uns  bei  der  Fiille  der  Schreiben  leider  nicht  mog- 
lich  ist,  Jedem  zu  antworten,  Bei  dieser  Gelegenheit  bitten  wir,  alle 
Sendungen  und  Zuschriften,  die  fur  Carl  v,  Ossietzky  bestimmt  sind, 
nicht  direkt  an  die  Strafanstalt  richteii  zu  wollen,  sondern  an  den 
Verlag  der  ,  Weltbuhne\  da  dieser  Weg  eine  erhebliche  Erleichterung 
der  Zustellung  bedeutet  und  im  Interesse  Carl  v,  Ossietzkys  liegt. 

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltfauhne.  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten ;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegea;  da  sonst  keine  Rudcsendung'  erfolgenkann. 
Das  Aufftihrangarecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  dea  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  yon  Radiovoriragen 
bleiben  fUr   alle  in  tier  Weltbtthne  eracheinenden  BeitrSge  ausdrBcklich  vorbehalten. 

Die  Wcltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung    von   Kurt  Tucholsky  geleitct.  —  VerantwortHch :    Walther  Karsch,    Berlin. 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  CI,  Steinplatz  7757.   —  Postacbedtkonto :  Berlin  11958. 
Bankkonto:     Darmstadt er    u.    Nationalbank.       Depositenkasse    Charlottenburg,    Kantstr.    112. 

Fur  Carl  von  Ossietzky! 

Die  Deutsche  Liga  fUr  Menschenrechte  und  der  Pen-Club  Deutsche  Gruppe  bitten 
alle  diejenigen,  welche  der  Ansicht  sind,  daB  Carl  v.  Ossietzky  ein  schweres 
Unrecht  geschehen  1st,  dte  untenstehende  Erklarung  mit  Namen  und  Adresse 
zu  unterzelchnen  und  umgehend  ats  Drucksache  an  die  ..Deutsche  Liga  fur 
Menschenrechte"  (Rechtsstelle)  in  Berlin  N  24,  Monbljouplatz  10,  zu  Ubersenden* 


Erklarung: 

Die   Bestrafung    des  Schriftstellers   Carl  v.  Ossietzky  zu  1Va  J  ah  re  n    G  effing  n  is 

erscheint  mir,  soweit  ich  den  Fall  kenne,  als  ein  schweres  Unrecht.    Ein  Mann  von 

soloh  untadllger  Gesinnung,  der  aus  nur  politlschen  und  lauteren  Motiven  gehandelt 

hat,  durfte  nicht  zu  einer  solchen  Strafe  verurtellt  werden. 

Ich  appelliere  an  den  Gerechtlgkeitssinn  des  Herrn  Reichsprasidenten,  die  Strafe 

durch   elnen   Gnadenakt  abzukUrzen   oder  sie  zumindest  fn   eine   Festungsstrafe 

umzuwandeln. 

Name ; „ 

Beruf    _ ; •___ 

Adresse \ ; 

patum  ,_^ ;_ ,^_  __  ,_,  _ ; 


XXVIII.  J»hrgang 24.  Mai  1932  Nnmmer  21 

Abschaf  fung  der  Reichswehr  HeiimutT  oeriach 

Wor  zehn  Jahren  wurde  in  der  Deutschen  Friedensgesell- 
v  schaft  leidenschaftHch  um  die  Frage  gekampft,  ob  man  die 
sofortige,  vollstandige  Abschaffung  der  Reichswehr  fordern 
solle*  Ich  war  dagegen.  Aber  ich  bekenne  off  en:  meine  Ge<J- 
ner  haben  recht  gehabt. 

Damals  forderte  ich  iediglich  die  Republikanisierunig  der 
*  Reichswehr*  DaB  sie  moglich  sei,  schien  das  Beispiel  der 
osterreichischen  Wehrmacht  zu  beweisen. 

Eine  Reihe  von  Jahren  hindurch  hat  sich  Oesterreich  eines 
ehrlich  republikanischen  Heeres  erfreut.  Es  war  ein  so  zu- 
verlassiges  Instrument  der  republikanischen  Politik,  daB  die 
osterreichischen-  Reaktionare  standig  ibemiiht  waren,  Mann- 
schaftsbestand  und  Ausgabeetai  des  Heeres  herabzuselzen. 

Seit  langer  Zeit  ist  jedoch  die  Truppe  Oesterreichs  genau  so 
reaktionar  wie  seine  Regjerung,  wenn  nicht  noch  reaktionarer. 
Eine  Art  immanent  en  Gesetzes  scheint  in  alien  mehr  oder  we- 
niger  reaktionar  regierteni  Landern  die  be  waff  net  en  Regie- 
rungsorgane  zu  treiben,  immer  noch  rechts  von  der  Regierung 
sclbst  zu  stehen,  Sogar  in  der  wahrhaftig  nicht  bellizistischen 
Schweiz  hat  sich  in  dem  Offizierkorps  der  Miliz  ein  Milltaris- 
mus  entwickelt,  der  an  die  Vorbilder  des  preuBischen  Vor- 
kriegsmilitarismus  erinnert,  Wer  es  nicht  glaubt,  braucht  nur 
des  Schweizers  Paul  Ilg  Schlusselroman  MDer  starke  Mann" 
zu  lesen. 

In  der  ostefreichischen  Volkswehr  gab  es  naoh,  1918  eine 
ganze  Zeit  hindurch  eine  sozialdemokratische  Mehrheit  Die 
sozialdemokratischen  Arbeiter  waren  zahlreich  der  Aufforde- 
rung  ihres  parteigenossischen  Wehrministers  zum  Eintritt  in 
die  Armee'  gefblgt. 

In  Deutschland  waren  die  Arbeiter  bei  KriegssohluB  so 
antimilitaristisch,  daO  sie  einfach  nicht  in, die  Reichswehr  hin- 
einzubringen  waren,  Andre  Element e  taten  das  an  ihrer  S telle, 
Soldnernaturen,  politisch  meist  unbeschriebene  Blatter,  darum 
grade  das  Material,  das  von  den  Vorgesetzten  politisch  be- 
schrieben  werden  konnte. 

Die  Offiziere  waren  von;  allem  Aniang  an;  in  ihrer  Mehr- 
zahl  reaktionar,  also  Monarchisten.  Denn  das  war  damals 
noch  die  Ausdrucksform  der  Reaktion. 

Auch  republikandsche  Offiziere  gab  es  in  nicht  ganz  ge- 
ringer  ZahL  Gegen  sie  hatte  Wehrminister  Noske  ein  unuber- 
windliches  Vorurteil,  so  daB  er  sie  nach  M6glichkeit  auszu- 
merzen  suchte.  Dieser  Sozialdemokrat  mit  der!  Seele  des  ge- 
borenen  Unteroff iziers  traute  nur  den  Of f izieren,  die  dem 
monarchistischen  Ideal  treu  geblieben  waren,  wahrhaft  solda- 
tische  Qualitaten  zu,  Er  traute  ja  sogar  ihrem  Ehrenwbrt  und 
-t  763 


Eid,  was  1920  bcim  Kapp-Putsch  die  Republik  so  peinlich  zu 
buBen  hatte. 

Nach  dem  Kapp-Putsch  hatte  es  noch  einmal  die  Moglieh- 
keit  gegeben,  die  Reichswehr  zu  republikanisieren,  Aber  diese 
Aufgabe  wurde  in  die  Hand  von  GeBler  gelegt.  Das  Ergebnis 
war  zwar  kerne  republikanische,  dafiir  aber  die  Schwarze 
Reichswehr.  Neben  der  illegalen  Reichswehr  in  all  ihrer 
Schwarze  erstrahltc  die  legale  Reichswehr  in  bliitenweiBer 
Unschuld.  Nur  leider  in  einer  WeiBe,  die  an  die  LilienweiBe 
der  franzosischen  Legitimisten  erinnerte. 

Nic  ist  die  Reichswehr  ein  zuverlassiges  Instrument  der 
Republik  gewesen.  Die  Regierung  selbst  traute  ihr  so  wenig, 
daB  sie  zur  Niederwerfung  des  mitteldeutschen  Aufstandes  nur 
die  Polizei  einsetzte,  Nicht,  als  wenn  sie  von  der  Reichswehr 
nicht  den  notigen  Schneid  im  Kampie  gegen  die  Kommunisten 
erwartet  hatte.  Aber  —  trau,  schau  wem!  Was  hatte  die 
Reichswehr  gemacht,  wenn  sie  als  Sieger  liber  den  innern 
Feind  durch  das  Brandenburger  Tor  eingezogen  ware?  Als 
wahrhalt  zuverlassig  nicht  nur  an  der  Front,  sondern  auch  im 
Hinterland  wurde  nur  die  Polizei  erachtet. 

Immerhin  muB  der  objektive  Berichterstatter  vermerken, 
daB  1923  die  Reichswehr  weder  bei  dem  Kiistriner  Putsch  des 
Majors  Buchrucker  noch  bei  dem  Hitler-Putsch  in  Miinchen 
mitgemacht  hat.  Allerdings  erklart  sich  die  Haltung  des 
bayrischen  Hochstkommandierenden  von  Lossow  ja  nur  da- 
durcb,  daB  er  die  von  ihm  erheischten  51  Prozent;  Erfolgsaus- 
sicht  nicht  als  vorliegend  ansah,  Und  auch  sonst  lagen  aller- 
lei  Anzeichen  vor1(  dafi  die  Reichswehr  nicht  grade  in  ihrer 
Totalitat  als  mundelsicher  gelten  konnte. 

Schon  1923  und  vorher  war  die  Reichswehr  ein  Unsicher- 
heitsfaktor  fiir  die  Republik.    Heute  ist  sie  ein  Gefahrenfaktor. 

Mitten  im  Frieden,  ist  ein  General  zu  der  ausschlaggeben- 
den  Stellung  im  Staate  avanciert,  die  wahrend  des  Krieges  zu 
Deutschlands  Unheil  General  Ludendorff  eingenommen  hatte. 
Im  Sommer  1917  erzwang  die  oberste  Heeresleitung  den  Ruck- 
tritt  Bethmanns.  Heute  erzwingen  hohe  Militars  den  Ruck- 
tritt  Groeners.  ^litar  iiber  Zivil!  Der  fiir  das  Vorkriegs- 
deutschland  typische  Zustand  ist  wieder  erreicht. 

Wenn  die  ganze  Welt  im  kaiserlichen  Deutschland  den 
wahren  Reprasentanten  des  Militarismus  erblickte,  so  keines- 
wegs  bloB  wegen  der  Starke  seiner  Effektivbestande.  RuB- 
land  hatte  mehr  Truppen,  England  mehr  Schiffe.  Aber  nur  in 
Deutschland  war  das  Militar  dem  Zivil  ubergeordnet!  der 
Generals  tab  machtiger  als  der  Chef  der  Regierung;  der  Staats- 
mann  denkt,  aber  der  General  lenkt.  Bethmann  warnt,  Beth- 
maim  fliegt. 

Jetzt  ist  bei  uns  alles  wunderschon  im  Lot.  Zwar  nicht 
die  Wirtschaft,  nicht  die  Finanzen,  nicht  die  Innenpolitik, 
nicht  die  AuBenpolitik.  Aber  das  Militar  hat  wieder  die  ihm 
764 


zukommende  Stellung  des  Uberstaates  im  Staate  erkampft. 
Der  Wehrminister  wird  von  der  Wehrmacht  gesturzt.  Und  der 
oberste  Ministersturzer  prasentiert  sich  als  der  gegebene  Nach- 
folger  des  von  ihm  gestiirzten  Ministers*  Herr  von  Schleicher 
ist  das  Muster  des  ehrgeizigen  Generals,  Wie  weit  seine 
strategischen  Fahigkeiten  reichen,  konnte  noch  nicht  fest- 
gestellt  werden,  wird  auch  hoffentlich  in' der  Praxis  nie  fest- 
gestellt  werdeni  konneik  DaB  er  der  typische  Militarist  ist, 
geht  aus  seiner  Stellung  zur  Kleiderfrage  hervor,  Als  im  De- 
zember  1918  allerlei  Sorgen  Deutschland  bedriickten,  eilte  er, 
damals  noch  Major,  nach  Berlin,  um  wie  ein  Lowe  gegen  einen 
BeschluB  des  Zentralrates  der  Arbeiter-  und  Soldatenrate  zu 
kampfen.  Dieser  BeschluB  ging  dahin,  dafi  die  Offiziere  hin- 
fiiro  keine  Achselstiicke  mehr  tragen  und  auBerhalb  des  Dien- 
stes  den  Sabel  ablegen  sollten.  Das  muBte  verhindert  werden- 
Was  ist  ein  Offizier  ohne  Degen?  Beinahe  schon  ein  ganz 
gew6hnlicher  Ziviiist.  Zwar  in  Frankreich,  in  England  und  in 
andern  Kulturlandern  erschien  er  in  seiner  freien  Zeit  immer 
ohne  Mordwaffen,  fast  immer  in  Zivil.  Aber  Deutschland  wird 
sich  doch  seine  heiligsten  Armeegiiter  nicht  rauben  lassen! 
Ein  Offizier  ohne  Degen,  das  ware  genau  so  blamabel  wie  ein 
erstklassiger  Akademiker  ohne  Schmisse, 

Wieder  herrscht  der  Militarismus  bei  uns  fast  schranken- 
los. 

Groener  muBte  gehen,  weil  er  immer  noch  nicht  genii- 
gend  militaristisch  schien,  trotz  seinem  herrlichen  Sieg  iiber 
Carl  von  Ossietzky,  trotz  seinem  mannhaften  Kampf  gegen 
Kraschutzki  vom  , Andern  Deutschland1  und  gegen  andre  Pazi- 
fisteni,  trotz  seinen  Panzerkreuzerbauten,  trotz  seinem  ge- 
schwollenen  Militaretat,  trotz  seiner  Duldung  der  National- 
sozialisten  ini  der  Reichswehr.  Aber  er  hatte  die  SA.  und  nicht 
das  Reichsbanner  verboten.     Strafe  muB  sein. 

General  vont  Schleicher  ist  der  machtigste  Mann  im  Deut- 
schen  Reich  geworden,  Er  ist  der  vollkommene  Militarist. 
Er  fuhrt  die  wichtigsten  Verhandlungen,  vor  allem  die  mit 
Hitler.  In  welchem  Sinne  er  sie  fiihrt?  Der  Welt  geniigt;  zu 
wissen,  daB  er  sie  fiihrt.  Nebenbei  bemerkt,  der  stille  Beob- 
achter  dieser  Verhandlungen  muB  immer  an  das  franzosische 
Wort  denken:  Qui  trompe-t-on  ici?  Jeder  der  beideii  Ver- 
handelnden  halt  sich  natiirlich  ftir  den  Kliigern. 

Die  auswartige  Politik  ist  den  Wiinschen  des  Militars  sub- 
ordiniert.  Die  deutsche  Delegation  in  Genf  hat  dort  keines- 
wegs  die  glanzende  Position  errungen,  wie  es  eine  vom  Aus- 
wartigen  Amt  inspirierte  deutsche  Presse  dem  gutglaubigen 
deutschen  Volke  einzureden  versucht.  Die  Weltmeinung  fin- 
det  den  deutschen  Standpunkt  zu  starr,  um  nicht  zu  sagen 
stur.  Ist  es  nutzlich,  sich  grundsatzlich  gegen  eine  bewaffnete 
Macht,  des  Volkerbundes  aufzulehnen,  grundsatzlich  gegen 
eine  Internationalisieruiig  der  Luftfahrt  einzutreten,  grundsatz- 

765 


lich  die  Beschrankung  des  Riistungsbudgets  zu  verwerfen, 
grundsatzlich  die  Behandlung  der  moralischen  Abrustung  zu 
bekampfen?  Die  Welt  erblickt  hinter  den  deutschen  Reden 
die  Fratze  des  Militarismus,  der  als  deutscher  Militarismus 
grade   so   abscheulich  aussieht  wie   jeder  andre   Militarismus. 

Sogar  das  Reichsf inanzministerhim  lugt  sich  den  Wtin- 
schen  oder  vielmehr  Forderungen  der  Reichswehr.  Es  weiB 
kaum,  wie  es  auf  vier  Wochen  im  Voraus  die  Finanzsichefheit 
verMrgen  kann,  aber  es  duldet,  daB  ein  neuer,  militaristischer 
Posten  im  Etat  erscheint,  dreihunderttausend  Mark  f (ir  Luft- 
schutz  der  Zivilbevolkerung.  Ubrigens  eine  SpielereL  Nicht 
mit  dreihundert  Millionen,  nicht  mit  drei  Milliarden  laBt  sich 
ein  wirksamer  Luitschutz  herstellen.  Fur  den  Panzerkreuzer  C 
wird  eine  erste  Rate  eingesetzt,  allerdings  mit  eihiger  Ver- 
klausulieruag.  Aiber  hatte  ein  Verzicht  auf  diese  Luxusausgabe 
nicht  die  Steilung  der  deutschen  Delegation  in  Genf  auBer- 
ordentlich  verstarkt?  Diese  schone  Geste  hatte  uns  nicht 
nur  niohts  gekostet,  sondern  uns  sogar  fiinf  Millionen  erspart. 

Gekostet  hatte  sie  nur  das  Wehrministerium  eineri  Ent- 
schluB.  Dazu  aber  war  es  nicht  fahig.  Das  widersprache  sei- 
ner Natur. 

Ware  die  Reichswehr  ein  sicherer  Hort  der  Republik,  so 
ware  sie  wenigstens  diskutabel. 

Eine  von  Schleicher  beherrschte  Reichswehr  ist  indisku- 
tabel  nicht  nur  Kir  den  Pazifisten  sondern  fur  den  Republi- 
kaner  schlechthin. 

Wie  bluhendste  Utopie  muB  es  klingen,  wenn  man  bei 
den  heutigen  Machtverhaltnissen  die  Forderung  der  Abschaf- 
fiing  der  Reichswehr  erhebt.  Aber  urn  des  Gewissens  willen 
muB  diese  Forderung  grade  jetzt  aufgestellt  werden.  Der 
Sturz  des  militaristischen  Groener  durch  die  Ubermilitaristen 
der  Reichswehr  hat  dem  FaB  den  Boden  ausgestoBem 

Seit  zwolf  Jahren  wird  eine  Republikanisierung  der 
Reichswehr  verlangt.  Statt  ihrer  ist  eine  Militarisierung  der 
RepuWik  eingetreten. 

Dem  Obel  muB  man  an  die  Wurzel  gehea 

Die  Wurzel  ist  die  Reichswehr. 

Die  aktuelle  Aufgabe  von  Carl  v.  Ossletzky 

Pinmal  wird  der  Kampf  jgegen  die  Superioritat  der  Militars 
-  in  der  Republik  wieder  einsetzfcn,  Wariin  —  ?,"  Heute  ist 
dazu  nock  nicht  einmal  der  Boden  vorbereitet.  Aber  im  Ge- 
gensatz  zu  des)  Kommunisten  glaube  ich  nicht,  daB  da  erst  die 
proletarische  Revolution  Remedur  schaffen  kann,  daB  erst  der 
SoziaJismus  die  richtige  Einordnung  der  Armee  volifuhren  wird 
Wir  haben  nicht  so  lange  Zeit  zu .  warten.  .  Allmachtsgefiihle 
politisierender  Offiziere  zu  dampJen,  das  ist  die  aktueli©  Auf- 
gabe des  Staates,  wie  er  ist,^  unci  nicht  die  des  Staates.  wie  er 
sein  soil  und  hoffentiich  einmal  sein  wird. 

10.  Mat  1932 
766 


Die  Schltisselstellung  der  KPD  k.  l.  ove°?storf f 

A  Is  an  dieser  Stclle  die  Zahlenergebnisse  der  PreuBenwahlen 
gewertet  wurden,  ist  mit  allem  Nachdruck  darauf  hin- 
gewiesen  wordeni,  daB  den  Nazis  zum  ersten  Mai  ein  erheb- 
licher  Einbruch  in  die  Arbeiterfront  gegliickt  ist.  Beriicksich- 
tigt  man,  daB  groBe  Teile  des  liberaten  Burgertums  diesmal 
■sozialdemokratisch  gewahlt  haben,  daB  gegeniiber  den  Reichs- 
tags wahl en  eine  erhebliche  Zahl  von  Neuwahlern  yorhandien 
■war,  so  sind  eine  Million  bisher  sozialdemokratischer  oder 
Icommunistischer  Arfbeiterwahler  in  die  Naziffont  eingeschwenkt. 
Das  ist  eine  ungeheuer  ernste  Mahnung  fur  die  be  idea 
groBen  Arbeiterparteien.  Nichts  zeigt  deutlicher  als  dieses 
Tatbestand,  daB  ihre  bisherige  Politik  im  Kampf  gegen  den 
Fascismus  falsch  gewesen  ist;  und  nichts  macht  auch  klarer, 
daB  die  fascistische  Dampfwalze  liber  die  deutsche  Arbeiter- 
schaft  dahingehen  wird,  wenn  nicht  in  absehbarer  Zeit  beide 
Parteien  ihre  Politik  andern.  Grade  die  Eroffnung  des  Preu- 
Bischen .  Landtages,  grade  die  preuBische  Regierungsbiidung 
k  6  mien  von  ganz  entscheidender  Bedeutung  fiir  die  weitere 
politische  Entwicklung  werden,  —  was  die  beiden  groBen  Arbei- 
terparteien veranlassen  soilte,  ihre  bisherige  Haltung  unter 
eine  sehr  kritische  Lupe  zu  nehmen.  Wenn  wir  selbst  bei  dem 
Versuch,  die  Bilanz  aus  der  sozialdemokratischen  und  der  kom- 
munistischen  Politik  der  letzten  Jahre  zu  ziehent,  zu  keinem 
sehr  giinstigen  Ergebnis  gelangen,  dann  nicht  darum,  weii  es 
uns  eine  besondere  Freude  macht,  alte  Siinden  iestzunageln, 
sondern  nur  darum,  weil  allein  das  rticksichtslose  Bekenntnis 
aller  bisherigen  Fehler  die  Moglichkeit  schafft,  Parolen  mit 
groBerer  Erfolgsaussicht  fur  die  Zukunlt  zu  geben. 

Der  Verlust  an  sozialdemokratischen  Stimmen  bei  den 
PreuBenwahlen  ist  nicht  der  erste  sondern  nur  ein  weiterer 
Schritt  in  der  Ruckwartsbewegung  seit  der  Krise,  Die  Sozial- 
demokratie ftihrti  dies  auf  die  Verzweiflungsstimmung  in  einer 
solchen  Zeit  zuriick.  Sie1  hat  aber)  niqfot  immer  so  argumentier-t, 
waren  es  doch  vor  dem  Kriege  grade  die  Krisenzeiten,  wo  ihr 
Einf lufi  zunahm,  Damals  war  sie  aber  auch  keine  reformistische 
Partei,  damals  beteiligte  sie  sich  nicht  an  biirgerlichen  Regie- 
rungen,  und  grade  darum  gab  en  ihr  solche  Situationen  die  Mog- 
lichkeit, ihre  Anklagen  gegen  das  kapitalistische  System  vor 
aller  Augen  zu  demonstrieren.  Heute  aber  mac  hen  die  groBen 
Massen,  denen  es  in  der  Krise  immer  schlechter  geht,  auch  die 
Sozialdemokratie  dafiir  verantwortlich,  weil  sie  in  PreuBen  in 
der  Regierung  sitzt,  weii  sie  im  Reich  die  Bruning-Regierung 
toleriert.  Die  Sozialdemokratie  wuBte,  daB  sie  sich  d'urch  die 
Tolerierungspolitik,  die  sie  unter  anderm  daran  hinderte, 
groBe  Streikaktionen  gegen  den  Lohnabbau  zu  fuhren,  bei  den 
Massen  unpopular  machte;  aber  sie  glaubte  lange,  dafl  diese 
Krise  bald  voruibergehen,  dafl  der  Fascismus,  den  sie  fiir  eine 
Fiebererscheinung  hielt,  damit  verschwinden  und  daB  sie  so 
in  der  bald  eintretenden  Konjunktur  das  Vextrauen  der  Mas- 
sen)  wiedergewinnen  werde.  Die  Tolerierungspolitik  soilte  so- 
mit  eine  Atempause  schaffen,  sie  soilte  die  Machteroberung 
durch  den  Nationalsozialismus   verhindem. 

2  767 


Abcr  die  Grundlage  dieser  Rechnung  stimmt  nicht.  Die 
heutige  Krise  ist  kerne  Krise  wie  jede  andre.  Sie  fallt  in  den 
Niederganig  des  gesamten  kapitalistischen  Systems,  zu  dessen 
schwachsten  Gliedern  der  deutsche  Kapitalismus  zahlt 
Alle  Prophezeiungen,  das  Anschwellen  der  Naziwelle  werde 
aufhoren,  erwiesen  sich  als  falsch.  Und  die  Atempause  im 
Klassenkampf,  die  sich  die  Soziald'emokratie  durch  die  Tole- 
rierung,  durch  die  Fortfiihrung  der  Koalitionspolitik  in  Preu- 
Ben  scbaffen  wollte,  diese  Atempause,  die  die  Machtergreifung 
der  Nationalsozialisten  verhindern  sollte,  erwies  sich  als  kata- 
strophal  fiir  die  Arbeiterschaft.  Denn  die  Nazis  .nahmen  immer 
weiter  zu,  sie  nahmen  d'irekt  zu  und  indirekt.  Direkt;  das 
zeigt  ihr  rapides  Anwachsen  bei  alien  Wahlen,  die  Zerschla- 
gung  der  burgerlichen  Mittelparteien,  der  Ekibruch  in  die  Ar- 
beiterfront;  indirekt;  im  Klassenkampf  ist  es  so  wie  in  jedem 
Krieg,  die  eignen  Krafte  werden  auch  dadurch  starker,  daB  die 
gegnerischen  an  Macht  und  EinfluB  abnehmen.  Und  da  die 
Sozialdemokratie  als  Folge  ihrer  Tolerierungspolitik  die  groBen 
Massenorganisationen  der  Arbeiterschaft,  die  freien  Gewerk- 
schaften,  zu  keinerlei  wirklichen  Aktionen  einsetzen  konnte, 
da  sie  vor  allem  den  ungeheuerlichen  Lohnabbau  der  letz- 
ten  Notverordnung  ohne  Kampf  hinnahm,  so  hohlte  sie  die 
eignen  Organisationen  von  innen  her  immer  starker  aus.  Dem 
Entscheidungskampf  mit  den  Nazis  kann  somit  die  Arbeiter- 
schaft trotz  der  Tolerierungspolitik  nicht  ausweichen,  aber 
sie  muB  ihtn  infolge  dieser  Politik  zu  einem  Zeitpunkt  fuhren, 
wo  durch  die  lange  Atempause  die  gegnerischen  Krafte  star- 
ker, die  eignen  schwacher  geworden  sind.  All  das  ist  keine 
akademische  Betrachtung.  Es  sind  vielmehr  Gedankengange, 
die  bis  weit  in  die  Sozialdemokratie  hinein  diskutiert  wer- 
den, wenn  man  die  Haltung  der  Sozialdemokraten  bei  der 
Regierungsbildung  in  PreuBen  untersucht.  Durch  die  Anderung 
der  Geschaftsordnung  ist  es  bekanntlich  moglich,  daB  das 
Ministerium  Braun  als  geschaftsfuhrendes  Ministerium  bleibt, 
obwohl  die  Parteien,  die  hinter  ihm  steben,  weniger  Abgeord- 
nete  haben  als  die  Rechte,  wahrend  die  Rechte  selbst  iiber 
keine  absolute  Majoritat  verfiigt. 

Was  aber  wtirde  eintreten,  wenn  wahrend  des  Sommers 
Brawn-Severing  als  geschaftsfuhrendes  Ministerium  regierten? 
Man  ist  sich  im  aligemeinen  dariiber  einig,  daB  in  diesem 
Jahre  auch  nicht  die  geringftigigste  Besserung  der  Kon- 
junktur  eintreten  wird.  Im  Gegenteil.  Die  Antwort  d'es  Mono- 
polka  pi  tals  wird  die  gleiche  sein  wie  bisher:  weiterer  Abbau 
der  Lohne,  weitere  Verschlechterung  der  Sozialpolitik;  Steger- 
walds  Ankiindigungen  waren  ja  bereits  deutlich  genug.  Re- 
giert  nun  die  Sozialdemokratie  mit  einem  geschaftsfuhrenden 
Ministerium  in  PreuBen  und  toleriert  sie  gleichzeitig  weiterhin 
die  Bruning-Regierung,  so  wird  sie  von  den  Massen  wiederum 
fur  den  neuen  Lohnabbau  verantwortlich  gemacht  werden,  nun 
aber  in  einem  Moment,  wo  diese  Massen  immer  weniger  an  ein 
baldiges  Ende  der  Krise  glauben  sowie  daran,  daB  durch  diese 
Politik  dem  Fascismus  der  Weg  verrammelt  wird.  Da  die 
Fascisten  bei  den  letzten  Wahlen  fast  siebenunddfeiBig  Pro- 
zent  der  Stimmen  hatten,  so  Hegt  es  durchaus  im  Bereicft  des 

768 


Moglichen,  daB  sie  bei  unveranderter  Haltung  der  SPD  in  den 
nachsten  Wahlcn  an  die  iunfzig  Prozent  heranrucken.  Auch 
sozialdemokratische  Kreise  erkennen  heute,  weloh  starken  Auf- 
trieb  die  Nazis  durch  die  Tolerierung  bekommen  haben. 

Wenn  diese  Stimmen  innerhalb  der  Sozialdemokratie  noch 
nicht  die  entscheidenden  sind,  so  nicht  zuletzt  deshalb,  weil 
eine  Abkehr  von  der  bisherigen  Politik  zwar  leicht  ist,  etwas 
Konkretes  an  ihre  Stelle  zu  setzen,  aber  umso  schwerer. 
Und  dies  darum,  weil  die  Kommunistische  Partei  in 
den  letzten  Jahren  infolge  ihrer  ultralinken  Taktik  vollig 
versagt  hat.  Es  kann  gar  nicht  scharf  genug  betont  werden, 
daB  bei  den  PreuBenwahlen  die  KPD  im  Verhaltnis  mehr  Stim- 
men verloren  hat  als  die  SPD.  Von  den  Reichstagswahien  im 
September  1930  bis  zu  den  PreuBenwahlen  hat  sich  das  Elend 
in  Deutschland  ungeheuerlich  vergroBert,  hat  die  Sozialdemo- 
kratie keinen  Offensivkampf  gefuhrt,  hat  sie  bei  den  Reichs- 
prasidentenwahlem  nicht  einmal  mehr  gewagt,  einen  eignen 
Kandidaten  aufzustellen,  —  und  doch  hat  die  KPD  die  Un- 
masse  der  von  der  reformistischen  Politik  Enttauschten 
nicht  in  ihren  Reihen  zu  aktionsfahigen  Kaders  zu  sammeln 
verstanden,  Zwar  habeni  die  Kommunisten  mit  Recht  gegen- 
iiber  der  Sozialdemokratie  erklart,  daB  man  den  Kampf  gegen 
den  Fascismus  nur  fiihren  kann  als  Kampf  gegen  die  Quell  en, 
die  ihn  gespeist  haben  und  noch  speisen,  als  Kampf  also  gegen 
d«n  Lohnraub,  gegen  die  Verschlechterun(g  der  Sozialpolitik 
und  der  Lebensbedingungen  des  Arbeit ers.  Aber  wahrend  die 
Sozialdemokratie  durch  ihre  Tolerierungspolitik  unfahig  war, 
diesen  Kampf  aufzunehmen,  hat  die  KPD  ihn  infolge  von  Feh- 
lerri,  die  auf  andrer  Ebene  liegen,  ebensowenig  fiihren  konnen. 
Niemals  in  der  Geschichte  des  deutschen  Kapitalismus 
ist  der  Lohn  in  so  rapidem  Tempo  abgebaut  worden 
wie  vom  September  1930  bis  zum  April '  1932,  und 
trotzdem  ist  niemals  so  ,  wenig  gestreikt  worden.  Zwar 
erklart  die  KPD  auf  geduldigem  Papier,  man  miisse  die  Ar- 
beiter  zu  Aktionen  gegen  den  Lohnraub  veranlassen,  an  kei- 
ner  Stelle  aber  hat  sie  groBere  Massen  zu  einer  erfolgreicben 
Aktion  fiihren  konnen:  Weil  sie  sich  durch  ihre  ultralinke 
Taktik  in  Betrieben  und  Gewerkschaften  immer  mehr  von  den 
breiten  Arbeitermassen  isolierte,  weil  sie  nicht  innerhalb  der 
Gewerkschaften  tatig  war  sondern  eigne,  infolge  ihrer  mini- 
malen  Mitgliederzahi  absolut  einfluBlose,  Verbande  aufmachte, 
wie  die  RGO.  Und  so  hat  sie  die  vom  Reformismus  enttausch- 
ten Arbeitermassen  nicht  auffangem  konnen;  sie  konnte  ihnen 
auch  nichts  bieten.  Durch  nationalbolschewistische  Parolen, 
durch  Teilnahme  am  Volksentscheid  in  PreuBen,  durch  das 
Programm  der  nationalen  und  sozialen  Befreiung  hat  schlieB- 
lich  die  KPD  die  Arbeiterschaft  so  weit  verwirrt,  daB 
bei  der  zweiten  Prasidentenwahl  hunderttausende  von 
Thalmannwahlern  Hitler  ihre  Stimme  gaben.  Sie*  hat,  wie  sie 
sejber  zugestand,  durch  die  Bekampfung  ausschlieBlich  der  So- 
zialdemokraten,  die  sie  ,,Sozial-Fascisten"  nannte,  einen  schwe- 
ren  „Tempoverlust"  in  der  Niederringung  des  Nationalsozialis-. 
mus  erlitten.  Sie  tragt  ihr  gerutteltes  MaB  Schuld,  daB  in  einem 
Augenblick,   wo   die  Konterrevolution,   wo   der   Nationalsozia- 

769 


lismus  immcr  brutaler,  immer  terroristischer  vorgeht,  die  Ar- 
beitcrschaft  in  sich  uneins,  gespalten  ist  und  dahcr  nur  ein 
Minimum  ihrer  tatsachlichen  Aktionskraft  aufbringen  kann. 

Am  Tage  nach  den  PreuBenwahlen  war  etwas  Katzen- 
jammerstimmun^  bei  den  Kommunisten,  man  pflegte  wieder 
einnxal  bolschewistische  Selbstkritik.  Und!  so  erklarte  die 
,Rote  Fahne',  man  sei  bereit,  mit  jeder  Organisation  zusammen 
zu  arbeiten, '  die  ihrerseits  den  Fascismus  bekampfen  will.  Der 
,VorwartsJ  ant  wort  ete  in  seiner  Abend-Ausgabe  anders  als 
in  der  gewohnten  Manier.  Wahrend  man  sonst  immer 
von  , .Nazis  und  Kozis"  schrieb,  sprach  diesmal  der 
jVorwarts*  bei  aller  sachlichetn  Scharfe  wie  ein  Bruder  zu 
einem  andern.  Aber  damit  war  es  schon  aus.  Ja,  Thalmann 
erklarte  in  seiner  Rede  am  1.  Mai  alle  diejenigen  fur  Lugner, 
die  meinten,  daB  die  Kommunistische  Partei  infoige  der  Preu- 
Benwahlen eine  Wendung  vornehmem  wolle;  die  Kritik  an  der 
Tolerierungspolitik  der  SPD  habe  sich  als  richtig  erwiesen,  da- 
her  brauche  die  KPD  ihre  Taktik  nicht  zu  andern.  So  richtig 
der  erste  Satz  ist,  so  wenig  stimmt  der  zweite. 

Die  KPD  hat  sich  b'isher  ihre  Taktik  in  der  Frage  der 
PreuBenregierung  vollig  vorbehalten.  Notwendig  ist  es,  daB 
sie  die  Machtubernahme  der  Nazis  in  PreuBen  verhindert 
Tut  sie  das  Gegenteil,  ermoglicht  sie  den  Nazis,  in  PreuBen  aos 
Ruder  zu  kommen,  so  werden  die  Reformisten  ein  billiges 
Agitationsmittel  haben;  womit  die  Kluft  zwischen  sozialdemo- 
kratischen  und  kommunistischen  Arbeitern  immer  groBer 
wiirde.  Natiirlich  diirfen  die  Kommunisten  nun  nicht  etwa 
ihrerseits  in  eine  parlamentarische  Tolerierungspolitik  ein- 
schwenken,  sondern  sie  miissen  eine  motivierte  Erklarung  ab- 
geben  des  Inhalts,  daB  sie  durch  ihre  Haltungl  die  Vorausset- 
zung  schaffen  wollen  fur  eine  Einheitsfront  sozialdemokrati-  * 
scher  und  kommunistischer  Arbeiter  im  Kampi  gegen  den 
Fascismus;  ein  Kampf,  der  sich  im  wesentlichen  auf  auBer- 
pariamentarischem  Gebiet  abspielen  wird.  Die  Kommunisten 
miissen  dabei  so  elastisch  manovrieren,  daB  sie  wie  bei  der 
Kampagne  zur  Fiirstenenteignung  der  Sozialdemokratie  die  Ein- 
heitsfro.nt  aufzwingen.  Wenn  die  KPD  die  Nazis  an  der  Macht- 
ubernahme in  PreuBen  hindert,  so  muB  sie  gleichzeitig  der  So- 
zialdemokratie und  den  freien  Gewerkschaften  efklaren,  daB 
sie  ihre  RGO-Politik  wie  uberhaupt  ihre  Spaltungstaktik  in 
alien  Massenorganisationen  der  Arbeiterschaft  liquidiert,  daB 
sie  bereit  ist,  sich  mit  der  Sozialdemokratie  auf  der  Basis  prole- 
tarischer  Mindestforderungen  zu  einem  auBerparlamentarischen 
Einheitsblock  zusammenzuschlieften,  Angesichts  der  immer  wei- 
tern  Zuspitzung  der  wirtsohaitlichenj  Situation,  angesichts  des 
Fiaskos  aller  Arbeitsbescharfunigsplane  miiBten  Parolea  in  deri 
Vordergrund  geriickt  werden^  die  jedem  Arbeiter  sofort  ver- 
standlich  sind:  Vierzig-Stundenwoche  bei  vollem  Lohnausgleich 
und  Zusammenfassung  aller  antifascistischen  Organisationen  zu 
einer  geschlossenen  proletarischen  Abwehrformation,  Mit 
solchen  Parolen  konnte  die  KPD  die  Sozialdemokratie  zu  einer 
Einheitsfront  zwingen,  Sie  hat  heute  cine  Schliisselstellung., 
allerdings  in  ganz  andrer  Weise  als  die1  glauben,  die  lediglich 
die  parlamentarischen  Verhalfcnisse  betrachten. 

770 


Es  ist  unwahrscheinlich,  daB  die  KPD  ihre  Schlusselstel- 
lung|  zur  Gestaltung  der  Einheitsfront  ausniitzen  wird.  Aber 
in  ihren  eignen  Reihen  und  in  denen  der  SPD  wachst  die 
Zahl  derer,  denen  klar  geworden  ist,  daB  man  in  dieser  Rich- 
tung  arbeiten  muB,  daB  mir  dann  der  fascistischen  Welle 
ein  Damrn  entgegengesetzt  werden  kann.  Wir  diirfen  uns 
keine  Illusionen  machen,  Voraussichtlich  werden  die  Kommu- 
nisten  auch  im  PrcuBischen  Landtag,  wenn  uberhaupt,  nur 
halbe  Wendungen  vollziehen,  voraussichtlich  wird  die  Fuhrung 
der  SPD  diese  halben  Wendungen  dazu  benutzem,  urn  ihrer- 
seits  eine  wirkliche  Eintheitsfront  der  Arbeiterschaft  zu  sabo- 
tieren.  Grade  weil  die  Fuhrungeri  so  versagen,  ist  mehr  als  je 
notwendig,  diese  Gedanken  zur  Einheitsfront  zwischen  SPD 
und  KPD  in  die  Kopfe  zu  trommeln.  Die  prinzipiellen  Gegen- 
satze  zwischen  beiden  Parteien  diirfen  nattirlich  nicht  verklei- 
stert,  nicht  verkleinert  werden.  Aber  wie  Lenin,  der  die 
Kerenskiregierung  unversohnlich  bekampfte,  in  der  Abwehr 
gegen  Kornilow  mit  ihr  gemeinsame  Sache  machte,  so  muB 
zunachst  einmal  als  Gegenwartsaufgabe  der  Fascismus  in 
Deutschland  geschlagen  werden. 

Arbeiterblock  im  Kampf  gegen  den  Fascismus,  das  ist  die 
Parole, 


Zlir  Lage  von  N.  Lenin 


Die  Presse  der  KPD  versichert,  die  Kommunisten  wtirdea 
alles  tun,  Hitlern  den  Weg  zur  Regierungsmacht  zu  versperren, 
und  erklart  zugleich  Jeden  fiir  schiefgewickelt,  der  hoffe,  die 
Partei  werde  ihren  bewahrten  Kurs  andern.  (Thalmann,  in 
seiner  Lustgartenrede,  ging  so  weit,  PresseauBerungen,  die  solche 
Hoffnung  voreilig  wie  eine  GewiBheit  brachten,  als  „freche 
Luge"  zu  bezedchnen,)  Dieser  Widerspruch  mag  „dialek- 
tisch"  sein;  logisch  ist:  daB  die  Kommunisten  den  Na- 
lionalsozialismus  nur  dann  von  der  Macht  werden  fern- 
zuhalten  vermogen,  wenn  sie  ihren  Kurs  andern,  Im  PreuBi- 
schen '  Landtag  sitzen  203  Nazis  und  Hilfstruppen,  163  Wei- 
maraner,  57  Kommunisten;  bleibt,  was  durchaus  im  Bereich  des 
Denkbaren  liegt,  das  Zentrum  einstweilen  weimarsch,  so  wtirde 
die  Kommunistische  Fraktion  durch  Unterstutzung  des  kleinern 
Obels  das  groBere  verhindern  konnen.  Nicht  nur  durch  Ver- 
zicht  auf  Ruckwartsrevidierung  der  Geschaftsordnung;  sondern, 
beispielsweise,  auch  durch  Stimmenthaltung  bei  dem  zu  erwar- 
tenden  MiBtrauen&antrag  der  Rechten  gegen  eine  etwa  neuc 
Regierung  der  Mitte.  Die  PreuBische  Verfassung  enthalt  eine 
in  weiten  Kreisen  unbekannte  Bestimmung  (Artikel  57  Ziffer  5), 
wonach  der  BeschluB  auf  Entziehung  des  Vertrauens  nur  wirk- 
sam  ist,  wenn  ihm  mindestens  die  Halfte  der  Abgeordneten 
zustimmt,  aus  denen  zur  Zeit  der  Abstimmung  der  Landtag  be- 
steht.  Ein  Mifltrauensvotura  braucht  also  jetzt  212  Stimmen; 
der  Rechten  fehlen  dazu  9.  Handelt  die  KPD  nach  altem  Ritus 
(Stil  ,Roter  Volksentscheid'),  dann  geht  das  Mititrauensvotum 
durch:  bei  voller  Besetzung  mit  48  Stimmen  iiber  dem  vorge- 
schriebnen  Minimum;  andert  sie  den  Kurs  (Stimmenthaltung 
genugt),  dann  bleibt  der  MiBtrauensbeschluB  unwirksam.  Diese 
Kleinigkeit  ist  von  entscheidender  Bedeutung . . .  fiir  mehr  als 
nur  die  Regierungsbildung  in  PreuBen;  sie  ist  unter  Umstanden 
von  Bedeutung  fiir  das  Schicksal  des  Erdteils.  Wie  bringt  man 
die    Kommunisten     zur    Vernunft?      Durch    Gutzureden     nicht, 

771 


durch  scharfsinniges  Argumentieren  nicht,  mit  Liebe  nicht  und 
nicht  mit  -Pfeffer;  kein  Lebendiger,  und  redete  er  mit  Engelft- 
zungen  wic  Trotzki,  brachte  sie  zur  Vernunft,  Im  Gegenteii, 
durch  Vernunft  und  Engelszunge  macht  sich  der  sozialistdsche 
Revolutionar  bei  ihnen  nur  verdachtig,  zum  „Vortrupp  der 
konterrevolutipnaren  Bourgeoisie"  zu  gehoren.  Das  heiBt,  sie 
glauben  das  selber  nicht,  aber  schwindelns  ihren  Lesern  vor,  auf 
deren  Unkenntais  und  Autoritatsglaubigkeit  spekulierend.  Einzig 
ein  Toter  kann  hter  iiberzeugen  —  Lenin,  Lenin,  fur  unsereinen 
kein  Gotze,  sondern  ein  Verehrungswurdiger  mit  anfechtbaren 
Einzelphilosophemen  {wie  andre  Verehrungswurdige  auch),  bleibt 
ganz  grofi  und  genial  ais  Stratege  der  revolutionaren  Verwirk- 
lichung.  Seine  Taten  bezeugens  und  unter  seinen  Schriften  vor 
allem  das  liebenswerte,  im  April  1920  vollendete  Buch  "Die 
Kinderkrankheit  des  ,Radikalismus'  im  Kommunismus,\  Das 
Exekutivkomitee  der  Kommunistischen  Internationale  wiirde 
sich  ein  Verdienst  erwerben,  wenn  es  den  Groflfunktionaren  der 
deutschen  Partei  auferlegen  wollte,  gerade  jetzt,  dieses  Werk 
Lenins  auswendig  zu  lernen.  Es  enthalt  Stellen  von  unheim- 
licher  Aktualitat,  Im  ^olgenden  seien  einige  herausgepfliickt 
(nach  der  z  wet  ten  berichtigten  Auflage,  Berlin  1926,  Vereini- 
gung   Internationaler   Verlagsanstalten) . 

Kurt  Hilter 

I^ompromisse    ,,prinzipiell"    ablehncn,     jedc    Zulassigkeit    von 
Kompromissen   iiberhaupt,    welcher  Art    sie    auch    seien, 
verneinen,    das    ist    eine    Kinderei,    die    kau.m   recht    ernst   ge- 
nommen  werden  kann. 

Es  gibt  Kompromisse  und  Kompromisse.  Man  muB  ver- 
stehen,  die  Umstande  und  die  konkreten  Bedingungen  eines 
jeden  Kompro misses,  einer  jeden  Abart  der  Kompromisse  zu 
analysieren .  ,  ,  Derjenige  aber,  dem  es  einfallen  wiirde,  fur 
die  Arbeit  ein  Rezept  auszudenken,  das  ihnen  im  voraus  fer- 
tile Entscheidungen  fur  alle  Falle  des  Lebens  geben  wiirde, 
oder  der  ihnen  versprechen  wiirde,  daft  es  in  der  Politik  des 
revolutionaren  Proletariats  niemals  Schwierigkeiten  oder  ver- 
wickelte  Lagen  geben  wird,  der  wiirde  einfach  ein  Scharlatan 
sein. 

Die  Anerkennung  des  Marxismus  allein  befreit  noch  nicht 
von  Fehlern.  Das  wissen  wir  Russen  besonders  gut,  derm  bei 
uns  war  der  Marxismus  besonders  oft  Mode. 

Ober  diese  Tatsache  sollten  jene  deutschen  Genossengriindr 
lich  nachdenken,  die;  jetzt  vor  der  Aufgabe  stehen,  zu  lernen, 
in  den  reaktionaren  Gewerkschaftsverbanden  revolutionare 
Arbeit   doirchzuftihren. 

Den  Kampf  mit  den  opportunistischen  und  sozialchauvi- 
nistischen  Fiihrern  fiihren  wir,  um  die  Arbeiterklasse  auf  unsre 
Seite  zu  ziehen.  Diese  ganz  elementare  undj  ganz  handgreif- 
liche  Wahrheit  zu  vergessen  ware  toricht.  Und  grade  diese 
Torheit  begehen  die  ,,radikalen"  deutschen  Kommunisten„  die 
aus  dem  reaktionaren  und  gegenrevolutionaren  Geist  der  Ober- 
schicht  der  Gewerkschaf  tsverbande  schlieBen  auf . . .  Austritt 
aus  den  Gewerkschaftsverbanden!!  Ablehnung  der  Arbeit  in 
ihnen!!  Schaffung  von  neuen  ausgedachteri  Formen  der  Arbei- 
terorganisationen!!  Das  ist  eine  unverzeihliche  Dummheit,  die 

772 


gleichbedeutend  mit  dem  groBten  Dienst  ist,  den  die  Kommu- 
nisten  der  Bourgeoisie  erweisen. 

Der  Parlamentarismus  hat  sick  „historisch  uberlebt".  Das 
ist  richtig  im  Sitine  der  Propaganda.  Aber  ein  jeder  weiB,  daB 
es  von  ihr  bis  zur  praktischen  Oberwindung  noch  sehr  weit  ist, 
Vom  Kapitalismus  konnte  man  schon  vor  vielen  Jahrzehnten, 
und  zwar  mit  vollem  Recht,  erklaren,  daB  er  sich  ,,historisch 
uberiebt"  habe;  das  aber  beseitigt  durchaus  nicht  die  Notwen- 
digkeit,  sehr  lange  und  sehr  hartnackig  auf  dem  Boden  des 
Kapitalismus  zu  kampfen. 

Das  Verhalten  einer  politischen  Partei  ihren  Fehlern  gegen- 
iiber  ist  eins  der  wichtigsten  und  sichersten  Kriterien  der 
Ernsthaftigkeit  der  Partei  und  der  tatsachlichen  Erfiillung  ihrer 
Pflichten,  die  sie  in  bezug  auf  ihre  Klasse  und  in  bezug  auf 
die  werktatigen  Massen  hat. 

Die  ((radikalen"  Kommunisten  sagen  sehr  viel  Gutes  iiber 
uns  Bolschewiki.  Manchmal  mochte  man  sagen:  wenn  sie  uns 
doch  weniger  loben  wiirden,  wenn  sie  doch  mehr  in  die  Taktik 
der  Bolschewiki  eind'ringen,  sich  naher  mit  ihr  bekanntmachen 
wiirden! 

Das  sicherste  Mittel,  eine  neue  politische  (und  nicht  nur 
politische)  Idee  zu  diskreditieren  und  zu  schadigen,  besteht 
darin,  sie,  im  Namen  ihrer  Verteidigung,  bis  zur  Absurd! tat  zu 
fiihren. 

Es  ist  schwer,  sich  etwas  Gemeineres,  Schuftigeres,  Ver- 
raterisches  vorzustellen,  als  das  Verhalten  der  gewaltigen 
Mehrzahl  der  sozialistischen  und  sozialdemokratischen  Ab- 
geordneten  im  Parlament  wahrend  des  Krieges  und  nachher. 
Es  ware  aber  nicht  nur  unverstandig,  sonidern  direkt  ver- 
brecherisch,  dieser  Stimmung  bei  Entscheid'ung  der  Frage 
nachzugeben,  wie  gegen  das  allgemein  anerkannte  Obel  ge- 
kampft  werden  mufi. 

Wir  aber  in<  RuBIand  haben  uns  durch  allzulange,  schwere, 
blutige  Erfahrung  davon  uberzeugt,  daB  revolutionare  Taktik 
nicht  allein  auf  revolutionarer  Stimmung  aufgebaut  werden 
darf. 

,,Mit  aller  Entschiedenheit  ist  jedes  KompromiB  mit 
andern  Parteien  . .  ,  jede  Politik  des  Lavierens  und  Paktierens 
abzulehnen"  —  schreiben  die  deutschen  „Radikalen"  . . .  Es 
ist  erstaunlich,  daB  diese  „Radikalen"  bei  solchen  Ansichten 
nicht  den  Bolschewismus  entschieden  verurteilen!  Es  ist  doch 
nicht  moglich,  daB  die  ^deutschen  „Radikalen"  nicht  wissen, 
daB  die  ganze  Geschichte  des  Bolschewismus,  vor  wie  nach 
der  Oktoberrevoiution,  voll  ist  von  Fallen  des  Lavierens,  Pak- 
tierens, der  Kompromisse  mit  andern  Parteien,  darunter  auch 
mit  burgerlichen! 

Unsere  Lehre  ist  kein  Dogma,  sondern  eine  Richtschnur 
zum  Handeln,  sagten  Marx  und  Engels  .  . .  Die  politische  Ta- 
tigkeit  ist  nicht  das  Trottoir  des  Newsky-Prospekt  (das 
saubere,  breite,  glatte  Trottoir  der  vollstandig  graden  Haupt- 
straBe  Petrograds),  sagte  schon  der  groBe  russische  Sozialist 
der  Periode  vor  Marx,  N.  G.  Tschernysohewski. 

773 


Die  russischen  revolutionaren  Soziaidemokraten  haben  bis 
zum  Sturze  des  Zarismus  wicderholt  die  Dietiste  der  burger* 
lichen  Liberalen  in  Anspruch  genommen,  d.  h.  sie  sin&  mit 
ihnen  eine  Menige  praktischer  Kompromisse  eingegangen^  und 
1901  und  1902,  noch  vor  der  Entstehung  des  Bolschewismus* 
hat  die  alte  Redaktion  der  Jskra*  (zu  der  Plechanow,  Axelrod, 
Sassulitsch,  Martow,  Potressow  und  ich  gehorten)  ein  form- 
liches  politisches  Biindnis  (freilich  nicht  fur  lange)  mit  Struve, 
dem  politischen  Fiihrer  des  Liberalismus,  geschlossen  . . . 

Mit  den  Menschewiki  waren  wir  im  Laufe  der  Periode 
von  1903  bis  1912  wiederholt  mehrere  Jahre  in  einer  einheit- 
lichen  sozialdemokratischen  Partei,  ohne  jemals  den  ideolo- 
gischen  und  politischen  Kampf  mit  ihnen . , .  einzustellen. 

Wahrend  des  Krieges  gingen  wir  ein  gewisses  KompromiB 
mit  den  ..Kautskyanern",  den  linken  Menschewiki  (Martow) 
und  zum  ,Teil  mit  den  „SozialrevolutionarenM  Tschernow,  Na- 
thanson  ein;  wir  saBen  im  Verein  mit  ihnen  in  Zimmerwald 
und  Kienthal  und  erlieBen  gemeinsame  Manifeste 

Durch  den  SchnellfeuerbeschluB:  „keinerlei  Kompromisse, 
kein  Lavieren",  kann  man  das  Wachstum  des  Einilusses  des 
revolutionaren  Proletariats  und  die  Vermehrung  seiner  Krafte 
nur  schadigen,  t 

DaB  die  Henderson,  Clynes,  Macdonald,  Snowden  hoff- 
nungslos  reaktionar  sind,  das  ist  richtig.  Ebenso  richtig  ist  es, 
daB  . , ,  sie,  zur  Macht  gelangt,  unvermeidlich  sich  ebenso  be- 
nehmen  werden  wie  die  Scheidemanner  und  die  Noskes,  Alles 
dies  ist  so,  aber  hieraus  folgt  durchaus  hicht,  daB  ihre  Unter- 
stiitzung  ein  Verrat  an  der  Revolution  ist,  sondern  daB  die 
Revolutionare  der  Arbeiterklasse  diesen  Herren,  im  Interesse 
der  Revolution,  eine  gewisse  parlamentarische  Unterstiitzung 
gewahren  miissen, 

Und  wenn  man  mir  entgegnet,  das  ist  eine  zu  „schlaue"* 
oder  zu  komplizierte  Taktik,  die  Massen  werden  sie  nicht  ver- 
stehen,  sie  wird  unsre  Krafte  zersplittern  und  zerstiickehv 
wird  urns  hindern,  diese  Krafte  auf  die  Sowjetvertreter  zu  kon- 
zentrieren  usw.,  so  antworte  ich  diesen  (jradikalen"  Opponen- 
ten:  walzt  euren  Doktrinarismus  nicht  auf  die  Massen  ab. 

Jetzt  muB  man  alle  Krafte,  muB  man  alle  Aufmerksamkeit 
auf  den  nachsten  Schritt  konzentrieren . . .;  es  miissen  die  For- 
nien  des  Obergangs  oder  des  Herankommens  zur  proletarischer 
Revolution  gefunden  werden. 

Mit  der  Avantgarde  allein  kann  man  nicht  siegen, 

Es  fehlt  nur  eins,  damit  wir  sicherer  und  fester  zum  Siege 
schreiten,  namlioh:  daB  alle  Kommunisten  in  alien  Landern 
zum  . . .  BewuBtsein  der  Notwendigkeit  gelangen,  in  ihrer  Tak- 
tik groBte  Biegsamkeit  zu  offenbaren.  Dem  prachtig  gedeihen- 
den  Kommunismus  fehlt  jetzt  besonders  in  den  vorgeschritte- 
nen  Landern  dieses  BewuBtsein  und  die  Kunst,  dieses  BewuBt- 
sein in  der  Praxis  anzuwenden, 

774 


Auch  das  Zentrum  spielt  urn  seine  Existenz 

von  einem  Zentrumsmann 

P^cr  Stimmengewinxi,  den  die  Partcien  des  politischen  Katho- 
lizismus  bei  den  Land  tags  wahlen  am  24.  April  erzielen 
konnten,  enthalt  zweifellos  eia  antifascistisches  Mandate  Zen- 
trum und  Bayerische  Volkspartei  haben  den  Beweis,  daB  die 
groBe  Masse  ihrer  Anhanger  immtin  ist  gegen  die  fascistische 
Verio  ckiing,  so  oft  und  so  eindrucksvoll  erbracht,  daB  ihre 
Starkung  eine  Gewahr  gegen  die  Auslieferung  des  Staates 
an  den  militanten  Fascismus  zu  sein  schien.  Von  einem  Gegen- 
satz  zwischen  dem  rechten  und  demlinken  Fliigel  konnte  da- 
bei  keine  Rede  sein.  Im  Gegenteil:  die  Bayrisohe  Volkspartei 
fiihrt  einen  Kampf  gegen  die  NSDAP,  der  an  Scharfe  und 
Entschiedenheit  nicht  zu  iibertref  f  en  ist.  Und  der  wiirttem- 
bergjsche  Staatsprasident  Botz,  der  seine  Neigung  zu  Rechts- 
koalition  und  Biirgerblock  in  der  politischen  Praxis  ausgibig 
betatigt  hat,  ist  mit  eindeutigen  Erklarungen  hervorgetreten 
gegen  den  Versuch,  die  Nationalsozialisten  als  koalitionsreif 
erscheinen  zu  lasssen. 

Trotzdem  scheint  ein  grofier  Unterschied  zwisohen  der 
Lage,  in  die  sich  das  Zentrum  durch  deri  Aufstieg  des  National- 
sozialismus  versetzt  sieht,  und  dem  Kampf  urn  Sein  oder  Nicht- 
sein,  den  die  Arbeiterparteien  mit  ihrem  fascistischen  Tod- 
feind  zu  fiihren  haben.  Fur  das  Zentrum  ergibt  sich  zunachst 
eine  ganze  Skala  vont  Moglichkeiten.  Der  Vernichtungs  kampf 
gehort  zwar  auch  dazu,  aber  ebenso  der  Ausblick  auf  kiinftige 
rartnerschaft  in  der  Regierung  Deutschlands.  Steht  hier  das 
Schicksal  der  italienischen  Popolari  warnend  vor  Augen,  so 
winkt  auf  der  andern  Seite  die  ungeheure  Chance,  durch  „Er~ 
ziehungsarbeit"  am  Nationalsozialismus  doch  noch  die  groBe 
christliche,  soziale  umd  konservative  Massenpartei  auf  der 
Rechten  erstehen  zu  lassen,  zu  der  Briining  im  Bunde  mit 
Treviranus  und  protestantischen  Fiihrern  des  Deutschen  Ge- 
werkschaftsbundes  die  Deutschnationale  Partei  machen  wollte. 
Zwar  ist  niemahd  im  Zentrum,  der  nach  den  Erfahrungen  der 
letzten  Monate  eine  gleichsam  organische  Entwicklung  der 
NSDAP  zu  diesem  Ziel  fiir  moglich  halt.  Aber  es  gibt  Hoff- 
numgen  auf  den  Zerfall  des  unnaturlichen  Gebildes,  das  die 
Hitlerbewegung  darstellt,  auf  die  Ab split terung  des  revolutio- 
naren  und  „sozialistischen"  Fliigels,  wean  die  Gesamtpartei 
in  der  Verantwortung  ihre  Anhanger  enttauschen  und  dieVer- 
heiBungen  auf  das  Dritte  Reioh  durch  die  eigne  Regierungs- 
praxis-  desavouieren  musse.  Es  ist  noch  nicht  lange  her,  daB 
diese  Hoffmmgen  in  Zentrumskreisen  noch  ziemlich  weit  ver- 
breitet  waren.  Allmahlich  beginnt  man  freilich  einizusehen, 
dafl  der  Fascismus  etwas  andres  ist  als  eine  rechtsradikale 
Biirgerpartei  mit  Krisenkonjunktur.  Die  politischen  Theoreti- 
ker  des  Zentrums,  die  allzulange  led'iglich  den  weltansohau- 
lichen.  Gegensatz  betonten  und  die  Agitation  gegen  die  NSDAP 
entsprechend  speisten  (sodaB  in  katholischen  Kreisen  der  Ein- 
druck  entstand,  die  volkische  Komponente  sei  derWesenszug 
der  NSDAP),  haben  sich  auf  die  Erkenntnis  des  gesellschaft- 

3  775 


lichen  Vorgangs  umgestellt.  Der  politische  Katholizismus  hat 
begriffen,  daB  er  sich  nioht  ailein  der  Kulturkampfgeliiste  der 
Nationalsozialisten  zu  erwehren  sondern  eine  Auseinander- 
setzung  urn  die  Grundlagen  der  Staats-  und  Wirtschaftspolitik 
zu  fiihren  hat 

Aber  in  demselbem  MaBe,  wie  sich  die  Diskussion  ver- 
breiterte  und  die  theoretische  Erkenntnis  zunahm,  sind  nicht 
nur  Illusionen  iiber  die  Moglichkeiten  kiinftiger  Zusammen- 
arbeit  auf  dem  Boden  der  gegebenen  Tatsachen,  der  Weimarer 
Republik,  zerstort  worden;  es  muBten  auch  die  Beriihrungs- 
punkte  der  fascistisohen  Ideologie  und  der  im  politischen 
Katholizismus  giiltigen  Gesellschaftsauffassung  sichtbar  wer- 
den.  Man  darf  nicht  vergessen,  daB  trotz  der  nicht  zu  unter- 
schatzenden  Zahl  der  Arbeiterwahler  die  Masse  der  Zen- 
trumsanhanger  aus  dem  Kleinbiirger-  und  Bauerntum  stammt. 
Auch  die  Kapitalismuskrilik  im  katholischen  Lager  richtete 
sich  im  wesentlichen  gegen  die  den  MitteLstand  zerstorenden 
Temdenzen  monopolkapitalistischer  Konzentration  und  lauft 
deshalb  parallel  mit  der  Sozialre volte  wirtschaftlich  proletari- 
sierter,  aber  in  ihrer  Ideologie  an  tiprolet  arisen  gebliebener 
Kieinburgermassen,  als  die  sich  der  Nationalsozialismus  in  dem 
Augenblick  darst elite,  wo  er  Massenbewegung  zu  werden  an-" 
frag.  Nun  spielt  gewiB  die  Theorie  im  Fascismus  keine  ent- 
scheidende  Rolle.  Aber  bei  alien  Versuchen,  der  Bewegung, 
die  ihre  Kraft  aus  antikapitalistischer  Sehnsucht  gewann  und 
in  ihrer  Wirklichkeit  Schutztruppe  des  Kapitalismus  ist,  einen 
ideologischen  Oberbau  zu  schaffen,  stieB  man  auf  die  An- 
schauungen  der  vormarxistischen  Kapitalismuskritik,  auf  den 
utopischen  Sozialismus  und  die  standischen  Ideale  der  Ro- 
man tik.  Die  Tbeorien,  mit  denen  der  italienische  Fascismus 
sein  korporatives  Staats-  und  Gesellsehaftsideal  zuj  begriinden 
sucht,  stammen  direkt  aus  der  romantischen  Sozialphilosophie, 

Auch  im  politischen  Katholizismus  spielt  der  standische 
Gedanke  zur  Zeit  wieder  eine  groBe  Rolle.  Seine  fiihrenden 
Wirts.chaftspolitiker  neigen  zwar  im  allgemeinen  zu  der  libe- 
ralen  These,  daB  nicht  die  Entwicklung  sondern  die  Entartung 
des  Kapitalismus  —  neben  den  politischen  Ursachen  —  an  dem 
besonders  bosartigen  Charakter  der  jetzigen  Krise  Schuld 
trage,  daB  man  ihr  also  durch  Wiederherstellung  der  freien 
Marktwirtschaft,  durch  Beseitigung  der  Bindungen  (freilich 
ohne  Preisgabe  der  Sozialpolitik),  durch  kapitalistische  Dezen- 
tralisation  —  Begiinstigung  der  kleinen  Unternehmungen,  Zer- 
schlagung  der  Trusts  und  Kartelle  —  begegnen  miisse.  Die 
Notwencfigkeit  eines  strukturellen  Umbaus  in  Wirtschaft  und 
Gesellschaft  wird  aber  in  steigend'em  MaBe  begriffen.  Es  ist 
bezeichnend,  daB  katholische  Soziologen,  die  aus  politischen 
und  sozialen  Grtinden  Antifascisten  sind,  wie  der  neuerdings 
stark  hervortretende  Jesuitenpater  Gundlach,  sich  um  die 
Herausarbeitung  einer  von  fascistischen  Totalitatsanspriichen 
und  fascistischer  Veraibsolutierung  des  Staates  abgegrenzten 
standischen  Ideologie  bemuhen  miissen.  Das  von  Gundlach 
entworfene  „  Erfurt  er  Programm"  der  Katholischen  Kauf- 
mannischen  Vereine  ist  ein  solcher  VersucL  Er  hat  vor  den 
Sozialtheorien  katholischer  Vol!  fascist  en  vom  Schlage  des  wiener 

776 


Professors  Othmar  Spann  die  humanere  Gesimnmg,  aber  nicht 
die  Konseqoienz  voraus.  Standische  Ideale  sind  angesichts  der 
heutigen  Klassengesellschaft  dazu  verurteilt,  Utopie  zu  blei- 
bem  oder  fascistische  Wirklichkeit1  zu  werden,  das  heifit  Fas- 
sade  fiir  den  Klassenkampf  von  oben4 

Die  Gefahr,  daB  aus  ideologischer  Annaherung  auf  dem 
Wege  iiber  Krisentheorien  und  Soziallehren  erne  Zusammen- 
arbeit  zwischen  Fascismus  und  politischem  Katholizismns  er- 
wachsen  konnte,  ist  gewiB  gering.  Aber  daB  die  ideologische 
Rechtfertigung  einer  solchen  Zusammenarbeit  leicht  zu  finden 
ware,  Venn  sie  aus  andern  —  um  mit  Trotzki  zu  reden  —  nioht 
in  der  ,, Stratosphere  der  Soziologie",  sondern  auf  dem  Boden 
der  realen  Tatsachen  zu  suohenden  Griinden  zustandekommt, 
ist  eine  Gefahr,  die  im  antifascistischen  Deutschland  viel  zu 
wenig  gesehen  wird.  Ubrigens  eine  Gefahr  auch  fiir  das  Zen- 
trum  selber.  Denn  in  der  Koalition  mit  einer  aus  machtpoli- 
tischen  Motiven  (, , Paris  vaut  une  messe")  auf  antikatholische 
oder  antiklerikale  Tendenzen  Verzicht  leistenden  NSDAP 
waren  die  Anhanger  des  Zentrums,  wenn  die  ideologische  Ober- 
einstimmung  einmal  hergestellt  ist,  nicht,  wie  es  in  der  Koali- 
tion mit  der  ,,materialistischen*'  Sozialdemokratie  der  Fall  war, 
vor  dem  Abgleiten  zu  der  Nachbarpartei  gefeit.  SchlieBlich 
kann  man  sich  eine  Situation  denken,  wo  der  politische  Ka- 
tholizismus  seine  Interessen  .auch  auf  andre  Weise  als  durch 
eine  selbstandige  Zentrumspartei  wahrgenommen  glaubendarf. 
Man  sieht:  das  Popolarischicksal  droht, 

Wird  diese  Gefahr  in  Zentrumskreisen  gebuhrend  ein- 
geschatzt?  Kein  Zweifel,  die  NSDAP  ist  AnlaB  zu  ernsten  Be- 
sorgnissen  geworden,  die  Neigung,  ohne  die  notigen  Sicherun- 
gen  in  eine  Koalition  zu  gehen,  ist  sehr  gering,  Es  gibt  in  Zen- 
trumskreisen keinen  Befiirworter  einer  solchen  Koalition,  der 
nicht  von  der  Theorie  des  kleincrn  Obels  ausginge  und  seine 
Hoffnungen  mit  der  sogenannten  Abniitzungstheorie  verbande. 
Die  NSDAP  unter  Zentrumskontrolle  sich  „abwirtschaften" 
lassen,  um  das  Vertraiien  ihrer  Wahler  bringen,  ist  das 
Argument,  mit  dem'  die  Optimisten  des  Zentrums  —  zugleich 
die  Kreise,  die  nicht  anders  als  in  parlamentarischen  Katego- 
rien  zu  denken  vermogen  —  an  die  bevorstehenden  Verhand- 
lungen  herangehen,  Es  ist  nicht  leicht,  ihnen  klar  zu  machen, 
daB  die  Abniitzungstheorie  von  einer  ganz  falschen  Beurtei- 
lung  der  fascistischen  Bewegung  ausgeht,  sie  vor  allem  zu 
iiberzeugen,  dafl  der  Fascismus  nicht  mit  der  NSDAP  gleich- 
gesetzt  werden  darf.  Es  ist  besonders  schwer,  mit  dieser  Be- 
weisfiihrung  im  Zentrum  durchzudringen,  weil  man  in  diesem 
Zusammenhang  daran  erinnem  muB,  daB  die  Fascisierung 
Deutschlands  in  dem  Augenblick  eingesetzt  hat,  wo  der  Weg 
vom  ,,Parteienstaat"  zur  ,,autoritaren  Demokratie"  beschritten 
wurde.  Man  kommt  nicht  an  der  Tatsache  vorbei,  daB  Briming 
es  war,  der  diesen  Weg  eingeschlagen  und  dem  Reichsprasi- 
denten  und  'der  Wehrmacht  jene  politisch  ausschlaggebende 
Rolle  zugewiesen  hat,   die  sie  heute  zu  spielen  vermogen. 

Man  lauft  dabei  Gefahr,  recht  von  oben  herab  gefragt  zu 
werden,  ob  man  denn  MFormaldemokrat"  sei  —  also  nach  der 
Ansicht  des  Fragenden  ein  politisch  und  gesellschaftlich  riick- 

777 


standiger,  in  Idealen  des  neunzehnten  Jahrhunderts  befangener 
Mensch.  Und  damit  ist  die  schr  labile  Stellung  der  im  poli- 
tischen  Katholizismus  zur  Zeit  maBgebenden  Manner  zurFrage 
der  Demokratie  und  des  in  Weimar  vom  Zentrum  mitgeschaffe- 
nen  Werkes  beruhrt.  Man  mufl  sich  erinnern,  daB  konservative 
un<i  monarchist isch  gesinnte  Katholiken  sich  he f tig  iiber  den 
„UmJaH"  des  Zentrums  nach  dem  November  18  entrust  et  nab  en; 
es  gibt  ganze  Sammlungen  von  Ausspriichen  und  politischen 
Bekenntnissen  der  Zentrumsfuhrer,  die  ihrem  Verhalten  nach 
der  MRevolution"  scharf  zu  widersprechen  scheinen.  Wer  sich 
iiber  den  scheinbaren  Bruch  mit  geheiligten  Traditionen  zu 
wundern  hatte,  kerrnt  nicht  die  Geschichte  und  nicht  den  Cha- 
rakter  der  Zentrumspartei.  Nicht  nur  ihr  Realismus,  auch 
ihre  Grundsatze  erlauben  ihr  das  Paktieren  mit  den  verschie- 
densten  politischen  und  sozialen  Systemen,  Denn  diese  Grund- 
satze laufen  auf  die  Relativierung  d'er  Politik  vor  dem  ein- 
zigen  Anspruoh  hinaus,  daD  sie  dem  einzelnen  Staatsburger 
ein  Leben  getreu  den  religiosen  und  sozialethischen  Prinzipien 
der  Kirche,  ein  Leben  aus  dem  Glauben  gestatten  miisse.  Das 
Zentrum  sucht  diese n  Grundsatzen  allerdings  nicht  durch  Ver- 
zicht  auf  die  Anteilnahme  am  profanen  Leben,  durch  Be- 
schrankung  auf  Kirchenpolitik  zu  entsprechen,  es  stellt  sich 
im  Gegenteil  mitten  hinein  in  die  konkreten  Aufgaben  des 
Tages.  Aber  es  hat  sich  weder  auf  erne  Staats-  noch  auf  eine 
Geselischaftsform  festgelegt.  Es  beweist  allein  eine  vollendete 
Anpassungsf  ahigkeit,  die  nur  ein  mit  der  Gedankenwelt  des 
Katholizismus  nicht  Vertrauter  als  Charakterlosigkeit  bezeich- 
nen  kann.  So  ist  das  Zentrum  unmittelbar  aus  der  Kultur- 
kampfara  hinaus  eine  der  festesten  Stiitzen  des  wilheLmini- 
schen  Staates  >geworden  und  hat  es  an  Loyalitat  nicht  fehlen 
lass  en,  obwohl  seine  Paritatsbeschwierden  nur  geringen  Erfolg 
hat  ten,  <Die  vorubergehende,  an  das  erste  Auftreten  Erzbergers 
gekniipfte  Entzweiuiug  mit  den  herrschenden  Machten,  die  zu 
Biilows  Blockpolitik  im  Jahre  1907  fiihrte,  ist  von  den  alten 
Fuhrern  der  Partei,  denen  dieses  Zwischenspiel  hochst  pein- 
lich  war,  scfonell  liquidiert  worden,  Aber  es  war  dann  auch 
durchaus  keim  Bnich  mit  Zentrumsgrundsatzen,  als  man  nach 
dem  Zusammenbruchi  des  Kaiserreichs  sich,  nicht  auf  den  Bo- 
derj  der  Tatsachen  st elite,  sondern  daraul  stehen  blieb,  Wer 
freilich  aus  der  aktiven  Teilnahme  des  Zentrums  an  der  Er- 
richtung  der  Weimarer  Republik  darauf  schlieBen  wollte,  daB 
es  nun  eine  erzdemokratische  Partei  geworden  sei,  hat  von 
der  Zentrumsgeschichte  keine  Ahnung. 

Die  in  diesen  Tagen  der  aktiven  Bemuhung  um  die  Be- 
endigung  des  Schwebezustandes  zwischen  Demokratie  und 
Fascismus  im  Sinne  der  fascistischen  Losung  und  vor  allem 
vor  dem  Zusammentritt  des  preuBischen  Landtags  eifrig  disku- 
tierte  Frage,  ob  sich  das  Zentrum  als  der  f  este  Damm  gegen  die 
fas  cist  is  che  Gefahr  erweisen  werde,  ist  leicht  zn  beantworten. 
Das  Zentrum  wird  ein  treuer  und  loyaler  Hiiter  der  Verf as- 
sung  sein,  solange  es  die  Mehrheitsverhaltnisse  und  die  auBer- 
parlamentarische  Krafteverteilung  dazu  instandsetzen.  Es 
wird  nicht  bereit  sein,  sich  unter  den  Trtimmern  der  Wei- 
marer  Republik   begraben   zu  lassen  und  seine   Exist enz    auf 

778 


Gedeih  und  Verderb  mit  der  Sactie  des  Antifascismus  zu  ver- 
kniipfen,  Weder  seine  politische  Struktur,  sein  ganz  auf  Be- 
wahrung  und  nicht  auf  Aggressivitat  gerichteter  Charakter, 
noch  seine  Auifassung  von  der  Mission,  die  es  Reich  und  Volk 
gegenuber  zu  haben  glaubt,  setzten  est  dazu  in  Stand. 

Es  kann  freilich  zur  Tragik  des  Zentrums  werden,  daB 
seine  Existenz  doch  auf  Gedeih  und  Verderb  mit  der  Sache 
des  Antifascismus  verkntipft  ist.  Man  braiicht  dabei  nicht  nur 
an  die  Macht  und  die  Vorteile  zu  denken,  die  ihm  seine  parla- 
mentarisch  ausschlaggebende  Stellung  in  der  Weimarer  Demo- 
kratie  gegeben  hat.  Sie  ware  in  demAugenblick  dahin,  indem  sich 
das  Zentrum  in  eine  Kombinationj  mit  den  Nationalsozialisten 
hineinmanovrieren  lieBe,  die  ihnen  gestattete,  gegebenenfalls 
ohne  das  Zentrum  ,,geschaftsiuhrend"  weiterzuregieren  oder 
mit  der  Aussicht  auf  absolute  Rechtsmehrheit  neu  wahlera  zu 
lassen,  Sie  ware  aber  auch  dahin,  wenn  sich  die  ,,autori- 
tare"  Demokratie  gegen  die  parlamentarische  vollends  durch- 
setzt  und  auf  die  von  Briining  hergestellte  enge  Venbindung 
zwischen  Zentrum  und  Reichsexekutive  zugunsten  des  Fascis- 
mus  verzichtet.  Als  Anhangsel  ernes  ganz  oder  halbfascisti- 
schen  Regimes  konnte  das  Zentrum  sein  Leben  nur  fristen, 
solange  es  den  neuen  Herren  opportun  erschiene,  sich  diese 
leichte  Fessel  am  Bein  gefallen  zu  lassen,  Auch  die  Macht- 
stellung  des  politisphen  Katholizismus  in  den  Landern,  beson- 
ders  in  Bayern,  ist  keine  absolute  Gewahr  gegen  seine  Ver- 
gewaltigung  und  allmahliche  Aufsaugung  durch  einen  mit  oder 
ohne  Zentrumshilfe  zur  Herrschaft  gelangten  Fascismus.  Ge- 
wiB,  das  Zentrum  hat  den  Kulturkampf  (iberstanden,  es  hat 
Bismarck  f,besiegt".  Aber  was  sind  die  Schikanen,  denen  der 
katholische  Volksteil  damals  ausgesetzt  war,  verglichen  mit 
dem  System  des  Terrors  auf  der  einen  und  der  Anziehungs- 
kraft  eines  um  die  Freundschaft  des  Kirchenvolkes  werbenden 
Fascismus  auf  der  amdern  Seite?  Wobei  er  sich  diese  Freund- 
schaft gar  nicht  mehr  kosten  lassen  miiBte  als  das  Kaiser- 
reich  in  der  Zeit  nach  dem  Kulturkampf  —  den  deutschen 
Katholizismus  also  wieder  in  die  Rolle  der  einifluBlosenj  Min- 
derheit  zuruckverweisen  konnte.  DaB  sich  das  Schwergewicht 
d-er  NSDAP  nach  dem  Osten  und  Nordeivverlagert  hat,  daB 
sie  also  dem  ,,antir6mischen  Affekt"  der  Mehrheit  ihrer  An-- 
hanger  Rechnung  tragen  muB,  ist  kein  Beweis  gegen  die  Mog- 
lichkeit,  ein  bescheiden  und  aussichtslos  gewordenes  Zentrum 
bei  der  Stange  zu  halten. 

Grade  daB  der  politische  Katholizismus  sich  im  Augen- 
blick  seiner  innern  Starke  und  auBern  Macht  sehr  bewuBt 
ist,  kann  ihn  zur  Unvorsichtigkeit  verleiten.  Seine  Fiihrer 
haben  Proben  ihres  taktischen  Geschicks  abgelegt.  Sie  haben 
nicht  das  Format  erkennen  lassen,  das  Situationen  gewachsen 
ware,  wo  es  mit  Taktik  allein  nicht  mehr  getan  ist. 

Konnen  sie  in  weltpolitischen  Perspektiven  denken? 
Haben  sie  wirklich  ein  Gefiihl  dafiir,  daB  mit  der  Auslieferung 
der  Macht  in  Deutschland  an  den  Fascismus  die  letzte  und 
starkste  Machtpositiondes  international  en  politischen  Katholizis- 
mus gefallen  ware.  In  Italien  von  Mussolini  geknebelt,  im  lai- 
zistischen   Frankreich    einiluBlos,    in   Spanien  #durch   die    enge 

779 


Verb  induing  mit  Monarchic  und  Diktatur  von  der  Umwalzung 
auf  schwerste  mitbetroffen,  in  Poien  zwischen  die  Fronten 
geraten,  in  Lateinamerika  von  der  sozialen  Revolution  ein- 
deutig  mitbedroht,  was  bleibt  ihm,  wenn  auch  in  Deutschland 
die  Machtstellung  des  Katholizismus  zerstort  wird,  die  er  hier 
dank  seiner  engern  Verbindung  mit  den  Massen  und  seinem  in 
der  politischen  und  gesellschaftlichen  Minderheitslage  ent- 
wickelten  sozialen  Charakter  erringen  konnte?  Und  selbst 
wenn  es  mit  dem  Fascismus  zu  einem  modus  vivendi  kame; 
Deutschland  dem  Fascismus  ausliefern,  heiBt  es  uber  kurz 
oder  lang  einer  Form  der  prole  tar  ischen  Revolution  uberant- 
worten,  die  dem  anpassungsfahigsten  Katholizismus  keinen 
Lebensraum  iibrig  lieBe, 

So  spielt  das  Zentrum  in  der  Auseinandersetzung  mit  dem 
Fascismus  tatsachlich  um  seine  Existenz,  So  gro^B  die  Skala 
seiner  Moglichkeiten  auf  den  ersten  Blick  scheinen  mag,  in 
Wirklichkeit  ist  sie  —  auf  die  Dauer  gesehen  —  recht  klein. 
t)ber  die  Dauer  aber  wird  im  Augenblick  ©ntschieden,  In 
dem  welthis  tor  ischen  Augenblick  namlich,  der  als  letzte  Zeit- 
spanne  zur  Abwehr  der  fascistischen  Gefahr  geblieben  ist 


Die  Welt  aUS  den  Fugen  Richard  LewVi°nsohn  (Morus) 

Aus  dem  gleichnamigen  Buch,  das  die  Stellung  Amcrikas 
in  der  Krise  behandelt  und  dieser  Tage  im  Carl  ReiBner- 
Verlag  Dresden  erschienen  ist, 

Jahresbilanz:  2342  Barikkrachs 

Das  often tliche  Interesse  beginnt  sich  erst  dann  zu  regen, 
wenn  die  Existenz  eines  IBankiers,  also  eines  Unternehmers, 
auf  dem  Spiele  steht.  Bankkrachs  waren  auch  in  guten  Zeiten 
in  Amerika  nichts  Ungewo'hnliches.  In  der  Hausseperiode  von 
1922  bis  1929  haben  5000  Banken  ihre  Schalter  geschlossen, 
zumeist  kleine  Geldverleiher  drauBen  auf  dem  Lande,  wo  es 
trotz  alien  staatlichen  Kontrollen  und  SchutzmaBnahmen  im 
Bankwesen  noch  recht  irregular  zugeht.  Doch  war  auch  der 
Zusammenbruch  groBer  und  groBstadtischer  Bankfirmen  etwas 
standig  Wiederkehrendes,  woran  man  einigermaBen  gewohnt 
war, 

Aber  nun  haben  die  Bankkrachs  andre  Dimensionen  an- 
genommen.  Im  Jahre  1929  waren  es  642,  im  Jahre  1930  be- 
reits  1326  und  im  Jahre  1931  nicht  weniger'  als  2342  Banken 
mit  fast  *  3  Milliarden  Dollar  Einlagen,  die  off  en  zusammen- 
gekracht  sind.  Auch  wenn  davon  wieder  neun  Zehntel  auf 
Miniaturbankiers  in  kleinen  Stadten  entfallen,  so  hat  es  doch 
schon  genug  Einstiirze  gegeben,  die  die  New  Yorker  Borse 
fiir  ein  paar  Tage  erschutterten.  Man  ist  sensibler  geworden: 
Zusammenbruche,  die  man  friiher  uberhort  hatte,  wirken  jetzt 
wie  Bollerschusse;  jedem  wirklichen  Krach  folgen  zehn  Ge- 
riichte,  daB  andre  und  wichtige  Hauser  im  Wanken  seien;  Es 
780 


gibt  nur  wenige  grofie  Firmen,  die  im  Laufe  des  letzten  Jah- 
res  nichtl  aus  irgendeinem  AnlaO  totgesagt  wurden.  Die  Ner- 
vosity ist  ungeheuer. 

Trauerfeier  an  der  Bone 

Wenn  eines  der  Bankhauser  zusammenbricht,  das  Mitglied 
der  New  Yorker  Borse  ist,  so  gibt  es  eine  Trauerfeier  nach 
altenglischem  Ritus.  Diese  Totenklage  in  Wall  Street  igehort 
zu  den)  seltsamsten  Oberbleibseln  einer  Zunftordnung,  die  sich 
in  den  modernsten  und  scheinbar  unpersonlichsten  Bezirk  der 
Weltwirtschaft  hintibergerettet  hat.  Mitten  in  der  Borsen- 
sitzung  schlagt  der  Borsenvorsteher,  der  von  einem  hohenBal- 
kon  aus  jeden  Tag  die  Eroffnung  und  das  Ende  des  Borseri- 
geschafts  ansagt,  dreimai  mit  dem  Hammer  auf. 

Plotzlich  Stille  in  dem  dunklen  hohen  Saal,  idesseni  Leben 
ein  ewiger  Larm  ist.  Die  tausend  Menschen,  die  eben  noch 
wild  hin  und  her  liefen,  bleiben  stehen.  Sic  wissen  natiirlich 
schon,  was  ihnen  da  von  der  Bdrsemobrigkeit  mitgeteilt  werden 
soil,  sie  haben  schon  vorher  ihre  turbulente  Trauerfeier  ver- 
anstaltet  und  auf  den  Krach  hin  die  Kursfahnen  kraftig  ge- 
senkt.  Aber  die.  offizielle  Ankiindigung,  daB  einer  der  ihren 
die  Zahlungen  eingestellt  hat  und  daraufhin  von  der  Mitglied- 
sohaft  der  Stock  Exchange  ausgeschlossen  ist,  wirkt  doch 
faszinieremd.     Eine  Totenglocke,  ein  Memento  mori. 

Gegeniiber  dem  Balkan  des  Borsenvorstehers  hangen 
von  der  Wand  herab  zwei  lange  Fahnen,  die  sonst  in  diesem 
nuchternen  Rechenraum  einigermaBen  deplaciert  erscheinen, 
Mit  einem  Male  bekommen  sie  einen  Sinn:  die  Zunftabzeichen 
der  Geldmacherirunung,  der  Shares-  und  Bonds-Handler,  Die 
Welt,  die  sich  in  diesem  Raum  widerspiegelt,  wird  plotzlich 
sehr  klein,  das  Milliardengeschaft  von  Wall  Street,  dessen 
mystischer  Glanz  zwei  Weltteile  erfiillt,  sohrumpf t  zu  einer 
Vereinsangelegenheit  zusammen.  Mister  Pynchon  ist  auf  dem 
Felde  der  Ehre  gef alien;  warm  bist  du,  warm  bin  ich  dran? 

Die  Sentimentalitat  verfliegt.  Rechnen,  nachprufen,  wer 
noch  mit  Pynchon  in  Geschaftsverbindung  stand,  sich  heraus- 
retirieren,  so  schnell  wie  moglich.  Kleine  und  selbst  Mittlere 
konnen  iiber  Bord;  nur  wean  einer  der  ganz  GroBen  sich  auf 
die  Seite  neigt  und  umzukippen  droht,  wird  eine  Stiitzungs- 
aktion  eingeleitet.  Auch  wenn  der  Konkurrenzkampf  in 
Amerika  durch  Gesetz  und  Tradition  igeheiligt  ist  und,  wenn 
es  sein  muB,  von  den  GroBten  noch  bis  zum  ExzeB  gefuhrt 
wird  —  es  gibt  eine  Gefahrenzone,  wo  die  kapitalistische  Soli- 
darity unerlaBlich  wird  und  die  Konkurrenten  zusammen- 
zwingt.  Trotzdem  sagt  mir  ein  bewanderter  Bankier  in  Er- 
innerung  an  die  Finanzkrise  von  1890,  die  in  dem  Zusammen- 
bruch  des  londoner  Bankha,uses  Baring  gipfelte:  „Jede  Krise 
endet  mit  einem  ,Baring-Krach';  nur  wer  diesmal  die  ^Barings' 
sein  werden,  die  daran  glauben  miissen,  weiB  man  noch  nicht" 

781 


SerajeWO  gefailig?  von  Walter  Mehring 

Ich  habe  Gele  genii  eitt  das  Schauspiel  des  Doumer  nBegrabnis- 
*  ses  A'on  meinem  Hotelzimmer  mitanzusehen,  also  aus  einer 
privaten  Perspektive.  Kein  Regisseur  konnte  diese  Wirklich- 
keit  libertr.umpfen;  denn  dieser  Vortrab  goldleuchtender  Reiter 
ist  die  echte  garde  republicaine;  die  Begleiter  des  Leichen- 
wagens  sind  bekannte  Staatsmanner;  in  einer  Reihe  die  drei 
phantastisch  Kostiimierten  und  der  eine  Gehrock  sind  der  Her- 
zog  von;  Aosta,  der  Prince  of  Wales,  Prinz  Paul  von  Serbien 
und  der  Herrscher  von  Annam;  die  prunkende  Gruppe  roter, 
hermelinbesetzter  Roben  bilden  wirkliche  Richter;  die  in  grii- 
nen  Fracks,  mit  Zweispitz  und  Degen,  echte  Dichter  uind  Den- 
ker  der  Akademie;  die  in  Marschallstracht  sind  Petain  und 
Lyautey;  die  Vertreter  des  Erbfeindes  und  mancher  innenpoli- 
tische  Gegner:  alle  sind  echt,  und  echt  ist  die  Trauer.  Echt 
war  die  stumme  Erregung,  die  der  Nachricht  vom  Attentate 
folgte.  Echt  ist  das  Benehmen  der  schaulustigen  Menge,  die 
ja  nicht  der  Regie  eines  feinfuhligen  Inszetnators,  sondern 
einem  dem  Einzelempfinden  wxdersprechenden  Instinkte  ge- 
horcht,  Der  Ausdruck:  schaulustig  konnte  unpassend  erschei- 
nen.  Aber  ein  ander  Ding  war  das  blutige  Geschehen,  ein 
ander  Ding  ist  das  Schauspiel  des  Trauerzuges,  zu  dem  man 
mit  Kind  und  Kegel,  mit  Handkarren,  improvisierten  Leitern, 
Opernglasem  und  Periskopen  eilt.  Nicht,  daB  sich  ein  einziger 
unwiirdig  gezeigt  hatte;  nur  anders,  als  es  die  Auffassung  will. 
Ganz  gegen  die  Auffassung  -des  Herrri  Tardieu,  der  in  seiner 
Pantheon-Rede  das  Verhalten  der  Menge  als  „nonchalance, 
une  fois  le  danger  passe"  kritisierte.     , 

Die  Ermordung  des  Proletariersohnes  Paul  Doumer  ist  eine 
abscheuliche  Tat  gewesen.  Und  fiirchterlich  ist  das  Schicksal 
einer  Frau,  die  vier  Sohne  dem  Wahnwitz  des  Krieges  geopfert, 
der  man  im  Greisenalter  den  Mann  erschossen  hat.  Ware  das 
gleiche  der  Frau  des  Bahnarbeiters  Doumer  widerfahrent  der 
Schmerz  ware  nicht  minder,  doch  der  Widerhall  aus  der 
Offentlichkeit  nicht  vorhanden  gewesen.  Man  hatte  auch  nicht 
von  einem  Attentat  gesprochen,  Mit  der  Feststellung:  ein  Ar- 
beiter  von  einem  Irrsinmigen  ermordet  hatte  die  polizeiliche 
Untersuchung  ihren  AbschluB  gefunden,  kein  Prince  of  Wales, 
kein  Herrscher  von  Annam,  kein  Richtercorps  hatte  den  Sarg 
begleitet;  weder  der  ,Ami  du  peuplie*  nock,  der  Jntransigeant* 
hatten  geschrieben;  Bolschewistenumtriebe. 

Ist  Gorguloff,  der  Attentater,  ein  Irrsinniger,  ist  er  Werk- 
zeug  irgend  einer  Gruppe  oderPartei:  heute,  nach  vielen  Ta- 
gen  Untersuchung,  ist  noch  nichts  eruiert,  und  vielleicht  wird 
man  die  Wahrheit  nie  erfahren;  ja,  es  scheint,  als  ob  sie  im 
Verlauf  der  Historic  unerheblich  sei.  Als  am  friihen  Nachmit- 
tag  in  der  ersten,  nur  fiinf  Zeilen  langen  Meldung  von  einem 
Russen  die  Rede  war,  komnte  man  genau  das  eine  wissen:  dem 
Bolschewismus  wird  diese  Tat  angerechnet  werden.  Nicht 
die  Gehassigkeit)  Einzelner,  nein,  eine  ganz  konkrete  Gesetz- 
maOigkeit  der  politischen  Lagerung  mu&te  die  Hypothese  er- 
zeugen.     Noch  mehr:    diese  Hypothese  hat  langst  vorher  be- 

782 


standen  und  bcdurftc  nur  irgend einer  Auslosung.  Es  sei  da- 
bei  nicht  von  den  Auswiichsen  die  Rede;  wie  von  dem  Kom- 
mentar  des  seit  Sauerweins  Sturz  vollig  kopflosen  , Matin': 
„In  wenigen  Jahren  sind  zwei  unsrer  Prasidenten  Ausland'ern 
zum  Opfer  befallen;  Sadi  Carnot  und  Paul  Doumer,  1st  das 
nicht  Vergeltung  unsrer  internationalen  Fahrlassigkeit?"  Nicht 
von  <ier  clichefertigen  Hetze  der  Cotydruckwaren.  Die  Hypo- 
these  vom  Bolschewistenmorder,  auf  nichts  bisher  begriindet, 
wurde  auch  gleich  von  gemaBigten  Blattern  vorwegerortert. 
Sie  scheint,  nach  den  Wahlresultaten  zu  urteilen,  den  kri- 
tischen  Sinn  der  Franzosen  nicht  getrtibt  zu  haben.,  Doch  noch 
ist  die  Affaire  nicht  ad  acta  gelegt. 

Tag  fiir  Tag  steigern  sich  die  Anklagen  gegen  Sowjet- 
ruBland. 

Es  ware  falsch,  von  nur  berufsmaBigen  Hetzern  zu 
sprechen.  Unter  denen,  die  im  Bolschewismus  eine  Gefahr  fiir 
Europa  und  den  Urheber  dieser  und  andrer  Verbrechen  sehen, 
sind  viele  iiberzeugte  Patrioten,  Menschen  also,  die  ihr  Land 
lieben,  die  zum  Besten  ihres  Landes  handeln  mochten,  in  die- 
sem  Falle  dadurch;  daB  sie  warnen.  Ob  ihre  Warnung  aber 
niitzliche  Vorsicht  oder  unheilvolle  Psychose  ist,  das  laBt  sich. 
beim  jetzigen  Stand  der  Untersuchung  nicht  entscheiden  und 
wird  ebensowenig  ergriindet  werden  wie  die  Wahrheit. 

Wie  aber,  wenn  einer,  von  andrer  Oberzeugung,  doch 
gleicher  Liebe  zum  Lande  beseelt,  ihnen  zuriefe:  Verdachtigt 
nicht,  denn  die  Folgen  konnten  ein  Krieg  werden,  der  Europa 
schlimmer  verwiisten  wiirde  als  alle  bolschewistische  Propa- 
ganda! Ja,  als  der  Bolschewismus  selbst,  so  grausig  auch 
immer  er  Euch  erscheinen  mag!  Nein,  nie  wiirde  man  ein  em 
solchen  Menschen  Patriotismus  zubilligen.  Und  fiigte  er  noch 
hinzu:  Riistet  ab!  Damit  nicht  durch  die  Tat  eines  Irrsinnigen 
Giftgase  und  Bombengeschwader  in  Aktion  gesetzt  werden!  so 
hieBe  er  Verrater  in  seiner  Nation,  welche  auch  immer  sie  sei! 

Unter  den  vielen  Prophezeiungen  der  letzten,  hellsichtigen 
Arbeit  Carl  von  Ossietzkys  vor  seiner  Einkerkerung,  die  sich 
friiher  oder  spater  alle  bestatigen  werden,  ist  diese  schon 
greifbar  geworden: 

Es  ist  nicht  mehr  so  wie  in  den  Tagen  Poincares  . . .  republika- 
nisches  oder  fascistisches  Deutschland,  im  Hintergrunde  wartet  etwasT 
das  groB«r  und  beunruhigender  ist  als  beide,  das  die  Nerven  der 
kapitalistischen  Staaten  in  viel  argere  Schwankungen  versetzt,  und 
das  ist  Sowjet-Rufiland.  Daneben  riickt  Deutschland,  werde  es  von 
Bruning  oder  Hitler  beherrscht,  auf  den  dritten  Platz. 

*  *  * 

Zahllos  sind  die  Zeugen,  die  beschworen  mochten,  Gorgu- 
loff  gekannt  zu  haben:  als  Volkskommissar,  als  GPU.-Mann, 
als  Anarchisten,  Auch  tut  er,  was  jeder  Verdachtige  tut:  er 
verwickelt  sich  in  Widerspriiche.  So  unparteiisch  die  Unter- 
suchung gefuhrt  werden  mag,  wer  wiinschte  sich  nicht,  hier 
statt  eines  'banalen  Krankheitsfalles  das  Walten  einer  poli- 
tischen  Maffia  zu  finden,  Der  menschliche  Geist  braucht  seine 
Dosis  Geheimnis.  ,  Mogen  die  okonomischen  Verhaltnisse  der 
Nahrboden  sein,  die  Keimstoffe  sind  die  mystischen  Bediirf- 
nisse,  daraus  wachsen  die  Massenbewegungen  und  die  Gorgu- 

783 


loffs.  Gibt  es  ein  Ratsel  Gorguloff,  so  ist  es  dies:  daB  er  im- 
mer  wieder  beteuert  und  in  seincn  Schriften  immer  wiedcrholt 
hat,  et  wollte  Europa  zum  Kriege  gegen  die  Tyrannen  seiner 
Heimat  aufriitteln.  Warum  aber,  wenn  so  seine  Absicht  war, 
handelt  dieser  Monomane,  dieser  vorgebliche  Martyrer  jetzt 
so  inconsequent  ?  Warum  bezichtigt  er  sich  nicht  selbst,  ein 
Rolschewik  zu  sein?  Es  diirfte  nur  eine  Antwort  geben:  weil 
dieser  Mann  nicht,  wie  er  meint,  sein  Vaterland  liebt,  sondern 
weil  er  das  Chaos  herbeisehnt.  Und  damit  wird  er  eine  euro- 
paische  Figur. 


Gorguloff  hat  gewagt,  was  Millionen  empfinden,  Nur  hat 
er  zu  schnell  die  Nerveni  verloren;  durch  eineti  ganz  unsin- 
nigen  Mord  hat  er  die  Geschichte  ubersturzen  wollen.  Lichten- 
berg  notierte  uber  sich,  daB  er,  obwohl  ein  friedlicher  Charak- 
ter,  sich  abends  vor  dem  Einschlafen  oft  iiberlegt  .habe,  auf 
welche  Weise  er  seine  Freunde  umbringen  konne.  Grade  die 
schcuesten  Naturen  wandern  solche  Gedankengange  am  Ab- 
jjrund  —  Nietzsche  und  Sorel  sind  Beispiele.  Grade  die  niich- 
ternsten  Einzelwesen  und  Massen  vollenden  den  Sprung  in  den 
Abgrund. 

*  *  * 

Claude  Farrere  hatte  dem  Unbekannten:  L'Homme,  qui 
a;sassina  ncordialement"  gewidmet.  Wenige  Minuten  spater 
stiirzten  sich  kunstsinnige  Besucher  und  diplomatische  Kabi- 
nettsmitgjieder  auf  den  Morder,  und  die  Polizei  muBte  ihn  vor 
der  Lynchjustiz  retten.  Objektive  Richter  werden,  nach  exak- 
ieni  Untersuchungen,  entscheiden,  ob  der  Mann,  der  den  Prasi- 
denten;  der  franzosischen  Republik  getotet  hat,  unter  die  Guil- 
lotine oder  ins  Irrenhaus  gehort  Die  Psychiatrie  zieht  immer 
starker  das  Verbrechertum  aus  dem  Mystizismus  der  rachen- 
den  Nemesis  auf  das  Gebiet  der  wissenschaitlichen  Forsckung, 
Aber  was  ihr  beim  Einzelfall  schon  erlaubt  ist,  wird  ihr  bei  der 
Erforschung  der  Massenerkrankungen  untersagt.  Diagnose  und 
Therapie  psychischer  Epidemien  bleiben  tabu!  Gorgjul'off  hat 
es  nur  auf  wenige  Anhanger  gebraeht.  Es  hat  seiner  Tollwut 
an  Viruleniz  gefehlt.  Sonst  wiirde  er  heut  vielleicht  ein  Ob- 
jekt  allgemeiner  Verehrung  statt  Objekt  einiger  Irrenarzte  sein. 


SchnipSel  von  Peter  Pantei 


pro  domo.  Manchmal  finde  ich  Aufsatze  von  mir  in  Zeitungen  wie- 
*  der,  Nachdrucke,  Ausziige  aus  meinen  Buchern  —  mitunter  ver- 
sehen  mit  klcinen  kritischen  Zusatzen:  ich  sei  ein  destruktives  Ele- 
ment, Das  kann  jeder  sagen.  Doch  wenn  ich  dann  das  Abgedruckte 
naher  priife,  dann  muB  ich  oft  entdecken,  daB  ganze  Satze  fehlen: 
den  Schlangen  sind  die  Giftzahne  herausgebrochen.  Nun  ist  es  mir  ge- 
wifi  gleich,  wie  diese  verangstigten  Verlagsangestellten  ihre  Leser- 
schaft  einschatzeri  —  weitaus  tiefer  als  es  notig  ware;  man  glaubt  es 
nicht,  was  da  alles'  nicht  „tragbar"  ist.  Mir  soils  recht  sein.  Aber 
eine  Bitte  habe  ich  an  die  verehrte  Kollegenschaft*. 

Druckt    meine    Aufsatze   nicht,   wenn    eure    Ahonnenten    und    In- 
serenten  zu  fein  daftir  sind.     Lafit  mich  unzensiert.   .  Ich  mochte  nicht 

784 


mit  ciner  Ausgabe  fur  Kinder  und  Militar  herauskommen,  bar  aller 
Scharfe,  ohne  jene  Salzkorner,  urn  derenwillen  die  Speise  serviert 
worden  ist.  Euern  Leuten  bekomrat  das  nicht?  Dann  laCt  das  ganze 
Gericht  fort.  Es  ist  keine  Ehre,  bei  euch  zu  erscheinen,  und  ein  Ge- 
schaft  schon  gar  nicht.  Urn  wieviel  habt  ihr  die  Mitarbeiterhonorare 
gesenkt?  Um  ein  Drittelf  um  die  Halfte.  Um  wieviel  euer  Abonne- 
ment?    Um  wieviel  eure  Anzeigenpreise? 

Ich  mag  nicht  in  jedem  einzelnen  Fall  in  Berichtigungen  kund 
und  zu  wissen  tun,  daC  ihr  meine  Arbeit  verfalscht  habt,  so  wichtig 
ist  das  nicht,  Aber  seid  nett:  lafit  mich  zufrieden.  Ich  kann  doch 
nichts  dafiir,  daB  eure  Druckereibesitzer  solche  Angst  vor  ihrer  Kund- 
schaft  baben,  und  mich  interessiert  es  auch  nicht.  Ich  bin  gewohnt, 
zu  Lesern  zu  sprechen,  die  ein  offnes  Wort  vertragen.  Vertragen  es 
eure  nicht?  Dann  setzt  ihnen  weiterhin  reizende  kleine  Feuilletons 
vor,  bunte  Bilder  aus  der  Kinderstube,  Modeplaudereien  und  sanfte 
Schilderungen  vom  Wintersport  im  Harz.  Aber  druckt  mich  nicht, 
wenn  ihr  meine  Arbeiten  nicht  so  abdrucken  konnte,  wie  ich  sie  ge- 
schrieben  habe. 

Vom  Stationsvorsteher  aus  gesehn  sieht  der  tagliche  Abschied  der 
Reisenden  an  den  Zugen  recht  stereotyp  aus.  Von  der  Kranken- 
schwester  aus  gesehn  hat  der  Tod  ein  andres  Gesicht  als  vom  Trauern- 
den  aus  gesehn.  Alles,  was  man  regelmaBig  und  berufsmafiig  tut, 
versteinert,  Man  sollte  auch  seine  eignen  Erlebnisse  vom  Stations- 
vorsteher aus  sehen  konnen. 

ft 

Du  bekommst  einen  Brief,  der  dich  mafilos  erbittert?  Beantworte 
ihn  sofort.  In  der  ersten  Wut.  Und  das  lafi  drei  Tage  liegen.  Und 
dann  schreib  deine  Antwort  tlochmal. 

„Was  fallt  Ihnen  ein!  Ich  habe  fur  einen  Bandwurm  und  drei 
unmiindige  Kinder  zu  sorgen!" 

* 

Das  Liebespaar,  das  sich,  von  einander  entfernt,  verabredet,  um 
halb  elf  Uhr  abends  an  einander  zu  denken.  Keiner  tuts.  Aber 
jeder  freut  sich:  wie  verliebt  der  andre  doch  sei. 

* 

Der  Pessimist.  „Ich  werde  also  eines  Tages  sterben.  Naturlich  — 
das  kann  auch  nur  mir  passieren!" 

Wie  schlafen  die  Leute  — ? 

Eine  Frauf  allein       im  Pyjama 

Eine  Frau,  nicht  allein    ....     im  Nachthemd 

Ein  Mann,  allein Nachthemd 

Ein  Mann,  nicht  allein        .  .  .     Pyjama. 

"So   eigentiimlich  ist    es    im    menschlichen   Leben.      (Protest    auf   alien 

Seiten  des  Hauses.) 

* 

Zu  einem  ganz  strengen,  ganz  bosen  Mann  am  Fahrkartenschalter 
mochte  ich  immer  sagen:  ,,Na,  was  haben  Sie  denn  so  fur  Billets  — ?'4 

Im  Kriege  habe  ich  einmal  diesen  Satz  gehort:  „Die  Bohnensuppe 
ist   das  Klavier  des  kleinen  Mannes." 

* 

Den  meisten  Leuten  sollte  man  in  ihr  Wappen  schreiben:  Wann 
eigentlich,   wenn   nicht   jetzt? 

785 


Film-Alltarkie  von  A*  Kraszna-Kransz 

Tn  jedem  Lexikon  der  Kinematographie  miifite  das  Wort  Krise 
als  Fachbegriff  definiert  aufzufinden  sein.  Die  Filmindustrie 
hat  wahrend  der  dreiBig  Jahre  ihrer  Geschichtc  im  Inland  und 
Ausland  mehr  Kriseoi  erlcbt,  als  cine  sudamerikaniscbe  Repu- 
blik  iiberhaupt.  Diese  Krisen  des  Films  haben  mit  denen  der 
iibrigen  Wirtschaft  und  der  ,,groBen"  Politik  meistens  recht 
wenig  zu  tun.  Sie  sind  periodische  Funktionsstorungen  eines 
verbauten  Organismus,  an  denen  die  Widrigkeiten  der  AuBen- 
welt  keine  nennenswerte  Schuld  zu  haben  brauchen. 

Raubbau  am;  alien  Rohstoffen,  bureaukratischer  Drang  im 
Produktionsbetrieb,  zu  viel  Leerlauf  eines  uberdimensionier- 
ten  Vertriebsapparats,  Blindekuh-Spiel  mit  dem  sogenannten 
Geschmack  des  sogenannten  Publikums  haben  noch  von  Jahr 
zu  Jahr,  von  Fnihjahr  zu  Friihjahr  —  sobald  die  Leute  em 
biBchen  aufhoren,  ihre  Abende  unbedingt  im  Kino  zu  verbrin- 
gen  —  zu  allerhand  Verlegenheiten  und  zweifelhaften  Protest- 
streiks  der  Lichtspielhauser  gegen  irgendetwas  Amtliches  ge- 
fiihrt.  Die  filmv/irtschaftliche  Bedeutung  solcher  Depressio- 
nen  reicht  nicht  iiber  die  von  Konkursen  einzelner  Firmen 
hinaus,  die  dann  im  nachsten  Winter  hinter  hiibsch  iiibermal- 
ten  Schildern  garantiert  wieder  auferstehen,  Hochstens  die 
Reihen  der  Geldgeber  lichten  sich  von  Mai  zu  Mai,  aber  die 
werden  von  neugierigen  Neulingen  ebenso  sicher  aufgefulltt 
wiei  mit  dem  Herbst  und  dem  schlechten  Wetter  die  Massen 
in  die  Theater  zunickkehren.  Saisohweise  neu  ausgeheckte 
Sehsationchen  helfen  da  nach  beiden  Richtungen  wirksam 
nack  Galonierte  Platzanweiser,  Sinfonie-Orchester,  Wur- 
Htzer-Orgel,  Biihnenschauen.  Als  Kampferspritze  gegen  die 
letzte  und  groBte  Lahmung  des  Filmgeschaltes  wurde  vor  eini- 
ger  Zeit  der  Tonfilm  angesetzt,  Seine  Kraft  hielt  nicht  lange 
vor. 

Auch  diesmal  ist  die  allgemeine  Konfusion  der  Wirtschaft 
vielleicht  zuletzt  Schuld.  Der  Film  gilt  nach  wie  vor  als  das 
billigste  Zerstreuungsmittel.  Die  absolute  Zahl  der  Kino- 
besucher  ist  nirgends  wesentlich  zuruckgegangen.  Wohl  ist 
eine  Abwanderung  aus  den  Lichtspielpalasten  nach  den  klei- 
nern  Theatern,  von  den  teuren  Platzen  nach  den  billigeren  zu 
beobachten,  und  das  Niveau  der  untern  Preisgrenzen  sinkt 
standig.  Daran  durfte  aber  noch  lange  keine  Produktion 
scheitern.     Sie   scheitert  an  ganz  andern  Dingen, 

Allen  asthetischen  Theorien  zum  Trptz,  die  der  Sprache 
im  Tonfilm  nur  eine  untergeordnete  Bedeutung  zubilligent  und 
dies  mit  Recht  —  wird  zunachst  einmal  in  samtlichen  Filmen 
reichlich  igeredet.  Deutsch,  franzosisch,  englisch,  je  nach  dem 
Ursprungsland.  Es  war  von  jeher  klar,  daB  die  Vorfuhrung 
fremdsprachiger  Filme  in  jedem  Land  auf  Widerstande  stoBen 
muBte,  sobald  der  Reiz  der  Neuheit  verblaBt  war  und  soweit 
es  sich  nicht  urn  Leckerbissen  fin*  Feinschmecker  handelt. 
Die  iiberkopierten  Lauftexte  sind  nirgends  als  willkommene 
Verstandigungsmittel  begriiflt  worden.  Man  hat  zwar  inzwi- 
schen   gelernt,    die    fremden   Bildfolgen   nachtraglich    mit    Ton- 

786 


bander n  einer  beliebigen  Sprache  sauber  zu  unterlegen,  aber 
auch  diese  Technik  kann  fur  die  Dauer  nicht  verhindern,  dafl 
der  Ruf  nach  Original-Tonfilmen  in  der  Landessprache  auch 
in  solchen  Winkelchem  der  Welt  immer  lauter  wind,  wo  man 
vor  einigen  Jahren  von  einer  natiomalen  Filmherstellung  noch 
nicht  einmal  zu  traumen  wagte. 

Handfest  verdichtet  sich  dieses  Geschrei  in  Gesetzen,  die 
die  Einfuhr  auslandischer  Filme  zu  regulieren  versuchen, 
Deutschland  hat  fast  seit  einem  Jahrzehnt  ein  solches  Kontin- 
gentgesetz.  Es  entstand,  urn  das,  was  vom  europaischen  Film 
iibrig  blieib,  namlich  die  deutsche  Produktion,  vor  Holly- 
wood zu  retten,  nachdem  die  franzosischen,  italieniscfaen, 
schwedischen,  danischen  Filmfabriken  nacheinander  ver- 
schwunden  waren.  Dieses  Gesetz  wurde  —  nach  Mustern, 
die  inzwischen  in  England  und  Frankreich  entstanden  sind  — 
1930  umgeformt,  imdem  der  Begriff  des  inland  is  ch  en  Films  an 
besondere  Eigenschaften  seiner  Hersteller  gebunderi  wurde. 
Heute  stehen  neue  Verscharfungen  dieser  Bedingungen!  bevor. 
Heute  kennen  sogar  Oesterreich,  die  Tschechoslowakei,  Un- 
garn  und  Jugoslavien  ahnliche  Vorschriften.  Es  werden  iiber- 
all  immer  engere  Maschen,  immer  raffiniertere  Gewebe  von 
Beschrankungen  und  Verboten  gekniipft.  Autoren,  Regisseure, 
Kameraleute,  Architekten,  Komponisten  und  auch  die  Schau- 
spieler  sollen  zwangsweise  Einheimische  sein.  Das  Atelier 
muB  im  Land!  liegen.  Naturaufnahmen  aufierhalb  der  Staats- 
grenzen  werden  nur  bis  zu  dem  und  dem  Prozentsatz  zuge- 
lassen.  Die  photochemische  Behandlung  des  Materials  hat 
gleich£alls  an  Ort  und  Stelle  zu  erfolgen.  Nationale  Auf- 
nahmegerate  sind  zu  bevorzugen. 

Wo  und  wann  dieser  Kreislauf  enden  soil,  kann  keiner 
mehr  absehen.  Schlag  folgt  auf  Schlag,  Verscharfung  auf  Ver- 
scharfung. Deutsch-Oesterreich  macht  auch  bei  reichsdeut- 
schen  Kiinstlern  keine  Ausnahme;  und  so  ist  es  kein  Wunder, 
daB  nun  auch  die  deutschen  Organisationen  von  der  Sonder- 
behandlung  von  Oesterreichern  nichts  mehr  wissen  wollen. 
Schon  sind  Artikel,  Aufrufe,  Intrigen  unterwegs,  die  einen  ra- 
dikalen  Boykott  gewisser  Filme  in  gewissen  Landern  fordern. 
Neue  Marktschranken  zerschneiden  einheitliche  Sprachgebiete 
und  werden  durch  Deviseniverordriungen  noch  erhoht.  Der 
gleiche  Film,  der  gestern  500  000  Mark  kosten  durfte,  muB 
heute  fur  300  000  Mark  entstehen.  Morgen  werden  vielleicht 
schon  100  000  Mark  zu  teuer  sein.  Die  Absatzgebiete 
schrumpfen. 

Hollywood  verliert  den  Kopf.  Neue  Sensationen  der  Tech- 
nik, die  den  Tonfilm  umkrempeln  konnten,  liegen  zwar  halb- 
fertig  in  den  Laboratories  aber  es  fehlt  an  Geld,  urn  eine 
neue  Umstellung.  der  Betriebe  auf  BreitfiLm,  Farbenfilm  oder 
gar  den  plastischen  Film  zu  bezahlen.  Wall  Street  will  an- 
gesichts  der  katastrophalen  Splitterungj  der  Markte  bichts 
mehr  hergeben.  Dutzende  von  Versuchen  einer  vielsprachigen 
Fabrikation  haben  sich  bereits  als  diirftig  und  unwirtschaftlich 
erwiesen.  Oberall  werden  Filialen  au£gelost.  Die  Zahl  der 
neu  aagekundigten  Filme  bleibt  um  ein  Drittel  hinter  der  des 
Vorjahres    zuriick.      Ein    USA.-Konzern    fiihrt    innerhalb    von 

787 


sechs  Monaten  drei  Gehaltskiirzungen  durch,  die  Konkurrenz 
zahlt  von  52  Arbeitswochen  des  Jahres  nur  40  axis,  und  bei 
einer  dritten  Firma  muflten  die  leitenden  Herren  auf  dlrei  Mo- 
natsgehalter  dieses  Sommers  verzichten.  Die  Direktionsmit- 
glieder  von  Paramount  und  Fox  wechseln  ihre  Stellungen 
ungefahr  wie  unsolide  Zimmermadchen,  Bei  Fox  endet  das 
abgeschlossene  Geschaftsjahr  mit  viereinviertel  Millionen  Dol- 
lar Verlust.  Panamounits  Reingewinn  betragt  nur  ein  Drittel 
von  dem  des  Vorjahres.  Die  Western  Electric,  der  grofie 
Elektrizitatskonzern,  dessen  Vasall  ganz  Hollywood  ist,  ver- 
dient  nur  noch  den  vierten  Teil  der  Summe  von  1929.  Chaplin 
arbeitet  nicht.  Der  Vertrag  von  Greta  Gar  bo  ist  nicht  er- 
neuert.  Ernst  Lubitschi  brauchte  Monate,  ehe  es  bei  ihm  so- 
weit  war.  Erich  von  Strohheim  bekommt  keinen  Regieauftrag, 
Josef  von  Sternberg  wird  fur  ein  wenig  fristlos  entlassenu 
S,  M.  Eisenstein  fahrt  inach  Rufiland  zuriick.  Washington  hat 
ein  Gesetz  gegen  auslandische  Kiinstler  angenommen.  Will 
Hays,  derZar  der  Produzentera-Organisation,  befragt  verzwei- 
felt  das  liebe  Babbitt-Publikum,  was  es1  im  nachsten  Jahr  fur 
Filme  sehen  mochte,  und  es  antwortet  geschwind;  erstens 
Grotesken,  zweitens  Wild- West,  drittens  gruselige  Filme,  aber 
keine  Dramen,  bitte,  und  Gott  beschiitze  uns  vor  den  soge- 
nannten  Problemen  der  Gegenwart ... 

Der  Pen-Klub  wird  demnachst  eine  Rundfrage  erlassen, 
welche  Stoffe  die  pp.  Leserschaft  fiir  die  Saison  1932/33  zu 
Romanen,  Novellen,  Balladen  und  Sbnetten  verarbeitet  zu 
sehen  wumscht.  Die  Komponisten  aller  Lander  werden  ge- 
setzlich  verpflichtet,  ausschlieBlich  volkische  Liedmotive  ihrer 
eignen  Nation  zu  Symphonien  und  Gassenhauern  zu  verarbeiten. 
Albanien  erlaubt  die  Einfuhr  deutscher  Drehorgel-Walzen  nur 
gegen  Abnahme  von  Gebirgsraubern  in  der  gleichen  StiickzahL 
Wer  nicht  in  seiner  Muttersprache  malt,  wird  erschossen. 


SoelHllg  von  Gabriele  Tergit 


In  dicsem  ProzeB  sind  die  Roller*  vertauscbt.  Der  jetzige  Deutsch- 
*  nationale  Soelling  und-  sein  noch'  nationalerer  Verteidiger  Bloch 
—  cine  im  Himmel  geschlossene  Beziehung  zwischen  einem  Klienten 
un<$  seinem  Anwalt  —  wollen  nachweisen,  dafi  man  nie  durch  eine 
politische  Partei  in  PreuBen  juristische  Karriere  machen  konnte,  da 
Soelling  vorgeworfen  wird,  er  sei  nur  in  die  Sozialdemokratische 
Partei  eingetreten,  urn  Karriere  zu  machen;  ja  Justizminister  Schmidt 
soil  geladen  werden,  um  das  zu  bestatigen.  Und  dann  tritt  Heil- 
mann  auf,  den  man  den  roten  Heilmann  nennt  und  den  ungekronten 
Konig  von  PreuBen,  und  er  sagt  genau  das,  was  sonst  die  andre 
Partei  sagt:  lt Justizminister  Am  Zehnhoff  hat  mich  kommen  lassen 
und  hat  mich  um  Nennung  von  republikanisch  sichern  Hilfsarbeitern 
fiir  das  Ministerium  ersucht,  und  da  nannte  ich  ihm  Soelling.  Ich 
habe  mich  bei  meiner  Auswahl  nur  von  der  Tuchtigkeit  leiten  lassen". 

Und  Bloch  nun  wieder  in  die  gewohnte  Rolle  zurtickfallend,  trotz- 
dem  es  ja  in  diesem  ProzeB  seine  Pflicht  gewesen  ware,  das  Gegen- 
teil  wegen  seines  Mandanten  zu  behaupten,  ruft:  „Ha,  da  haben  wirs 
ja,   der  sozialdemokratische  Fraktionsvorsitzende  ernennt  Richter". 

„Herr  Soelling",  sagt  Heilmann,  „nat  mir  einen  langen  Dank- 
brief  dafiir  geschrieben".  Auf  die  weitere  Emporung  von  Bloch  er- 
klart  Heilmann,    dafi  bis    1918  iiberhaupt  keine   Sozialdemokraten   im 

788 


Ministerium  waren.  Selbstverstandlich,  dafi  nun  welche  hineinkamen. 
Im  iibrigen  ist  es  kein  Geheimnis,  daB  alle  grofien  politischen  Par- 
teien  in  den  Ministerien  vertreten  sein  wollen.  Und  Bloch,  immer 
mehr  Parteimann  als  Verteidiger,  fragt  weiter:  „Auch  did  Deutsch- 
nationalen?"  Und  Hcilmann:  „Auch  die.  Doktor  Deerberg  ist  auf 
gleiche  Weise  ins  Ministerium  gekommen  wie  Soelling".  Der  Beweis 
ist  also  erbracht,  daB  man  durch  politische  Parteien  Karriere  machen 
kann.  Diese  ganze  Befragung  ging  am  eigentlichen  Sinn  des  Prozesses 
vorbei,  ist  nur  bezeichnend  fur  die  Verwirrung  dieser  Angelegenheit, 
die  eigentlich  fiir  alle  gleich  peinlich  ist.  Fur  die  Deutschnationalen, 
deren  Mitglied  Soelling  ist,  fur  die  SPD,  daB  sie  diesen  Mann  als 
einen  der  Ihren  fiihrte.  In  der1  katastropbalen  Personalauswahl  der 
SPD  ist  Soelling  einer  der  schlimmsten.  Denn  wer  ist  dieser  Mann? 
Er  ist  51  Jahre  alt,  Renegat,  Pradikatassessor,  macht  die  iibliche 
Richterlaufbahn  durch  und)  —  es  zeugt  von  seiner  gutent  politischen 
Nase  —  tritt  am  1.  September  1918  in  die  Sozialdemokratische  Par- 
tei  ein,  wird,  wie  erzahlt,  durch  Heilmann  Ministerialrat.  Er  betatigt 
sich  als  Uberrepublikaner,  uberall  will  er  seine  Gesinnung  beweisen, 
hangt  mit  treuer  Liebe  und  Fanatismus  ah  der  Republik,  nirgends 
geht  ihm  die  Republikanisierung  schnell  genug,  er  schreibt  eine  scharfe 
Broschiire  gegen  Rechts:  „Schwarz~weiB-rote  oder  Schwarz -rot -gol dene 
Aufwertung?",  hat  schlieBlich  einen  unangenehmen  Ehescheidungs- 
prozeB  und  heiratet  zum  zweiten  Mai  eine  deutschnationale  Frau. 
Und  dann  soil  er  Landgerichtsprasident  werden;  verzehrt  vom  Ehr- 
geiz,  ist  ihm  das  nicht  Beforderung;  genug,  auch  die  Bezahlung  zu 
gering.  Er  liegt  Heilmann  erst  in  den  Ohren,  damit  er  ihm  den 
kleinen  Gehaltsunterschied  zwischen  Landgerichtsprasidenten  .  und 
Ministerialrat  vergiite.  Dann  spricht  er  dreimal  mit  Heilmann,  dafi 
doch  die  drei  berliner  Landgerichte  unter  seinem  Prasidium  vereinigt 
werden  sollen.  Bei  der  unsichern  politischen  Situation  konnte  einmal 
eine  andre  Regierung  kommen,  die  die  Landgerichte  vereinigte,  und 
dann  wiirde  er  womoglich  ausgeschaltet,  bis  ihm  Heilmann  erwidert: 
„Ihre  Art,  die  Dinge  nur  von  Ihren  eignen  Eigentumsverhaltnissen 
aus  zu  betrachten,  paBt  mir ,  nicht.  Wenn  Sie  nicht  Landgerichts- 
prasident werden  wollen,  dann  bleiben  Sie1  eben  Ihr  Leben  lang  Mini- 
sterialrat". 

Nachdem  er  so  per  ordre  de  mufti  Landgerichtsprasident  gewor- 
den  war,  laflt  er  nichts  unversucht,  urn  daneben  noch  den  Vorsitz 
im  Disziplinargericht  fiir  nicht-fichterliche  Beamte  zu  bekommen, 
eine  Stellung,  die  mit  f unf tausend  Mark  dotiert  ist.  Er  sagt :  „In 
erster  Reihe  waren  mir  die  geldlichen  Gesichtspunkte  maBgebend". 
Aber  fiinf  Minuten  darauf  betont  er  seine  ideellen  Gesichtspunkte. 
Die  Amtsfiihrung  des  zweiundsiebzigjahrigen  grundanstandigen  Rich- 
ters  Meyer  schien  ihm  im  Interesse  des  deutschen  Volkes  schadlich. 
Erstens,  weil  er  veraltete  Ansichten  in  sittlichen  Fragen  hatte,  vor 
allem  aber  weil  er  nationalsozialistische  Beamte  maBregelte.  „Ich 
sagte  mir,  es  kann  doch  auch  mal  umgekehrt  kommen."  Und  aus 
diesem  „ideellen"  Grunde,  damit  nicht  mehr  so  scharf  gegen 
nationalsozialistische  Beamte  vorgegangen  werde,  behelligt  er  unaus- 
gesetzt  die  sozialdemokratische  Abgeordnete  Wellmann  und,  fleht 
sie„  die  Sbzialdemokratin,  an,  bei  Braun,  dem  Sozialdemokraten,  zu 
intervenieren,  dafi  er  den  Posten  bekommt,  was  Frau  Wellmann  auch 
tut.  Einen  Posten,  den  er  haben  will,  damit  es  den  nationalsoziali- 
stischen  Beamten  nicht  mehr  ubel  ergehe,  Diese  Bitte.  um  Interven- 
tion ist  ja  nun  wirklich  ein^naives  Stuck  aus  dem  TollhaUs. 

Soelling  bekommt  den  Posten  nicht,  Meyer  behalt  inn.  Soelling 
ist  daraufhin  vollkommen  zerbrochen.  Am  Sonntag  sprach  er  noch 
von  Ministerprasident  Braun  in  hochster  Verehrung,  stimmte  mit  Frau 
Wellmann  in  der  Ablehnung  des  Panzerkreuzers  iiberein.  Am  Tag 
nach  der  Ablehnung,  einen  Tag  darauf,  am  Montag,  schimpft  und  tobt 

789 


er  gegen  die  Sozialdemokraten,  an  der  Grenze  des  Normalen.  Auck 
heute  ruft  er  noch  im  Gerichtssaal:  „Es  war  Feloriie,  daB  ich  dea 
Posten  nicht  bekam".  Nachdem  er  den  Posten  nicht  bekam,  ist  er 
fiir  Wehrhaftigkeit  und  fiir  Arbeitsdienstpflicht  und  er  tritt,  wieder 
beweist  er  seine  gute  politische  Nase,  im  September  1930  bei  den 
Deutschnationalen  ein, 

Als  Landgerichtsprasident  macht  er  merkwurdige  Dinge,  Da  ist 
ein  SchuldenerlaB,  nach  welchem  Beamte  ihre  Schulden  von  einer 
gewissen  Hohe  an  der  vorgesetzten  Behorde  mitteilen  sollen,  und  den 
Kammergerichtsprasident  Tigges  riigt.  Er  verbietet  den  Angestellten 
Alkohol  zu  trinken,  den  Beamten  seines  Presidiums  erlaubt  er  es. 
Er  gibt  einem  Angestellten  eine  Verwarnung,  weil  dieser  am  Ende 
einer  Gefallenenfeier  ruft;  „Es  lebe  die  Republik!"  Der  Beamte  rief 
das  aus  Arger  dariiber,  daB  man  einen  kriegsbegeisterten  Geistlichen 
redeni  lieB,  statt,  wir  er  bescheiden  meint,  wenigstens  einen,  der  den 
Krieg  ein  notwendiges  Ubel  nennt,  und  weil  die  schwarz-rot-goldenen 
Kranzschleilen  entfernt  worden  waren, 

Weiter:  Soelling  begibt  sich  in  eine  Naziversammlung  im  Sport- 
palast,  zieht  sich  dort  die  Jacke  aus  und  hebt  die  Hand  zum  Fascisten- 
gruB,  Er  sagt,  er  habe  behordlichen  Auftrag  gehabt,  die  Versamm- 
lung  zu  besuchen,  Auch  die  Hand  zu  erheben?  Er  meint,  Grzesinski  * 
habe  auch  den  Schupos  geraten,  die  Hand  in  Fascistenversammlun- 
gen  zu  heben. 

Und  seine  Frau  macht  hunderte  von;  Hausbesuchen,  urn  fiir  die 
Deutschnationale  Partei  zu  werben,  und  dabei  kommt  sie  auch  zu 
einem  Amtsgerichtsrat,  der  Soelling  mittelbar  unterstellt  ist,  was  eine 
hochst  peinliche  Situation  ergibt,  ein  Amtsrichter,  der  von  seinem 
Vorgesetzten  zum  Eintritt1  in  eine  politische  Partei  aufgefordert  wird. 
Aber  Soelling  sagt:  „Das  ist  Sache  meiner  Frau.  Ich  lebe  in  einer 
modernen  Ehe\     Bei   Grzesinski  las  ers  anders. 

Das  ist  Soelling.  Richter  in  PreuBen,  ein  Choleriker,  ein  auf- 
geregter  Mensch,  der  sich  verfolgt  fuhlt,  es  im  Telephon  knacken 
hort,  weil  er  seine  Gesprache  bewacht  glaubt,  von  Ehrgeiz  zerfressen. 

Erinnert  man  sich  noch  an  Bombe,  Landgerichtsdirektor,  Natur- 
freund  und  Jager,  der  hinging  und  sich  eine  Kugel  in  den  Kopf 
schoB,  mitten  im  Walde,  weil  er  nicht  President  wurde.  Neben  die- 
sem  steht  Soelling.  Hingerissen  vom  Ehrgeiz  zu  jeglicher  Preisgabe. 
Preisgabe  von  Herkunft,  Abstammung,  Religion,  Weltanschauung  und 
Menschen.  t,Kein  Mensch  von  Charakter",  sagte  Rechtsanwalt  Klee, 
„oder,  um  mich  mit  der  Scharfe  meines  Herrn  Gegners  auszudrucken, 
ein  charakterloser  Mensch";  nicht  fahig,  einer  der  hochsten  Richter 
zu  sein. 


Die  Pramienanleihe  von  Bemhard  citron 

F}er  Gedanke,  eine  Pramienanleihe  zur  Finanzierung  der  Ar- 
beitsbeschaffung  auszuschreiben,  stammt  vom  Afa-Bund, 
d'essen  Programm  in  einem  sachlichen  Gegensatz  zu  dem 
W.T.B.-Plan  des  Allgemeinen  Deutschen  Gewerkschaftsbundes 
steht.  Der  ADGB.  hat  die  Pramienanleihe  von  den  Afa-Leuten 
ubernommen.  Von  dort  .gelangte  die  Anleihe  in  das  Arbeits- 
beschafiungs-Programm  der  Reichsregierung.  Warum  haiben 
diese  s am t lichen  Stellen,  die  iiber  die  Bekampfung  der  Arbeits- 
losigkeit  grundverschiedener  Ansicht  sind,  grade  die  Pramien- 
anleihe fiir  gut  befunden?  Eine  solche  Losanleihe  ist  ein 
Wertpapier,  das  sich  besonders  zur  Unterbrinigung  im  breiten 
Publikiim  eignet.  Der  Besitzer  von  fiinfhundert  oder  tausend 
Mark  Pramienanleihe  hofft,  daB  sein  Stuck  gezogen  wird  und 

790 


cr  uber  Nacht  ein  reicher  Mann  ist.  Wer  dagegen  Posten 
von  mehrern  Millionen  zeichnen,  mochte,  wird  erst  seine  Ge- 
winnchance  nach  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  mit  dem 
entgangenen  Zinsgewinn  vergleichen,  um  dann  vielleicht  fest- 
zustellen,  daB  er  bei  irgend  einem  andern  Papier  weit  bessere 
Renditen  erzielen  kann.  Mit  der  Auilegung  der  Pramien- 
anleihe  hat  die  Reich  sregierung  zu  erkennen  gegeben,  daB  sie 
sich  der  Auffassung  der  beiden,  Gewerkschaftsgruppen  an- 
schlieBt  und  die  Arbeitsbeschaffuiigsanleihe  nicht  als  Anlage 
fur(  den  Effektenbesitzer  groBen  Stils  sondern  fiir  den  Sparer 
und  Kleinkapitalisteni  plant.  Man  hofft,  daB  grade  der  Mkleine 
Mann"  noch  etwas  fliissiges  Geld  im  Kasten  oder  auf  der 
Sparkasse   hat. 

Die  Auflegung  einer  Anleihe  im  gegenwartigen  Zeitpunkt 
erfordert  allergrolites  Verstandnis  fiir  die  Denkweise  .  jener 
Kreise,  an  die  man  sich  wenden  mochte,  daher  miissen  die 
Durchiuhrungsbestimmungen  zum  Anleihegesetz  diese  psycho- 
logischen  Vorziige  aufweisen.  Die  Schichten,  die  zur  Anleihe- 
zeichnunig  herangezogen  werden  sollen,  konnen  gar  nicht  weit 
genug  gefaBt  sein.  Nach  dem  Anteil,  den  die  Gewerkschaften 
an  der  Vorbereitung  des  Anleiheplanes  genommen  haben,  ist 
anzunehmen,  daB  sie  vielleicht  auch  fiir  eine  wirksame  Pro- 
paganda unter  ihren  Mitgliedern  Sorge  tragen  werden,  Zu 
diesem  Zwecke  miissen  aber  auch  ganz  kleine  Stiicke  aus- 
gegeben  werden,  Als  niedrigste  Einheit  kame  wohl  ein  Nenn- 
wert  von  zwanzig  Mark  in  Frage.  Bei  der  Pramienausstattung 
empfiehlf  sich,  die  Zahl  d'er  kleinen  Gewinne  moglichst  hoch 
zu  halten  und '  vielleicht  einige  wenige  GroBgewinne  als  be- 
sonderes  Lockmittel  auszusetzen.  Fiir  die  Glaubiger  muB  un- 
bedingte  Sicherheit  sowohl  gegen  Wahrungsveranderungen  als 
auch  gegen  gesetzliche  Eingriffe  geboten  werden.  Die  Formulie- 
rung  wird  einige  Schwierigkeiten  bereiten,  da  man  naturlich 
die  friihern  Anleihen  des  Reiches  nicht  in  MiBkredit  bringen 
darf. 

Ebenso  wichtig|  wie  die  Ausstattung  ist  aber  der  Hinweis 
auf  den  Zweck  der  Anleihe.  Aus  dem  Anleihetext  muB  deut- 
lich  hervorgehen,  daB  dieset  Kredit  vom  Reich  zur  Arbeits- 
beschaffung  in  Anspruch  genommen  wird.  Das  Reich  ist  zur 
Vorlegung  eines  Anleiheprospektes  nicht  verpflichtet,  Darum 
sollte  wenigstens  in  besonderen  Erlauterungen  genau  bezeich- 
net  werden,  welche  Arbeiten  zu  finanzieren  sind.  Am  besten 
ware  eine  Kalkulation  uber  die  Rentabilitat  dieser  in  Aussicht 
genommenen  Arbeiten,  Die  Erklarungen  sind  aber  nicht  allein 
aus  propagandistischen  Griinden  notwendig.  Die  Offentlichkeit 
hat  auch  ein  Recht  zu  kontrollieren,  ob  mit  Hilfe  der  Pramien- 
anleihe  tatsachlich  neue  Arbeitsmoglichkeiten  geschaffen  wer- 
den. Der  Anleiheplan  ware  der  furchtbarste  Schlag  ins  Was- 
ser,  wenn  sich  herausstellen  sollte,  daB  ein  Teil  der  Mittel  zur 
Deckung  des  Defizits  in  den  Reichs-,  Staats-  und  Kommunal- 
haushalten  verwandt  wird.  Da  im  Anleihegesetz  als  Zweck 
ausdriicklieh  Siedlung,  Meliorationen,  Beschaftigung  Jugend- 
licher  und  sonstige  Arbeitsbeschaffung  angegeben  ist,  wird 
man  nicht  einfach  die  Zeichnungseingange  zur  Verminderung 
der  schwebenden   Reichsschuld  verwenden,      Es   besteht   aber 

791 


die  Gefahr,  daB  in  den  Etats  des  Reiches,  der  Lander  und  Ge- 
meinden  groBe  Abstriche  bei  Ausgaben  fiir  Siedlungszwecke, 
Bekampfung  von  Hochwasserschaden  und  Ausbcsserung  dcr 
FahrstraBen  gemacht  werden.  Diese  Arbeiten,  die  Jbisher  in 
die  offentlichen  Etats  eingestellt  wurden,  erscheinen  dann  mit 
einem  Male  als  Aufgaben  der  Arbeitsbeschaffung,  die  mit  dem 
Ertrag  aus  der  Pramienanleihe  Hnanziert  wird.  Es  handelt 
sich  bei  dieser  Annahme  durchaus  nicht  um  eine  boswillige 
Unterstellung,  sondern  die  Tatsache,  daB  fiir  StraBenbau  im 
Jahre  1932  nur  zehn  Prozent  des  erforderlichen  Betrages  aus- 
geworfen  sind,  beweist  zur  Geniige,  auf  welchem  sehr  repara- 
turbedtirftigen  Holzwege  sich  die  Regierung  befindet.  Die 
Pramienanleihe  ist  nicht  zur  Entlastuiig  der  Etats  sondern  zur 
Beschaffung  neuer  Arbeit  vom  Reichstag  beschlossen  worden. 
Nur  unter  dieser  Voraussetzung  kann  die  Anleihe  ein  Erfolg 
werden  und  ihr  Ergebnis  zur  Milderung  der  Arbeitslosigkeit 
beitragen. 

Wenn  eena  dot  iS   von  Theobald  Tiger 

Fiir  Paul  Graetz 
VJ^enn  eena   dot  is,  kriste  n   Schreck. 
"     Denn  denkste:  Ick  bin   da,  un  der  is  weg. 
Un  hastn  jern  jehabt,   dein  Freund,  den  Schmidt, 
denn  stirbste  n   kleenet   Sticksken   mit, 

Der  Rest  is   Quatsch, 

Der    Pfaffe,    schwarz    wien   Rabe, 
un  det  Jemache  an  den  offnen  Jrabe ... 
Die  Kranze  . . .!     Schade  um  det  Jeld, 
Und  denn  die  Reden  —  hach  du  liebe  Welt  — ! 

Da  helfen  keine  hiimmlische  Jewalten: 

die   Rede   muB   der   Diimmste  halten. 

Un  der  bepredicht  sich  die  schwarze  Weste 

un  halt  sich  an  Zylinder  teste. 

Wat  macht   der  kleene  Mann,  wenn  eena   sanft  vablich? 

Er   is  nich  hiilflos  —  er  ist   feialich. 

Leer  is  de  Wohnung.     Trauer,  die  macht  dumm, 

Denn  kram  se  so  in  seine  Sachen  rum. 

Der  Tod  bestarkt  die  edelstcn  Jeiiihle, 

un  denn  jibs  Krach,   von  wejn  die  Lederstiihle. 

Der    Zeitvesuv   speit    seine   Lava. 

Denn  sacht  mal  eena:  „Ja,  wie  der  noch  da  wah — I" 

Denn  ween  se  noch  n  bisken  hinterher, 

und  denn,  denn  wissen  se  jahnischt  mehr, 

Wenn  eena  dot  is,  brummts  in  dir: 

Nu  is  a  wech.     Wat  soil  ickn  denn  noch  hier? 

Man   keene  Bange, 

det  denkste  namlich  jahnich  lange. 

ne  kleine   Sseit, 

denn  is  soweit; 

Denn  lebst  du  wieda  wie  nach  Noten! 

Keener  wandert  schneller  wie  die  Toten. 
792 


Betnerknngen 

Die  schlesische  Reaktion 
A  uf  dem  Abfahrsteig  des  bres- 
**  lauer  Hauptbahnhofes  sagt 
mir  ein  junger  Schriftsteller, 
der  dortzulande  einen  Namen 
ais  Publizist  und  Kritiker 
hat:  MWeiBt  du,  wenn  ich  nur 
eine  geringe  Moglichkeit  sahe,  in 
Berlin  durchzukommen,  dann 
haute  ich  lieber  heute  als  morgen 
hier  ab  —  denn  was  soil  und 
kann  man  bei  uns  schon  nocK 
machen  . . .'/  Dann  rollt  der  Zug 
ab,  und  man  hat  Zeit  genug,  das, 
was  man  im  schlesischen  Osten 
gesehen,  gelesen  und  gehort  hat, 
zu  bedenken. 

In  den  Stadten  und  auf  dem 
flachen  Lande  der  schlesischen 
Provinzen  tummelt  sich  eine  wilde 
Reaktion,  In  alien  lokalen  Zei- 
tungen,  die  noch  vor  verhaltnis- 
mafiig  kurzer  Zeit  als  neutral  und 
auf  der  sogenannten  Mittellinie 
stehend  galten,  ist  heute  jeder 
Rfilpston  der  ortlichen  Nazi-Fiih- 
rer  gewissenhaft  verzeichnet.  Der 
schlesische  Rundfunk,  vor  weni- 
gen  Jahren  als  ,,roter  Sender" 
verschrien,  hat  sich  der  Situation 
angepafit  und  kokettiert  wenig 
schamhaft  mit  den  zu  plotzlicher 
Macht  und  Wurde  gelangten  Kon- 
junkturisten  der  Hitlerpartei,  und 
der  gesamte  Beamtenkorper  ist 
ebenso  wie  der  Apparat  aller 
Kulturinstitutionen  nationalsozia- 
listisch  durchsetzt.  Es  gehort 
wirklicher  Mut  da'zu,  hier  sozia- 
listische  Weltanschauung  zu  ma- 
mfestieren,  wozu  der  Besitz  des 
sozialdemokratischen  Partei- 

buches  nicht  gezahlt  sei,  und  es 
ist  mehr  und  mehr  unmoglich  ge- 
worden,  als  Jude  ohne  Boykott- 
und  Attentatsandrohungen  zu 
existieren,  sobald  man  bemiiht 
ist,  publizistisch  oder  politisch 
eine  Rolle  zu  spielen.  Wer  es 
nur  wagt,  beispielsweise  im  Rund- 
funk, ein  freies  Wort  zu  sagen, 
muB  sich  damit  abfinden,  perio- 
disch  von  der  nationalsozialisti- 
schen,  deutschnationalen  und  dem 
Zentrum  nahestehenden  Presse 
verleumdet  und  beschimpft  zu 
werden.  Ein  Mensch,  dessen 
Name    dort    einmal    in    ablehnen- 


dem  Sinne  gedruckt  wird,  gilt 
bedingungslos  als  Kretin.  In  der 
Stadt  haben  sich  die  Gegensatze 
ein  wenig  gemildert,  hingegen  ist 
das  flache  Land  noch  immer 
Sammelpunkt  schwarzester  Reak- 
tion, Hinzukommt,  daB  die  links- 
radikalen  Intellektuellen  im 
schlesischen  Osten  auf  von  der 
Reichshauptstadt  unbeachtetem 
Posten  stehen.  Wahrend  sie  in 
Berlin  schon  zahlenmaBig  einen 
Faktor  bedeuten,  richtet  sich  hier 
der  HaB  der  gesammelten  Reak- 
tion gegen  drei  oder  sechs  Men- 
schen, 

Die  nationalsozialistische  Welle 
ist,  das  zeigen  die  Resultate  der 
letzten  Wahlen,  weiterhin  ange- 
schwollen.  Trotz  bauerlicher  Not 
und  der  wachsenden  Proletari- 
sierung  der  Mittelschichten,  die 
das  Gros  der  Stadtbevolkerung 
bilden,  behauptet  das  Zentrum 
seine  Position.  Die  Sozialdemo- 
kratie  iibt  passive  Resistenz,  und 
das  tut  sie  seit  Jahren  —  sie 
tragt  einen  Hauptteil  der  Schuld 
am  Vorwartsschreiten  des  Fascis- 
mus. 

Die  SA.  ist  aufgelost.  In  den 
schlesischen  Stadten  spielt  sie 
kaum  eine  Rolle,  Die  SA,  die 
vor  allem  auf  die  landliche  Be- 
zirke  Schlesiens  konzentriert 
war  und  in  den  Schlossern 
der  Aristokratie  um  den 
Kronprinzenkreis  bereitwilligste 
Aufnahme  fand  —  sie  wird 
durch  das  Verbot  kaum  beriihrt. 
Es  werden  merkwurdige  Dinge 
berichtet.  So  hat  die  Polizei  sich 
vor  einigen  Wochen  der  Miihe 
unterzogen,  da&  Schlofi  des  Gra- 
fen  York  von  Wartenberg  zu 
durchsuchen,  da  dort  grofie  Waf- 
fenlager  versteckt  sein  sollten. 
Die  Polizei  hat  auch  gesucht,  aber 
nichts  gefunden,  Bose  Zungen 
sagen,  die  Vorbereitung  der  IA 
fiir  diesen  Zug  habe  so  lange 
gewahrt,  daB  man  inzwischen  Al- 
les  gemiitlich  vergraben  habe,  Es 
steht  auBer  Frage,  daB  die  braune, 
entlegalisierte  Armee  fortexistiert. 
Die  schlesischen  Guter  haben 
oft  riesenhafte  Ausdehnungen, 
und  es  wird  kaum  schwer  fallen, 

793 


grade  jetzt,  im  Friihjahr,  ein  paar 
hundert  oder  tausend  Acker- 
knechte  unterzubringen.  Der 
Landadel  schatzt  Herrn  Hitler 
und   den   Kronprinzen   auch. 

Dariiber  hinaus  lafit  die  geo-  ■ 
politische  Lage  des  Landes  er- 
kennen,  warum  der  Stabschef  der 
SA,  so  groBes  Gewicht  darauf 
legte,  grade  im  schlesischen 
Osten  eine  starke  Position  zu 
schaffen.  Die  Nahe  der  polni- 
schen  Grenze,  die  giinstigeh  Mog- 
lichkeiten  eines  Ein-  und  Ausfalls" 
auf  In-  oder  Ausland  und  die 
Garantie,  daB  die  Bevolkerung 
„mitgeht"  —  das  waren  kluge 
Kalkulationen,  deren  Resultat 
offenkundig    ist. 

Wie  in  alien  Grenzlandern,  so 
steht  auch  hier  die  Bevolkerung 
unter  dem  Einfluft  der  zugellose- 
sten  chauvinistischen  Propaganda. 
Nicht  nur  die  deutschnationalen 
Wanderredner  1  eben  von  der 
Phrase  der  bedrohten  deutschen 
Grenzen,  auch  die  katholischen 
Pries  ter  in  Oberschlesien,  die 
dort  eifrigst  bemiiht  sind,  den 
Nationalismus  auf  allerhand  Um- 
wegen  zur  Bliite  zu  treiben,  sehen 
ihre  Aufgabe  darin,  '  gegen  die 
„bolschewistische  Gefahr"  zu 
hetzen,  Sie  alle  zusammen 
haben  den  Terror  hochgepappelt. 
Und  der  besteht  fort,  wobci  das 
SA.-Verbot  keine  Rolle  spielt, 
denn  es  gibt  hier  zahllose  Or- 
ganisationen,  die  fur  Tarnungs- 
zwecke   wie   geschaffen   sind. 

In  den  Stadten  dominiert  reak- 
tionares  Kleinbiirgertum,  in  den 
Dor  fern  bestimmt  der  Gutsbesit- 
zer  die  zu  wahlende  Partei.  Wah- 
rend  in  Oberschlesien  der  Pra- 
lat  Ulitzka  die  Politik  macht, 
wird  Niederschlesien  von  monar- 
chistischen     Pastoren      gegangelt. 


Kann  man  verstehen,  daB  die 
linksradikalen  Intellektuellen  die 
Flucht  ergreifen  wollen?  Ihre 
wirtschaftliche  Existenz  ist  nahe- 
zu  ruiniert.  Fur  Berlin  zu  arbei- 
ten,  ist  heller  Wahnsinn  —  denn 
dort  halt  man  ja  an  dem  Vor- 
urteil  gegen  das  Provinzielle 
fest.  Die  groBen  berliner  kora- 
munistischen  Blatter  kennt  man 
nur  vom  Horensagen.  Darum 
wird  die  ehrliche  antifascistische 
Front  Iockerer  und  weitmaschi- 
ger,  Der  Osten  ist  ein  wichtiges 
Feld.  Die  Reaktion  hat  das  er- 
kannt  und  entwickelt .  ihren  An- 
griff  tadellos :  mit  der  Hilf  e 
musterhaft  gedrillter  Organisatio- 
nen  und  einer  ausgezeichneten 
Presse.  Und  natiirlich  mit  den 
Waffen,  die  die  Polizei  nicht  ge- 
funden  hat, 

Erich  Peter  Neumann 

Aus  altcn  Papier  en 
A  uf  einem  vergilbten  Zettel  fand 
**  ich  neulich  die  Abschrift  ei- 
ner Notiz,  die  1782  in  einer 
schlesischen  Zeitung  gestanden 
haben  soil.     Da  ist  zu  lesen: 

„Auf  Befehl  der  Konigl.  Cabi- 
nets-Kanzlei  wird  die  Ansprachet 
so  Seine  Konigliche  Majestat  ge- 
stern  bei  der  Parole  an  die  Her- 
ren  officiers  des  Regiments  Kleist 
zu  halten  geruheten,  dem  P.  T, 
Publico  bekanntgegeben:  .Mes- 
sieurs! Sie  haben  gehort,  daB 
ich  Ihre  Kameraden,  die  Stabs- 
Capitaines  von  Platow  und  von 
Rauchnitz  habe  arretieren  und 
unter  sicherer  Escorte  zur  Ab- 
urtheylung  durch  ein  conseil  de 
guerre  nach  der  Festung  Glatz 
bringen  lassen.  Die  Herren  ha- 
ben die  Arrogance  gehabt,  mir 
eine  Deklaration  zu  prasentieren. 


\\7ir  predigen  vor  tauben  Ohren,  solange  Sie  sich  nicht  selbst 
*  "  tiberzeugt  haben,  welche  einzigartige  menschliche  Bekundung 
in  den  B6  Yin  Ra-Bfichern  vorliegt.  Erst  wenn  Sie  eines  oder 
das  andere  dieser  Bficher  gelesen  haben,  werden  Sie  tins  ver- 
stehen konnen  in  unserm  Bestreben,  diesem  welterneuernden 
Qeiste  zu  dienen.  Bo  Yin  Ra,  J.  Schneiderfranken,  ist  heute 
wahrhaftig  der  einzige  unter  den  Mitlebenden,  der  berufen  ist, 
zu  „neuen  Ufern*  und  zu  nneuem  Tag"  zu  fuhren.  Unzahlige 
danken  ihm  Befreiung.  Zur  EinfUhrung  empfehlen  wir  das 
neuste  seiner  Bucher  „Der  Weg  meiner  Schtiler",  das  gebunden 
RM.  6.—  kostet.  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816> 
Basel-Leipzig. 


794 


welche  besagte,  dafi  der  Com- 
mandeur  des  Regiments  nicht 
mehr  die  confiance  der  Herren 
Offiziere  besitze.  Ich  will  nicht 
weiter  revidieren,  inwieweit  noch 
andere  Herren  in  die  Affaire  der 
beiden  Stabs-Capitaines  compli- 
cieret  seyn,  aber  ich  gebe  Ihnen, 
Messieurs,  und  Meinem  gesamten 
Officiers-Corps  publiquement  be- 
kannt,  dafi  es  geniigt,  wenn  ein 
von  Mix  nominierter  Comman- 
deur  Meine  confiance  besitzt  und 
dafi  der  von  dem  ihm  subordinier- 
ten  Militairs,  gleichviel  ob  offi- 
ciers,  caporals  oder  Gemeyne,  nur 
obeissance  zu  verlangen  hat,  aber 
keine  confiance  braucht.  Die  De- 
marche der  Herren  von  Platow 
und  von  Rauchnitz  war  eine  in- 
subordination und  nur  die  abso- 
lute .Subordination  ist  es,  durch 
welche  sich  eine  Armee  von  einer 
bewaffneten  Zigeuner-Bande  un- 
terscheidet!  Ich  werde  jeden 
meiner  officiers,  er  sey  General 
oder  Cornett,  infam  cassieren, 
der  diesen  Meinen  intentions  zu- 
widerhandeltV 

*■ 

Es  lieB  sich  leider  nicht  fest- 
stellen,  ob  der  Text  authentisch 
ist,  weil  '  keine  entsprechenden 
Vermerke  in  den  in  Frage  kom- 
menden  Archiven  zu  finden 
waren.  Aber  da  sich  dies  vor 
150  Jahren  abspielte,  kann  es 
schon  so  gewesen  sein  —  natur- 
lich   nur  vor   150   Jahren. 

Werner  Arendt 

Brief  aus  Paris,  anno  1935 

An    Waltraud    Grafin    Rassow, 

Potsdam,  Heerstr.  8. 

Paris,  12.  Juni  1935 

Liebes  Weib! 
Seit  gestern  mittag  also  in  Pa* 
ris,      Nachmittags    verabredungs- 


gemafi  Wright  von  Armstrong* 
Vickers  getroffen.  Denk  Dir,  ken- 
nen  uns  langst!  Brachte  einst 
englische  Waffenlieferung  nach 
Ailenstein!  Ich  damals  Sturm- 
fuhrer  auf  den  Giitern.  Zeit  ver- 
geht.  Erkannten  uns  auf  der 
Stelle. 

Ideell  natiirlich  einig.  Vor- 
herrschaft  germanischer  Rasse 
auch  sein  Ziel  und  das  der  Firma. 
Dreht  sich  nur  noch  um  Preis. 
Sagte,  hatte  zu  unsrer  nationa- 
len  Regierung  kein  rechtes  Ver- 
trauen.  Seit  Hitler  von  Schulze- 
Naumburg  gestiirzt,  gingen  keine 
Gelder  mehr  ein.  f)Ihr  Diktator 
Schulze-Naumburg",  sagte  er,  — 
aber  das  erzahl  ich  Dir,  wenn 
wieder   in    Potsdam. 

Mallaczek  (Skoda)  auch  in  Pa- 
ris. Bestimmt  kein  Zufall.  Wright 
scheint  uns  schrauben  zu  wollen. 
Mai  sehen,  was  M.  kostet.  Sehr 
teuer  sieht  er  nicht  aus.  Andrer- 
seits,  diese  Heimlichkeiten  reich- 
lich  ekelhaft.  Schneider-Greusot 
langst  stutzig,  Offene  ehrliche 
Feldschlacht,  das  schon  eher.  Mit 
verhangten  Ziigeln  und  so.  Na, 
kommt  Zeit,  kommt  Rat.  Arm- 
strong-Vickers  miissen  liefern. 
Hier  alles  fertig  zum  Losschla- 
^  gen.  Denkt  keiner  dran,  Saar^- 
gebiet  herzugeben  oder  Abstim- 
mung  durchzufiihren.  Sei  keine 
MuB-Bestimmung,    Bande ! 

Oberst  Bannermann-Leverkusen 
hokert  mit  Malcolm.  (I.  G.  Far- 
ben,  englische  Gruppe.)  Giftkom- 
ment  ausknobeln.  Angst  vor  eig- 
ner  Apotheke,  Humanitat  und 
Verwandtes.  Aber  auch  nur  Geld- 
frage.  General  h.  c.  Schulze- 
Naumburgs  Devise:  Krieg  als  Ar- 
beitsbeschaffung,  —  Wright  und 
Malcolm  sehr  gelacht. 

Mit  Botschaft  telephoniert.  Sind 
reisefertig.     Koffer  gepackt.    Nie- 


2ks  mutigsie  3Crie(js#ucft, 

das  bisher  in  Deutschland  veroffentlicht  wurde.  — 
Das  ungeheuerlichste  Zeugnis  vom  Kriege,  das  wir 

besitzen.  Hannoverscher  Anzeiger 

Edlef  Koppen,  HEERESBERICHT,  Paul  List  Verlag     A     Qf\ 
— Leipzig.  462 Seiten    ^T*n^J\J 

795 


derwerfung  des  ,  hamburger  Ar- 
beiteraufstandes  durch  National- 
garde  hat  Quai  d'Orsay  sehr  ver- 
stimmt.  Soil  viel  Geld  hinein- 
gesteckt  haben.  Versteht  nicht, 
wieso  deutsche  Arbeiter  auf 
deutsche^  Arbeiter  schieBen.  Ab- 
stoflend  rationales  Denken  hier- 
orts. 

Abends  mit  Bannermann  ge- 
bummelt.  Mit  Taxi  Montpar- 
nasse,  Komischer  Chauffeur, 
Deutscher.  Ehemaliger  Schrift- 
steller.  Arzt  auch.  Doblin  oder 
ahnlich.  Seinerzeit,  bei  Macht- 
libernahme,  ausgewiesen  worden. 
Entsinne  mich  dunkel  an  ProzeB, 
Evangelische  Kirche  gegen  Pazi- 
fisten  oder  so,  Fiinf  der  Kerls 
verknackt.  Rest  iiber  die  Grenze. 
Gastgeschenk   an  Erbfeind, 

Besagter  Doblin,  miserabler 
Chauffeur  iibrigens,  brachte  uns 
in  deutsches  Lokal.  Emigranten 
en  gros.  Bewirtschaftet  von  Ge- 
briider  Mann.  Der  eine  hinter 
der  Theke.  Thomas  Vorname, 
Nobelpreisdiplom  iiberm  Ofen. 
Bruder  im  Cutaway.  Quasi  Emp- 
fangschef.  Ganz  gute  Manieren. 
So  wie  seinerzeit  russische  GroB- 
fiirsten  in  Berlin.  Natiirlich  nur 
naherungsweise. 

Deutsche  Kellnerinnen-Bedie- 
nung,  Auch  Literatur.  Gewisse 
Marieluise  FleiBer  beispielsweise. 
Ein  Herr  Mehring  sang  deutsche 
Chansons,  „DeutscrT,  ist  iiber- 
trieben,  Sammelte  anschlieBend 
per  Miitze*  Oberst  Bannermann 
wollte  randalieren.  Begreiflich, 
aber  nicht  opportun.  Hielt  ihn 
muhsam  zuriick.  Apropos,  ge- 
wisser  Muhsam  sang  auch. 
Schandschnauzen,  die  Kerle. 
Hammelbeine  mal  gehorig  lang- 
ziehen  sehr  am  Platze,  leider 
keine  Gelegenheit.   ' 

Gehorten  kaserniert  und  ge- 
drillt,  bis  Intellekt  durch  die  Rip  - 
pen  geschwitzt!  Zweihundert 
Kniebeugen  bei  vierzig  Grad  Cel- 
sius, Geburt  des  Patriotismus 
blofie  Zeitfrage,    Wetten,  daB? 

Der  eine  Wirt,  Thomas,  sprach: 
Goethe  und  Weltbiirgertum, 
SpaBI  Goethe  drei  Jahre  Militar- 
dienst,  hatte  sich  Weltbiirgerei 
anders  iiberlegt. 

Ganzer  Laden  voll  Idealisten. 
Individualismus  offensichtlich  Art 
796 


Gehirngrippe,  Bannermann  doch 
nicht  mehr  zu  halten.  Wurde  von 
Garderobier,  namens  Toller,  ra- 
biater  Bursche,  rausgebracht. 
Kein  Trinkgeld  gegeben.  Strafe 
muB  sein. 

Fuhren  noch  Negerball.  Tolle 
Kerle.  Hochklassiges  Soldaten- 
material.  Sudanneger.  Chauf- 
feur Doblin  bestellte  Glas  Milch, 
Bannermann  blau  wie  Strand- 
kanQne.  Hielt  Negern  Vortrage 
iiber  Phosgen,  Chauffeur  ausge~ 
riickt.  Keine  Disziplin.  Halt 
Kopf  fur   Hauptsache. 

SiiBe,  wissen,  daB  nein.  Oder? 
Gut  geschlafen  ohne?  SchluB. 
Wright  wartet.  Gegenbesuch, 
Wiinscht  dringlich,  reingelegt  zu 
werden.  KuB.  Baldmoglichst 
Potsdam.      Scharf  geladen. 

Dein  Bodo 

PS,:  Habe  Eisenbahn  neusten 
Hanns  Heinz  Ewers  gelesen, 
Heifit:  „Alraune  wird  Soldat'V 
Fabelhaft! 

Erich  Kdstner 

Der  Untertan 

Bericht  des  SS.-Mannes  Walter 
Gehrke,  Karlshorst, 
iiber 
den  Scharfiihrer  Oskar  Thibaut, 
Karlshorst. 
Bei  meiner  Riickkehr  aus  Ber- 
lin, gestern  abend,  den  17.  9.  31, 
gegen  H\2  Uhr,  kam  mir  meine 
Braut  Frl.  Hensel,  Pgn.  seit  1929, 
aufgeregt  entgegen  mit  der  Mittei- 
lung,  daB  der  Scharfiihrer  T.  sie 
gemahnt  hatte,  mich  laufen  zu 
lassen,  da  ich  sie  betriigen  wurde. 
T,  machte  wiederholt  Heirats- 
antrage,  die  aber  meiner  Meinung 
nach  nie  ernst  gemeint .  warent 
denn  er  verkehrt  noch  bis  zum 
heutigen  Tage  mit  seiner  von  ihm 
geschiedenen  Frau.  AuBerdem  hat 
er  noch  verschiedene  Madchen, 
die  an  eine  Heirat  denken,  wie 
Frl.  Stenzel,  und  hat  sich  T, 
Kameraden  gegenuber  geauBert, 
dafi  er  Frl.  Stenzel  wohl  heiraten 
wird.  Er  spielt  also  mit  den 
Frauen.  Ich  ging  jetzt  ins 
Deutsche  Haus  und  dort  befand 
sich  T,  mit  der  Wirtin  und  einem 
Pg.  Miiller.  Nach  dem  Gehorten 
iibersah  ich  T.  Dieser  kam  an 
unsern  Tisch  und  gab  mir  in  die- 


/^~ 


&em  offentlichen  Lokal  den  dienst- 
lichen  B.efehl,  dafi  ich  meine 
Braut  in  seiner  Gegenwart  nicht 
mehr  betriigen  soile.  Diesen  Ton 
und  die  Art  verbat  ich  mir,  da  es 
eine  reine  Privatsache  ware  und 
von  Betrug  keine  Rede  sein 
konne.  T.  war  sehr  stark  ange- 
trunken.  Meinei  Rechtfertigung 
versetzte  T.  in  Wut  und  er  griff 
nach  meiner  Kehle  und  wiirgte 
mich.  Ich  wehrte  mich  nicht,  um 
meine  Pflichten  dem  Vorges«tzten 
gegeniiber  nicht  zu  verletzen.  Ich 
machte  T.  nur  darauf  aufmerk- 
sam,  dafi  wir  uns  beim  Sturm- 
ftihrer  sprechen  wiirden.  Er  warf 
dann  einen  Stuhi  um.  Wie  meine 
Braut  sagte,  er  mogesich  doch 
ruhiger  verhalten,  sagte  er,  sie 
solle  die  Schnauze  halten,  sonst 
kriegt  sie  eins  auf  die  Fresse.  Wir 
verliefien  das  Lokal  daraufhin. 
Nach  diesen  Vorfallen  kann  ich  T. 
als  meinen  Scharfuhrer  nicht  mehr 
achten  und  ihm  auch  den  schul- 
digen  Respekt  nicht  mehr  leisten, 

SS.-Mann  2.  III.  6. 
An  den  Sturmfiihrer  Kannenberg, 
Berlin,  Atzpodienstrafie  47. 
,Alarm 

Liebe  WeltbOhne! 

In  Wien  erzahlt  man  von  einer 
*  Begegnung  des  Bundesprasiden- 
ten  Miklas  mit  Monsignore  Seipel. 

„Nun?M  fragte  der  Pralat. 

„Danke,  Hochwiirden!  Soso. 
Sie  konnen  sich  ja  vorstellen:  ich 


bin  Vater  von  zwoH  Kindern;  in 
diesen   schweren   Zeiten." 

„Hm.  GewiB  nicht  leicht.  Aber, 
Exzellenz  —  grade  Ihnen  darf 
man  ruhig  vorwerfen:  Sie  sind 
selbst  schuld  .  .  ." 

„Das  sagen  Sie  mir,  Hochwiir- 
den? Sie?  Ein  Pralat?  Kinder 
sind   doch   Gottes   Segen." 

,,Sicherlich,  lieber  Miklas!  Im- 
merhin,  lieber  Miklas:  Auch  Re- 
gen  ist  Gottes  Segen.  Dennoch 
zieht  man  einen  Gummimantel 
an." 


Frflhiing  1932 

T^ensch,  mein  Zimmer  ist  cine  Rumpel- 
•*■ "  kammer, 

die  einen  giftig  und  bose  macht. 
Der  eklige  Gestank  der  H6fe  steigt  herauf. 
Das  Fenster  ist  ohne  Blick.     Und  stunden- 

lang 
liege  ich  manchmal  auf  dem  Bett  und  stiere 
auf  den  Spruch  an  der  Wand  :  fndianerherz 
kennt  keinen  Schmerz. 

Die  gemiitvolle,  aber  auch  pampige  Wirtin 

hat  einen  PapageL 

Der  schreit,  wenn  er  gut  gelaunt  ist,  die 

,  schonen  Worte: 

„Kannst  mi  beschietent" 

Ihr  alle  mir  auch.  .  Aber  dies  aufgeblasene 

Fiiihlings  wetter, 

dies   blank   gewischte  Himmelblau,    diese 

i         hellen,  aufgestorten  StraOen 

machen  mich  ganz  elend  und  kaputt. 

Der  schabige  Rest  meines  Anzuges; 
das  Wohlfahrtsessen  im  Emailleeimer; 
die  Margarine  auf  dem  Brot ; 
der  diinne  Kaffee  und  die  billigenZigaretten; 
all  die   verlornen   Tage    ohne    Herzschlag 
und  frohen  Mund  — ; 
Hosi  plus  anna,  Fruhling  1932. 

Ernst  M.  Hohne 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Bund  proletarisch-revolution&rer  Schriftsteller.  Dienstag  20.00,  Lehrervereinshaus, 
Alexanderplatz :  Antikriegskundgebung.  Alexander  Granach,  Gerald  Hamilton, 
Julia  Marcus,  Klaus  Neukrantz,  Hans  Rodenberg,  Beppo  Romer  und  Erich  Wemert. 

Internationale  Frauenliga  fur  Frieden  und  Freiheit.  Montag  (30.)  20,00.  Klubhaus  am 
Knie,  Berliner  Str.  27:  Das  Leben  Jane  Addams,  Thea  firinkmann. 

BOcher 

Eugen  Fischer-Baling:  Volksgericht.    Ernst  Rowohlt,  Berlin, 

Richard  Lewinsohn  (Morus):  Die  Welt  aus  den  Fugen.    Carl  ReiBner,  Dresden. 

Gustav  Regler:  Wasser,  Brot  und  blaue  Bohnen.    Neuer  Deutscher  Verlag,  Berlin. 

Rundfunk 

Dienstag.  Berlin  17.30:  Else  Lasker-SchQler  liest.  —  Breslau  20.00 r  Jugend  erzahlt  — 
Berlin  21.10:  Sling  zum  Gedachtnis.  —  Mittwocfa.  Berlin  18.15:  Gertrud  Isolasi  liest. 
—  Leipzig  19.30:  Aus  Alfred  Neumanns  Narrenspiegel.  —  Miinchen  21.00:  Hermann 
Kessers  Rettung.  —  Berlin  21.10:  Wedekinds  Frtihlingserwachen.  —  Konigsberg 
21.10:  Die  Soldaten  von  J.  M.  R.  Lenz.  —  Donnrrstag.  Mfinchen  14.35:  Aus  Alfred 
Doblins  Giganten.  —  Freitay.  Berlin  20.15:  Szenen  aus  Goetbes  Faust.  —  20.45: 
Orpheus  und  Eurydike  von  Kokoschka  und  Krenek.  —  Lasgenberg  20.45:  Hermann 
Kessers  Rettung.  —  Breslau  21.00:  Querschnitt  durch  Max  Dauthendey.  —  Sonn- 
abend.  Berlin  15.40:  Taten  der  Dichter,  Alfred  Wolfecstein.  —  Breslau  17.55: 
Kairo  von  Gerhart  Pohl.  —  Berlin  18.00:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Hermann  Zucker. 

797 


Antworten 

Badener,  In  unsrer  Zensur-Nummer  (Heft  13}  hat  Walther 
Karsch  berichtet,  mit  welch  eigentiimlichen  Begriindungen  die  Pblizei- 
behorden  Ihres  Landes  den  Vertrieb  der  ,Moskauer  Rundschau'  unter- 
bunden  haben.  Als  neustes  Objekt  haben  sie  sich  die  Mainummer 
der  _fAI2*  ...ausgesucht, ..  Auf  _  die  Verbotsbegrundung,  die  sich  auf 
Leninzitate,  Photographien  und  eine  Photomontage  John  Heartfields 
stutzt,  hat  Rechtsanwalt  Doktor  Apfel  sehr  eingehend  geantwortet 
und  dargelegt,  daB  „die  in  der  Beschlagnahmeverfiigung  befiirchtete 
Storung  der  Sicherheit  und  Ordnung  nur  in  der  Phantasie  der  be- 
schlagnahmenden  Stellen  besteht".  Es  lohnt  sich  nicht,  hier  darzu- 
legen,  wie  jene  Stellen  aussehen,  derentwegen  Baden  urn  die  „na- 
turlichen  Hemmungen  in  der  Bevolkerung  gegen  Widersetzlichkeiten 
gegen  die  rechtmafiigen  Anordriungen  der  Staatsgewalt"  bangt,  es  ist 
zu  offenkundig,  daB  hier  eine  Tendenz  getroffen  werden  sollte,  von 
rechtmaBigem  Vorgehen  kann  nicht  die  Rede  sein.  Interessant  ist 
aber,  daB  die  Behorde,  das  Polizeiprasidium  von  Karlsruhe,  diesmal 
sogar,  in  einer  Klammer,  zugibt,  daB  auch  „die  Wiedergabe  historischer 
Ereignisse"  unter  die  Notverordnungen  fallen  kann.  Das  alles  spielt 
sich  nun  nicht  etwa  unter  einem  gottlosen,  also  der  Luge  fahigen  Re- 
gime ab,  nein:  die  Unterdriickung  der  Darstellung  historischer  und 
aktueller  Ereignisse  geht  von  den  gleichen  Stellen  ausf  die  nicht  ge- 
nug  betonen  konnen,  daB  das  Christentum  die  Grundlage  unsres 
Staates  ist,  dieses  Christentum,  dessen  Schopfer  nichts  hoher  ein- 
schatzte  als  die  Wahrheit.  In  einem  von  zahlreichen  Personlichkeiten 
^es  offentlichen  Lebens  unterzeichneten  Protest  gegen  dieses  Verbot 
steht  auch  mit  Recht  zu  lesen:  „Diese  Nummer  verbieten  heiBt  den 
Kriegstreibern,  wie  sie  jetzt  in  alien  Landern,  auch  in  Deutschland, 
am  Werke  sind,  Vorschub  leisten". 

Werwolf.  Wir  kondolieren!  Ihr  wplltet  von  OstpreuBen 
aus  einen  Putsch  gegen  Litauen  machen,  und!  da  hat  der  Stahlhelm 
euch  fur  litauische  Lockspitzel  gehalten  und  der  Polizei  dehunziert. 
Er  behauptet,  ttvernunftige  Menschen  hatten  nicht  vermuten  konnen, 
daB  es  sich  um  ein  vom  Werwolf  ernst  genommenes  Unternehmen 
handle."  Wir  sehen  duster  in  diei  Zukunft.  Was  soli  werden,  wenn 
erst  eine  nationalistische  Organisation  von  der  andern  Vernunft  ver- 
langt! 

Helmut  Klotz,  Berlin -Tempelhof,  Sie  schreiben:  „In  der  Nr.  17 
der  fWeltbuhne*  beschaftigt  sich  Ignaz  Wrobel  mit  dem  Fall  des  na- 
tionalsozialistischen  Hauptmanns  Rohm;  Wrobel  unterzieht  die  Tat- 
sache  der  Veroffentlichung  der  ,Rohm-Briefe'  einer  ablehnenden 
Kritik.  Er  halt  die  Angriffe  gegen  Rohm  ,nicht  fiir  sauber*  und  for- 
dert,  man  solle  den  Feind  ,nicht  im  Bett  aufsuchen'.  Da  ich  der  Her- 
■ausgeber  der  .Rohm-Briefe*  bin  und  die  Veroffentlichung  mit  meinem 
Namen  gedeckt,  daher  zu  verantworten  habe,  sei  es  mir  gestattet,  zu 
der  Kritik  Wrobels  kritisch  Stellung  zu  nehmen;  nur  hierauf  kommt 
es  mir  an:  zur  Rechtfertigung  meines  Verhaltens  ist  nicht  der  geringste 
AnlaB  gegeben.  Im  Vorwort  zu  der  von  mir  verdffentlichten  ,Ehren- 
rangliste  fur  das  Dritte  Reich',  —  zur  Einfiihrung  also  auch  der 
,R6hm-Briefe'  —  habe  ich  folgendes  geschrieben:  , Einen  kl einen  Aus- 
schnitt  aus  dem  Personlichkeitsleben  und  den  Personlichkeitswerten 
der  nationalsozialistischen  Fiihrer  sollen  die  nachfolgenden  Blatter 
geben.  Um  Irrtiimer  auszuschlieBen:  aus  einem  Wust  von  Stoff  wur- 
den  nur  die  leitenden  Personen  herausgegriffen,  wurden  —  nach  sorg- 
faltigster  Prufung  im  einzelnen  —  nur  solche  Falle  erortert,  die  aufier- 
halb  des  Rahmens  einer  wie  auch  immer  gearteten  politischen  Be- 
tatigung  liegen;  und  fiir  diese  Auswahl  war  nicht  das  rechtspolitische 
Empfinden  des  Verfassers  entscheidend,  sondern  einzig  und  allein  das 
Programm  der  Hitlerpartei.  Aus  der  Tatsache  somit,  daB  in  der  fol- 
798 


genden  Zusammenstellung  gewisse,  das  personliche  Recht  und  die  — 
Abnormalitaten  dcs  Menschen  betreffende  Dinge  zur  Erorterung  ge- 
langen  werden,  darf  kcin  Werturtcil  des  Verf assers  fiber  diese  ,Ver- 
brechen'  an  sich  abgeleitet  werden;  wenn  uberhaupt  ein  Werturteil 
gegeben  istf  dann  gilt  es  —  insoweit  —  nur  der  Doppelzungigkeit  der 
,Tater'  und  ihrer  Partei/  Dieses  Vorwort,  dem  ich  nichts  hinzuzu- 
fiigen  habe,  ist  meine  Widerlegting  der  Kritik  von  Wrobell  Im 
tibrigen  schreibt  Wrobel,  der  Inhalt  der  ,R6hm-Briefe*  sei  ,nicht  ein- 
mal  unsympathisch\  —  Hier  vermagl  ich  ihm  nicht  zu  folgen!  Ent- 
schuldbar,  meinetwegen  verstandlich  (auch  wenn  sie  aufierhalb  meiner 
Gedankenwelt  liegen)  mogen  die  Brunstschreie  des  Herrn  Rohm,  der 
sich  in  Bolivien  mit  .schwarzer  Kost*  begntigen  muBte,  nach  den 
,weiBen  Jungen  in  Berlin*  sein;  widerlich  aber  ist  und  bleibt  fur  mich 
der  Ton,  in  dem  Rohm  zu  schreiben  beliebi  Das  stellt  nicht  mehr 
das  Objekt  irgendeiner  menschlichen  ,Nachstenliebe'  dar  und  ist  auch 
nicht  mehr  nur  eine  Angelegenheit  des  Spezialarztes  fur  sexuelle  Ab- 
normitaten.  Hier  geht  es  um  andres.  Um  moralische  Abirrungen! 
Diese  aber  sind  mir  unsympathisch  I"  Hatte  Rohm  seinen  Brief 
auf  Frauen  gemiinzt  geschrieben,  so  diirfte  j  eder  sagen,  daB 
ihm  diese  Art  Erotik  nicht  schmecke  —  zu  einem  Anathema  liegt 
kein  AnlaB  vor.  Es  sollte  selbst  in  Tempelhof  bekannt  sein,  dafi 
Homosexualitat  keine  moralische  Abirrung  darstellt.  Es  „geht  auch 
nicht  darum",  wie  dieses  dumme  Modewort  heilJt,  was  Ihnen,  Herr 
Klotz,  unsympathisch  ist.  Wir  alle  haben  nur  das  Recht,  Herrn 
Rohm  danach  zu  beurteilen,  ob  er  berechtigte  Inieressen  der  Offent- 
lichkeit  gefahrdet  hat.  Das  hat  er  nicht  getan.  Ganz  etwas  andres 
und  weit  iiber  Tempelhof  hinaus;  keines  der  Naziblatter  wird  den 
Mut  aufbringen,  die  Stellungnahme  Wrobels  ftir  Rohm  zti  zitieren; 
dazu  sind  diese  Briider  viel  zu  feige  und  viel  zu  unanstandig.  Man 
denke  sich,  was  geschehn  ware,  wenn  etwa  die  Sklareks  homosexuell 
waren . , .  Die  Angriffe  gegen  sie  waren  genau  so  widerwartig  wie 
die  gegen  Rohm  sind.  Auf  einen  weichen  Rohm  gehort  noch  lange 
kein,  grober  Klotz.  Aber  auf  den  wiederum  gehort  noch  lange  kein 
,  Rudel  von  Edelmenschen,  deren  germanischer  Kampfruf  und  Ehr- 
auffassung  dahin  geht:  „Immer  nur  einer  schlagen!"  Keine  Sorge: 
das  ergangene  Urteil  wird  von  der  zweiten  Instanz  nicht  bestatigt, 
sondern  erheblich    gemildert   werden. 

,Der  AngriH'.  Hellmut  von  Gerlach  hat  in  der  Versammlung  der 
Liga  ftir  Menschenrechte  im  Lehrervereinshause  auf  den  Artiket  der 
,Weltbuhne*  hingewiesen,  wegen  dessen  Carl  von  Ossietzky  sitzt.  Das 
geniigt  dir,  um  in  einem,  Artikel  „Und  so  etwas  lauft  frei  herum?" 
auch  die  Einsperrung  Gerlachs  zu  fordern.  Bist  du  nicht  zu  be- 
scheiden?  MiiBten  nicht  eigentlich  alle  Abonnenten  der  ,Weltbuhne' 
wegen  Beihilfe  zu  den  Verbrechen  Ossietzkys  und  Gerlachs  eingesperrt 
werden?  Durch  ihr  Abonnement  machen  sie  ja  erst  die  Existenz  des 
Verbrecherherdes    ,WeItbuhne*    moglich. 

Alfred  Braun.  Sie  schreiben  uns  zu  der  an  Sie  gerichteten  Ant- 
wort  aus  Heft  19:  „Liebe  Weltbuhne,  das  Hellhorem  scheint  ebenso 
schwierig  zu  sein  wie  das  Hellsehen.  Der  Hellseher  Hanussen  hat 
in  einem  Intervie^y  scherzhaft  sein  wollen  und  seinen  Glauben  an  die 
Stabilitat  der  deutschen  Mark  damit  bekundet,  dafi  er  mir.  sagte: 
,Sie  konnen  Ihr  Geld  aus  Liechtenstein  ruhig  zuriickziehen'.  Ich  habe 
den  seltsamen  Scherz  nicht  einen  Augenblick  ernst  genommen,  aber 
ich  habe  immerhin  doch  gleich  darauf  geantwortet:  .Diesmal  sind 
Sie  ein  schlechter  Hellseher.  Ich  habe  kein  Geld  in  Liechtenstein . 
Das  ist  der  Tatbestand.  Daraus  machst  Du,  Weltbdhne,  erstens  eine 
ernsthafte  .Behauptung*  eines  Hellsehers  und  zweitens  glaubst  Du 
diese  ,Behauptung'  auch  gleich.  Ich  wuBte  nicht,  daB  Du  so  glaubig 
bist.     Gleichen  Glaubens  wie  Du  ist  —  soweit  mir  bekannt  wurde . — 

799 


von  alien  Zedtungen  nur  (Der  Angriff.  Ich  mufi  nun  wohl,  weil  wir 
offenbar  allc  nichtsi  bessres  zu  tun  haben,  vot  Deinen  Lesern  sagen, 
daB  ich  weder  in  Liechtenstein  noch  sonst-  in  einem  Ausland  auch 
nur  einen  Pfennig  Geld  habe,  auch  keine  Geldforderung,  noch  (iber- 
haupt  irgendeinen  materiellen  Besitz.  Du,  Weltbiihne,  glaubst  sogar 
der  Angelegenheit  soviel  Beachtung  beimessen  zu  mussen,  dafi  Du 
nach  einem  Dberwachungs-AusschuB  schreist,  Dazu,  liebe  Weltbuhne, 
kann  ich  nichts  mehr  sagen/1  So  ernst,  wie  Sie  das  hier  machen, 
war  es  ja  gar  nicht  gemeint.  Abet  wir  wollen  zu  Ihrer  Beruhigung 
feststellen,  dafi  wir  Sie  wirklich  nichtt  wie  der  , Angriff ', .  der  Kapital- 
verschiebung  verdachtigen  wollten.  Wir  wollten  Ihnen  nur  beweisen, 
wie  unangenehm  es  werden  kann,  wenn  ein  Hellseher  in  einem  Inter- 
view, bei  dem  der  Interviewer  immer  so  tut,  als  glaube  er  an  den 
Humbug,  plotzlich  etwas  „hellsieht",  was  diesem  schmerzhaft  ans  Por- 
temonnaie  greift. 

Deutsche  Zeitung,  Sao  Paulo.  Du  schreibst  in  Deiner  Nummer 
vom  23.  April  iiber  eine  von  Doktor  Quidde,  der  Deutschen  Friedens- 
gesellschaft,  dem  deutschen  Monistenbunde  und  dem  Bunde  der 
Kriegsdienstgegner  an  die  Abrustungskonferenz  gerichtete  Eingabe: 
„Man  kann  es  deutschen  Richtern  kaum  mehr  zumuten,  sich  mit  der- 
art  pervers  national  denkenden,  als  Anwalte  gegen  deutsche  Inter- 
essen  sich  anbietenden  Leuten  zu  befassen;  sie  gehoren  hinter  die 
Gitter  einer  Anstalt  fiir  gemeingefahrliche  Geisteskranke  und  sollten 
dementsprechend  behandelt  werden."  Vor  kurzem  wurde  bekannt, 
dafi  die  deutschen  Irrenanstalten  wegen  Mangels  an:  Zuzug  zu  ver- 
oden  beginnen,  Es  ist  nett  von  den  Auslands deutschen  Brasiliens, 
dafi  sie  sich  der  deutschen  Notlage  auf  diesem  Gebiet  annehmen  und 
dafur  zu  sorgen  bemuht  sind,  dafi  gewisse  Staatsgebaude  nicht  zum 
Brachliegen  verurteilt   werden. 

Westdeutscher  Rundfunk,  Du  hast  Herrn  Martin  Lohre  in  seinem 
Vortrage  iiber  Winke  fur  Sportbootfahrer  auf  dem  Rhein  die  Polizei- 
fahne  „Schwarz-Rot-Gelb"  nennen  lassen.  Wiirdest  du  erne  Ver- 
schandelung  der  monarchistischen  Fahne  Schwarz-Weifi-Rot  ebenso 
milde  passieren  lassen? 

Rote  Hilfe.  Als  Frick  uns  in  Thiiringen  einen  Vorgeschmack 
auf  das  Dritte  Reich  gab,  hat  er  auch  euer  Kinderheim  „Mopr"  in 
Elgersburg  schliefien  lassen.  Um  das  Haus1  nicht  unbenutzt  zu  las- 
sen, habt  ihr  es  zum  Kur-  und  Erholungsheim  umgestaltet.  Wer  bei 
einem  Pensionspreis  von  3,80  RM.  pro  Tag  Erholung  unter  Gesin- 
nungsfreunden  finden  will,  sei  auf  diese  Einrichtung  verwiesen. 


FQr  Gar  I   von  OssietzkyI 

DIeser  Nummer  llegt  elne  Sammelllste  bei  fur  die 
von  der  Llga  fur  Menschenrechte  und  dem  Pen- 
Club  CDeutsche   Gruppe)   veranstaltete    Petition 
fUr  Carl  von  OssietzkyI 


Manuakripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbfihne.  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten ;  es  wird  gebeten,  ihnen  ROdkporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucksenduug  erfolgen  kann. 
Das  Auf  fuhrungsrecht,  die  Verweriung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahnten  des  Films,  die  mnsik- 
mechanischc  Wiedergabe  aller  Art  and  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortrlgen 
bleiben  fur  alio  in  der  Wettbtthne  erscbeinenden  Beitrajre  ausdrtlcklich  vorbebalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung    von   Kurt  Tucnolsky  geleitet  —  Verantwortlich :    Wallhcr  Karsch,    Berlin. 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  Cl,  Stemplatz  7757.   —  Postschedtkonto:  Berlin  11968. 
Bankkonto:  Dresdner  Bank.    Depositenkasse  Charlottenburg,  Kantstr.  112. 


XXYlILJahrgang 31,  Mai  1932 Nummcr  22 

DieGebUrt  desAbenteUerS  Hanns-Erkh  Kaminski 
W/ie,  hundertsechzig  Nazis  schlugen  auf  funfzig  Kommurii- 
sten  ein,  und  neunzig  Sozialdemokraten  lieBen  das  zu? 
Vermuilich  gibt  es  auBerhalb  dcs  PreuBischen  Landtags  yiclc 
Menschen,  die  der  Meinung  sind,  man  miisse  selbst  einem 
Gegner  zu  Hilfe  eilen,  wenn  er  von  dreifacher  Obermacht 
iiberf  alien  wird;  und  ganz  gewiB  steht  keine  Fabrik  inDeutsch- 
land,  aus  der  sich  die  sozialdemokratischen  Arbeiter  entfer- 
nen  wiirden,  wenn  ein  Rollkommando  in  braunen  Hemden 
ihre  kommunistischen  Kollegen  angriffe.  Die  Sozialdemokra- 
ten  aber  gingen  ab  durch  die  Mitte,  und  nur  versehentiich 
blieb  ihr  Fraktionssekretar,  der  Abgeordnete  Jurgensen,  der 
dann  am  argsten  zugerichtet  wurde,;  im  Plenarsaal. 

Deutschland  sahe  heute  anders  aus,  wenn  die  sozialdemo- 
kratischen  Abgeordneten  an  der  Seite  ihrer  Klassengenossen 
gekampft  hatten.  Statt  dessen  veroffentlichen  sie  eine  Er- 
k  la  rung,  in  der  sie  ,,unparteiisch"  feststellen:  „Die  Schuld 
an  den  blutigen  Zusammenstofien  tragen  in  gleichem  MaBe 
die  Nationalsozialisten  wie  die  Kommunisten."  Unparteiisch? 
Als  kame  es  darauf  an,  wer  angel anig en  hat!  Im  August 
1914  waren  sie  nicht  so  penibel.  Und  diesmal  k  amp  He  ihr 
eigen  Fleisch  und  Blut  gegen,  den  gemeinsamen  Feind. 

„Die  sozialdemokratische  Landtagsfraktion  protesliert 
aufs  scharfste  gegen  die  Raufboldmanieren  der  extremen  Par- 
ieien  und  fordert  unbedingte  Sich  erst  ellung  der  Freiheit  und 
Gewaltlosigkeit  der  Verhandlungen  der  Volksvertretung."  Sie 
protestieren  —  bei  wem?  Sie  iordern  —  von  wem?  Aber 
sie  duldeten,  daB  eine  Minderheit  aus  dem  Parlament  hin- 
ausgepriigelt  wurde,  aus  dem  Parlament,  das  fur  sie  das  Aller- 
heiligste  der  Demokratie  sein  fmiiBte. 

Die  Sozialdemokratie  tut  noch  immer  so,  als  navigiere 
sie.  Sie  b«greift  nicht,  daB  das  Schiff  ^Demokratie"  mit  der 
schwarz-rot-goldnen  Fahne  am  Mast  langst  gesunken  ist.  Die 
Partei  sitzt  nur  noch  im  Rettungsboot,  das  auch  schon  ein 
Leek  hat,  aber  sie  spielt  sich  immer  noch  gegeniiber  den  Zwi- 
schendeckpassagieren  auf,  weil  sie  friiher  erster  Klasse  fuhr. 

Schon  die  „autoritare  Demokratie"  Doktor  Briinings  nahm 
we-nig  Riicksicjht  auf  ihre  sozialdemokratische  Karyatidb. 
Heute  kiimmert  man  sich  uberhaupt  nicht  mehr  urn  sie.  In 
PreuBen  hat  das  Zentrum  zur  Erleichterung  der  Regierungs- 
verhandlungen  fur  den  nationalsozialistischen  Landtagsprasi- 
denten  gestimmt.  Die  Reichsregierung  beschlieflt  den  Bau 
eines  neuen  Pamzerkreuzers  und  ladt  den  breiten  Massen  neue 
Steuerlasten  auf.  Die  Sozialdemokratie  wird  nicht  einmal 
mehr  um  ihre  Wiinsche  befragt,  indes  der  von  Hugenberg  be- 
urlaubte   Goerdeler   an  alien  Kabinettssitzungen  teilnimmt. 

Doch  was  ist  in  diesem  Augenblick  noch  Bruning,  der  der 
Sozialdemokratie  so  lange  als  das  kleinere  Ubel  erschien  und 
von  dem  sie  jeden  FuBtritt  hinnahm?  Ob  er  uberhaupt  felei- 
ben  darf  und,  wenn  }a,  mit  wem,  hangt  nicht  von  der  Sozial- 
demokratie  und   auch  nicht   von   ihm    selber   ab.      In  Donau- 

i  801 


cschingcn  wird  sich  der  Kaiser  entscheiden,  ob  sein  Vertrauen 
zum  Reichskanzler  nock  groB  genug  ist,  um  ihm  die  Fort- 
setzung  seiner  Politik  zu  gestatten . . ,  Ach  nein,  wir  leben 
ja  nicht  mehr  in  der  Monarchic,  der  Reichsprasident  ist  mit 
den  Stimmen  der  Sozialdemokraten  gewahlt,  und  die  Reichs- 
regierung  braucht  mur  das   Vertrauen  der  Reichstagsmehrheit. 

So  weit  hat  es  Bruning  mit  Hilfe  der  Sozialdemokratie 
gebracht,  daB  die  sogenannten  politischen  Kreise  sich  jetzt 
wieder  wie  einst  im  Mai  in  erster  Linie  mit  Individualpsycho- 
logie  befassen.  Wer  sitzt  alles  in  den  Sesseln  von  Neudeck, 
und  auf  wen  wird  Hindenburg  horen?  Auf  die  Sozialdemo- 
kratie   jedenfalls    nicht. 

Wie  immer  in  derartigen  Situationen  gibt  es  eine  Fiille 
von  Moglichkeiten,  die  sich  mehr  personell  als  sachlich  von 
einander  unterscheiden,  Tatsachlich  hat  die  Reaktion  bereits 
gesiegt;  daB  sie  auch  die  Regierung  iibernimmt,  ist  bald  nur 
noch  eine  Formsache.  Dabei  ist  es  ziemlich  gleichgiiltig,  ob 
die  Minister  zunachst  agrarisch,  industriell  oder  militarisch 
denken.  Auf  die  Dauer  muB  jede  reaktionare  Regierung  doch 
ihre  Krafte  aus  dem  reaktionaren  Reservoir  schopfen,  das 
von   den   Nationalsozialisten   verwaltet   wird. 

Wir  befinden  uns  eben  schon  lange  in  dem  Chaos,  das  uns 
so  oft  angedroht  wurde.  Zur  Zeit  erleben  wir,  wie  aus  sei- 
nem  SchoB  das  Abenteuer  geboren  wird.  Dafiir,  daB  es  ein 
Abenteuer  wird,  burgt  die  Weltlage,  mag  der  kommende 
Diktat  or  nun  das  braune  Hemd  oder  die  Rechswehruniform 
tragen.  Denn  die  Welt  stent  am  Vorabend  von  Katastrophen, 
die   alle   Narrheiten  und  alle  Verbrechen  ermoglicheh. 

Angesichts  der  Vorgange  im  Osten  erscheint,  was  jetzt 
in  Deutschland  geschieht,  beinahe  belanglos.  Dennoch  be- 
steht  zwischen  Deutschland  und  Japan  nicht  nur  eine  Seelen- 
verwandtschaft  der  Offiziere  sondern  auch  ein  schicksalhafter 
Zusammenhang.  Greifen  die  Japaner  Rufiland  an,  dann  hat 
auch  der  deutsche  Militarismus  seine  Chance,  dann  kann  auch 
ein   deutscher   Abenteurer  blutige   AuBenpolitik   machen. 

Es  hat  einmal  einen  Krimkrieg  gegeben,  Damals  kampr- 
ten  Franzosen  und  Piemontesen  gemeinsam  mit  Englandern 
und  Tiirken  gegen  die  Russen,  Weder  Frankreich  noch 
Piemont  hatten  Konllikte  mit  RuBland,  Frankreich  fiihrte  den 
Krieg  lediglich,  um  endgultig  den  wiener  Frieden  zu  zerreifien, 
der  langst  nicht  mehr  auf  ihm  lastete,  und  Piemont  schickte 
ein  Expeditionskorps  in  die  Krim,  um  spater  an  den  Friedens- 
verhandlungen  teilnehmen  zu  diirfen,  bei  denen  es  dann  nichts 
zu  sagen  hatte.  Es  war  der  grausigste  Krieg  des  vorigen  Jahr- 
hunderts,  aber  die  Regierungen  Frankreichs  und  Piemonts  er- 
hohten  durch  ihn  ihr  Prestige,  Offiziere  wurden  befordert,  und 
in  Paris  und  Turin  erhielten  ein  paar  StraBen  neue  Namen. 

Die  Unterschiede  zwischen  damals  und  heute  liegen  auf 
der  Hand.  Der  neue  Krimkrieg  wird  ein  Weltkrieg  sein,  der 
an  ScheuBlichkeit  alles  Vorstellbare  iibertreffen  wird.  Jedoch 
die  Reaktionare  denken  genau  wie  vor  fiinfundsiebzig  Jahren. 
Jeder  Krieg  zeigt  ihnen  nur  Gewinnmoglichkeitenj  ihre  Ge- 
winnmoglichkeiten.  Der  Krieg  rechtfertigt  ja  immer  die  Dik- 
tatur. 

802 


Da  wir  nun  die  Diktatur  schon  haben  und  bald  viel- 
leicht  in  einen  Krieg  verwickelt  sein  werden,  ist  es  sinn- 
los,  noch  Wert  auf  Firmenschilder  zu  legen.  Die  Regierung 
Briining  regiert  nicht  mehr,  und  die  Sozialdemokratie  ist  keine 
Regierungspartei  mehr,  es  exiatiert  iiberhaupt  keine  Mitte 
mehr,  auch  wenn  die  zunachst  Betroffenen  das  nicht  einsehen 
wollen. 

Deutschland  zerfalit  heute  in  eine  Rechte,  die  herrscht, 
und  in  eine  Linke,  die  beherrscht  und  verfolgt  wird.  Der  So- 
zialdemokratie kann  es  darum  nichts  mehr  niitzen,  sich  mit 
SttaatsbewuBtsein  aufzuplustern  und  Briining  Zuigestandnisse 
zu  machen,  Briining  muB  selber-  zusehen,  ob  er  noch  AnschluB 
an  die  herrschenden  Machte  findet.  Der  Sozialdemokratie 
aber  bleibt  nur  ubrig,  kampf  los  unterzugehen  oder  als  Links- 
partei  mit  der  gesamten  Linken,  zu  der  auch  die  Kommunisten 
gehoren,   zu  kampfen. 

Unter  diesen  Umstanden  verliert  die  Frage,  ob  die  So- 
zialdemokratie ihre  Machtpositionen  in  PreuBen  so  lange  wie 
moglich  halten  oder  freiwillig  raumen  soil,  jede  Bedeutung. 
Sie  muB  kampfen,  von  welchem  Platz  aust  ist  gleichgiiLtig. 
Wenn  die  Regierung  Braun  sich  als  geschaftsfiihrende  Regie- 
rung  ,,taktvoll"  zuriickhalt,  so  ist  das  kein  Kampf.  Und  wenn 
die  Partei  nur  Opposition  in  einem  Parlament  macht,  das  sel- 
ten  zusammentritt  und  keinen  EinfluB  hat,  so  ist  das  ebenfalls 
kein  Kampf.  Kampfen  heiBt,  innerhalb  und  auBerhaLb  der  Re- 
gierung wie  innerhalb  und  aufierhalb  des  Parlaments,  der  Re- 
aktion  entgegenzutreten,  wenn  sie  Gewalt  anwendet,  auch 
mit  Gewalt! 

Die  Zeit,  wo  man  gerecht  auf  die  ,,extremen"  Par-? 
teien  schimpfen  konnte,  ist  vorbei.  Der  einzelne  kann,  wenn 
er  nicht  durch  eine  krumme  Nase  auffallt,  sich  still1  verhalten 
und  auf  bessere  Tage  warten,  Die  Parteien  aber  mxissen  jetzt 
Farbe  bekennen,  sei  es   auch  nur  urn  der  Zukunft  willen. 

Brlinings  Passionsreise  von  Heiimut  v.  oeriach 

|Uf  onchlein,    Monchlein    du    tust    einen   schweren    Gang! 

Eingeweihte  behaupten,  Briining  habe  in  der  letzten 
Sitzung  des  Auswartigen  Ausschusses  sehr  pessimistisch  ge- 
sprochen.  Haben  die  Eingeweihten  recht,  so  wiirde  das  einen 
gunstigen  RiickschluB  auf  Briinings  Vermogen  zur  Selbst- 
erkenntnis  zulassen.  Deutschlands  auswartige  Stellung  ist  in 
der  Tat  zur  Zeit  auBergewohnlich  ungiinstig.  Vor  allem  aller- 
dings  durch  Brunings  eigne  Schuld. 

Die  fur  den  Winter  angesetzte  erste  Lausanner  Konfe- 
fenz  ist  durch  eine  vorzeitige  und  voreilige  Erklarung  Brii- 
nings verhindert  word  en.  Diese  Erklarung  muBte  den  Ein- 
druck  erwecken,  Deutschland  wolle  dem  Diktat  von  Versailles 
das  Diktat  von  Lausanne  entgegensetzen:  wir  kdnnen  und 
wir  werden  nie  mehr  bezahlen!  Da  sagten  sich  die  andern; 
was  sollen  wir  auf  einer  Konferenz,  wo  man  nicht  verhandeln, 
sondern  manifestieren  will? 

Der  zweiten  Konferenz,  die  Mitte  Juni  vor  sich  gehen 
soil,    haben    zwei    Briiningreden   disharmonisch   praludiert,    die 

803 


eine  vor  der  auswartigen  Presse,  die  andre  im  Plenum  dcs 
Reichstages,  Sic  waren  offenbar  fur  den  innern  Gebrauch 
bestimmt,  aber  das  Ausland  hat  sich  crlaubt,  auch  scincrscits 
davon  Gebrauch  zu  machen,  Oberdies  —  wcr  Wind  sat,  wird 
Hitler    ernten   sehen. 

Naturlich  spricht  Briining  eine  andre  Sprache  als  Hitler. 
Aber  in  der  Reparationsfrage  selbst  hatte  Hitler  nicht  anders 
Steilung   nehmen  konnen  als  Briining. 

Was  war  der  Kardinalfehler  der  deutschen  Politik  wahrend 
des  Weltkrieges?  DaB  man  geflissentlich  das  deutsche  Volk 
iiber  die  Lage  tauschte  und  es  in  Illusionen  wiegte,  die  nur 
mit  einem  furchtbaren  Erwachen  enden  konnten, 

Auch  heute  hat  die  ungeheure  Mehrheit  des  deutschen 
Volkes  keine  Ahnung  von  unsrer  auBenpolitischen  Lage,  Eine 
raffinierte  Berichterstattung  meldet  fast  nur  die  ,,Stimmen  aus 
dem  Auslande",  die  uns  Morgenrote  vorzaubern:  da  hat  ein 
amerikanischer  Bankier,  dort  ein  franzosischer  Linksmann, 
da  ein  englischer  Bischof,  dort  ein  neutraler  Intellektueller 
erklart,  durch  die  Reparationen  niiisse  ein  Strich  gemacht 
werden.  Hurra!  Nun  braucht  doch  nur  noch  Briining  Riick- 
grat  zu  haben,  und  Lausanne  bedeutet  das  Ende  aller  deut- 
schen Kriegsschulden.  Oder,  wehn  der  ,,Erbieind'*  sich  auf 
die  Hinterbeine  stellen  sollte,  so  hatte  er  die  ganze  Welt  gegen 
sich.     Er  ware  in   einer  unmoglichen  Isolierung. 

So  sieht  die  Lage  fiir  den  deutschen  Durchschnittsbiirger 
aus. 

In  Wahrheit  ist  sie  recht  anders.  Redet  Briining  in  Lau- 
sanne wie  er  in  Berlin  gesprochen  hat,  so  wird  nicht  Frank- 
reich,  sondern  Deutschland  sich  in  peinlichster  Isolierung  be- 
finden. 

Hatte  Briining  die  Konferenz  psychologisch  zweckmaBig 
vorbereiten  wollen,  so  hatte  er  zunachst  in  die  Kopfe  aller 
Deutschen  den  fundamentalen  Satz  hineinhammern  miissen: 
zwischen  den  deutschen  Reparationszahlungen  an  Frankreich, 
England  und  so  weiter,  und  den  Fprderungen  Amerikas  an 
Frankreich,  England  und  so  weiter  besteht  ein  unlosbarer  Zu- 
sammenhang.  Man  kann  nicht  das  eine  aufheben  und  das 
andre  bestehen  lassen.  Hier  heifit  es:  Beides  zugleich  oder 
nichts! 

Die  Vereinigten  Staaten  denken  gar  nicht  daran,  ihren 
europaischen  Schuldnenn  kurzerhand  ihre  Schulden  zu  er- 
lassen.  Augenblicklich  verhandeln  sie  sogar  mit  England  iiber 
die  Hohe  der  Verzinsung  der  durch  das  Hoovermoratorium 
gestundeten    Summen, 

Besonders  erleuchtete  Finanzmannjer  Amerikas  sehen  zwar 
ein,  dafi  wahrscheinlich  nichts  die  amerikanische  Wirtschaf t 
mehr  beleben  wiirde,  als  wenn  Amerika  auf  seine  Forderun- 
gen  an  Europa  verzichtete  und  diesem  damit  die  Moglichkeit 
zur  Liquidierung  der  Reparationsfrage  gabe.  Aber  zwischen 
einem  weitblickenden  Finanzmann  und  einem  Durchschnitts- 
steuerzahler  besteht  ein  gewisser  Unterschied.  Der  Durch- 
schnitts-Steuerzahler  sieht  nur  auf  das  Heute  und  Morgen.  Er 
fiirchtet,  daB  seine  Steuerlast  steigen  werde,  wenn  sein  Land 
fremden  Staaten  ihre  Schulden  nachlaBt, 

804 


Der  Steuerzahler  ist  zugleich  Wahler.  .  Im  Herbst  finden 
in  den  Vereinigten  Staaten  die  Wahlen  statt.  Alle  Abgeord- 
netcn  denken  nur  an  ihre  WiederwahL  Urn  ihretwillen  haben 
sie  vor  ein  paar  WochenAlie  wahnsinnige  Goldboroughbill  an- 
genommen,  die  die  Inflation  ftir  Amerika  bedeutet,  gLtick- 
licherweise  allerdings  nie  Gesetz  werden  wird,  Durch  Aus- 
sicht  auf  hohere  Preise  hofften  sie,  ihre  Aussicht  auf  Wieder- 
wahi  zu  verbessern.  Darum  gaben  sie  sich  zu  dem  plumpen 
Wahlmanover  her.  l 

Das  amerikanische  Defizit  iibersteigt  eine  Milliarde  Dol- 
lar, Der  Goldverlust  Amerikas  in  den  letzten  sechs  Wochen 
betragt  146  Millionen  Dollar.  Der  Dollar  stent  nicht  mehr 
unerschutterlich  wie  ein  Rocher  de  bronze.  Die  amerikanischen 
Papiere  sind  zum  groBen  Teil,  und  zwar  grade  die  Renten- 
papiere,  noch  starker  gefallen  als  die  deutschen.  Die  Ar- 
beitslosigkeit  ist  unermeBlich  grofl. 

Und  da  sollten  amerikanische  Parlamentarier  im  Angesicht 
der  bevorstehenden  Wahlen  es  wagen,  vor  ihre  Wahler  mit 
dem  Programm  der  Streichung  der  europaischen  Schulden  zu 
treten?  Und  da  konnte  man  sich  Amerika  in  Lausanne  als 
das  Madchen  aus  der  Fremde  vorstellen,  das  jedem  seine  Ga- 
ben  austeilt? 

Bleibt  Amerika  zugeknopft,  konnen  auch  Frankreich, 
England,  Belgien,  Italien  und  so  weiter  ihre  Taschen  nicht  ftir 
Deutschland  aufknopfen.  Alle  haben  sie  selbst  mit  Defizit, 
alle  mit  neuen  Steuern  zu  rechnen.    ^ 

Fur  Frankreich  ist  die  Lage  besonders  schwierig.  Nach 
1871  starrte  es  wie  hypnotisiert  auf  das*  „Loch  in  den  Voge- 
senM.  Heute  starrt  es  auf  Hitler,  und  seine  Myrmidonen.  Es 
fragt  sich:  wann  wird  Hitler  die  absolute  Mehrheit  haben? 
Was  geschieht  dann  mit  Frankreich,  tLessen  Vernichtung  er 
in  seinem  Buche  ,,Mein  Kampf*  als  sein  auBenpolitisches  Pro- 
gramm verkiindet  hat?,  Wird  nicht  jede  Konzession,  die  wir 
Bruning  machen,  von  Hitler  einkassiert  werden? 

Hinzu  kommt  die  juristische  Denkart,  die  das  ganze  fran- 
zosische  Volk  beherrscht.  Pacta  sunt  servanda!  Die  Heilig- 
keit  der  Vertrage  ist  dem  Franzosen  unerschtitterlicher  Glau- 
benssatz.  Darum  haitet  von  alien  Kriegserinnerungen  nichts 
dauerhafter  in  dem  Hirn  des  Franzosen  als  das  Wort  vom 
i.Fetzen  Papier",  das  Bethmann  auf  den  belgischen  Neutrali- 
tats-Vertrag,  anwandte.  Darum  ging  ein  erregtes  Zittern  durch 
ganz  Frankreich,  als  im  Januar  die  —  spater  abgeschwachte  — 
Meldung  kam,  Bruning  habe  erklart,  Deutschland  wolle  nicht 
mehr  zahlen.  Will  Deutschland  auch  den  Young-Plan  als 
Fetzen  Papier  behandeln?  Wann  wird  es  den  Friedensvertrag 
der  gleichen  Materialbewertung  unterwerfen? 

Herriot  ist,  dafiir  biirgt  seine  Vergangenheit,  zu  jeder 
Vefhandlung  mit  Deutschland  bereit*  Er  ist  kein  Poincare, 
sein  System  ist  kein  starres.  Aber  das  teilt  er  mit  Poincare 
wie  mit  jedem  Franzosen:  er  verhandelt  nur  auf  der  Grund- 
lage  der  Anerkennung  der  bestehenden  Vertrage.  Man  kann 
sie  durch  Vereinbarung  andern.  Nie  aber  darf  der  eine  Ver- 
tragspartner  den  Anschein  erwecken,  als  wolle  er  sie  anullie- 
ren,  weil  er  glaubt,  sie  nicht  mehr  erfiillen  zu  konnen. 

2  805 


DaB  Deutschland  heute  nicht  zahlen  kann,  auch  heute 
iibers  Jahr  und  noch  viel  langer  nicht  zahlen  kann,  gibt  jeder 
Franzose  zu,  von  ein  paar  nationalistischen  Narren  natiirlich 
abgesehen,  Bestimmt  kommt  Herriot  nicht  als  Shylock  nach 
Lausanne,  aber  er  wurde  starr  wie  Poincare  werden,  wenn 
Bruning  dort  mit  dem  Anspruch  der  Streichung  des  Young- 
Plans    erschiene. 

Bruning  trifft  die  schwere  Schuld,  daB  er  in  dem  deut- 
schen  Volk  falsche  Erwartungen  tiber  die  Moglichkeiten  von 
Lausanne  erregt  hat.  Er  wurde  seine  Schuld  noch  vergrofiern, 
wenn  er  in  Lausanne  mit  einer  Intransigenz  auftrate,  die  den 
Bruch  der  Konferenz  und  damifc  das   Chaos  im  Gefolge  hatte. 

Sein  Ziel  miiBte  sein:  fiinf jahriges  Moratorium  fiir  Deutsch- 
land- Das  kann  durchgesetzt  werden,  und  das  wurde  den 
wirtschaftlichen  Bedurfnissen,  Deutschlands  vorlaufig  geniigen. 
Denn  das  ware  keine  bloBe  Atempause,  sondern  ein  Zeitraum, 
innerhalb   dessen   sich  die  deutsche   Wirtschaft   erholen  kann. 

Ob  sie  sich  geniigend  erholen  wiirde,  um  spater  zu  irgend 
welchen  Reparationsleistungen  im  Stande  zu  sein,  weiB  nie- 
mand.     Aber  dann  wird  man  ja  weiter  schen. 

Stellt  Bruning  in  Lausanne  unmogliche  Forderungen,  be- 
sorgt   er  die  Geschafte  Hitlers. 

Deutschland  ist  schwach,  DasDiimmste,  was  ein  Schwacher 
machen  kann,  ist  leere  Prestige-Politik.  Realpolitik  ist  wahre 
Staatsmannschait.  Realpolitik  gebietet,  mit  alien  Mitteln  ein 
funijahriges  Moratorium  anzustreben. 

Das  MaB  der  auBenpolitischen  Siinden  Briinings  ist  ge~ 
hauft.  Dennoch,  wenn  er  in  Lausanne  den  Weg  zur  Realpoli- 
tik zuriickfindet  —  auf  die  Gefahr  jedes  Schimpfs  von 
Rechts  her  —  kann  der  Spruch  der  Geschichte  vielleicht  doch 
noch  lauten:  Absolvo  te. 

67,6  I  5,21  von  Felix  StOssinger 

In  der  deutschen  Politik  geschieht  das  Richtige  selten  von 
*  selbst.  Es  mufi  von  auBen  an  uns  herangebracht  werden< 
Auch  die  Verschiebung  der  Reparationskonferenz,  die  gegen 
den  Widerspruch  Deutschlands  erfolgt  ist,  gab  uns  die  letzte 
Moglichkeit,  einer  auBenpolitischen  Niederlage  zu  entgehen,  die 
selbst  den  Vergleich  mit  dem  Debacle  der  Zollunion  ausgehal- 
ten  hatte.  Innenpolitisch  hatte  eine  Reparationsniederlage  den 
glatten  Sieg  des  Prasidentschaftskandidat  en  Hitler  bedeutet.  Was 
immer  gesagt  werden  konnte,  um  selbst  das  giinstigste  Ergeb- 
nis  von  Lausanne  von  vornherein  mit  dem  Makel  der  Nieder- 
lage zu  zeichnen,  war  mit  seltener  Vollstandigkeit  geschehen. 
Die  Pause,  die  uns  vergonnt  wurde,  hatte  endlich  statt 
zu  politischen  Phantasien  zu  einer  ruhigen  Nachrechnungj  be- 
nutzt  werden  sollen.  Wenn  die  Reparationsfrage  in  Deutsch- 
land von  Anfang  an  nicht  von  den  Politikern  sondern  von 
einem  ordentlichen  Buchhalter  bearbeitet  wordenware,  stunde 
es  besser  um  sie  und  um  uns.  Nur  den  Politikern  konnte  es 
zehn  Jahre  lang  nicht  gelingen,  durch  Addition  iestzustellent 
daB  Amerika  mehr  von  uns  bekommt  als  Frankreich, 

806 


Heute  passicrt  ein  neues  Rechenungltick,  das  nicht,  gerin- 
ger  ist  Mit  alien  MitteLn  der  Beeinflussung  wird  dcr  5ffent- 
lichkeit  eingepragt,  daB  Deutschland  bereits  67,6  Milliarden 
Mark  bezahlt  hat,  Frankrcich  aber  als  reine  Wiederaufbau- 
zahlung   nur  5,21    Milliarden   anerkennt. 

Die  deutsche  Aufstellung  hat  zwar  wieder  von  Neuem  dazu 
beigetragen,  die  Offentlichkeit  aufzupeitschen,  aber  als 
ein  starker  Schlag  gegen  die  Stellung  Frankreichs  kann 
sie  nicht  wirken,  1st  sie  doch  langst  im  Ausland  bekannt. 
Deutschland  kommt  in  seiner  Aufstellung  zu  einem  Endbetrag 
von  67,6  Goldmilliarden.  Im  Rahmen  des  Youngplans  hat 
Deutschland  2,8  Milliarden  Mark  bezahlt.  Von  den  67,6  Mil- 
liarden seiner  Aufstellung  muBte  es  also  im  Augenblick  der 
Unterschrift  des  Youngplans  bereits  64,8  Milliarden  bezahlt 
haben.  Wenn  dieser  Betrag  nach  deutscher  Auffassung  weit  iiber 
die  Verpflichtung  zur  Reparation  des  Wiederaufbaus  hinausgeht, 
warum  hat  Deutschland  diese  Ziffer  nicht  bereits  im  Haag  ge- 
nannt  und  alle  weitern  Forderungen  abgelehnt?  Im  Haag 
haben  aber  alle  Machte  gewuBt,  ,daB  zwischen  der  deutschen 
und  der  gegnerischen  Bewertung  unsrer  Leistungen  unuber- 
briickbare  Differenzen  bestehn.  Im  Haag  haben  deshalb  alle 
Machte  einmutig  erklart,  daB  man  einen  Strich  unter  die  Ver- 
gangenheit  und  unter  den  alten  Streit  der  Buchhaltungen  ziehen 
solle.  Daher  erhielt  das  haager  Protokoll  vom  20,  Januar  1930 
einen  Artikel  3,  in  dem  Deutschland  anerkennt,  daB  „alle  Ab- 
rechnungen,  die  vor  der  Periode  des  Dawes-Planes  liegen,  von 
jetzt  ab  gegenstandslos  und  ohne  Wirkung  sind,  und  daB  diese 
Abrechnungen  in  dem  derzeitigen  Zustand  fiir  abgeschlossen 
erklart  werden."  Das  heiBt,  mit  den  bekannten  ,,diirren"  Wor- 
ten  nichts  andres,  als  daB  Deutschland  auf  eine  Nachpriifung 
seiner  64,8  Milliarden-Rechnung  im  Haag  endguitig  verzichtet 
hat,  wissend,  daB  seine  Bewertung  machtpolitisch  leider  keine 
Bedeutung  hat,  vom  Rechte  aber  nicht  die  Frage  ist, 

Zieht  man  von  der  deutschen  Reparationspolitik  alles  ab, 
was  nur  Taktik  ist,  so  bleibt  als  ihr  gegenwartiger  Hauptinhalt 
der  EntschluB  ubrig,  von  alien  Zahlungen  befreit  zu  werden, 
die  nicht  dem  reinen  Wiederaufbaii  der  zerstorten  Gebiete  die- 
nen,  Ein  solches  Reparationsprogranim  unterschreibe  ich, 
es  ist  seit  dem  Waffenstillstand  das  Reparationsprogramm  der 
Kontinentalpolitik.  Vierzehn  Jahre  hat  es  gedauert,  bis  es  das 
Programm  einer  deutschen  Regierung  wurde.  Was  geschieht 
aber  nun,  um  es  zu  verwirklichen?  Ein  Zahlenkrieg  wird  in 
breiter  Frontstellung  gegen  Frankreich  vorgefiihrt,  Mit  Ent- 
riistung  erfahrt  der  deutsche  Leser,  daB  der  ganze  franzosische 
Wiederaufbau,  nach  den  Angaben  des  franzosischen  Budgets, 
nur  16  Milliarden  gekostet  haben  soil,  Deutschland  aber  schon 
67  bezahlt  hat.  Er  erfahrt  ferner,  daB  Frankreich  angeblich  von 
alien  Zahlungen  52  bis  54  Prozent  erhalt,  danach  also  schon 
35  Milliarden  einkassiert  hat,  also  19  zuviei.  Die  Parolen  des 
,Lokal-Anzeigers'  von  gestern  sind  die  Parolen  der  ganzen  Na- 
tion von  morgen.  Wir  konnen  also  mit  GewiBheit  einer  Repa- 
rationspolitik entgegensehn,  die  Riickzahlungen  Frankreichs  an 
Deutschland  fordert,  (Schon  proklamiert  in  der  ,D.A,Z.'  vom 
20.  Februar.) 

807 


Sehen  wir  uns  aber  nun  cinmal  diese  Abrechnung  an,  viel- 
leicht  finden  wir,  ohne  staatliche  Nachhilfe,  wclche  Posten 
Deutschland  und  Frankrcich  dirckt  betreffen,  Deutschland  be- 
wcrtet  also  seine  Lieferurigen  mit  67  Milliarden.  Die  Repara- 
tionskomraission  hat  Deutschland  nur  21  Milliarden  gut- 
geschrieben,  Es  besteht  also  eine  Differenz  von  46  Milliarden. 
Von  den  21  Milliarden,  die  die  Reparationskommission  an- 
erkannt  hat,  hat  sie  Frankreich  8,19  Milliarden  Mark,  das  heifit  . 
40  Prozent,  iiberwiesen,  also  nicht  52  Prozent,  Wenn  Deutsch- 
lands  Bewertung  anerkannt  werden  wiirde,  hatte  dann  Frank- 
reich auch  40  Prozent  von  den  67  Milliarden,  das  heiBt  den 
Empfang  von  fast  27  Milliarden  anzuerkennen?  Mit  nichten. 
Die  franzosische  Regierung  hat  ausrechnen  lassen,  dafi  Frank- 
reich bei  einer  Unterstellung  der  deutschen  Berechnungen  ohne 
Abstrich  auch  nur  eines  einzigen  Pfennigs  nicht  27  sondern  auch 
nur  10,6  Milliarden  erhalten  hatte.  Also  auch  dann  nur  einen 
Teil  der  echten  Wiederaufbaukosten  von  etwa  16  Milliarden. 
Die  Differenz  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  betragt 
also  jetzt  schon  nicht  46  Milliarden  (Differenz  zwischen  der 
alliierten  und  deutschen  Bewertung),  sondern  nur  etwas  iiber 
2,4  Milliarden  Mark. 

.  Im  Interesse  des  Friedens  "ist  der  Vorschlag  Leon  Blums, 
die  Differenz  durch  eine  Schiedsrichterkommission  priifen  zu 
lassen,  zu  begriiBen.  Aber  auch  ohne  Blums  Kommission  geht 
aus  den  Bewertungslisten  der  beiden  Parteien  schon  jetzt  her- 
vor,  dafi  sich  in  den  deutschen  67  Milliarden  riesige  Werte  be- 
finden,  die  Frankreich  iiberhaupt  nicht  bekommen  hat  oder  in 
Anteilen,  die  so  gering  sind,  dafi  ihre  Zusammenzahlung  wenig 
ergabe.  Frankreich  kann  also  dem  Streit  um  die  Bewertung 
mit  Ruhe  entgegensehen.  Handelt  es  sich  doch  nur  um  ganz 
wenige  Posten,  aus  denen  sich  der  groBte  Teil  der  Gesamtdiffe- 
renz  zusammensetzt.  Aber  so  schmerzlich  es  auch  jedem  natio- 
nalem  und  national-sozialistischem  Gemiit  sein  mag,  grade  die 
wichtigsten  Differenzposten  hat  nicht  Frankreich  sondern  Eng- 
land eingesteckt.  Das  betrifft  den  Posten  der  an  England  ab- 
gelieferten  Kriegsflotte  in  Hohe  von  1,3  Milliarden,  das  betrifft 
die  Verramschung  der  deutschen  Handelsflotte,  fur  die  Deutsch- 
land 3,4  Milliarden  forderte,  aber  nur  711  Millionen  erhielt,  ein 
Posten,  der  Frankreich  wenig  angeht,  da  es  hier  nur  mit  8  Pro- 
zent beteiligt  ist,  Dann  folgt  als  ein  Riesenposten  die  Liqui- 
dation des  deutschen  Eigentums  im  Auslandf  nach  deutscher 
Berechnung  10  Milliarden,  von  denen  aber  doch  wohl  jedes  Kind 
weiB,  daB  der  weitaus  groBte  Teil  dieser  liquidierten  Giiter  in 
engiischen  Besitz  iiberging  und  daB  England  grade  im  Haag  das 
Guthaben  von  einigen  hundert  Millionen,  die  Deutschland  glatt 
gehorten,  herauszugeben  verweigert  hat.  Schon  diese  wenigen 
Posten  ergeben  Gesamtbetrage  fiir  England,  weit  iiber  dem  Be- 
trag  dessen,  was  Frankreich,  selbst  bei  Zugrundelegung  deut- 
scher Bewertungen,  bis  heute  erhalten  hat.  Ein  weiterer  Rie- 
senposten, der  Frankreich  nichts  angeht,  ist  die  Gutschrift  fiir 
deutschen  Staatsbesitz  in  den  von  Deutschland  an  andre  Lan- 
der als  Frankreich  abgetretenen  Gebieten.  Auch  hier  besteht 
eine  Differenz  von  mehr  als  7  Milliarden,  an  der  Frankreich 
mit  keinem  Pfennig  beteiligt  ist. 

S08 


Es  geht  bei  diesen  Rechnungen  urn  Lebensfragen  von  uns 
alien,  und  deswegen  ist  es  fiir  cine  von  gouvernementalen  Ein- 
fliissen  unabhangige  Publizistik  schmerzlich,  in  der  Rechnungs- 
legung  des  eignen  Landes  auf  Fehler  hinweisen  zu  miissen,  die 
keine  schiedsrichterliche  Kontrolle  durchgehen  lassen  wird.  Zu 
solchen  unbegreiflichen  Posten  gehort  der  Anspruch  Deutsch- 
lands,  eine  Gutschrift  fiir  seine  Kriegsflotte  zu  erhalten,  die 
deutsche  Matrosen  eigenhandig  versenkt  haben,  oder  fiir  Han- 
delsschiffe,  die  wahrend  des  Krieges  als  Beute  gekapert  wur- 
den  (1,06  Milliarden),  oder  fiir  das  Material,  das  deutsche  Sol- 
daten  in  der  ganzen  Welt,  in  der  Tiirkei,  in  Rufiland,  in  Ser- 
bien  zuriickgelassen  haben  (5  Milliarden),  und  davon  sollen 
52  Prozent  auf  das  Wiederaufbaukonto  gutgeschrieben  werden! 
Ebenso  aussichtslos  erscheint  es,  Gutschriften  fiir  die  Arbeit 
deutscher  Kriegsgefangener  im  Westen  zu  verlangen  (1,2  Mil- 
liarden), ohne  daB  wir  die  in  Aussicht  gestellte  Gegenrechnung 
fiir  die  Arbeit  franzosischer  und  englischer  Soldaten  oder  bel- 
gischer  Zivilisten  in  deutschen  Diensten  gutschreiben.  Alle  diese 
Posten  ergeben  allein  28  Milliarden  Mark,  so  daB  die  Gesamt- 
differenz  fiir  die  iibrigen  nur  noch   15  Milliarden  betragt. 

Nun  gibt  es  einige  Posten,  die  allerdings  Frankreich  und 
Deutschland  direkt  angehen.  So  forderte  Deutschland  fiir  Koh- 
lenlieferungen  2,3  Milliarden,  erhielt  aber  nur  lumpige  5  Millio- 
nen  gutgeschrieben.  Hier  spricht  leider  der  Buchstabe  des  Ver- 
trages  gegen  Deutschland,  Bezahlt  sollen  die  Lieferungen  nam- 
lich  nach  dem  deutschen  Inlandspreis  werden.  Das  war  aber 
wertlose  lnflationsmark,  $o  daB  in  dieser  Differenz  ein  Teil 
des  furchterlichen  Verlustes  aus  Deutschlands  Inflation 
enthalten  ist,  die  seine  GroBindustriellen  in  die  vierte 
Billion  gepeitscht  haben.  Ein  zweiter  groBerer  Differenz- 
betrag  ergibt  sich  daraus,  daB  Frankreich  einen  GroBteil  der 
wirklich  empfangenen  Betrage,  seien  es  8,19  Milliarden  nach 
alliierter,  seien  es  10,6  Milliarden  nach  deutscher  Rechnung, 
fiir  die  Spesen  des  Reparationskrieges  und  die  Riickzahlung  er- 
haltener  Vorschiisse  aufrechnet,  und  zwar  2,98  Milliarden 
Mark.  Es  handelt  sich  also  hier  um  ein  Streitobjekt  iru  Hohe 
von  hochstens  5,3  Milliarden  (2,9  Milliarden  Unkosten  —  2,4  Mil- 
liarden Bewertungsdifferenz).  Gleicht  man  sich  auf  einer  mitt- 
Ieren  Linie  aus,  so  ergabe  das  fiir  Deutschland  einen  Nutzen 
von  etwa  2,5  Milliarden.  Das  ist  ungefahr  der  Betrag,  auf 
dessen  Gutschrift  DeutschLand  Frankreich  gegenuber  rait  reia- 
tiver  Sicherheit  rechnen  kann,  wenn  die  Schiedskom- 
missiom  fiir  Deutschland  besonders  giinstig  zusammenge- 
setzt  ist  und  sie  einen  Teil  der  Bewertungsdifferenz,  die 
ich  oben  dargestellt  habe  (2,4  Milliarden),  zu  uns  em  Gun- 
sten  auslegt.  Die  andern.  57  Milliarden  dagegen,  die  in  alle 
moglichen  Hande  gekommen  sind,  nur  nicht  in  franzosische, 
zum  weitaus  groBten  Teil  aber  in  englische,  stellen  den  eigent- 
lichen,  unwiederbringlichen  Verlustposten  dar.  Wenn  Deutsch- 
lands Auffassung  richtig  ist,  und  sie  ist  es,  daB  die  Moral  eines 
neuen  Zeitalters  keine  andern  Kriegszahlungen  gelten  lassen 
kann  als  die  fiir  den  reinen  Wiederaufbau,  dann  sind  mehr  als 
80  Prozent  der  deutschen  Zahlungen  widerrechtlich  geleistet 
worden,   grade  weil  sie  nicht  an  Frankreich  geleistet  worden 

809 


sind.  Was  abcr  bei  dieser  Reparationskampagne  wciter  her- 
auskommen  soil,  wenn  sie  einseitig  gegen  Frankreich  gefiihrt 
wird,  ist  nicht  erfindlich.  Will  Deutschland  alle  Betrage  ver- 
weigern,  die  nicht  dcr  Reparation  dienen,  dann  muB  es  zuerst 
einmal  die  Zahlungen  an  England  einstellen,  das  einen  reinen 
Wiederaufbauanspruch  niemals    gehabt   hat. 

Deutschland  kann  durch  die  Blum-Kommission  nur  erfah- 
ien,  was  auch  in  den  Raumen  der  deutschen  Reparationsbuch- 
haltuhg  mit  Leichtigkeit  festgestellt  werden  kann,  aus  poli- 
tischen  Grunden  aber  verschwiegen  wird,  damit  der  politische 
Krieg  gegen  Frankreich  mit  voller  Wucht  weitergehe,  Wenn 
nun  wirklich  durch  eine  Kommission  die  Wahrheit  ruchbar 
wird,  wird  es  dann  eine  deutsche  Offentlichkeit  geben,  die  den 
Schiedsspruch  als  Urteilsbildung  unbestochener,  unabhangiger 
Richter  anerkennt?  Das  ist  ausgeschlossen.  Deswegen  ist  die- 
ser ganze  verbissene  Krieg  der  Buchhaltungen  politische  Agi- 
tation und  nichts  sonst!  Will  Deutschland  die  Verstandigung 
mit  Frankreich,  dann  soil  es  diesen  Zahlenkrieg,  so  schnell  wie 
moglich  einstellen  oder  richtigstellen.  Man  beschranke  ihn 
auf  den  eigentlichen  Streitwert  von  2,4  oder  5,3  Milliarden,  man 
dringe  auf  eine  gemaBigte,  vielleicht  auch  durch  Schiedsspruch 
f  eststellbare  Abrechnung  des  Wiederaufbaus  und  verwandle  alle 
Zahlungen  in  Sachleistungen.  Das  ist  ein  erreichbares  Ziel,  das 
allein  ist  Realpolitik!  Will  man  das,  dann  haben  wir  die  Ver- 
standigung, Will  man  es  nicht,  geht  diese  Aufpeitschung  des 
Volkes  weiter,  wird  die  Wirtschaftskrise  durch  die  fortgesetzte 
Z,erst6rung  des  Vertrauens  verewigt,  dann  haben  wir,  mit.  oder 
ohne  Briining,  die  Inflation,  70  Prozent  Hitlerwahler,  den  Biir- 
gerkrieg  in  den  Stadten  und  auf  dem  Land  eine  Brandkette 
ausgepfandeter  kleiner  und  groBer  Bauernguter.  Einen  andern 
Ausweg  gibt  es  nicht:  Verstandigung  oder  Inflation!  Alles 
Gerede  darum  und  dagegen  ist  Feigheit  vor  der  Verantwor- 
tung  und  ein  Verbrechen  an  der  Nation. 

In  den  Blutspuren  der  Kokuhonsha 

von  Asiaticus 
A  nfang  Marz  dieses  Jahres  wurde  der  Generaldirektor  des 
*"^  machtigen  Mitsui-Konzerns,  Baron  Takuma  Dan  ermor- 
det.  Kur^  vorher  ereilte  den  Finanzminister  Inouye  dasselbe 
SchicksaL  Die  amtliche  Untersuchung  iiber  die  Morde  ergab, 
daB  die  Attentater  meist  junge,  aktive  Offiziere  waren;  auf 
ihrer  Mordliste  hatten  die  Verschworer  noch  viele  andre 
Personlichkeiten,  darunter  Ministerprasident  Inukai,  vorgemerkt. 
Am  24.  Marz  wurde  im  Oberhause  der  Kriegsminister  und 
Vertrauensmann  der  Generalitat  im  Kiabinett,  General  Araki, 
wegen  dieser  Morde  irfterpelliert.  Der  Abgeordnete  Matsu- 
mura  erhob  die  sensationelle  Anklage,  prominente  Mitglieder 
des  Generalstabes  und  Personlichkeiten!  aus  der  engsten  Um- 
gebung,  der  „Staatspfeiler'1  (Umschreibung  fur  die  Krone)  stiin- 
den  hinter  den  Attentatern.  Araki  schwieg  zu  dieser  Beschul- 
digung  und  bedauerte  nur,  daB  junge  Leute  und  Offiziere  sich 
von  ihren  patriotischen  Gefiihlen  auf  solche  Wege  treiben  lie- 
Ben;  es  sei  aber  fur  ausreichenden  Schutz  gesorgt. 

810 


Am  21.  April  hielt  Araki  auf  Einladung  der  Kokuhonsha 
in  Osaka  eine  Rede,  die  in  Japan  und  mehr  noch  im  Auslande 
groBes  Aufsehen  erregte.  Er  erklarte  dort:  Japan'  wcrde  we- 
der  dem  Volkerbund  noch  SowjetruBland  erlauben,  sich  in  die 
Verhaltnisse  der  Mandschurei  einzumischen  oder  Japans  Plane 
zu  behinidern.  Die  Ansicht  einer  gewissen  GroBmacht,  dafi 
der  Washingtoner  Neun-Machte-Vertrag,  der  von  der  Wahrung 
der  Unteilbarkeit  Chinas  spricht,  audi  fur  die  Mandschurei 
gelte,  werde  iiberhaupt  nicht  beachtet  werden.  Das  japanische 
Volk  miisse  mit  dem  neuen  Regime  in  der  Mandschurei  eng 
zusammenarbeiten,  um  dort1  ein  Paradies  auf  Erden  zu  schaf- 
fen.  Die  Armee  miisse  in  jeder  Hinsicht  und  noch  viel  mehr 
als  bisher  die  Armee  des  Kaisers  sein.  Insbesondere  miissen 
alle  Bestrebungen,  die  Ausgaben  fur  die  Land-  und  Seestreit- 
krafte  zu  beschneiden,  zuriickgewiesen  werden. 

Diese  Rede  war  auch  fiir  Japan  selbst  nicht  nur  deshalb 
eine  Sensation,  weil  sich  hier  ein  so  prominentes  Regierungs- 
mitglied  wie  der  Kriegsminister,  der  xnach  der  japanischen 
Verfassung  weder  dem  Parliament  noch  dem  Ministerprasiden- 
ten,  sondern  direkt  dem  Generalstab  und  der  Krone  verant- 
wortlich  istt  offiziell  fiir  die  MiBachtung  der  geltenden  Ver- 
trage  und'  fiir  die  Annexion  der  Mandschurei  aussprach.  Das 
Auffallendste  war,  daB  er  diese  Rede  in  einer  Veranstaltung 
der  Kokuhonsha,  einer  militarfascistischen  Organisation  hielt, 
die  doch  der  engsten  Verbindung  mit  den  Attentatern  beschul-* 
digt  wurde  und  die  in  ihrem  Programm  ausdriicklich  fiir  den 
Sturz  der  Partei-  und  Parlamentsregierung  und  fiir  Errichtung 
einer  nationalen  Diktatur  eintritt.  Daher  wurde  auch  seine 
Rede  in  der  Presse  als  Solidarisierung  des  Generalstabes 
mit  den  Zielen  der  Kokuhonsha  bewertet,  deren  Prasidenten 
Hiranuma  man  als  IcommendenMinisterprasidenten  bezeichnete. 

Wenige  Wochen  dlarauf  fiel  auch  der  Ministerprasident 
Inukai,  das  Haupt  der  Seiyukai-Regierung,  einem  Attentat  zum 
Opfer.  Die  Attentater  waren  Mitglieder  der  Kokuhonsha.  Im 
AnschluB  an  das  Attentat  forderten  die  Generale  die  Bildung 
einer  nationalen  Regierung;  das  heiBt  den  Bruch  mit  dem  bis- 
herigen  Brauch,  wonach  die  starkste  Partei  des  Parlaments 
den  Ministerprasidenten  stellt.  Die  Anwartschaft  Suzukis,  des 
Fiihrers  der  Seiyukai,  wurde  iibergangen,  man  iibertrug  die 
Ministerprasidentsohaft  dem  alten  Kriegsveteranen  Admiral 
Saito,  der  sich  im  ersten  chinesisch-japanischen  und  auch  im 
russisch-japanischen  Krieg  ausgezeichnet  und  sich  besonders 
als  Generalgouverneur  von  Korea  bewahrt  hatte.  Admiral 
Saito,  unabhangig  von  Parteien  und  Parlament,  wird  zweifel- 
los  als  Ministerprasident  mit  Araki  zur  Seite  —  wie  ihm  die 
,Times'  bescheinigen  —  „im  stiirmischen  Wetter  einen  festen 
Kurs  steuern". 

Unter  einer  Regierung  der  liberalen  Minseito  begann  im 
September  1931  der  mandschurische  Feldzug,  Kurz  darauf 
trat  an  deren  Stelie  eine  Regierung  der  konservativen  Seiyu- 
kai, die  natiirlich  die  Siegesstimmung  weidlich  aiiszunutzen 
wuBte,  um  sich  bei  den  Wahlen  eine  Mehrheit  zu  sichern,  Und 
doch  haben  die  Generale  dieser  Seiyukai-Regierung,  die  der 
Fortfiihrung  des  Krieges  in  der   Mandschurei  und  dann  auch 

811 


der  kostspieligen  Offensive  auf  Schanghai  keinerlei  Hinder- 
nisse  in  den  Weg  stellte,  einen  so  blutigen  Abgang  bereitet. 
Die  Ursache  dafiir  ist  nicht  etwa  ein  Gegensatz  in  der  Stel- 
lung  zur  Kriegs-  und  AuBenpolitik.  Diese  wird  heute  von  der 
kaiserliohen  Kamarilla  und  der  mit  ihr  eng  versippten  Gene- 
ralitat  bestimmt,  sowohl  die  Regierung  der  Minseito  als  auch 
die  der  Seiyukai  -waren  in  diesen  Fragen  nur  ausfiihrende  Or- 
gans Die  imperialistische  Expansion  auf  dem  Festlande,  aur 
Kosten  Chinas  und  der  Sowjetunion,  ist  unter  all  diesen  Par- 
teien  keine  Streitfrage.  Sie  ist  vielmehr  fur  das  heutige  Ja- 
pan als  Grofimacht  eine  Existenzfrage,  eine  Frage  auf  Tod 
und  Leben,  und  alle  diese  Parteien  schworen  auf  das  Expan- 
sionsprograram.  Die  Kriegspolitik  des  letzten  Jahres  hat  aber 
eine  so  gewaltige  Erstarkung  der  kaiserliohen  und  der  mili- 
tarischen  Bureaukratie  zur  Folge  gehabt,  daB  sie  jetzt  einen 
Schlag  gegen  die  Partei-  und  Parlamentsregierung  fiihren  kann, 
um  alle  Garantien  fiir  die  unbehinderte  Fortsetzung  des  Krie- 
ges  in  die  Hand  zu  bekommen.  Was  sie  in  den  Jahrzehnten 
der  kapitalistischen  Industrialisierung  Japans  der  Bourgeoisie 
und  den  kleinbiirgerlichen  Massen  an  geringfiigigen  demokra- 
tischen  Konzessionen  —  Wahlrecht  und  Partei-  und  Parla- 
mentsregierung —  gewahren  muBte,  das  kann  sie  jetzt  im 
Feuer  der  Krise  und  des  Krieges  im  abgekiirzten  Verfahren 
zunichte  machen  Die  massenhaft  durch  die  groBkapi- 
talistische  Entwicklung  vernichteten  kleinen  Existenzen, 
die  ausgepowerten  Bauern,  die  durch  die  Finanz-  und'  Wirt- 
schaftskrise,  durch  die  Enge  des  Raumes  zur  Rebellion  gegen 
die  Mitsuis,  Yasudas,  die  groBen  Kapitalmagnaten,  getriebenen 
Massen  der  Arbeiter  und  Kleinbiirger  werden  von  der  militar- 
fascistischen  Organisation  aufgefangen  und  fiir  ihre  reaktio- 
naren  und  diktatorischen  Ziele  eingespannt. 

Wie  grade  dem  Generalstab  und  der  Admiralitat  eine 
solche  Ablenkung  zustatten  kommen,  beweist  unter  anderm 
die  Tatsache,  daB  im  neuen  Etat  der  Posten  fiir  Armee  und 
Flotte  mit  455,6  Millionen  Yen  veranschlagt  ist,  wahrend  die 
Einnahmen  aus  den  Steuern  708  und  die  Gesamteinnahmen 
1252  Millionen  ausmachen.  Im  vorigen  Etatsjahr  hat  die  Re- 
gierung zur  Deckung  von  unvorhergesehenen  Ausgaben,  so  der 
fiir  den  mandschurischen  und  den  schanghaier  Feldzug,  offent- 
liche  Anleihen  von  440  Millionen  aufgenommen,  wahrend  im 
laufenden   Etat   Anleihen  von  480   Millionen   vorgesehen   sind 

In  seiner  Rede  vor  der  Kokuhonsha  in  Osaka  sagt  Gene- 
ral Araki:  ,,Wir  brauchen  keinen  Fascismus,  wir  haben  eine 
eigne  grofie  Kultur,  die  uns  den  Weg  weist",  Und  Baron 
Hiranuma  fiigte  hinzu:  „Wir  haben  ein  ganz  selbstandiges  Ziel 
und  eine  selbstandige  Mission  und  keinerlei  Beziehung  zum 
Fascismus".  Die  Programmerklarung  Hiranumas,  der  ubrigens 
Vorsitzender  des  Hochsten  Gerichtshofs  und  stellvertretender 
Vorsitzender  des  Privy  Council,  einer  Art  Kronrat,  ist,  ver- 
langt,  daB  die  kaiserliche  Fiamilie,  die  von  der  Gottin-Sonne 
abstamme,  wieder  zur  alleinigen  und  unmittelbaren  Fiihrerin 
des  Volkes  werde.  Es  sei  die  Mission  Japans,  den  Volkern 
des  Ostens  Friede  und  Wohlstand  zu  bringen.  Die  wichtigste 
Kraft  hierfiir,  sei  die,  Armee,  die  den  starksten  und  moralised 

812 


reinsten  Ausdruck  der  japanischen  Nation  darstelle.  Jeder 
Japaner  miisse  bereit  sein,  alles,  auch  sein  Leben  fur  denAuf- 
stieg  der  japanischen.  Nation  einzusetzen,  und  dem  Kaiser  mit 
blindem  Genorsam  folgen.  Um  die  Reinheit  der  Nation  und 
ihrer  Ziele  sicherzustellen,  miisse  man  sich  gegen  die  geiahr- 
lichen  Ideen  des  Westens  wenden.  Zur  Verwirklichung  die- 
ses Programms  sei  eine  Abkehr  von  der  Partei-  und  Parla- 
mentsregiertmg  und  die  Errichtung  einer  nationalen  Regierung 
notwendig,  die  das  Land  nach  den  Ideen  der  Krone  und  der 
Armee  regiere.  Die  auBeren  Ziele  sind  Vollendung  der  Okku- 
pation  der  Mandschurei,  Sicherung  der  japanischen  Interessen 
in  der  Mongolei  undi  Verdrangung  des  Bolschewismus  von  je- 
dem  Stutzpunkt  im  Fernen  Osten.  Dieses  Programm  ist  voll- 
standig,  eine  Anleihe  beim  italienischen  oder  deutschen  Fascis- 
mus  ist  in  der  Tat  uberfliissig. 

Nicht  dem  Baron  Hiranuma,  sondern  dem  Admiral  Saito 
wurde  die  Ministerprasidentschaft  ilbertragen,  Der  General- 
stab  war  zwar  ,ftir  den  Prasidenten  der  Kokuhonsha,  und  auch 
der  Mikado  war  dem  nicht  abgeneigt.  Doch  die  Drohung  des 
Fiihrers  der  Seiyukai,  einen  gemeinsamen  Oppositionsblock 
mit  der  Minseito,  somit  fast  des  ganzen  Parlameiits  zu  bilden, 
hat  zum  KompromiB  gezwungen.  Aber  die  Politik  des  Gene- 
ralstabes  andert  sich  nicht,  und  Baron  Hiranuma  kann  noch 
warten.  Diese  Politik  wird  vom  ,Far  Eastern  Review*  in 
Schanghai,  einem  Organ,  das  von  der  japanischen  Militarpartei 
ausgehalten  wird,  mit  folgenden  Satzen  umrissen:  ,,Noch  ein  Jahr 
und  RuBland  wiirde  im  Norden  Asiens  eine  strategisch  unver- 
wundbare  Position  haben!  So  stelltl  sich  das  Bild  im  Osten 
den  militarischen  Fuhrern  Japans  dar,"  Diese  militarischen 
Ftihrer  sind  aiber  jetzt  die  Herren  der  japanischen  AuBenpoli- 
tik.     Ihre  Aufienpolitik  heiBt  kurz  und  biindig;  Krieg! 

RedakteUre  von  Ignaz  Wrobel 

„Das  kann  man  naturlich  nicht  schreibenl" 

Alter  Spruch 
I 
p\er  Redakteur  ist  ein  fest  angestellter  Literat  —  das  Wort 
Literat  in  seinem  weitesten  Umfang  genommen;  im  Be- 
zirk  der  Literatur  gibt  es  ja  keine  genaue  Analogie  fiir  ,,Ge- 
brauchsgraphiker",  Journalist  ist  zu  eng,  Ich  will  den  Redak- 
teur nach  zwei  Seiten  hin  untersuchen:  in  seiner  Stellung  zum 
Verleger  und  in  seiner  Stellung  zu  den  Mitarbeitern;  zu  den 
nicht  fest  angestellten  Schriftstellern. 

* 

Die  Standesvertretung  der  deutschen  Redakteure  hat  es 
bisher  nicht  vermocht,  ein  wiirdiges  Verhaltnis  des  Redak- 
teurs  zum  Verleger  herzustellen,  Stets  empfindet  der  Verleger 
fiir  den  Redakteur  so  etwas  wie  eine  leise  Verachtung;  in 
guten  Hausern  sind  die  Umgangsformen  zwischen  den  beiden 
Lagern  angenehm  und  demokratisch,  an  der  wirklichen  Lage 
andert  das  nichts.  Der  Verleger  ist  im  allgemeinen  tief  davon 
durchdrungen,  daB  Redakteure  nur  Geld  kosten,  aber  wenig 
einbringenj    daB  im  Grunde    erf    der   Verleger,    die  Sache   viel 

a  813 


besser  verstchc,  und  daB  man  jeden  Rcdaktcur  davonjagen 
und  durch  cinen  andern  crsetzcn  konne.  Beim  Inseratenchef 
sieht  das  wesentlich  anders  aus. 

Die  Interessen  der  Verleger  sind  mannigfaltig;  am  Redak- 
teur  hat  er  nur  eincs:  daB  der  ihm  keine  ,,Unannehmlichkei- 
ten"  mache*  Darunter  sind  nicht  immer  Geschaftsstorungen 
zu  verstehen  —  wie  derni  uberhaupt  der  Zusammenhang  zwi- 
schen  den  Inseraten  und  dem  redaktionellen  Teil  der  grofien 
Zeitungen  nur  mittelbar  ist,  sehr  spiirbar,  sehr  kraftig,  doch  ist 
der  Zusammenhang  fast  niemals  direkt  Erst  der  Kinobranche 
ist  es  vorbehalten  -geblieben,  hier  kulturfordernd  einzugreifen. 
Abgesehen  davon  haben  nur  kleine  Druckereibesitzer  den  Mut, 
ihren  Redaktionsangestellten  rund  heraus  zu  sagen,  sie  moch- 
ten  ihnen  gefalligst  durch  eine  gar  zu  scharfe  Antialkohol- 
Propaganda  nicht  das  Geschaft  mit  den  Brauereien  verderben. 
In  den  groBern  Zeitungsverlagen  spielt  sich  dergleichen  meist 
viel  wiirdiger  ab,  meist,  nicht  immer.  Da  knopft  sich  der  Ver- 
leger  oder  einer  seiner  geschaftlichen  Mitarbeiter  den  betref- 
fenden  Redakteur  vor,  und  die  Vokabeln  heiBen:  , , Tradition 
des  Hauses . ,  /'  —  „Man  kann  eben  nicht  mit  dem  Kopf  durch 
die  Wand  gehn"  —  t)Hier,  sehn  Sie  sich  mal  diesen  StoB  Be- 
schwerdebriefe  an,  so  kann  man  das  nicht , ,  ."  und  so  fort.  Die 
Verlogenheit  sitzt  hier  sehr  tief;  der  Unternehmer  hat  e*ben, 
wie  das  oft  vorkommt,  die  Philosophie  seines  Geldes.  Dem 
Redakteur  wird  zugemutet,  die  Philosophie  eines  Geldes  zu 
haben,  das  er  niemals  verdient. 

Verkauft  er  sich  — ?  So  simpel  ist  das  nicht.  Wer  in 
die  Redaktion  der  ,Deutschen  Allgemeinen  Zeitung1  eintritt, 
weiB  von  vornherein,  was  ihn  dort  erwartet;  er  bewirbt  sich 
erst  gar  nicht,  wenn  er  nicht  mit  den  Prinzipien  der  Politik, 
die  dort  gemacht  wird,  einverstanden  ist.  Es  zwingt  ihn  ja 
keiner,  grade  da  einzutreten  —  will  er  fur  den  Kommunismus 
arb'eiten,   so   muB  er  sich   eben  anderswo  melden. 

Doch  sind  die  meisten  Redakteure  nicht  einmal  in  den 
kleinen  Alltagsfragen  frei.  (Ganz  frei  ist  nur  der  Kritiker  in 
nichts  als  asthetischen  Dingen  —  da  darf  sich  alles  austoben, 
was  sonst  schwer  gebandigt  kuscht.)  Der  deutsche  Zeitungs- 
verleger  ist  ein  angstlicher  Mann;  er  will  Geld  verdienen,  was 
ihm  kein  Mensch  iibel  nimmt,  und  er  will  nur  Geld  verdienen, 
was  ihm  sehr  iibel  zu  nehmen  ist.  Er  hat  —  mit  Ausnahme 
von  Hugenberg  —  wenig  Machttrieb. 

In  Frankreich  ist  das  nicht  so.  Dort  ist  das  Zeitungswesen 
unmittelbar  korrupter  als  bei  uns,  wo  es  durch  obskure  Ein- 
wirkungen  beeinfluBbar  ist:  der  franzosische  Zeitungsverleger 
will  Macht.  Seibst  franzosische  Redakteure  wollen  Macht  — 
fur  Zeitungen  schreiben  ist  in  Frankreich  Mittel  zura  Zweck. 
Daher  sich  denn  auch  manche  Journalisten  „des  negres'*  hal- 
ten,  dunkle  Hilfsmannschaften,  die  ihnen  die  lastige  Arbeit  ab- 
nehmen,  einen  Artikel,  der  jetzt,  unter  diesen  Umstanden,  ge- 
schrieben  werden  muB,  und  den  der  Journalist  geschickt  und 
schlau  vorbereitet  hat,  nun  auch  noch  anzufertigen,  was  eine 
Art  Formalitat  darstellt.  Ich  besinne  mich,  im  ersten  Jahr 
meines  pariser  Aufenthalts  von  den  franzosischen  Kollegen 
(also  man  schamt  sich,  das  „Kollegen"  zu  nennen)    genau  son- 

814 


diert  worden  zu  sein:  „Was  will  der?  Von  wem  nimmt  er  —  ?" 
Und  als  sie  dann  merkten,  da6  ich  nur  von  dcm  lebte,  was 
ich  durch  Mitarbeit  an  deutschen  Blattern  verdiente  und  we- 
der  von  einem  franzosischen  Syndikat  noch  von  der  deutschen 
Botschaft  bezahlt  wurde,  da  wandten  sie  sich  verachtlich  ab: 
..Triple  idiot!" 

Das  ist  in  Deutschland  anders.  Hier  kann  man  den  einzel- 
nen  Redakteur  nur  in  ganz  untergeordneten  Exemplaren  kau- 
fen,  auch  den  Verleger  kann  man  nicht  von  Fall  zu  Fall  be- 
stechen  —  man  muB  seinen  Verlag  an  etwas  ,,interessieren'\ 
Das  ist  bald  getan  und  eine  Geldfrage;  die  Unbestechlichkeit 
der  meisten  Menschen  hort  ja  bei  . .  . .  Reichsmark  auf,  nach 
Belieben  auszufiillen,    Immer  aber  ist  der  Verlag  beeinfluBbar. 

Das  geht  ins  Groteske.  S.  J.  warf  einst  einem  berliner 
Redakteur  vor;  ,,Aber  bei  euch  geniigen  doch  schon  vier  Be- 
schwerdebriefe,  und  jeder  von  euch  kann  herausfliegen!"  Der 
Redakteur  erwiderte  tiefernst:  t,Herr  Jacobsohn,  Sie  irren  sich. 
Es  geniigt  schon  einer."  Die  Furchtsamkeit  der  Verleger  geht 
ins  Aschgraue.  Irgend  ein  Interessenverband,  dessen  Syndikus 
sich  etwas  Bewegung  machen  will,  eine  Sparte  des  Annoncen- 
teils,  die.  infolge  eines  Zeitungs-Artikels  leicht  ins  Wackeln  ge- 
kommen  ist,  sind  imstande,  den  ganzen  Laden  durcheinander 
zu  bringen.  Von  ,,Das  gibts  bei  mir  nicht!"  bis:  „Horen  Sie 
mal,  man  sollte  da  eigentlich . .  ."  spielt  das  in  alien  Tonen, 
und  wenn  der  Redakteur  solcherart  zum  Chef  geht,  geht  er 
allemal  nach  Canossa.  Nur  findet  aus  rituellen  Griinden  keine 
KirchenbuBe   statt. 

Von  den  kleinen  Generalanzeigern  erwartet  kein  Mensch 
etwas  andres.  Deren  Textteil  ist  nur  Beilage  zum  Inseraten- 
teil,  und  der  Druckereibesitzer,  der  seine  Annoncen  sammelt, 
wiinscht,  nicht  durch  iiberfliissige  MeinungsauBerungen  irgend 
eines  Schreibers  in  seinen  Geschaften  gestort  zu  werden.  DaB 
aber  groBere  Zeitungen  ihre  Macht  iiberhaupt  nicht  anwenden, 
weil  sie  sich  ihrer  gar  nicht  bewuBt  sind,  das  ist  eine  Schande. 

Die  Verleger,  meist  kleine  Leute,  verkennen  ihre  Lage 
vollig.  Woher  sollten  sie  sie  auch  kennen?  Zum  Redakteur 
gehoren  ein  Befahigungsnachweis,  erbracht  durch  lange  Lehr- 
zeit,  Allgemeinbildung  oder  sonst  etwas,  und  immer  wieder; 
Erfolg,  Erfolg,  Erfolg.  Zum  Verleger  brauchts  das  alles  nicht, 
da  tut  es  schon  Kauf  oder  Erbschaft  oder  sonst  ein  Rechts- 
vorgang,  und  Erfolglosigkeit  ist  ja  in  den  Augen  der  Unterneh- 
mer  stets  die  Folge  ungunstiger  Zeitumstande.  (Gehts  gut,  so 
ist  das  auf  ihre  Tiichtigkeit  zuriickzufuhren.)  Da  sitzt  nun  der 
Verleger  auf  seinem  Stuhlchen  und  hat:  eine  Zeitung,  GroBen- 
wahn  und  Angst, 

Er  hat  Angst  vor  den  Berufen.  Er  hat  Angst  vor  den 
Frauen.  Er  hat  eine  gradezu  mafilose  Angst  vor  alien  Behor- 
den.  Zeitungen,  die,  ohne  sich  auf  Berufsvereinigungen  stiitzen 
zu  konnen,1  aus  geisUgen  Griinden  ganze  Beamtengruppen  an- 
greifen,  kann  man  an  den  Fingern  herzahlen.  Angst.  Angst. 
Angst.  Der  Redakteur  wird  dabei  nicht  befragt;  er  zahlt  gar 
nicht  mit. 

Seine  Stellung  ist  an  den  Parteizeitungen  nicht  viel  anders. 
Die  Falle,  wo  auch  in  der  Arbeiterpresse  durch  den  sogenann- 

815 


ten  Geschaftsfiihrer  oder  die  Pressekommission  dcr  scham- 
loseste  Druck  auf  die  Rcdaktcure  ausgeiibt  wird,  wiedcrholcn 
sich  fortwahrend.  Von  Selbstandigkeit  ist  da  keine  Rede.  Ein- 
mal  haben  sic  eincn  SPD-Redakteur  in  der  Provinz  gezwungen, 
nie  wieder  ctwas  von  mir  zu  druckcn;  dcr  Mann  hatte  Fran 
und  Kind  und  gab  nach.  Und  dann  muB  man  die  Manner 
sehen,  die  solches  verordnenl 

Es  ist  nicht  an  dem,  daB  die  Verlegerschaft,  wie  sie  ge- 
backen  und  gebraten  ist,  aus  Trotteln,  bestochenen  Kumpanen 
und  Hosenhandlern  besteht,  was  die  Beteiligten  mit  einem 
„Sehr  freundlich!"  aufnehmen  werden.  Doch  wird  die  Fragc: 
n'Warum  iibt  jener  die  Autoritat  aus?"  in  Deutschland  fast  nie 
gestellt  und  in  diesem  Fall  niemals  ehrlich  beantwortet.  Denn 
die  Antwort  miifite  in  den  meisten  Fallen  lauten:  ,,Weil  er  der 
Besitzer  ist.  Weil  er  in  das  Unternehmen  hineingeheiratet  hat. 
Weil  er  es  geerbt  hat.  Weil  er  es  gekauft  hat."  Und  in  den 
seltensten  Fallen;  Weil  er  primus  inter  pares,  weil  er  ein  gan- 
zer  Kerl  ist,  Diese  kleinen  Privat-Behorden  sind  nur  Behor- 
den,  weil  und  solange  man  ihnen  gehorcht. 

Hat  der  Verleger  Publikumsinstinkt?  Er  bildet  sich  das 
fast  immer  ein.  Ich  glaube  nicht  recht  an  diesen  Instinkt  — 
dazu  haben  die  Herren  zu  viele  MiBerfolge. 

Die  meisten  Zeitungsverleger  haben  sich  da  etwas  zurecht- 
gemacht,  was  sie  ,,Publikum"  nennen  —  es  ist  ein  recht  ver- 
schwommener  Begriff,  fiir  den  das  MaB  aller  Dinge  ihre  eigne 
Bildung  abgibt.  Wer  diesem  Begriff  entspricht,  den  halten  sie 
fiir  gut.  Es  gibt  nicht  nur  Publikumslieblinge  (die  Courths- 
Mahler  heiBt  iibrigens  heute  langst  nicht  mehr  so)  —  es  gibt 
auch  Verlegerlieblinge,  und  das  muB  durchaus  nicht  immer 
dasselbe  sein.  Legte  ich  mir  ein  neues  Pseudonym  zu;  nichts 
ware  leichter,  als  spaBeshalber  das  herzustellen,  was  die 
Druckereibesitzer  fiir  zugkraftig  halten;  das  fiele  mir  im 
Schlaf  ein,  nur  im  Schlaf, 

Wem  dienen  die  Zeitungen?  Dem  offentlichen  Interesse? 
Du  lieber  Gott!  Das  konnen  sie  nicht,  weil  sie  nichts  wagen. 
Die  Offentlichkeit  hat  noch  eine  gewisse  Scheu  vor  der  Presse, 
aber  die  Presse  hat  eine  ungeheure  Angst  vor  der  Offentlich- 
keit.  Einem  Sturm  trotzen?  Seinen  Standpunkt  auch  dann 
wahren,  wenn  jeder  zehnte  Abonnent  abbestellt?  Wenn  der 
gefiirchtete  Boykott  durch  irgend  einen  gereizten  Reichsver- 
band  Deutscher  Feinkosthandler  heraufbeschworen  wird?  Es 
gibt  nur  eine  Sorte  Menschen,  die  der  Zeitungsverleger  nicht 
furchtet;  das  sind  die  geistigen  Menschen.  Die  konnen  prote- 
stieren,  das  macht  nichts. 

Weit  entfernt  davon,  mir  alles,  was  geschieht,  durch  die 
Presse  zu  erklaren;  was  konnte  die  deutsche  Presse  durch- 
setzen,  wenn  sie  nur  wollte!  Von  groBen  Dingcn  keines;  von 
mittlern  und  kleinen,  die  ja  im  Leben  auch  mitspielen,  sehr 
viele. 

Das  tut  sie  aber  nicht.  Sie  hat  Furcht.  Furcht  vor  allem 
und  Furcht  vor  jedem.  Es  fehlt  ihr  der  politischc  Machttrieb 
groBen  Stils. 

Wie  wirkt  das  auf  den  Redakteur  zuriick  — ?  Das  wollen 
wir  in  der  nachsten  Woche  untersuchen. 

816 


Der  berliner  Theaterkrach  von  Herbert  ihering 

n\as  Wort  Theaterkrise  ist  schon  langst  eine  beschonigende 
*"^  Vokabel)  geworden  fur  die  Zustande,  die  wirklich  an  den 
berliner  Btihnen  herrschen.  Diese  Zustande  haben  weit  mehr 
mit  dem  allgemeinen  wirtschaftlichen  Debacle  und  jenen  selt- 
samen  Methoden  zu  tun,  die  heute  noch  zur  Scheinsanierung 
von  Unternehmungen  angewandt  werden,  als  mit  einer  spe- 
ziellen  Theaternot.  Reinhardt  ^sagte  bekanntlich,  als  er  sich 
mit  einem  hochmutigen  Erlafi  von  der  Weltpresse  verabschie- 
den  zu  konnen  glaubte:  er  verlieBe  seine  Theater  aus  Haft  auf 
jegliche  Art  von  Unternehmertum. 

Wie  denn,  der  groBte  Theaterunternehmer  der  Gegenwart 
kam  nur  widerwillig  in  den  Besitz  des  Schlosses  Leopolds- 
kron?  Er  grundete  nur  widerwillig  in  den  Jahren  der  Schein- 
bliite  ein  Kurfurstendammtbeater  nach  dem  andern?  Er 
machte  nur  widerwillig  groBe  Revue-  und  Operetteninszenie- 
rungen  in  New  York  und  in  London?  Er  unternahm  nur  wider- 
willig Gastspieltourneen  von  Riga  bis  Salzburg,  von  Rom  bis 
Manchester?  Er  grundete  nur  widerwillig  die  Theaterabonne- 
ments  G.  m.  b,  FL  und  machte  sie  nur  widerwillig  zu  einem 
Machtinstrument,  mit  dem  er  die  angeschlossenen  Buhnen  in 
Abhangigkeit  von  sich  halteni  konnte?  In  der  Tat,  Reinhardt 
haBte  das  Unternehmertum,  als  das  Risiko  groB  wurde.  Es  ist 
angenehmer  und  beruhigender,  sich  die  Pacht  von  andern 
zahlen  zu  lassen,  um  so  mehr,  wenn  man  zwei  Direktoren  fin- 
det,  die,  wie  Karlheinz  Martin  und  D  ok  tor  Rudolf  Beer,  heute 
noch  300  000  Mark  jahrlich  fiir  das  Deutsche  Theater  und  die 
Kammerspiele  geben  wollen.  Reinhardt  also  haBt  das  Unter- 
nehmertum und  zieht  sich  als  Angler  an  seinen  Teich  in  Salz- 
burg zuriick?  Er  haBt  das  Unternehmertum,  um  es  im  Aus- 
lande  noch  grofier  aufziehen  zu  konnen. 

Woran  ist  das  berliner  Theater  zugrunde  gegangen?  An 
der  Geistesverfassung  der  Reinhardtzeit,  die  immer  geschaft- 
lich  eingestellt  war,  aber  dieses  Geschaitsinteresse  nicht  wahr 
haben  wollte.  Man  schob  jeden  peinlichen  Einwand  mit  einem 
idealistischen  Schlagwort  beiseite  und  war  ein  Martyrer  der 
Kunst,  wenn  die  materiellen  Schwierigkeiten  uniibersehbar 
wurden.  Reinhardt  ist  gegangen,  weil  er  als  traumender 
Kiinstler  sich  in  der  hart  en  Geldwelt  nicht  mehr  zurechtfindet. 
Victor  Barnowsky,  an  dessen  Buhneneingang  der  klassische 
Anschlag  zu  finden  war  ,,a  Kontozahlungen  auf  riickstandige 
Gag  en  ab  15,  d.  M.'\  entgegnet  einem  kiinstlerischen  Ange- 
stellten,  der  sein  Gehalt  verlangt;  ,,Sie  wollen  doch  nicht  vor 
Gericht  gehen,  wie  der  erste  beste  Holzhandler?1' 

Diese  Ideologie  ist  es,  die  die  berliner  Theater  zugrunde 
gericht et  hat.  Diese  Gedankenrichtung,  die  fur  den  Kiinstler, 
der  Idealist  zu  sein  hat,  ein  Sonderunrecht  der  Ausnutzung 
schuf.  Wen-n  der  Direktor  ein  Stuck  erwerben  wollte,  war  der 
Dramatiker  einDichter;  wollte  er  Tantiemen,  war  er  der  erste 
beste  Holzhandler.  Es  fing  an  bei  Reinhardt,  der  die  Gagen  da- 
mit  driickte,  daB  er  dem  Schauspieler  versichern  HeB:  dafiir 
spiele  er  auch  an  der  beriihmtesten  Biihne  Berlins  und  unter 
seiner  Regie,    Es  endete  mit  dem  Gegenschlag,  mit  den  Ober- 

817 


forderungen  der  machtig  gewordenen  Stars,  die,  wcil  sie  die 
Methoden  d'er  Direktoren  kannten,  den  SpieB  umkehrten  und 
dieselben  Kniffe  gegen  ihre  Lehrmeister  anwandien.  Und  das 
Schlimmste:  die  Unreinlichkeit  dieser  Gesinnung  kam  den  The- 
aterleitern  nicht  einmal  zum  BewuBtsein.  Sie  glaubten  tatsach- 
lich  an  ihren  Idealismus.  Sie  glaubten  an  ihr  Martyrertum. 
Sie  glaubten  an  ihr  Recht, 

Aber:  sollen  Direktionen,  die  mit  allem,  mit  ihrem  ideellen 
und  mit  ihrem  materiellen  Gut  gescheitert  sind,  weiter  und 
miihsam  gerettet  werden?  Hat  es  einen  Zweck,  daB  sich  die 
Buhnengenossenschaft  und  der  Biihnenverein  fur  Sanierungen 
vanj  Unternehmungen  einsetzen,  nur,  damit  angeblich  die  Zahl 
der  Theater  nicht  verringert  wird?  Ich  glaube  an  die  Wirk- 
samkeit  dieser  MaBnahmen  nicht.  Menschliches  Mitleid  ist 
nicht  am  Platze,  weil  es  weder  den  Direktoren  noch  den 
Schauspielern  ntitzt.  Was  fallen  muB,  kann  man  im  Fallen 
nicht  aufhalten.  Die  Leistungen  Martins  in  der  SchumannstraBe 
rmissen  abgewartet  werden.  Der  Spielplan  des  Deutschen 
Theaters  in  diesem  Winter  war  vollig  zerfahren.  Die  Rettung 
brachte  allein  die  sensationelle  Aufmachung,  Regie  und  Be- 
setzung  der  Hauptmann-Premiere.  Das  Repertoire  Barnowskys 
muBtc  ideenlos  sein.  Eine  Viertelrettung  brachte  allein  das 
Gastspiel  der  Massary,  Das  Staatstheater  fand  sich  nicht  zu- 
recht.  Die  Volksbiihne  irrte  von ,  einer  Verlegenheit  in  die 
andre  und  taumelte  von  dem  Dramatiker  Moissi  zur  Schau- 
spielerin  Hansi  Niese.  Nur  von  den  Schauspielergemeinschaf- 
ten  gingen  Anregungen  und  Versuche  aus.  Die  Schauspieler 
schlossen  sich  in  der  Not  zu  KoUektiven  zusammen  und  arbei- 
teten.  Sie  beschajmten  jene  t,Fuhrer"(  die  alles  Ungliick  des  The- 
aters auf  die  Darsteller  abwalzen  wollten,  und  ihre  eigne  Ge- 
werkschaft,  die  Biihnengenossenschait,  die  immer  noch  nichts  , 
von  den  Kollektiven  wissen  will  und  sich  eher  fiir  die  Erhal- 
tung  des  morsch  gewordenen,  aber  „Bestehenden'*  einsetzt, 
als  sich  an  der  Organisierung  neuer  Methoden  und  Grundlagen 
der  Theaterfuhrung  zu  beteiligen. 

Die  groBen  Organisationen,  die  Buhnengenossenschaft  und 
der  Buhnenverein,  geschaffen,  um  die  Interessen  des  Theaters 
zu  schtitzen,  um  im  Kampf  mit  den  Behorden  und  den  Stadt- 
verwaltungen  die  Sache  der  Biihnen  zu  verteidigen,  mogen 
heute  noch  au{  Scheinerfolge  zuriickblicken  konnen.  Es  ist 
richtig,  daB  sie  in  der  Provinz  fiir  manches  Theater  noch 
manche  Hilfe  herausgeschlagen  haben,  Aber  es  ist  auch  rich- 
tig,  daB  sie  iiber  halbe  MaBnahmen  nicht  hinweggekommen 
sind.  Halbe  MaBnahmeni  aber  konnen  hochstens  noch  in  ein- 
zelnen  Fallen  und  fiir  kurze  Zeit  helfen.  Der  berliner  Theater- 
krach  und  die  Krisenzustande  in  der  Theaterprovinz  zeigen  fiir 
jeden,  der  horen  und  sehen  kann,  daB  andre  Methoden  not- 
wendig  geworden  sind.  Die  Schauspielerkollektive,  das  beginnt 
man  heute  fast  schon  von  rechts  bis  links  einzusehen,  haben 
die  Initiative  des  Spielplans  und  die  Initiative  der  Organisa- 
tion an  sich  gerissen.  Auch  dieser  Gedanke  ist  schon  oft  miB- 
braucht  worden,  MiBverstandnisse  und  Konjunkturjager  kon- 
nen die  Entwicklung  nicht  auf  halt  en,  Der  alte  Fiihrergedanke, 
von  dem  der  Biihnenverein  immer  gesprochen  hat,  ist  ja  langst 

818 


diskreditiert  worden.  Eine  Hand  wusch  die  andre.  Einer  emp- 
fahl  den  andren.  Es  blieb  bei  dem  ausgedrehten  Direktoren- 
karusselL  Auch  fur  die  neuen  Theaterfuhrer  schaffen  die  The- 
ater kollektive  erst  die  Vorbereitung.  Fur  einen  neuen  Drama- 
tikertyp,  fiir  einen  neuen  Schauspielertyp,  fiir  eine  neue  Ar- 
beitsgesinnung. 


FunkHteratUr  von  Rudolf  Arnheim 

Cunk  und  Film  lassen  sich  beide  mehr  lehrhaft  oder  mehr 
asthetisch  verwenden.  Da  aber  die  Grundgegebenheit 
des  Films  das  Bild,  die  sinnjiche  Anschauung  ist,  behauptet 
sich  auf  diesem  Gebiet  der  Kiinstler  starker  als  der  Lehrer, 
wahrend  es  beim  Rundfunk  umgekehrt  ist.  Denn  dort 
herrscht  das  gesprochene  Wort,  das,  auch  wo  es  als  kiinst- 
lerisches  Gestaltungsmittel  auftritt,  sich  viel  unmittelbarer  an 
den  Verstand  wendet,  Mit  Recht  spielt  daher  das  Lehrhafte, 
Intellektuelle  beim  Rundfunk  eine  viel  wichtigere  Rolle  als 
beim   Film, 

Dieser  Unterschied  macht  sich  auch  in  der  theoretischen 
Literatur  bemerkbar.  Es  ist  ein  andrer  Schlag  Menschen, 
der  sich  mit  dem  Rundfunk  befaBt,  und  es  geschieht  in  einem 
andern  Ton,  Wahrend  der  Filmschriftsteller  zum  blink  end  en 
Geplauder  neigt  und  auch  dem  strengen  Systematiker  etwas 
vom  weltlichen  Parfiim  des  Ateliers  in  den  Kleidern  zu  haf- 
ten  pflegt,  herrscht  in  der  Funkliteratur  der  strengere  Duft 
des  Konfirmandenunterrichts,  der  padagogischen  Bemiihung. 
GroBe  Gedanken  und  ein  von  Fremdworten  reines  Herz,  das 
ists,  was  der  Funkschriftsteller  von  Gott  erbittet.  Feierlich 
predigt  er  uber  Geist,  Intuition  und  die  zeugende  Kraft  des 
Wortes,  und  man  ist  schon  froh,  wenn  man  auf  ein  Buch 
trifft,  in  dem  einmal  nicht  gleich  zu  Anfang  die  Hoch- 
frequenzwellen  mit  dem  Weltgeist  verglichen  werden,  der 
allenthalben  zugieich  unsichtbar  seinen  erhabenen  EiniluB 
iibt.  Solche  Versuche,  sich  die  deutsche  idealistische  Philo- 
sophic von  den  Elektrotechnikern  erklafen  zu  lassen,  diirften 
nicht  sehr  fruchtbar  sein,  und  dem  Aesthetiker  wie  dem  Psy- 
chologen  ist  zu  empfehlen,  bei  dem  Wort  ..Raum"  zunachst 
einmal  nicht  an  Lebensraum  und  geistigen  Horraum  zu  denken 
sondern  an  ein  Ding  mit  vier  Wanden  und  bei  ffSchwing,ung" 
mehr  an  die  Hertzzahl  als  an  psychisches  Fluidum  und  an 
Gemiitsbewegungen.  Denn  grade  weil  die  Kunsttheorie  sich 
mit  den  unirdischsten  Dingen  befaBt,  die  wir  kennen,  kann  der 
Analytiker  hier  die  Grundbegriffe  gar  nicht  konkret  und  ro- 
bust genug  anpacken,  Zunachst  ganz  unbildlich  das  AnfaB- 
bare  erfassen  —  das  Gleichnis  kommt  immer  noch  friih  genug! 
Besonders  auf  einem  so  jungen  Gebiet  gilt  es,  zunachst 
einmal'  Gesichtspunkte,  Beispiele,  Beobachtungen  zu  sammeln, 
und  das  in .  solchen  Notizen  niedergelegte  Forschungsmaterial 
bildet  denn  auch  den  eigentlichen  Wert  der  bis  jetzt  erschie- 
nenen  Rundfunk-Biicher,  Charakteristisch  ist,  einen  wie  gro- 
Ben  Raum  die  Psychologie  des  Horers  einnimmt.  Mit  vollem 
Recht  natiirlich.     Sehr  geschickt  zeichnet  E.  Jolowicz  in  sei- 

819 


ner  Untersuchung  „Der  Rundfunk"  (Max  Hesses  Verlag,  Ber- 
lin-Schoneberg)  den  aktivcn  Horer,  der  mit  dem  Programmheft 
in  dcr  Hand  zielbewuBt  das  ihm  Zusagende  heraussucht, 
und  den  passiven,  der  zugellos  am  Abstimmknopf  herum- 
fingert,  an  allem  nascht  und  nur  irgcndwie  unterhalten  sein 
will,  Es  ist  wichtig,  die  wilden  Hormethoden  des  durch- 
schnittlichen  Rundfunkabonnenten,  der  automatisch  abstellt, 
sobald  an  Stelle  der  Unterhaltungsmusik  eine  menschliche 
Stimme  ertont,  nicht  als  gegeben  und  fur  die  Programmgestal- 
tung  maBgebend  hinzunehinen  sondern  Forderungen  an  die 
Erziehung  des  Horers  zu  stellen.  Dies  tut  etwa  Karl  Wiirz- 
burger  in  seiner  Broschtire  MEr  spricht,  du  horst"  (Fernschul- 
Verlag  G.  m.  b,  H.,  Berlin- Wilmersdorf),  Hierher  gehort  es 
aber  auch,  wenn  Richard  Kolb  (t,Das  Horoskop  des  Horspiels"t 
Max  Hesses  Verlag)  mit  einer  Beredsamkeit,  die  jedem  Film- 
industriellen  das  Herz  und  das  Geschaft  <beleben  wiirde,  fair  er- 
hebende  und  entspannende  Darbietungen  eintritt:  ,,Wir  wollen 
es  nicht  immer  wieder  in  die  Ohren  geschrien  erhalten,  wenn 
wir  mude  nach  Hause  kommen,"  Das  ist  die  altbewahrte,  als 
Altruismus  deklarierte  Oropax-Technik  staatserhaltender 
Volkserzieher,  und  es  ist  angenehm,  im  Gegensatz  dazu  in 
einem  Vortrag  von  Franz  Wallner  (,,Die  Aufgaben  der  Lite- 
rarischen  Abteilung",  Manuskript)  zu  lesen:  „Sie  kennenwohl 
auch  das  beruhmte  Horerbriefschema:  ,Wenn  ich  nach  des 
Tages  Miih  und  Arbeit  abends  nach  Hause  komme,  dann  will 
ich  ,  . .'  und  wissen,  wieviel  passiver  und  auch  aktiver  Wider- 
stand  den  besten  Absichten  gerade  hier  erwachst."  Dieser 
Widterstand  sollte  nicht  von  den  Theoretikern  noch  verstarkt 
werden;  denn  grade  solche  Stimmen  werden  zum  Schaden  der 
paar  fortschrittlichen  Programmleiter  als  Zeugen  dafiir  heran- 
gezogen,  daB  noch  lange  nicht  genug  Bunte  Abende  stattHn- 
den.  Wallner  ist  der  Meinung,  ,,daB  die  Amiisierpsy chose  ge- 
ringer,  das  Bildungsbedxirfnis  groBer  ist,  als  der  durchschnitt- 
liche  Zuschrifteneingang  vermuten  laBt." 

Sehr  wichtig  istt  wie  man  sich  zu  den  Schwierigkeiten 
stellt,  die  aus  der  vielfaltigen  gesellschaftlichen  und  bildungs- 
mafiigen  Schichtung  des  Rundfunkpublikums  entstehen.  Es 
finden  sich.  gefahrliche  Bestrebungen,  angedeutet  beispiels- 
weise  bei  Jolowicz,  Spezialsender  fiir  spezielle  Horerschichten 
zu  errichten.  Diesen  Forderungen,  die  bei  der  sprichwortlichen 
Vorliebe  des  deutschen  Volkscharakters  fiir  alles  Separa- 
tistische  groBen  Anklang  finden  diirften,  miissen  von  vorn- 
herein  energisch  bekampft  werden,  weil  sie  die  groBe,  gar 
nicht  zu  ubers chat zende  Kulturaufgabe  des  Rundfunks  abzu- 
drehen  drohen:  die  Durchbrechung  der  stabilen  Mauern,  die 
heute  politische  und  weltanschauliche  Gruppen,  soziale  und 
Berufsschichten,  Bildungsklassen  und  geographische  Bezirke 
schalldicht  voneinander  abtrennen.  In  einer  Zeit,  in  der  jede 
winzige  Menschengruppe,  durch  irgend  ein  Sonderinteresse  ge- 
eint,  ihre  eignen  Zeitungen,  Versammlungsplatze,  Wohnsitze, 
ihre  eigne  Terminologie  hat,  wovon  die  Nachbargruppe  nie- 
mals  etwas  erfahrt,  schafft  der  Rundfunk  eine  technische  Vor- 
aussetzung  fiir  den  klassenlosen  Staat  von  morgen,  eine  Ver- 
einheitlichung  des  Kulturbestandes,  des  kulturellen  Schaffens. 

820 


Allc  Scheidung  in  Spezialressorts  —  Vortrag  und  Musik, 
Literatur  und  Horspiel,  Aktualitat  und  Ewigkeitswert,  Schrift- 
steller  und  Reporter,  Regisseur  und  Abhortechniker  —  ist  beim 
Rundfunk  vom  hochsten  CbeL  Dazu  gehort  vor  allem  aueh  die 
Trennung  von  Belehrung  und  Unterhaltung.  AIs  Grundmaxime 
hat  zu  gelt  en,  daB  das  Belehrende  unterhaltend,  das  Unterhal- 
tende  belehrend  sein  musse.  Und  wenn  Jolowicz  ,,einen  schar- 
fen  Trennungsstrich  zwischen  dem  Unterhaltungshorspiel  und 
dem  Horspiel  als  Kunstform  ziehen"  will,  wenn  Wallner  an  der 
Zukunft  des  Horspiels  zweifelt,  das  Lehrstiick  dagegen  hoff- 
nungsvoll  betrachtet,  so  ist  dagegen  zu  sagen,  daB  eine  wiki- 
schenswerte  Entwicklung  nur  zustandekommen  kann,  wenn  so- 
wohl  das  Unterhaltungsspiel  wie  das  Lehrstiick  sich  energisch 
der  kunstlerischen  Horspiel-Formmittel  bedient.  Nur  so  ist 
ode  Esoterik  auf  der  einen,  flacher  Amiisierruramel  auf  der 
andern  Seite  zu  vermeiden! 

..  Was  die  asthetisch-psychologischen  Formmittel  des  Rund- 
funks,  sozusagen  die  Handwerkslehre,  anlangt,  so  verdient  Be- 
achtung  eine  noch  ungedruckte  Seminararbeit  des  Studenten 
Walter  Grohmann,  der  zUm  Schiilerkreis  des  miinchner  Pro- 
fessors Kutscher  gehort.  Grohmann  macht  sich  anhand  von 
Beispielen  an  die  notwendigen  Einzeluntersuchungen  iiber  die 
Expositionstechnik  im  Funkdrama,  die  akustische  Obermittlung 
«ines  gegliederten  Schauplatzraums,  die  Transponierung  des 
Optischen.  Sehr  hinderlich  fiir  das  Zustandekommen  einer 
brauchbaren  Funkasthetik  sind  die  folgenden  Dogmen,  die 
man  fast  durchgangig  in  der  bisherigen  Literatur  vorfindet;  der 
ansagende  Sprecher  im  Horspiel  ist  eine  den  Zwischentiteln  im 
stum  men  Film  entspreohende  Eselsbrucke,  eine  Jugendsunde, 
ein  Zeichen  fiir  mangelnde  Gestaltungskraft;  der  Horer  hat  die 
Auf  gab  e,  das  fehlende  Optische  mit  seiner  Phantasie  zu  ergan- 
zen,  und  der  Sinn  der  Funk-Form  ist  es,  ihm  dies  zu  ermog- 
lichen;  die  Verwendung  von  Gerauschen  muB  a)  so  komplett 
sein  wie  in  der  Wirklichkeit  oder  b)  ist  eine  Barbarei,  die 
grundsatziich  zugun«ten  der  reinen  Wortkunst  ausgemerzt  wer- 
den  muB.  Diese  falschen  Satze  hemmen  die  Entwicklung  des 
Rundfunks  auBerordentlich. 

Wichtig  sind  die  Hinweise,  bei  Kolb  und  Grohmann,  daB 
im  Funkdrama  die  innere  Handlung  starker  im  Vordergrund 
steht  als  die  auBere.  Wahrend  die  akustische  Darbietung 
auBerer  Vorgange  immer  recht  mittelbar  bleibt,  iibermittelt 
sich  eine  „seelische  Handlung"  sehr  direkt  durch  Monolog  und 
Dialog.  Die  intime  Bindung  des  Mikrophonsprechers  an  den 
Horer  schafft  dem  Wort  eine  ganz  besondre  Wirkungsmoglich- 
keit.  Zu  dieser  Technik  des  Mikrophonsprechens  gibt  Wiirz- 
burger  als  Praktiker  gute  Ratschlage,  wennschon  er  sich  um 
einen  Teil  seiner  Wirkung  bringt,  indem  er  iiber  Mikrophon 
und  Senderaum  in  geheimnisschwangeren,  berauschten  Satzen 
spricht,  als  handle  es  sich  um  ein  orphisches  Mysterium.  Rund- 
funksprechen  ist  keine  ifachliche  Freimaurerlehre  fiir  Ein- 
geweihte  sondern  eine  Technik,  die  ihre  Kunstgriffe  hat  wie 
jede  andre.  Wichtig  jedenfalls  ist  jeder  Hinweis  darauf,  daB 
es  beim  Rundfunk  nicht  um  das  geht,  was  im  Senderaumj  zu 
horen  ist,   sondern  um  das,   was   aus  dem   Lautsprecher   tout. 

821 


Wer  das,  was  in  der  Abhorka})ine  geschieht  (Aussteuerung, 
Kombination  von  Schallraumen)  fiir  ,,bloBe  Tcchnik"  und  fiir 
von  der  kiinstlerischen  Darbietung  unabhangig  halt,  wirdj  nic- 
mals  zum  Verstandnis  des  Rundfunks  vordringen.  DaB  man, 
wie  Jolowicz  mitteilt,  in  Budapest  versucht  hat,  den  Kapell- 
meister in  den  durch  Glasscheibe  mit  dem  Senderaum  verbun- 
denen  Abhorraum  zu  stellen  statt  wie  liberall  sonst  direkt  vor 
das  Orchester,  bedeutet  einen  wichtigeren  Fortschritt  als  hun- 
dert ,  wohlgelungene  Symphoniekonzerte. 

Die  letzte  Konferenz 

Eine  Marionettenszene  in  drei  Bildern   von  Alfred  Polgar 

Erstes  Bild 

/Gartenplateau  vor  dem  Konferenzsaal.     Ein  paar  Stufen  fixhren  zum 

Parterre  des  Baues,  in  dem  sich  der  Konferenzsaal  befindetj 

Ein  informierter  Herr  (neben  ihm  ein  Journalist  mit  Notizblock 
und  BleistiftJ:  Ja,  mehr  kann  ich  Ihnen  nicht  sagen  (blickt  zum  Him- 
mel).     Mir   scheint,,  es   kommt   ein   Gewitter. 

Der  Journalist  (eifrig):  Meinen  Sie  das  symbolisch?  (mit  dem 
Herrn  ab). 

(Ein  franzosischer  Diplomat  und  ein  franzosischer  Journalist  im 
Gesprdch  kommen.) 

Diplomat:  Die  wievielte  Konferenz  ist  das  jetzt? 

Journalist:  Die  949te  seit  dem  Krieg.  Die  Englander  haben  ge- 
wettet,   daB  sies  noch  in  diesem  Jahr  auf  tausend  bringen. 

Diplomat:  Gott  strafe  England!  Eine  Luft  da  drin,  nicht  zum 
Aushalten. 

Journalist:  Die  germanischen  Volkerschaften  transpirieren  viel 
starker  als  wir  Romanen. 

Diplomat:  Das  kommt  von  ihrer  Nahrung.  Ich  las  einmal  auf 
einer  berliner  Speisekarte  ein  Gericht,  das  hieB  „Schillerlocken  mit 
Schlagsahne".  Sonderbares  Volk,  das  die  Haare  seines  Lieblings- 
dichters    iBt. 

Journalist:  Unser  wissenschaftlicher  Experte  fii'r  Volkerkunde 
erzahlte  seinerzeit  in  Versailles,  als  man  wegen  der  Besetzung  des 
Rheinufers  verhandelte,  dafi  nur  die  Deutschen  vom  Affen  abstam- 
men<  Das  machte  auf  die  Konferenz  ungeheuren  Eindruck,  Wilson 
bestritt  es.  Er  war  aber  damals  geistig  schon  nicht  mehr  auf  der 
Hohe. 

Elvira  und  ihre  Zoglinge  (gehen  voriiberf  Journalist  griiBt). 

Diplomat:   Wer   sind    die    charmanten   Damen? 
-Journalist:   Sie   sind    wohl    zum    erstenmai    auf    einer    Konferenz, 
sonst  wiirden  Sie   Elvira  kennen.     Sie  1st  immer   da   und  halt  Kurse 
fiir   junge  Madchen  iiber  das  Konferenzwesen. 

Diplomat:  Interessant!  Ich  hatte  nicht  gedacht,  dafi  unsere  Zu- 
sammenkiinf te  fiir  irgend  j  emand  die  geringste  Bedeutung  haben 
konnten.    (Beide  ab.) 

Zwei  Reporter  (von  verschiedenen  Seiten,  in  Eile). 

Erster  Reporter:  Haben  Sie  meinen  Chef  nicht  gesehen? 

Zweiter  Reporter:  Nein.    Wozu  brauchen  Sie  Ihren  Chef? 
S22 


Erster  Reporter:  Er  will  seinen  Leitartikel  diktieren.  Einen  Fleifl 
hat  der  Mann,   schrecklich!     Schreibt  sich  meine  Finger  wund. 

Zweiter  Reporter:  Dabei  macht  er  charakterlose  Politik. 

Erster  Reporter:  Und  was  macht  Ihr  Chef?- 

Zweiter  Reporter:  Deutsche!  Politik! 

Erster  Reporter:  Was  ist  das? 

Zweiter  Reporter  (achselzuckend):  Das  kann  ich  Ihnen  nicht  er- 
klaren.    (Seufzt).    Hunger  hab'  ich.    Kein  Geld  haV  ich.  Miefi  ist  mir. 

Erster  Reporter:  Jetzt  weifi  ich,  was  deutsche  Politik  ist. 

(Beide  gehen  nach  verschiedenen  Seiten  von  der  Buhne.) 

Ein  Bettler  fmit  einer  Drehorgel,  ganz  zerlumpt,  eine  alte  osier- 
reichische  Militarkappe  auf  dem  Schadel,  faftt  Posto  unter  den  Fen- 
stern  des  Konferenzsaales). 

Ein  Herr  mit  slavischem  Akzent  (kommt). 

Herr:   Hier  ist   Betteln   und  Hausieren  verboten. 

Bettler:   Ich   bin   aber  am  Verhungern. 

Der  Herr:  Das  ist  keine  Entschuldigung.  Hajben  Sie  iiberhaapt 
eine  Hausier-Legitimation? 

Bettler:  Daf  bitte  schon  (reicht  ihm  einen  Wisch  Papier). 

Der  Herr  (liest):  Oh,  Mitglied  des  Volkerbundes!  (salutiert)  Da. 
konnen   der  Herr  naturlich  verhungern,  wo  und  wie   der  Herr  wollen. 

Bettler:  Habe  ich  nicht  schon  friiher  einmal  das  Vergniigen  ge- 
habt? 

Der  Herr:  Schon  moglich,  Sie  sind  ja  (auf  den  zerhtzten  Anzug 
des  Bettlers  deutend)  Oesterreicher,  nach  dem  Anzug  zu  schlietfen. 
In  der  gottseligen  Monarchie  war  ich  Minister  unterm  gottseli^en 
Franz  Josef.  Das  war  ein  lieber  Herr.  Den  haben  wir  um  den  Finger 
^ewickelt.     (Er  und  der  Bettler  im  Gesprdch  ab.) 

Elvira  und  ihre  Zogtinge  Valerie  und  Cdcilie  (tret en  auf.  Valerie 
ist  temper amentvoll,  Cdcilie  sanft.  Sie  spricht  alles  mit  dem  un- 
schuldigsten   Schulmddchenton). 

Elvira:  Also,  meine  Damen,  vergessen  Sie  Ihre  Mission  nicht. 
Auf  Ihnen  ruht  die  Zukunft  der  Welt.  Die  rote  Internationale,  der 
Sozialismus,  hat  versagt,  die  schwarze,  die  Kirche,  gleichfalls,  die 
goldene,  die  Finanz,  nicht  minder,  und  die  gelbe,  die  Herren  Juden, 
leider  auch!  Wenn  nun  auch  Sie,  die  blaue  Internationale,  die  ein- 
zige,  die  alien  Erschiitterungen  widerstanden  hat . .  ,,  wenn  nun  auch 
Sie ... 

Der  Journalist  (geht  voriiber,  griiBt.  Valerie  dankt  sekr  freund- 
lich). 

Elvira  (zu  Valerie):  Hast  Du  Dich  schon  wieder  mit  einem 
Journalisten  eingelassen? 

Valerie:  Warum   denn  nicht? 

Elvira  (zu  Cdcilie):  Warum  nicht?  Sag  es  ihr,  meiri  Kind,  warum 
nicht ! 

Cdcilie  (sanft,  im  Ton  des  Aufsagens  einer  Lektion):  Wir  sollen 
uns  nicht  mit  Journalisten  einlassen,  weil  sie  Schnorrer  sind  und  an 
Freikarten   gewohnt, 

Elvira:  Richtig! 

Valerie:  Ich  kann  nicht  erraten,  dafi  einer  Journalist  ist.  Es 
steht  ihm  nicht  anj  der  Stirne  geschrieben. 

Elvira:  Aber  an  der  Nase. 

Valerie:  Marcel  hat  eine  Stupsnase. 

823 


Elvira:  Also  wahrscheinlich  nicht  einmal  eitf  guter  Journalist, 
(Zu  Cacilie):  Woran  erkennst  du  den  Journalisten  noch,  mein  Lieb- 
ling? 

Cacilie;  An  den  gelben  Fingern  vomi  Zigarettenrauchen, 

Elvira:  Gut!  Und  was  tragt  er  immer  bci  sich? 

Cacilie  (weiB  keine  Antwort), 

Elvira:  Nun?  .  . .  Py  . . .  Py  . , . 

Valerie  (rasch):  Pyjama! 

Elvira  (streng):  Ach  Du!    Schame  Dich! 

Cacilie;  Pyramidonl 

Elvira:  Richtig!  (umarmt  sie  geriihrt)  Mein  gutes  Kind!  (zu  Va- 
lerie): Und  zu  allem  UberdruB  ist  Deinj  Journalist  ein  Pole, 

Valerie:  Er  ist  ein  Franzose! 

Elvira  (hartnackig):  Ein  Pole! 

Valerie  (ebenso):  Ein  Franzose! 

Elvira:  Jetzt  kannst  Du  nicht  einmal  einen  Polen  von  einem 
Franzosen  unterscheiden!  Was  hab  ich  euch  gelehrt?  Cacilie!  Wie 
unterscheidet  man  sie? 

Cacilie:  Die  Polen  trinken  Parfum  und  sprechen  das  reinere 
Franzosisch. 

Elvira:  So  ist  es. 

Valerie:  Und  er  ist  doch  ein  Franzose. 

Elvira:  Et  encore!  Frage  Cacilchen,  warum  ihr  euch  mit  Fran- 
zosen nicht  einlassen  sollt?     Nun,   warum  nicht,  mein  Liebling? 

Cacilie:  Weil    sie   urn   ihrer  selbst   willen  geliebt  werden   wollen. 

Elvira:  Die  Idioten!  , .  .  Und  warum  nicht  mit  Englandern? 

Cacilie:  Weil  sie  ihre  Weiber  mithaben, 

Elvira;  Die  Heuchler!  Ratselhaft,  was  ihnen  da  die  Konferenz 
uberhaupt  fur  Spafi  macht  . . .  Und  warum  nicht  mit  Deutschen  und 
Oesterreichern? 

Cacilie  und  Valerie  ( gleichzeitig) :  Sie  haben  keine  Valuta  und 
wollen  immer  Kredit. 

Elvira:  Brav,  meine  Kinder!  Darum  sage  ich  euch  noch  einmal: 
Haltet  euch  an  die  Rumanen!  Das1  ist  eine  Nation!  Uberhaupt,  der 
Balkan!    ... 

Cacilie:  Und   die  Amerikaner? 

Valerie:  Die  sind  Schmutziane,     Die  lassen  nichts  aus. 

Elvira  (verweisend):  Sprich  nicht  so!  Man  konnte  Dich  sonst  fiir 
ein  Madchen  aus  der  burgerlichen  Gesellschaft  halten  . . .  Aber  sach- 
lich  hast  Du  recht. 

Cacilie  (sanft):  Oh,  Mr,  Harris  ist  sehr  nobel.  Gestern  sagte  ich 
ihm,  weil  er  das  so  gern  hort:  You  son  of  a  beach,' go  to  hell  .  . . 

Valerie:  Was  heifit  das? 

Cacilie  (sehr  sanft):  Das  heiBt:  „Sohn  einer  Hure,  geh  zur  Holle!" 
Und  dann'  muBte  ich  ihm  dreimal  auf  die  Glatze  spucken.  Und  dann 
gab  er  mir  zwanzig  Dollars.     Oh,  Mister  Harris  ist  ein  f einer  Mann! 

Elvira:  Ein  vollendeter  Aristokrat.  Aber  so  wirklich  vornehme 
Cbaraktere   finden  sich  bei   den   Amerikanern  auBerst   selten. 

Der  Journalist  (kommt  wieder  vorbei,  griiBt  hbflich.  Elvira  und 
ihre  Zoglinge  nicken  kurz  und  hochmiitig,  wollen  an  ihm  voriiber). 

Der  Journalist:  Meine  Damen!  t . ,  Was  haben  Sie  gegen  mich?  . . . 

Elvira:  Sie  sind  ein  Pole! 

Der  Journalist:  Ich  bin  Luxemburger  durch  und  durch! 

824 


Elvira:  Also  ein  geborener  Reichsdeutscher?  Das  ist  die  Hohel 
Kommt,  mcine  Kinder  (mit  ihren  Zoglingen  ab). 

Der  Journalist  (blickt  ihnen   vcrdutzt  nach). 

Der  Bettler  (erscheint):  Sechs  Millionen  kleine  Kinder  daheim 
und   nix  zum  BeiBen  . . . 

Der  Journalist  (ungehalten):  Je  ne  comprends  pas  l'allemand  (ab). 

Der  Bettler  (verzieht  sich  in  den  Hintergrund). 

(Ein  alter  englischer  Diplomat  und  ein  alter  franzosischer  Diplo- 
mat kommen.) 

Der  Englander:  Ich  habe  vortrefflich  geschlafen.  So  eine  deutsche 
•  Rede  wirkt  auf  mich  nervenberuhigend  wie  ein  Landregen  oder  das 
Gerausch  einer   Muhle.     Schade,    daB   er   schon   aufgehdrt   hat.      Das 
hat  mich  geweckt.     Was  hat  er  eigentlich  gesagt? 

Der  Franzose:  Habe  kein  Wort  verstanden.  Jedenfalls  scheint 
grofites  MiBtrauen  am  Platze  . . .  Was  halten  Exzellenz  von  Biarritz 
als  Ort   der  nachsten  Konferenz? 

Der  Englander:  Mir  ware  trocknes  KLima  lieber.  So  800  Meter 
Hohe   tut  meiner   Gicht  am  wohlsten. 

Der  Franzose:  Meine  Frau  hatte  gern  einen  Ort  an  der,  Kiiste. 
Sandstrand . . .  ich  bitte  Sie,  die  Kinder!  Der  Italiener  ist  wegen 
seiner  Magengeschwiire  fiir  Karlsbad.  Die  polnischen  Kollegen  moch- 
ten  Monte  Carlo, 

Der  Englander:  Wird  auch  drankommen.  Eins  nach  dem  andern. 
Was  horen  Sie  Neues  aus  Paris? 

Der  Franzose:  Cochet  soil  doch  fiir  den  Davis-Cup  antreten . , . 
Die  Mode  der  kurzen  Rocke  kommt  wieder  auf . . .  Unser  President .  , . 

Der  Englander:  Er  ist  viel  zu  jung.  Ein  Knabe  von  kaum  60 
glaube  ich,  Schadel  Ich  will  Ihnen  was  sagen,  mein  Lieber.  Das 
Allerwichtigste  ist,  dafi  wir  Alten  das  Heft  nicht  aus  der  Hand 
geben,  Alles  Ubel  kommt  von  der  Jugendl  Jugend  hat  heifie  Hande, 
was  ihr1  in  die  Finger  kommt,  gerat  ins  Schmelzen.  Jugend  — ■  und 
das  ist  das  Gefahrlichste  —  denkt  an  die  Zukunft.  Eine  solche 
haben  wir  Greise  nicht  mehr,  wir  haben  nur  noch  die  Gegenwart. 
Darum  sind  wir  ihre  sichersten  Hiiter. 

Der  Bettler  (kommt):  Ich  tat  schon  bitten.  Sechs  Millionen 
kleine  Kinder  daheim  und  nix  zum  BeiBen. 

Der  Englander:  Gottvertrauen,  guter  Mann!  Sparsamkeit!  Geduldf 
(klopft  ihm  auf  die  rechte  Schulter,  ab). 

Der  Franzose:  PflichtbewuBtsein!  Opferfreude!  (klopft  ihm  auf 
die  linke  Schulter,  ab). 

Der  Bettler  (verzieht  sich  in  den  Hintergrund). 

Der  Russe  (eine  Zeitung  in  Handen,  aus  der  er  vortiest,  urn  ihn 
eine   Menge   Publikum):   Hundertzwanzig    Millionen! 

Eine   Stimme:  Dollars? 
f  Andre  Stimme:  Pfund? 

Der  Russe  (wie   oben):  Hundertundzwanzig  Millionen! 

Eine  Stimme:  Lire? 

Andre  Stimme:  Hollandische  Gulden? 

Der  Russe:  Hundertundzwanzig  Millionen  Menschen  in  China  dem 
Hungertode   preisgegeben. 

Alle  (enttduscht,  durcheinander):  Ah  so!  . . .  Was  regen  Sie  uns 
da  auf?  Einen  Nervenchoc  konnte  man  bekommen ...  1st  heute  der 
erstei  April!?    (Das  Publikum  verlduft  sich.) 

825 


Der  Russe  (bleibt  allein,  liest  seine   Zeitung  welter). 

Der  Bettler-  (kommt):  Licber  Herr,  ich  bin  Oesterreicher. 

Der]  Russe;    Mein  Beileid, 

Der  Bettler:  Sechs  Millionen  kleine  Kinder  und  nix  zum  BeiBen, 

Der  Russe:  Horen  Sie  auf  mit  Ihrem  Gewinsel!  Wir  daheim 
essen  uns  auch   nicht   satt, 

Der  Bettler:  Aber  die  Gerechtigkeit,  Herr,  wo  bleibt  die  Gerech- 
tigkeit? Wenn  Sie  hungern,  wissen  Sie  doch,  warum.  Sie  haben 
sich  was  herausgenommen  gegen  die  Welt!  Sie  waren  frech!  Sie 
haben  exzediert!  Aber  ich?  Der  Mitteleuropaer,  wie  er  im  Buch 
steht?  Die  Fiigsamkeit,  die  Bravheit  in  Person?  Wie  komme  ich 
zu  einem  solchen*  Schicksal  ?  Wie  komme  ich  liberhaupt  zu  einem 
Schicksal? 

Der  Russe:  Fragen  Sie  die  Konferenz! 

Der  Bettler:  Der  Teufel  hole  die  Konferenz! 

Der  Russe:  Amen!  (Ab.) 

(Der  deutsche  Diplomat,  begleitet  von  dem,  Notizen  machenden, 
ersten  Reporter.) 

Der  deutsche  Diplomat:  Ich  glaube,  aufierst  wirkungsvoll  ge- 
sprochen  zu  haben!  Die  Zuhorer  waren  von.  der  sittlichen  Gewalt 
meiner  Ausfuhrungen  sehr  beeindruckt,  Ich  konnte  ihre  schweren 
Atemziige  horen. 

Erster  Reporter  (beiseite):  Geschnarcht  haben  sie.  (Laut):  Ex- 
zellenz,  die  Atemzuge  werde  ich  sofort  nach  Berlin  blasen!  Tele- 
phonieren,   meine   ich  (eilig  ab). 

Der  Bettler  (nahert  sich  dem  Deutschen):  Griifi  Gott,  Bruder 
(streckt  ihm  die  hohle  Hand  hin). 

Der  Deutsche:  Ich  kann  Ihnen  nichts  geben,  Bruder,  ich  bin* 
selbst  arm.  Kommen  Sie  mit  mir  in  die  Kiiche,  ich  esse  dort  auf 
Kredit.  Vielleicht  fallt  fur  Sie  auch  etwas  ab.  Schliefien  Sie  sich 
mir    an. 

Der  Bettler  (traurig):  Das  darf  ich  nicht,  Sonst  nimmt  man  mir 
meine   Drehorgel   weg, 

Der  Deutsche:  Was  werden  Sie  also  tun? 

Der  Bettler:   Gras   fressen. 

Der  Deutsche:  Gras,  sagen  Sie?  (Nachdenklich):  Es  ist  nicht 
schmackhaft,  aber  immerhin  waren  ihm  einige  Kalorien  abzugewin- 
nen.  Insbesondere  die  durch  ihren  Silicat-Gehalt  ausgezeichneten 
Rispen  des  sogenannten  Griingrases  . . .  (sich  unterbrechend):  Es  fangt 
zu  regnen  an.  Mein  Konferenzrock!  Der  wird  noch  viel  auszuhal- 
ten  haben!    (Ab .) 

Der  Bettler  (spielt  leise  die  atte  osterreichische  Hymne). 

Der  Herr  (mit  dem  slavischen  Akzent  erscheint  in  einem  Fen- 
ster  des  Sitzungssaales):  Gleich  wird  ein  furchtbares  Wetter  da 
sein.  Wie  lange  wollen  Sie  noch  auf  Almosen  warten?  Es  gibt 
Ihnen  ja  doch  niemand  etwas.    Wie  lange  wollen  Sie  da  noch  stehn? 

Der  Bettler  (ist  jetzt  mit  der  Hymne  bis  zu  fener  Stelte  —  die 
er  mitsingt  —  gelangtf  wo  es  heiBt):    t(Oesterreich  wird  ewig  stehn." 

(Indes  der  Bettler  weiter  spielt  und  der  Herr  das  Fenster  zu- 
wirft,  fangt  es  zu  regnen  an.  Der  Reporter,  ein  Manuskript  in  der 
Hand,   lauft   mit   aufgespanntem   Regenschirm  iiber  die  Szene.) 

Vorhang 
826 


Pastor  Cremer  von  Gabriele  Tergit 

pastor  Cremer  ist  Letter  und  Finanzberater ~  der  gesamten  evange- 
*  lischen  freien  Wohlfahrtspflege  gewesen.  Vorsitzender  im  Zen* 
tralausschuB  fur  innere  Mission,  Vorsitzender  der  evangelischen  Ver- 
sicherungszentrale,  maBgebend  im  der  Hilfskasse,  im  evangelischen 
Kirchenhilfsverein   und   so    fort,   vierzig   Jahre   lang. 

Dies  em  Mann  wird  heute  ungetreue  Verwaltung  vorgeworfen.  Er  war 
der  anerkannte  Finanzmann  und  genofi  vollstes  Vertrauen.  Er  hatte 
freie  Verfiigung  ohne  jede  Kontrolle  iiber  das  viele  oder  wenige  Geld. 
Viel,  wenn  einer  unkontrolliert  damit  wirtschaften  konnte,  wenig,  wenn 
man  die  Fiille  der  Not  bedenkt,  Aber  von  Not  ist  in  diesem  ProzeB 
nicht  die  Rede,  sondern  nur  von  sehr,  sehr  vielem  Geld,  Die  Deva- 
heimleute  haben  mehr  vertan  als   die  Sklareks. 

Pastor  Cremer  ist  ein  grauer  Mann.  Alles  ist  spitz  an  ihm,  der 
graue  Bart,  die  Nase,  das  gelbe  leidende  Gesicht  eines  Menschen,  der 
bei  schlechter  Ernahrung  und  schlechter  Luft  viel  iiber  Biichern  sitzt. 
Wenn  er  spricht,  so  spricht  er  grau  und  diinn:  „Wenn  es  mir  erlaubt. 
ist,  Herr  Vorsitzender,  das  noch  zu  sagen."  Er  verteidigt  sich  nicht, 
sondern  er  ist  gekrankt  und  erklart  sich  in  alien  Punkten  reinigen  zu 
konnen,  Und  wabrend  des  ganzen  Prozesses  fragt  man  sich,  wofur 
hat  dieser  gekrankte  Asket  im  strengen  Gehrock  nur  die  Bauspar- 
gelder  und  die)  andern  Summen  der  kleinen  Leute  verbraucht?  Fur 
Wein,  Weib,  Gesang  und  Kleider  bestimmt  nicht. 

Pastor  Cremer  besafi  als  einziger  Geheimkonten  bei  der  Hilfs- 
kasse, und  zwar  gleich  sieben,  Auf  einem  standen  150  000  Mark,  auf 
einem  andern  30  000  Mark.  Von  diesen  Konten  wurde  munter  her- 
untergenommen.  Belege  sind  nicht  vorhanden.  Es  war  Wohltatigkeit, 
er  hat  sich  ehrenwortlich  verpflichtet,  Namen  nicht  zu  nennen. 

Er  baute  sich  ein  Haus  fiir  83  000  Mark,  bekam  dafiir  eine  Hypo- 
thek  aus  Wohlfahrtsgeldern  von  50  000  Mark,  verzinste  das  Geld,. 
1925  mit  vier  Prozent,  1926  mit  fiinf  Prozent,  erst  spater  mit  acht 
Prozent,  Ein  angenehmer  Zinssatz,  in  Zeiten,  wo  Geld  mit  zehn  bis 
vierzehn  Prozent  verzinst  werden  mufite.  Das  heifit,  er  gibt  das  alles 
nicht  ohne  weiteres  zu.  .  Still  und  wahrheitsliebend  verdreht  er  die 
Wahrheit.  Vorsitzender:  t,Wieviel  Zinsen  zahlten  Sie?"  Cremer 
ganz  sanft:  ,fAcht  Prozent."  Beisitzer;  „Das  stimmt  ja  nicht,  1924 
vier  Prozent,  1925  fiinf  Prozent,  dann  erst  1927  acht  Prozent."  Cre- 
mer demutig:  „Ich  habe  die  Zinsen  gezahlt,  die  mir  vorgeschrieben 
worden  sind." 

Dieser  Mann  rechnet  merkwiirdig.  „Meine  Pension  konnte  ich 
aber  gar  nicht  rechnen,  sie  ging  vollig  zur  Erhaltung  des  Hauses 
drauf.  Aufierdem  hatte  ich  1000  bis  1200  Mark  im  Monat "  Aufier- 
dem  hat  er  Tausende  Jahr  fiir  Jahr  fiir  Reisespesen  verbraucht.  12  000 
Mark  im  Jahr,  man  kann  nur  sagen,  12  000  Mark  wurden  ihm  fiir 
Autospesen  von  der  evangelischen  Versicherung  gewahrt.  Drese  Ver- 
gutung  iiberschritt  er  immer.  1929  mit  3000  Mark,  1930  mit  4400  Mark. 
Im  ganzen  hat  er  in  sechs  Jahren  fiinf  Autos  verbraucht,  einen  grofien 
Chrysler- Wagen  hat  er  sich  zweimal  bezahlen  lassen,  von  der  Hilfs- 
kasse und  von  der  evangelischen  Versicherungsgesellschaft. 

Fiir  die  Liigenhaftigkeit  dieses  Mannes  ein  weiteres  Beispiel.  Der 
Vorsitzende;  „War  es  nicht  Luxus,  allein  mit  einem  grofien  sechs-  bis 
siebensitzigen  Chrysler  zu  fahren?"  „Ja",  sagt  Pastor  Cremer,  t,das 
habe  ich  auch  so  empfunden.  Darum  habe  ich  auch  den  Wagen  bald 
in  einen  kleinen  Chrysler  umgetauscht."  Vorsitzender:  „Leider  stimmt 
das  nicht,  was  Sie  sagen,  Sie  haben  den  kleinen  Chrysler  in  den 
grofien  Chrysler  umgetauscht."  Cremer:  „Ja,  ich  weifi  auch,  weshalb. 
Ich  konnte  in  einer, Innensteuerlimousine  nicht  sitzen."  Nach  andert- 
halb  Jahren  schaf fte  er  sich  als  sechsten  Wagen  einen  grofien  Horch  an. 

AuBer  den  80  000  Mark  Autospesen,  den  22  000  Mark  Einkommen, 
hat  Cremer  von   1929  bis   1931   noch    16  000  Mark   aus   der  evangeli- 

827 


schen  Versicherungszentrale  entnommen,  Zur  Vermeidung  eines  Skan- 
dals  sind  dann  von  gleicher  Stclle  20  000  Mark  bezahlt  worden,  als 
man  crfuhr,  da£  Pastor  Cremcr  sich,  Provisionen  zahleri  lieB. 

Das  bisher  Tollste  des  Prozesses  ist  die  Affare  Hilfskasse,  die  so 
ganz  nebenbei  erortert  wird.  Die  Hilfskasse  ist  eine  interkonfessio- 
nelle  Vereinigung  aller  Wohlfahrtsverbande,  des  katholischen  Caritas- 
verbands,  der  judischen  Wohlfahrtsverbande  und  der  evangelischen. 
Sie  ist  die  Stelle,  der  das  Reich  Gelder  zuflieBen  lafit,  die  Vereinigung 
aller  Wohlfahrtsgelder  Deutschlands,  1923  gliederte  sich  die  Hilfs- 
kasse ein  eignes  Bankgeschaft  an,  urn  borsenmaBige  Geschafte  machen 
zu  konnen,  Rambaum  &  Co.,  mit  einem  Goldvermogen  von  drei  Mil- 
lionen  Mark,  Mit  diesen  Wohlfahrtsgeldern  fur  die  Armsten  wurde 
einer  Margarinefabrik  Kredit  gegeben,  Verluste  suchte  man  zu  dek- 
ken,  indem  man  die  Fabrik  weiter  betrieb.  Die  Hilfskasse  gestattete, 
bis  250  000  Mark  in  die  Fabrik  hineinzustecken.  Rambaum  steckte 
1500  000  Mark  hinein.  Wohlgemerkt,  Wohlfahrtsgelder!  Die  Bank- 
beteiligung  der  Hilfskasse  endete  dann  1928  mit  einem  Verlust  von 
4,5  Millionen,  den  die  Wohlfahrtsverbande  deckten.  In  diesem  ge- 
nialen  Unternehmen,  das  fiir  die  Armsten  Gelder  bereitstellen  sollte, 
war  als  Geschaftsfiihrer  Doktor  Libbertz  mit  25  000  Mark  Gehalt  an- 
gestellt.  Libbertz  hat  im  Laufe  der  Jahre  bei  Rambaum  140  000  Mark 
Schulden  gemacht.  Diese.  Schulden  wurden  von  der,  Hilfskasse  nach 
Trennung  von  Rambaum  ubernommen.  Libbertz  hat  sie  nie  bezahlt. 
Er  ist  aber  auch  nie  gemahnt  worden,  Er  hat  sogar  noch  eine  Abfin- 
dung  von  25  000  Mark  bekommen.  Alles  aus  Wohlfahrtsgeldern.  Das 
ist  ganz  nebenbei  die  Geschichte  der  Bankgrundung  aller  Wohlfahrts- 
verbande Deutschlands,  die  iibrigens  gar  nicht  zum  ProzeB  gehort. 

In  diesem  Prozeft  wird  nicht s  klargestellt  werden  konnen,  Weit- 
gehend1  decken  Cremer   seine  Kollegen. 

Pastor  Cremer  hat  von  einem  seiner  vielen  Geheimkonten  bei 
dem  ZentralausschuB  der  Innernl  Million  20  000  Mark  weggenommen, 
ohne  jede  Angabe.  Nach  den  Ermittlungen  der  Staatsanwaltschaft 
hat  sich  herausgestellt,  daB  diese  20  000  Mark  bei  einem  Kranken- 
haus  in  Koblenz  geendet  sind,  an  dem  Pastor  Cremer  beteiligt  ist. 
Alles  scheint  klar.  Der  Zeuge,  Universitatsprofessor  Geheimrat 
Reinhold  Seeberg  findet  das  auch  ungeheuerlich,  da  macht  Cremer 
eine  seiner  verwirrenden  Aussagen:  „Diese  20  000  Mark  waren  ja 
kein  Darlehn.  Das  war  eine  Kapitalsanlage.  Das  Geld  wird  gut  ver- 
zinst."  „Ja,  dann",  sagt  Seeberg,  „ist  es  ja  ganz  etwas  andres.  In 
technisch-finanziellen  Dingen  hatte  ja  Pastor  Cremer  ganz  freie  Hand." 

Oder  der  Staatsanwalt  fragt:  „Herr  Geheimrat,  hatten  Sie  es 
gebilligt,    daB   sich   Pastor   Cremer   ein  Auto  anschaffte?" 

„Ja,  wenn  er  mir  das  vorgetragen  hatte;  es  ist  ja  unglaublich  ge- 
wesen,  wieviel  dieser  Mann  gearbeitet  hat,  er  war  ja  standig  unter- 
wegs."  „Auch  wenn  Sie  gehort  hatten,  daB  er  16  000  Mark  Spesen  im 
Jahr  machte?"  Da  hebt  Seeberg  beschworend  die  Hande  und  sagt: 
„Nein,  nein.M  „Wenn  Sie  aber  gehort  hatten",  sagt  jetzt  der  Ver- 
teidiger  Cremers,  „daB  das  einfach  Betriebs spesen  waren?"  „Ja,  ja", 
sagt   jetzt   Seeberg,    „er   brauchte   natiirlich   Benzin,   ja   dann,./' 

So  geht  alles  bisher  aus  wie  das  hornberger  Schiefien. 

Daneben  sitzt  die  biedere  Holzschnitzfigur,  Generaldirektor  Jep- 
pel  mit  der  altvaterlichen  schwarzen  Krawatte,  der  die  kleinen  Leute 
bei  den  Versammlungen  in  den  kleinen  Stadten  um  ihre  Spargroschen 
redete,  damit  sie  sie  fiir  ein  deutsch-evangelisches  Heim  anlegten,  und 
700  000  Mark  Schmiergelderj  zahlte,  damit  dann  der  Zusammenbruch 
geheim  bliebe. 

Da  ist  Klaussen,  ein  junger  Kauimann,  der  in  Wirklichkeit  die 
Verfugung  iiber  die  2,5  MilUonen  Dollaranleihe  hatte,  iiber  die  in 
der  Theorie  zwanzig  Gremien  berieten,  ehe  einer  einen  Kredit  erhielt. 

Da  ist  vor  allem  Cremers  Sohn,  der  Prokura  in  den  grofien  Ge- 
sellschaften  besaB,   die  man  aus   den  Buchstaben  D  und  ev,  in  immer 

828 


neuen  Verbindungen  konstruierte,  und  der  Vertrage  unter  fremden 
Namen  schloC,  Er  mufi  plotzlich  so  lachen,  dafi  er  beide  Hande  vors 
Gesicht  tut,  als  sein  Vater  erklart,  tiber  die  Gelder  aus  einem  der 
Fonds  konne  er  keine  Auskunft  geben,  Er  sei  ehrenwortlich  ver- 
pflicbtet,  die  Namen  der  bedurftigen  Empfanger  nicht  zu  nennen,  und 
Belege  besitze  er  nicht.  / 

Dieser  Prozefi,  ein  ProzeB,  der  schlimmer  ist  als  alle  bishrigem 
Skandalprozesse,  droht  zu  versinken,  weil  er ,  gefuhrt  wird  wie  ein 
Zivilprozefi,  weil  die  Zeugen  alle  beschamt  nur  leise  reden,  weil  von 
sehr  verwickelten  Transaktionen  die  Rede  ist.  Er  darf  nichU  versin- 
ken, denn  es  mufi  aufgedeckt  werden,  nicht  nur  der  Skandal,  wie  kleine 
Leute  betrogen  wurden,  sondern  wie  die  Personlichkeiten  aussehen, 
an  die  das  Arbeitsministerium  Geld  gibt.  Die  Personlichkeiten,  die 
vierzig  Jahre  lang  die  freie  Wohlfahrtspflege  des  grofiten  Teils  von 
Deutschland  in  Handen  hatten. x 

Die  AutarklSten  von  Bernhard  Citron 

A  ii  dem  Begriff  , f Autarkic",  der  den  Einen  nationales  Schlag- 
wort,  den  Andern  wirtschaftlichcs  Evangelium  und  den 
Dritten  die  Losung  ihrer  Profitrechnung  bedeutet,  kann  man 
das  Wunder  der  nationalsozialistischen  Wahlerfolge  erkenjien. 
Dem  Anschein  nach  bringt  die  Autarkic  jedem  etwas  und  be- 
friedigt  dahcr  die  Wunsche  politisch  und  wirtschaftlich  diver- 
gierender  Elemente.  Ferdinand  Fried,  den  man  als  den  besten 
geistigen  Interpreten  des  Nationalsozialismus  beizeichnen  kann  — 
auch  auf  die  Gefahr  hin,  daB  er  oder  die  Nationalsozialisten  eine 
solche  SecienverwandtschaH  abstreiten  —  gibt  in  seinem  Buche 
f,Das  Endc  des  Kapitalismus"  eine  bundige  Erklarung  fiir  die 
geforderte  Abschmirung  Deutschlands  von  der  Weltwirtschaft; 
,;Der  ganze  Zwang  der  internationalen  Schuld-  und'  Zinszahlun- 
gen  testeht  nur,  solange  der  Zwang  der  einzelnen  Lander  be- 
steht,  ein  Glied  der  Weltwirtschaft  zu  sein".  Nach  Frieds  und 
der  nationalsozialistischen  Anschauung  wird  die  Anerkennung 
der  Weltwirtschaft  den  Volkern  der  Erde  nur  von.  den  hoch- 
kapitalistischen  Glaubigerstaaten  suggeriert,  Kurzum,  wenn 
wir  nicht  mehr  durch  die  Verflechtung  des  AuBenhamdels  auf 
das  Ausland  angewiesen  sind  —  ebenso  wie  dieses  auf  uns  — r 
so  brauchen  wir  weder  politische  noch  privatwirtschaftliche 
Schulden  zuriickzuzahlen. 

Aus  einer  ahnlichen  Stellung,  jedoch  starker  okonomisch 
als  politisch  .betont,,  hat  Werner  Sombart  in  seiner 
Broschiire  „Die  Zukunft  des  Kapitalismus"  Autarkic  —  oder 
wie  er  sagt;  Autarchie  —  gepfedigt,  Bestechend  an  Sombart 
und  an  Fried  ist  die  ausgezeichnete  Analyse  des  Zusammen- 
bruchs.  ,,Das  Zeitalter  des  Kapitalismus",  so  erklart  Sombart, 
„ist  ja  gerade  durch  den  auffallendcn  Widerspruch  zwischen 
der  auf  die  Spitze  getriebenen  PlanmaBigkeit  in  der  Einzel- 
wirtschaft  und  der  Planlosigkeit  der  Gcsamtwirtschaft  gekenn- 
zeichnet."  Auf  die  tatsachlichen  Vorgange  der  letztcn  Jahre 
angewandt,  bedeutet  diese  Gegenuberstellung:  Rationalisierung 
auf  der  einen,  mangelnde  Kapazitatsausnutzung  auf  der  andern 
Seite,  Ein  Industrieunternehmen  kann  vielleicht  mit  einer  ein- 
zigen  Maschine  heute  das  Dreif ache  leisten  als  friiher,  ist  abcr 
nur  zu  25  Prozent  ibeschaftigt  Da  Sombart  den,  notwendigen 
Obergang;  von  der  planlosen  zur  planmaBigen  Wirtschalt  ohne 

829 


Anwendung  allzu  groBer  Gcwalt  („zur  Planting  kann  auch  ein 
Freigewahrenlassen  gehoren")  finden  will,  bleibt  er  bei  der 
Durchfuhrung  in  der  Nationalwirtschaft  stecken.  Erstaun- 
lich  ist  aber  die  Tatsache,  daB  Sombart  und  Fried  sowie 
alle  ihre  An-  und  Nachlbeter  die  Nationalwirtschaft  in  einen 
f,deutschen  Wirtschaftsraum"  hinein  wachsen  lassen,  Bei 
Sombart  findet  sich  ein  scharier  innerer  Widerspruch  zwischen 
diesen  Gedankengangen  und  der  Feststellung,  daB  die  Plan- 
wirtschaft  grade  darum  national  gefaBt  sein  miisse,  weil  die 
gesellschaftliche  Struktur  eines  Landes  zu  berucksichtigen  ist. 
„Wie  kann  man  Bulgarien,  RuBland,  die  Tiirkei  mit  80 — 85 
Proz.  landlicher  Bevolkerung  gleich  behandeln  wollen  mit 
England,  das  8  Proz.f  oder  Deutschland,  das  30Proz.  derselben 
Bevolkerungsschicht  aufweist?!"  Im  deutschen  Wirtschafts- 
raura  wiird'e  aber  das  industrielle  Deutsche  Reich  mit  den 
Agrarlandern  des  Donauraumes  zusammentreffen.  Hier  fehlt 
also   grade   die   einheitliche   gesellschaftliche  Struktur. 

Ein  andrer  Befiirworter  der  Autarkisierung  ist  Professor 
Wagemann,  President  des  Statistischen  Reichsamts  und  des 
Instituts  fur  Konjunkturforschung.  Auch  ihm  muB  man  zugute 
halten,  daB  seine  friihern  Konjunkturanalysen  den  Kern  der 
Wirtschaftskrise  ungefahr  erfaBt  haben.  Im  Borsenjargon 
wiirde  man  sagen:  Wagemann  war  immer  schwach  gestimmt. 
Wer  in  seiner  Tendenz  einmal  recht  behalten  hat  —  sei  es 
mit  richtiger  oder  falscher  Begrundung  —  verfiigt  bald  uber 
eine  zahlreiche  Anhangerschaft,  Wagemann  gelangt  zu  seiner 
Forderung  nach  autarkcr  Wirtschaft  von  der  Wahrungsseite. 
In  dem  Aufsehen  erregenden  Wagemann-Plan,  der  im  Januar 
veroffentlicht  wurde,  ist  vorgeschlagen  worden,  den  Notenum- 
lauf  durch  Ausgabe  kleiner  Noten,  die  sich  doch  nur  fur  den 
Binnenverkehr  eignen,  zu  erhohen.  In  gewisser  Beziehung  ist 
ja  bereits  diesen  Ideen  Rechnung  getragen  worden.  Die  for- 
-cierte  Auspragung  von  Silbermiinzen  stellt  im  Grund'e  genom- 
men  nichts  weiter  dar  als  eine  Erhohung  des  Zahlungsmittel- 
umlaufs  durch  Ausgabe  solcher  Zahlungsmittel,  die  fiir  den 
Export  wenig  geeignet  sind.  Dennoch  laBt  sich  der  Wage- 
mann-Plan nur  dann  verwirklichen,  wenn  Deutschland  eine  hun- 
dertprozentige  Binnenwahrung  besitzt.  So  ist  auch  der  Pre- 
sident des  Konjunkturforschungsinstituts  in  seinem  zweiten, 
Aveniger  beachteten  Plan  f  olgerichtig  zur  Forderung  nach  Aut- 
arkic gekommen,  Auch  dieser  Gesichtspunkt  ist  groBen  wirt- 
schaftlichen  Kreisen  sympathisch.  Durch  Wahrungsabschnii- 
Tung  zur  Wirtschaftsabschniirung.  Im  Innern  inflationistischc 
MaBnahmen  —  nach  auBen  Einfuhrdrosselung,  ! 

Damit  kommen  wir  zu  der  dritten  Klasse  der  Autarkie- 
Freunde,  die  aus  dem  hochkapitalistischen  Lager  stammen 
Ihnen  liegt  im  Gegensatz  zu  den  Utopisten  Sombart  und  Fried 
(wobei  die  Bezeichnung  „Utopist"  durchaus  keine  MiBachtung 
bedeuten  soil)  weniger  an  der  Beseitigung  des  AuBenhandels 
schlechthin  als  an  der  Drosselung  der  Einfuhr.  Je  rascher  der 
OberschuB  unsrer  AuBenhandelsbiLanz  sinkt,  desto  mehr  setzt 
sich  die  Industrie  fiir  Protektionismus  und  Prohibitionismus 
ein.  Aber  auch  einer  leidlich  aktiven  Handelsbilanz  ist  die 
Autarkie  in  den  Augen  vieler  Industrieller  vorzuziehen.  Be- 
830 


kanntlich  hat  in  den  vergangenen  Jahren  ein  Teil  der  Industrie 
dem  Auslandc  aus  Konkurrenzgriinden  niedrigere  Preisc  be- 
rechnet  als  dem  durcn  Zolle  „geschutzten"  Inlande,  Eine>  Be- 
schrankung  auf  den  Binnenmarkt,  der  durch  NoteninHation  auf- 
nahmefahig  gemacht  wird,  ware  anscheinend  profitabler  als  die 
bisherige  Form  des  AuBenhandels. 

Wenn  eingangs  der  Nachweis  versucht  wurde,  warum  eine 
wirtschaftliche  Ford'erung  des  Nationalsozialismus  wie  die  Au- 
tarkic so  zahlreiche  Anhanger  in  den  verschiedensten  Bevol- 
kerungsschichten  und  Kl'assen  findet,  so  laBt  sich  an  dieser 
Interessendivergenz  auch  die  innere  Unwahrhaftigkeit  eines 
Systems,  das  einen  scheinbar  klassenlosen  Nationalstaat  auf- 
bauen  will,  beweisen.  Nationale  Planwirtschaft,  die  unter-For- 
derung  der  Industrie  in  erster  Linie  um  die  Wirtschaftlichkeit 
der  Unternehmungen  bemiiht  ist,  kann  niemals  den  Interessen 
der  Konsumenten  und  Arbeitnehmer  gerecht  werden, 

Heute  zwischen  Oestern  und  Morgen 

von  Theobald  Tiger 

VV7ie   Gestern   und   Morgen 
™    sich   machtig  vermischcn! 
Hier  ein  Stuhl  —  da  ein  Stuhl  — 
und  wir  immen  dazwischen! 

Liebliche  Veilchen  im,  Marz  — 

Nicht    mehr. 
Proletarier-Staat  mit  Herz  — 
Noch  nicht. 
Noch  ist  es  nicht  so  w'eit. 
Denn  wir  leben  — 

denn  wir  leben 

in  einer  tJbergangszeit  — I 

Geplappertes  A — B — C 
bei  den  alten  Semestern. 
Fraternity  —  Liberte  — 
ist  das  von  gestern? 

Festgefiigtes    Gebot? 

Nicht    mehr. 
Flattert   die  Fahne  rot? 
Noch  nicht. 
Noch  ist  es  nicht  so  weit. 
Denn  wir  leben  — 

denn  wir  leben 

in  einer  tJbergangszeit  — ! 

Antwort   auf  Fragen 
wollen  alle   dir  geben. 
Du  mufit  es  tragen: 
ungesichertes  Leben. 

Kreuz   und  rasselnder  Ruhm  — 

Nicht  mehr. 
Befreiendes  Menschentum  — 
Noch  nicht. 
Noch  ist  es  nicht  so  weit. 
Denn  wir  leben  — 

denn  wir  leben 

in  einer  Obergangszeit  — !    • 

831 


Bemerkungen 

Kulturrettung  E.  V. 
VV/o  die  Not  am  grofiten,  ist 
"*  der  deutscheVerein  am  nach- 
sten.  Fiinfzehn  Millionen  Deutsche 
f olgen  der  Kulturparole :  Juda 
verrecke!  aber  daneben  mufi  auch 
das  Buch  und  die  Graphik  ge- 
fordert  werden. 

Ehret  die  Frauen,  die  nicht  nur 
flechten  und  weberv,  sondern  auch 
den  „Deutschen  Frauenbund  fur 
das  Buch  E.  V."  mit  dem  Sitz  in 
Leipzig  gegriindet  haben.  Was 
will  der  Frauenbund?  „Er  will 
die  Autarkie  des  Schopferisch- 
Geistigen  bewahren..,"  Natiir- 
lich  mit  gutiger  Erlaubnis  des  be- 
nachbarten  Reichsgerichtes,  wah- 
rend  die  Autarkie  des  Materiell- 
Leiblichen  inzwischen  von  der  Ge- 
neral skamarilla  ausgeiibt  wird. 
Der  Frauenbund  will  nocli  mehr: 
„Er  will  eine  Plattform  schaf- 
fen  , .  .  Und  deshalb  bekennt  er 
sich  zu  voller  weltanschaulicher 
und  politischer  Neutrality. M 
Welchselbe  einerseits  durch  die 
Damen;  Universitatsprofessor  Ge- 
heimrat  Dr,  med.  et  phil.  h.  c, 
Abderhalden,  President  der  Kai- 
serlich  Deutschen  Akademie  der 
Naturf  orscher ;  Oberbiirgermeister 
AdenauerjAgnes,  Prinzessin  Ernst 
Heinrich  zu  Stollberg;  Alexandra, 
Grofiherzogin  zu  Mecklenburg, 
Prinzessin  von  Hannover,  Herzo- 
gin  von  Braunschweig-Liineburg ; 
Prinzessin  Witwe  Carl  von  Hohen- 
zollern;  Marie  Diers;  Gustav 
Frenssen;  Bezirkshauptmann  Hans 
Freiherr  von  Hammerstein- 
Equord ;  Hugo  Eckener ;  Hanns 
Johst;  Domherr  und  Kammerherr 
Borries,  Freiherr  von  Munchhau- 
sen;  Max  Liebermann  etcetera, 
andrerseits  durch  die  Herausgabe 
der  gesammelten  Werke  Ottomar 
Enkings    gewahrleistet    wird. 

Bei  all  diesen  edlen  Frauen  also 
mufi  man  nachfragen,  wenn  man 
wissen  will,  was  sich  ziemt,  und 
dies  erfahrt  man  aus  der  „Ideellen 
Zielsetzung":  „Wenn  sich  der 
Deutsche  Frauenbund  fur  das 
Buch  in  seinem  Aufruf  gegen  die 
Sachgesinnung  des  modernen  Auf- 
klarichts  zuerst  an  den  musischen 
Menschen    gewandt    hat,     so    ge- 

832 


schah  das,  um  sich  den  starksten 
und  lebendigsten  Bundesgenossen 
zu(  erobern,  den  die  Frau  gewin- 
nen  kann;  den  von  innen  her  und 
wieder   nach   innen   Schaffenden," 

Mit  einem  Wort:  die  von  aufien 
her  und  wieder  nach  aufien  Schaf- 
fenden sind  Neese.  Hingegen  der 
musische  Mensch  driickt  sich  so 
aus:  „Der  seelischen  Wirrnis  in 
den  Nachkriegsjahren  folgte  die 
vollige  Auflosung  aller  Ordnung; 
sie  wiederum  zerrifi  das  geistige 
Bild  t  dieser  neuenZeit  in  eine  Un- 
zahl  neuer  Bruchstiicke,  Farben- 
fetzen,  Linien.  So  ist  die  an- 
archische  Relativierung  aller 
Werte  endlich   vollkommen." 

Wenn  der  Frauenbund  mir  die 
Preisaufgabe  stellte,  ob  diese  see- 
Usche  Wirrnis  von  Marie,  Prin- 
zessin zu  Sayn- Wittgenstein  oder 
von  Max  Halbe  stamme,  so  wiirde 
ich  auf  Hanns  Johst,  die  Muse 
Hitlers,  tippen,  Wohingegen  „die 
Krafte,  die  den  Irrweg  eines  uber- 
spitzten  Wirtschaftegoismus,  der 
den  Arbeiter  brotlos  macht,  ent- 
lang  rollen;  Die  Truste,  die 
machtlos  vor  dem  Chaos  der  all- 
gemeinen  Auflosung  stehen  . , ." 
bestimmt  Herrn  Clemens  Lam- 
mers,  Mitglied  des  Vorstandes 
und  des  Presidiums  des  Reichs- 
verbandes  der  deutschen  Industrie 
zuzuschreiben    sind. 

Allerdings  ist  das  alles  nicht 
so  einfach:  „Wie  Nanny  Lamb- 
recht,  wies  auch  Karl  Leopold 
Schubert,  des  unsterblichen  Franz 
feinsinniger  Nachfahre  auf  die 
Verantwortung  hin  ,  , .:  Ich  be- 
grufie  Ihren  Bund  als  einen  wahr- 
haft  erlosenden,  wenn  er  J  von 
wahrhaft  sachlichen  Kopfen  ge- 
fiihrt,  sich  in  erster  Linie  von 
dem  Pseudo-Kiinstlerschaffen  des 
Dilettantismus  fernhalt,  denn  das 
ist  der  eine  Gefahrenpol.  Der 
andre  ist  der  Kulturbolschewis- 
mus." 

Und  noch  pessimistischer  als 
der  feinsinnige  Nachfahr  des  Drei- 
maderlhauses  klagt  Egon  von 
Kapherr:  „Der  groBte  Gelehrte, 
Kunstler  und  Dichter,  der  groBte 
Erfinder    gilt    heute    nicht     halb 


soviel   wie   em   viehischer  Neger- 
boxer," 

Von  den  Rollkommandos  ganz 
zu  schweigen. 

Dabei  ist  der  grofite  Dichter 
wirklich  bescheiden.  Was  will 
er  denn  schon  groB:  „Was  ich  er- 
sehne",  antwortet  Richard  Eurin- 
ger  aus  der  Stille,  in  der  er 
wirkt,  „was  ich  ersehne,  ist  die 
Gemeinde  Liebevoller,  die  voll- 
streckt,  was  ich  in  der  Stille 
schaffe," 

Wen  die  Gemeinde  Liebevoller 
im  Reichsgericht  sitzt,  kann  einem 
das  teuer   zu  stehen  kommen, 
* 

Und  deswegen  Ihr  edlen  Da- 
men  vom  Frauenbund,  teure 
Alexandra,  GroBherzogin  zu  Meck- 
lenburg, Prinzessin  von  Hanno- 
ver, Herzogin  von  Braunschweig, 
werte  Prinzessin  Agnes,  hochwol- 
lobl,  Kaiserlicher  Naturforscher 
Abderhalden,  lieber  Kollege  Dom- 
herr  Freiherr  von  Munchhausen 
und  all  Ihr  andern  Forderer,  die 
Ihr  „dem  Schaffenden  eine  groBe 
und  bedeutsame  Moglichkeit  bie- 
tet,  sich  seiner  Haut  zu  wehren1', 
die  ihr  fordert:  „Hilf  dem  Dich- 
ter, der  dich  reich  macht  in  frohen 
Stunden,  dem  Denker,  der  sich  in 
den  bo  sen  Stunden  Deines  Le- 
bens  neben  Dich  stellt!"  des- 
wegen mache  ich  Euch  einen  Vor- 
schiag:  setzt  doch  mal  Eure  wohl- 
klingenden,  adels-  und  -titelge- 
schmuckten  Namen  unter  den 
Aufruf  der  Liga  fur  Menschen- 
rechte  und  des  Pen-Klubs,  der 
dem  Schriftsteller  Carl  von  Os- 
sietzky  die  Moglichkeit  bieten 
soil,  sich  seiner  Haut  zu  wehren. 

Ich  weifi  nicht,  ob  Carl  von 
Ossietzky    mehr    von    innen    her- 


aus  oder  mehr  von  auBen  herein 
schafft,  aber  bestimmt  ist  er  ge- 
nau  so  gut  wie  Euer  Frauenbund 
geeignet :  „den  Fiebererscheinun- 
gen  einer  todkranken  Wirtschaft , . , 
Hand  in  Hand  mit  den  Leidtra- 
genden  selbst  ein  Ende  zu 
macW  Walter  Mehring 

Der  ewige  Jude  am  Ziel 
C  o  heifit  eines  der  letzten 
*-*  Bticher  des  groBen  Reporters 
Albert  Londres,  der  in  diesenTa- 
gen  mit  der  „Georges  Philippar" 
untergegangen  ist.  Den  Lesern 
der  ,Weltbuhne*  sind  einige  sei- 
ner groBartigen  Schilderungen  aus 
China  bekannt,  das  er  schon  1925 
einmal  besucht  hat,  und  von  wo 
er  jetzt  grade  wieder  kam,  Eben- 
so  seine  Berichte  aus  den  fran- 
zosischen  Kolonien  in  Afrika,  die 
einen  Sturm  in  der  franzosischen 
Kammer  verursacht   haben. 

„. . .  und  dann  gibt  es  solche, 
die  reisen,  wie  der  Vogel  fliegt, 
weil  Gott  dem  Einen  Fliigel  und 
dem  Andern  die  Unruhe  gab/' 
Das  ist  das  Motto  eines  seiner 
Bticher  und  seines  Lebens,  Er 
konnte  nicht  zwei  Tage  hinter- 
einander  sein  Gesicht  im  gleichen 
Spiegel  sehen,  Wenn  er  in  Paris 
war,  hatte  er  das  Gefiihl,  daB  er 
nicht  mehr  das  Recht  habe,  auf 
dem  Boden  seiner  Heimat  zu 
gehen.  Nachdem  er  ganz  Europa 
durchquert  hattet,  ube)rlegte  er,  wo- 
hin  er  reisen  sollte.  Nach  Mexi- 
ko?  Den  Petroleumkrieg  beob- 
achten?  Das  ist  eine  zu  hitzige 
Frage  fur  Zeitungen  mit  groBer 
Auflage,  Nach  Palastina?  Wie- 
viel  vermogende  Juden  wurden 
das  Redaktionstelephon  bestiir- 
men,    wenn    die    Artikel    erschie- 


In  drei  Weltsprachen  begegnet  man  heute  bereits  autorisierten 
1  Uebersetzungen  der  B6  Yin  Ra-Bflcher.  Auch  in  Sprachen  mit 
kleineren  Verbreitungsbezirken  sind  sie  lange  schon  fibersetzt. 
Das  wMre  unmoglich,  wenn  Bd  YinRa\  J.  Schneiderfranken,  nicht 
Dinge  zu  sagen  hatte,  die  alle  Menschheit  ang^hen,  und  die  man 
nur  in  seinem  einzigartigen,  auf  tiefste  geistige  Innenerfahrung 
begriindeten  VerkQndungen  finden  kann.  Wenn  wir  daher  die 
B6  Yin  Ra-BUcher  so  eindringlich  propagieren,  so  geschieht  das 
in  dem  sicheren  BewuBtsein,  dadurch  Werte  zu  vermitteln, ,  die 
unersetzbar  sind.  Das  zuletzt  erschienene  Buch  hat  den  f  itel 
.Der  Weg  meiner  Schfiler*.  Es  ist  durch  jede  Buchhandlung 
zu  beziehen.  Preis  gebunden  RM.  6.—.  Kober'sche  Verlags- 
buchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 


833 


nen?  Der  Alkoholschmuggel  in 
den  Vereinigten  Staaten?  Der 
Weg  des  Rums?  Das  hatte  man 
ihm  schon  abgeschlagen.  Wegen 
des  Alkoholkapitals, 

Aber  schlieBlich  ging  er  doch 
iiberall  bin  und  erzahlte,  was  die 
offiziellen  Stellen  und  die  guten 
Burger  nicbt  gern  horen  wollen, 
Jedes  seiner  Biicher  ist  eine 
Fanfare  gewesen.  Londres  hat 
sich  ins  Irrenhaus  einsperren  las- 
sen,  urn  liber,  das  Leben  der  In- 
ternierten  berichten  zu  konnen, 
Er  war  in  Sudamerika  und  hat 
zum  ersten  Mai  wahrheitsgetreu 
tiber  den  „Madchenhandel"  ge- 
schrieben.  Zweimal  war  er,  in 
Abstanden  von  zwolf  Jahren,  „im 
Land,  wo  der  Pfeffer  wachst",  in 
Guyana,  Er  hat  diesen  schwar- 
zesten  Fleck  auf  der  Ehre  Frank - 
reichs  grell  beleuchtet.  Als  er 
zum  zweiten  Mai  in  Guyana  war, 
fafite  er  den  Entschlufi,  einem  un- 
schuldig  Deportierten  nach  funf- 
zehn j  ahriger  Bagnozeit  zur  Re- 
habilitierung  zu  verhelfen.  Was 
ihm  gelungen  ist, 

Seine  Biicher  sind  Muster  voll- 
endeter  Reportage.  Sie  sind  we- 
der  Romane  noch  trockene  Tat- 
sachenberichte,  Sehr  oft  bedient 
er  sich  des  Dialogs,  der  aber  nie 
ein  landlaufiges  Interview  ist  son- 
dern  stets  eine  dramatische  Szene, 
Nie  unterbricht  er  die  Schilderung 
dessen,  was  er  gesehen  und  ge- 
hort  hat,  durch  sentimentale  oder 
philosophische  Betrachtungen.  Er 
phantasiert  nichts  hinzu,  Er  weiB, 
dafi  das  ungeschminkte  Leben 
viel  toller  ist  als  der  tollste 
Kientopp,  Londres  verschleierte 
nichts.  Wir  konnen  alle  sehr  viel 
von   ihm   lernen. 

Reisen  bedeutete  fur  ihn,  was 
fur  andre  Opium  oder  Kokain 
bedeuten,  Es  war  sein  Laster.  Er 
war  verseucht  durch  die  Sucht 
nach  Schlafwagen  und  Ubersee- 
dampfern.  Und  nach  ungezahlten 
Fahrten  quer  durch  die  Welt, 
versicherte  er,  daB  weder  die 
Augen  einer  klugen  Frau  noch 
der  Anblick  eines  vollen  Geld- 
schranks  fur  ihn  den  teuflischen 
Reiz  einer  einfachen,  viereckigen 
Eisenbahnfahrkarte  hatten. 

Jetzt  ist  „der  Ewige  \Jude  am 
Ziel",  Johannes  Buckler 

834 


Agrarisches  Hexeneinmaleins 

In  Berlin  erscheint  eine  ,Land- 
wirtschaftliche  Wochenschau*. 
die  stolz  von  sich  erklaren  darf,. 
daB  sie  „in  Zusammenarbeit  mit 
den  amtlichen  Stellen  und  den 
Organisationen  der  Landwirt- 
schaft  herausgegeben  werde".  Sie 
ist  also  eine  Art  offiziosen  Or- 
gans der  amtlich  organisierten. 
Landwirtschaft.  In  ihr  schreibt 
der   Herausgeber  Fritjof  Meltzer: 

„Die  Gesamteinfuhr  des  Jahres 
1931  an  Milch  und  Molkereipro- 
dukten  belief  sich  auf  eine  Mil- 
lion Doppelzentner  Butter,  Wenn 
man  schlecht  rechnet,  so  gehoren 
zur  Erzeugung  eines  Doppelzent- 
ners  Butter  280  Liter  Milch,  zum 
Ersatz  von  einer  Million  Doppel- 
zentner Butter,  die  wir  im  Vor- 
jahre  einfiihren  muBten,  also  eine 
Mehrerzeugung  von  280  Millionen 
Liter  Milch  im  Jahre.  Da  der 
heutige  Bestand  an  Kuhen  sich 
auf  rund  zehn  Millionen  Stuck 
belauft,  wiirde  es  also  vollkom- 
men  geniigen,  wenn  man  die 
Milchleistung  je  Kuh  im  Laufe 
eines  ganzen  Jahres  um  28  Liter 
steigern  konnte.  Eine  Steigerung 
der  Milchleistung,  die  nicht  nur 
im  Bereich  des  Moglichen  liegtr 
die  sogar  spielend  leicht  zu  er- 
reichen  ist,  ohne  daB  man  des- 
wegen  auch  nur  einen  Hektar 
Futterflache  mehr  brauchte." 

Die  Autarkie  macht  einen  Rie- 
senschritt  vorwarts.  Deutschland 
versorgt  sich  selbst  mit  Butter, 
Bisher  fiihrten  wir  eine  Million 
Doppelzentner  ein,  in  Zukunft 
0,0.  Herr  Meltzer  macht  '  das 
spielend,  wie  er  selber  sagt, 
Denn,  erklart  er,  „wenn  man 
schlecht  rechnet,  so  gehoren  zur 
Erzeugung  eines  Doppelzentners 
Butter  280  Liter  Milch". 

Herr  Meltzer  hat  unbedingt 
recht,  wenn  er  von  seinem 
schlechten  Rechnen  spricht.  Zur 
Herstellung  eines  Doppelzentners 
Butter  gehoren  namlich  nicht  280, 
sondern  2800  Liter  Milch.  Die 
Milchgewinnung  jeder  Kuh  mufite 
also  um  280  Liter  jahrlich  ge- 
steigert  werden,  und  das  wird 
selbst  einem  Rechenkiinstler  wie 
Herrn  Fritjof  Meltzer  nicht  als 
ein   bloBes    Spiel   erscheinen. 


Ach,  Herr  Meltzer,  manchmal 
spiclen  die  Nullen  eine  bedauer- 
lich  grofie  Rolle.  Sogar  in  der 
Agrarpolitik. 

Nikolaus    Storch 

Hitler  in  Jerusalem 

In  Jerusalem  haben  die  Zionisten 
*  eine  Universitat  gegriindet,  zu 
deren  Protektoren  auch  Professor 
Einstein  gehort.  Es  sollte  dort, 
was  nach  den  Augustunruhen 
1929  besonders  aktuell  war,  ein 
Stuhl  fur'  Friedenslehre  errichtet 
werden.  Da  aber  wie  iiberall  so 
auch  in  Palastina  und  in  gewis- 
sen  zionistischen  Kreisen  das 
Wort  Frieden  sehr  verpont  ist, 
begegnete  der  Gedanke  grofien 
Schwierigkeiten,  und  erst  in  die- 
sem  Winter  konnten  die  ersten 
Vorlesungen  stattfinden.  Nie- 
mand  schien  daftir  berufener  zu 
sein  als  der  ehemalige  Justiz- 
minister  Palastinas,  Norman  Bent- 
wich,  ein  bekannter  Demokrat 
und  Pazifist,  der  sich  wahrend 
langer  Jahre  als  treuer  und  eifri- 
ger  Zionist  betatigt  hatte. 

Das  Thema  der  ersten  Vor- 
lesung  lautete;  ..Jerusalem  als 
Friedenszentrum".  Nichts  ■  Ver- 
fangliches  also*  Die  Aula  war 
voll:  Vertreter  der  Behorden,  der 
ofiziellen  zionistischen  Organe, 
der  Presse  und  Studenten  bilde- 
ten  die  Horerschaft.  Kaum  hatte 
Bentwich  den  doch  bekanntgege- 
benen  Titel  seines  Themas  ver- 
lesen,  als  ein  Schauspiel  anhob, 
das  uns  in  Deutschland  ja  nicht 
unbekannt  ist:  Johlen,  Briillen, 
Pfeiffen,  Trampeln.     Rufe  wurden 


laut:  ,„Nieder  mit  dem  Frieden!" 
,tWir  wollen  keinen  Frieden  !'* 
„Geh  lieber  zu  den  Arabern  Frie- 
den predigen!"  Man  versuchte 
die  Storenfriede,  ordentliche  und 
aufierordentliche  Horer,  zu  be^ 
ruhigen  —  vergebens,  Als  man. 
schliefilich  mit  der  Polizei  drohte, 
wurde  es  eine  Weile  still.  So  wie 
aber  der  Dozent  versuchte,  nun 
sein  Kolleg  zu  lesen,  wiederholte 
sich  das  Schauspiel,  verschont 
noch  durch  den  Knall  von  Stink- 
bomben.  Also:  genau  wie  bei  uns* 

Endlich  konnte  die  Vorlesung 
unter  dem  Schutz  der  Polizei  zu 
Ende  gefiihrt  werden.  Der  Skan- 
dal,  den  das  Wortchen  Frieden 
in  der  Universitat  zu  Jerusalem 
entfacht  hatte,  sollte  aber  noch 
sein  Nachspiel  haben,  Einige  der 
Studenten  wurden  erst  relegiert, 
dann  „verzieh"  ihnen  aber  der 
Rektor ;  nur  die  am  schwersten 
Belasteten  kamen  vor  den  Kadi. 
Samtliche  Angeklagten  gehorten 
zu  der  zionistiSsch-revisionistischen 
Partei,  ihr  Verteidiger,  Cohen  llt 
ist  ein  namhafter  Vertreter  die- 
ser  revisionistischen  Richtung.,  Es 
wiirde  eigentlich  gemigen,  wenn 
man  sich  die  Verhandlungs- 
berichte  uber  die  Kurfursten- 
dammkrawalle  nach  dem  Skopus- 
Berg  iibertragen  denkt,  —  aber 
vielleicht  ist  es  doch  angebracht, 
einiges  aus  dem  Plaidoyer  des 
Verteidigers  zu  Gehor  zu  brin- 
gen.  In  schonstem,  wohlklingend- 
stem  Hebraisch  erklarte  er:  „Jaf 
wir  Revisionisten  hegen  fur  Hit- 
ler eine  groBe  Achtung.  Hitler 
hat   Deutschland   gerettet.      Sonst 


Endlich  von  der  Zonsur  frelgegebent 


Knhlc  Wampc 


Atrium 


Manuskript:  Brecht  und  Ottwald.  Musik: 
Hans  Elsler.  UrauffUhrung  ab  Montag,. 
den  30.  Mai  tagllch  7  und  9^° 

KAISERALLEE  ECKE  BERLINER  STR. 
Vorverkauf  11—2  und  ab  5  Uhr.   H  1  2460 


835 


ware  es  schon  vor  vier  Jahren 
zugrunde  gegangen,  Und  hatte 
Hitler  seinen  Antiscmitismus  ab- 
gelegt  —  wir  wurden  mit  ihm 
gehen  * . ."  Cohen  II  gleich 
Frank  II.  Hitler  sollte  den  Re- 
visionisten  wirklich  diesen  Ge- 
iallen  tun,  es  ist  ja  nur  eine  Ba- 
gatelle, was  sie  von  ihm  verlan- 
gen.  Dafiir  hatte  er  in  seinem 
Fahnenwald  eine  neue,  eine  ehr- 
wiirdige  Fahne  —  die  Fahne  mit 
<lem  Hakendavidstern,  Neben  dem 
Ruf  „Deutschland  erwache!" 
hatte  die  Menschheit  endlich  das 
Vergniigen,  den        Schlachtruf 

„Zion    erwache!"    zu    vernehmen. 
Elis  Lubrany 

Flucht  aus  der  Drecklinie 

TUf  erkt  ihr,  wies  brockelt?  Wie 
iV*  sich  hier  und  da  langsam 
einer  oder  der  andre  dem  Kreise 
Derer  entzieht,  die  zu  der  intel- 
lektuellen  Linken  im  weitesten 
Sinne  gehoren  ?  An  manchem 
Schriftsteller,  an  manchem,  der 
einst  fuhrend  in  einer  linken  Or- 
ganisation tatig  war,  laBt  sich  der 
Vorgang  beobachten.  Sie  stellen 
sich  urn,1  angesichts  derMillionen, 
die  hinter  Hitler  herlauf en,  Nattir- 
lich  springen  sie  nicht  von  heute 
auf  morgen  in  sein  Lager  hin- 
iiber,  so  grob  verfahrt  man  denn 
doch  nicht,  das  ware  zu  of  fen- 
kundig  gesinnungslos.  Vielmehr: 
sie  entpolitisieren  und  verinner- 
lichen  sich,  das  wahrt  den  aufie- 
ren  Anschein. 

Der  Verlauf  dieses  Prozesses 
ist,  den  grofien  Umrissen  nach, 
inuner  der  gleiche,  Es  fangt  da- 
mi  t   an,    dafi   Entscheidungen  um- 


gangen  werden,  man  drtickt  sich 
urn  sie  herum,  weil  ihre  Konse- 
quenzen  heute  gefahrlich  werden 
konnten.  Man  mochte  plotzlich 
nicht  mehr  abgestempelt  -  sein,  es 
lafit  sich  doch  nicht  absehn,  was 
daraus  erwachst,  ob  man  nicht 
morgen  auf  das  festgelegt  wird, 
was  man  einst  in  ruhigern  Zeiten 
propagierte. 

Was  nun  kommt,  ist  nur 
noch  die  Konsequenz  des  ersten 
Schrittes,  langsam  werden  Fuhler 
ausgestreckt,  man  klaubt  sich  ein 
paar  Stiicke  aus  der  Ideologie 
des  Erfolgreichen  heraus  und  ar- 
gumentiert :  seht,  in  diesem 
Punkte  hat  er  ja  ganz  recht,  also 
kann  das  doch  gar  nicht  so 
schlimm  sein.  Am  haufigsten 
wird  dies  natiirlich  an  j  enen 
Punkten  des  fremden  Gedanken- 
kreises  geschehen,  die  —  zu 
Recht  oder  zu  Unrecht  —  bei 
den  einstigen  Gesinnungsgenossen 
keine  Rolle  gespielt  haben,  ja 
vielleicht  sogar  bewufit  vernach- 
lassigt  worden,  Zwei  Erschei- 
nungen  haben  bei  dieser  unein- 
gestandenen  Akklimatisierung  an 
den  Fascismus  das  Ubergewicht: 
die  Absage  an  das  Rationale  und 
Intellektuelle,  die  Fixierung  also 
auf  das  Irrationale  und  das  Lieb- 
augeln      mit     dem     „Nationalen", 

Was  nach  diesen  schuchternen, 
vielleicht  gar  nicht  so  ernst 
gemeinten  Annaherungsversuchen 
folgt,  geht  sehr  rasch.  Natiirlich 
werden  nun  nicht  etwa  auf  ein- 
mal  alle  politischen  Ansichten 
von  einst  als  falsch  und  die  des 
bisherigen  Gegners  als  richtig  de- 
klariert,    Nein,    man   wendet   sich 


Der  1.  Sammelband  von 

KTTRTTTTrHriT  QKY  (PETER  PANTER- THEOBALD  TIGER 
JVVJIV  1    lU^nUL^N  1  IGNAZWROBEL  •  KASPARHAUSER): 


MIT  5  PS 


25.  Tausend  •  Verbllligte  Preise  •  Kartoniert  4.8O  ■  Lelnenband  6.50 

+»  . . .  enthalt  eine  Auswahl  der  ungezahlien  Aufs&tze,  Kritiken,  Angriffe,  Satiren,  Paro- 
dlen,  Betrachtungen  und  kleinen  Iyrisdi-polcmisdien  Gedidite,  die  Wodie  urn  Woche 
unersdi6pflidi  aus  diesem  hellsten  Hirn  und  frlschesten  Herzen  des  Jungen,  des  irtrklidi 
Jungen  Deutscnland  hervorsprlngen."  {Berliner  Bdrsen-Courier) 

ROWOHLT     VERLAG     BERLIN     W  50 


836 


ab  von  der  Sphare  der  Politik, 
man  steigt  auf  eine  angeblich 
nhohere  Warte";  in  Wahrheit  be- 
gibt  man  sich  in  eine  absolut  un- 
gefahrliche  und  unverbindliche 
Isolation,  die  dann  mit  aller- 
lei  Mystizismen  umkleidet 

wird.  Da  tauchen  denn  all 
die  verwaschenen,  '  substanzlos- 
verquollenen,  unexakten,  zu 
nichts  verpflichtenden  Irratio- 
nalismen  auf,  die  wir  langst  tiber- 
wunden  glaubten.  Mit  einem 
Wort.*  man  steigt  in  die  soge- 
nannten  Tiefen  der  Dinge  und 
wiihlt  ein  biBchen  im  Schlamm. 
Das  kostet  nichts,  und  man 
sichert  sich  gleichzeitig  nach 
alien  Seiten.  Denn  das  ist  ja 
grade  das  Peinliche  an  einem 
solchen  Standpunkt,  der  mit 
Stehen  eigentlich  nichts  mehr  ge- 
mein  hat,  daB  man  nach  alien 
Fronten  hin  mit  einem  Schein 
von  Recht  sagen  kann:  Was  wollt 
ihr?  Mich  geht  eure  Politik  gar 
nichts  an,  das  ist  mir  zu  ober- 
flachlich,  ich  habe  es  nur  mit 
dem  „Innern",  dem  „Wesen"  des 
Menschen  zu  tun,  mit  dem  „kern~ 
haft   Echten". 

Und  wer  sind  diese  un- 
sichern  Kantonisten,  die  sich 
heute  schon  die  Ideologie  schaf- 
fen,  unter  der  sie  dann  unbe- 
helligt  das  Dritte  Reich  iiberleben 
werden?  Es  sind  genau  Diesel- 
ben,  die  sich  fruher  besonders 
radikal  gebardeten  und  sich  an 
den  extremsten  Formulierungen 
und  Forderungen  berauschten, 
Das  war  zu  jener  Zeit  genau  so 
unverbindlich  wie  heute  ihre 
Flucht  in  das  Reich  der  „Inner- 
lichkeit".  Damals  bestand  kaum 
eine  Gefahr,  daB  man  sie  beim 
Wort  nehmen  werde  und  verant- 
wortlich  machen  konnte,  weil  sie 
ihre  Forderungen  nicht  durchge- 
setzt  haben,  Kramt  ein  wenig  in 
derVergangenheitDerer,  die  heute 
Iangsam  aus  unsrer  Mitte  abrut- 
schen,  ihr  werdet  finden,  daB  es 
die  Gleichen  sind,  die  einst  nicht 
laut  genug  schreien,  nicht  auf- 
,  dringlich  genug  einen  unentweg- 
ten  Intellektualismus  predigen, 
nicht  kraB  genug  die  Zertrumme- 
rung  alles  Bestehenden  fordern 
konnten. 

Watther    Karsch 


Das  zugepinselte  Sprichwort 
\/or    Jahren,    als    wir    in    Wien 

v  die  Museen  durchstoberten, 
schenkte  mir  ein  Freund  das 
Buch  Friedlaenders  iiber  Pieter 
BruegeU  Da  waren  auch  die 
„Sprichworter"  abgebildet,  da- 
tiert  1559  und  befindlich  zu  Ber- 
lin, Lebte  ich  in  Danzig  oder  in 
Prag,  ware  ich  schon  ungezahlte 
Male  dort  gewesen,  aber  in  Ber- 
lin ist  es  eine  weite  Reise  nach> 
Berlin. 

Endlich  raffte  ich  mich  auf. 
Die  „Sprichworter"  Pieter 
Bruegels  hangen  im  Kaiser-Fried- 
rich-Museum.  „Mit  naiVer  Ab- 
*  surditat",  schreibt  Friedlaender, 
„sind  Dinge  raumlich  eng  zuein- 
ander  gesellt,  die  nichts  mitein- 
ander  zu  tun  haben,  Jeder  ist 
ganz  bei  der  Sache,  ohne  sich  im 
geringsten  um  das  zu  kiimmern, 
was  in  der  nachsten  Nahe  vor- 
geht,"  AuBerdem  schreibt  er,  es 
seien  an  die  siebzig  Sprichwor- 
ter  zu  erkennen. 

Ich  bestaunte  das  Bild.  Eine 
Welt  tat  sich  vor  mir  auf.  Aber 
ich  erkannte  mit  Ach  und  Krach 
nur  drei  Sprichworter  („Zwei 
Fliegen  auf  einen  Schlag",  „Der 
Katze  die  Schellen  umhangen", 
„Mit  dem  Kopfe  durch  die  Wand 
wollen").  Am  meisten  fesselte 
mich  ein  Mann  mit  umgebunde- 
nem  Tuch,  der  eine  eigentiimlich 
plastisch  wirkende  Fahne  zum 
Fenster  hinaussteckt.  Der  Him- 
mel  mag,wi&sen,  warum  mich;  dieser 
Mann  besonders  reizte.  Weil  ich 
nun  den  Bruegel  in  der  Malerei 
fur  etwas  ahnlich  Gewaltiges 
halte  wie  den  Bach  in  derMusik, 
weilte  ich  ungebiihrlich  lange 
vor  dem  Gemalde.  Zwei  Warter 
beobachteten  mich,  und  schliefi- 
lich  offerierte  mir  der  eine,  der 
es  gut  mit  mir  meinte,  eine  Tafel 
mit    Erlauterungen. 

Ich  erwarb  sie  kauflich.  Eine 
Tafel  mit  der  Deutung  von  42 
Sprichwortern.  Vielerlei  fand  ich, 
was  mir  dunkel  geblieben  war 
(„Fladen,  die  auf  dem  Dach- 
wachsen",  „Vom  Ochsen  auf  den 
Esel  geraten",  „Dem  Teufel  Ker- 
zen  anziinden",  ,,Sein  Hering  will 
nicht  braten"  und  andres  kultur- 
historisches     Gut) ,     aber     meinen 

837 


Freund  mit  der  narrischen  Fahnc 
fand   ich   nicht. 

Der  eine  Warter  fafite  groBes 
Mitleid  mit  mir.  Er  trat  naher 
und  raunte:  t)Da  haben  sie  was 
zugeschmiert," 

Ich  rifi  die  Augen  auf.  Bei 
Bruegel  was  zugeschmiert?  Was 
haben    sie    zugeschmiert  ? 

„Den    Wasserstrahl !" 

Wahrhaftig,  man  sah  es,  Da 
war  was  zugeschmiert.  Das 
Sprichwort    war    iiberpinselt 

Und  wer  erfahren  machte, 
welche  Redensart  iiberpinselt 
worden  ist,  der  schaue  sich  den 
Bruegel  genau  an,  Man  hat  eine 
Redensart  vernichtet,  die  so  herr- 
lich  war,  dafi  sie  neu  belebt  zu 
werden    verdiente. 

Die  Redensart  „Au£  den  Mond 
pischen", 

Hans    Reimann 

Sorgen  1932 

Dei  einem  Tanzvergniigen  wurde 
■^  die  Tochter  des  Vereinsvor- 
standes  von  einem  Gast  aufgefor- 
dert,  der  sich  im  gleichen  Lokal 
befand,  aber  nicht  Vereinsmitglied 
war.  Die  Dame  schlug  den  Tanz 
diesem  Herrn  und  noch  einem 
zweiten  Gast  ab,  tanzte  aber  den 
Tanz    mit    einem   Vereinsmitglied. 


Irgendwelche  Eintrittskarten  wa- 
ren  nicht  ausgegeben,  so  dafi 
jeder  Gast  durch  das  Vereins- 
zimmer  gehen  und  mit  einer 
Dame  tanzen  konnte,  Sind  die 
beiden  abgewiesenen  Herren  im 
Recht,   sich  zu  emporen? 

,Der    Westen' 

Was  es  alles  gibt 

A  us  dem  Spendenertrag  werden 
"■  nach  der  8.  Symphonie  dem 
Orchester  ein  Kranz  und  nach  der 
9.  Symphonie  den  Herren  Profes- 
soren  Priiwer  und  Kittel  Blumen- 
spenden  iiberreicht  werden. 

Die  Zuhorerschaft  wird  gebeten, 
sich  dazu  von  den  Platzen  zu  er- 
heben,  Hoch  zu  rufen  und  in  die 
Hande  zu  klatschen. 

Liebe  Weltbuhne! 

Autarkic",  rief  Adolf  Hitler, 
»**'  f,Selbstversorgung  tut  not 
und  Selbstbescheidung,  Wir  mus- 
sen  vollig  unabhangig  vom  Aus- 
land   werden," 

MAber  es  gibt  doch  einige 
Dinge,  die  wir  in  Deutschland 
gar  nicht  erzeugen",  meinteRoda 
Roda,  „wo  wir  auf  Einfuhr  un- 
bedingt  angewiesen  sind", 

„Zum   Beispiel?" 

,,Staatsmanner," 


Hinweise  der  Redaktion 


Berlin 

Individualpsychologische  Gruppe-     Montag  20.00.    Klubhaus  am  Knie,   Berliner  Str.  27: 

Der  drittc  Hamlet-Monolog,  Otto  Kaus. 
Arbeitsgemeinschaft   marxistjscher   Sozialarbeiter.    Mittwoch  20.00.    Haverlands  Fest- 

sale,  Neue  Friedrichstr.  39:    Nationalsozialismus  —  DaB  Ende  der  spzialen  Arbeit. 

Es  sprechen  Max  Hodann,  Heinz  Jacoby  und  Alfred  Kurella. 

Erfurt 

Weltbiihnenleser.  Montag  (6.)  20,00.  Jagdziromer  von  Rohr.  Die  Gefahren  des  Natio- 
nalisraus  in  SowjetruOland. 

Hamburg 

Weltbtihnenleser.  Freitag  20.00.  Timpe,  Grindelallee  10:  Politischer  Wochenbericht 
und  Referat  tiber  den  Vdlkerbund. 

Bficher 

Oskar  Maria  Graf:  Dorfbanditen.    Drei-MaBken-Verlag,  Berlin. 
Egon  Erwin  Kisch:  Asien  grundlich  verandert.    Erich  ReiO-Verlag,  Berlin. 
Balder  Olden:  Ziel  in  den  Wolkeu.     Universitas-Verlags-A.-G.,  Berlin. 
B.  Traven:  Der  Schatz  der  Sierra  Madre.    Universitas-Verlags-A.-G„  Berlin. 
Der  WeltbuhnenprozeS.    Gegen  Einsendung  von  0,30  M.   in   Brieftnarken   zu    beziehen 
vom  Verlag  der  Weltbiihne,  Berlin-Charlottenburg. 

Rundfunk 

Dienstagr.  Langenberg  18.15:  Der  Soldat  John  Davis  kehrt  heim,  Anton  Schnack.  — 
Mittwoch.  Konigsberg  20.25:  Lieder  von  Frank  Wedekind,  Pamela  Wedekind.  — 
Leipzig  21.15:  Zweimal  Wallenstein.  —  Donne  rstag.  Frankfurt  18.25:  Abenteurer- 
bttcher,  Axel  Eggebrecht.  —  Freitag.  Breslau  17.50;  Die  Zeit  in  der  jungen  Dichtung. 
—  Munchen  20.15:  Mexikanische  Musik,  B.  Traven. 


838 


Antworten 

Freunde  und  Leser  der  Weltbiihne.  Wir  wiederholen  hiermit 
unsre  schon  einmal  ausgesprochene  Bitte:  Schicken  Sie  alles,  was  fur 
Carl|  v,  Ossietzky  bestimmt  ist,  seien  es  nun  Zuschriften,  Zeitungen, 
Biicher  odcr  sonst  etwas,  nicht  direkt  an  die  Strafanstalt,  sondern  in 
iedem  Fall  an  den  Verlag  der  .Weltbuhne',  der  die  Weiterleitung 
iibernimmt.  An  der  Dringlichkeit,  mit  der  wir  unsre  Bitte  aus- 
sprechen,  mogen  Sie  erkennen,  dafi  ihre  Erfiilhing  im  Interesse  Carl 
v.   Ossietzkys  geboten  ist. 

Landtagsprasident  Kerrl.  Der  ungeziigelte  Verlauf  der  in  Ihrem 
Ressort  stattfindenden  Saalschlachten  ware  unsrer  Meinung  nach  zu 
vermeiden,  wenn  der  Parlamentarismus  sich  der  technischen  Errun- 
genschaften  der  Neuzeit  besser  bedienen  wollte,  Warum  setzen  Sie 
nicht  die  Abgeordneten  jeder  Partei  in  je  eine  schalldichte  Kabine 
aus*  armdickem  Glas,  wie  man  es  fiir  Aquarien  verwendet?  In  jeder 
Kabine  miiCte  ein  Mikrophon  zwecks  Ubertragung  der  Zwischenrufe 
und  des  Pultdeckelgeklappers  stehen,  und  Sie  hatten  es  dann  ganz 
in  ihrer  Macht,  mit  Hilfe  einer  Schalttafel  die  Lautstarke  des  aus  je- 
der Kabine  dringenden  Gerausches  zweckdienlich  abzustimmen.  Das 
bloBe  Ziehen  von  Wassergraben,  wie  sie  sich  bei  den  Hagenbeckschen 
Raubtieren  bewahrt  haben,  diirfte  unzureichend  sein,  denn  der  mensch- 
liche  Geist  und  seine  Waffen  reichen  weiter  als  die  unverniinftige 
Kreatur;  jedoch  ware  fiir  den  Bedarfsfall  zwischen  den  Kabinen  der 
Nazis  und  des  Zentrums  eine  verbindende  Schiebettir  «einzubauen. 
Weiter:  da  auf  der  Rednertribiine  der  Dialog  immer  mehr  zugunsten 
des  Boxkampfes  zuriicktreten  diirfte,  ware  es  doch  wohl  zweckmafiig, 
einen  gewiegten  Sportsmann,  etwa  Walter  Rutt  oder  gar  Herrn  Cha- 
piro  vom  Sportpalast  zu  engagieren,  um  Gewahr  dafiir  zu  bieten, 
daB  die  Regeln  des  Vereins  deutscher  Faustkampfer  fiirderhin  ge- 
wahrt  werden.  Denn  wenn  beispielsweise  ein  Abgeordneter,  der  mit 
einem  schweren  Ledersessel  bewaffnet  ist,  auf  einen  Gegner  trifft,  der 
nichts  als  eine  ktimmerlkhe  Schreibtischlampe  zut  Verfiigung  hat,  so 
kann  doch,  wie  Ihnen  einleuchten  wird,  keinesfalls  ein  objektives 
Bild  der   politischen   Lage  entstehen! 

Reichswehrministerium.  Wie  aus  den  Verhandiungen  des  Haus- 
haltsausschusses  hervorgeht,  habt  ihr  die  Anwendung  des  allgemei- 
nen  Gehaltsabbaues  auf  die  Reichswehr  dadurch  zu  kompensieren 
gewufit,  daB  ihr  fiir  die  Reichswehrangehorigen  eine  Zulage  fiir  Zeh- 
rungskosten  eingefiihrt  habt.  Nomen  est  omen!  Ware  es  nicht  lo- 
gisch,  wenn  man  euer  Ministerium  in  Zehrministerium  umtaufte? 

Deutsche  Presse,  Am  23.  April  ist  in  Stratford  on  Avon,  am  Ge- 
burtstage  Shakespeares,  das  neue  Shakespeare-Erinnerungstheater  mit 
groBer  Feierlichkeit  eingeweiht  worden.  Du  druckst  den  Bericht  ab, 
den  am  21,  April  der  londoner  Vertreter  einer  groBen  berlineri  Zei- 
tung  iiber  die  Veranstaltung  vom  23.  April  geschrieben  hat.  In  dem 
Bericht,  der  am  22,  April  in  Berlin  erschienen  ist,  heiBt  es:  „Das 
kleine  Landstadtchen  mit  der  groBen  Vergangenheit  . , .  konnte  heute 
buchstablich  die  ganze  Welt  in  seinen  Mauern  begriiBen.  Um  6  Uhr 
lauteten  die  Glocken  der  Holy  Trinity  Church  das  Fest  der  Ein- 
weihung  des  neuen  Shakespeare  Memorial  Theatre  ein,  . . .  Sonderziige 
der  Eisenbahn  lassen  immer  neue  Tausende  auf  das  mit  Fahnen  und 
Blumen  geschmiickte  Stadtchen  los.  ...  Der  Biirgermeister  vori  Strat- 
ford gab  dann  den  Ehrengasten  ein  Friihstiick,  Stanley  Baldwin 
hielt  eine  Rede.  Dann  sprach  der  franzosische  Botschafter  als  Doyen 
des  diplomatischen  Corps,  dann  der  neue  amerikanische  Botschafter 
Mellon.  Von  den  Nationen  der  Erde  sind  alle,  die  in  London  einen 
Botschafter  haben,  durch  ihren  Botschafter  vertreten,  mit  Ausnahme 
Deutschlands,  das  den  Leiter  der  Konsulatsabteilung,  Legationssekre- 
tar  Auer,   geschickt  hat.    . . .   Kurz   nach   2   Uhr  trifft   der   Prinz   von 

839 


Wales  ein.  Unter  dem  Jubel  der  Massen  schrcitct  er  auf  den  ersten 
Flaggenmast  zu,  reifit  an  einem  Band  und  enthullt  die  konigliche 
Standarte.  , . .  Dann  geht  der  Vorhang  hoch,  und  unsere  Bedenken 
sind  auch  schon  vergessen."  Willst  du  dir  nicht  das  Verdienst  er- 
werben,  den  Namen  des  fixen  Korrespondenten  und  seine  groCe  Zei- 
tung  bekanntzugeben?  Andre  Zeitungen  werden  sich  doch  gradezu 
reifien  uni  einen  Journalisten,  der  offenbar  mit  hellseherischen  Fahig- 
keiten   ausgestattet  ist. 

Rudolf  Leonhard,  Paris.  Sie  schreiben  uns  zu  der  Berichtigung  von 
Doktor  Schulz- Wilmersdorf,  die  wir  in  den  Antworten  der  Nr.  16  ver- 
offentlicht  haben:  „Dafi  der  Herr  Schulz  ,racistische  Salons'  (Lieber 
Gott,  miiCten  die  hier  komisch  seinf)  ausschlieBlich  besucht,  kann 
aicht  stimmen,  denn  ich  selbst  habe  den  Herrn  Schulz  hier  manchnu 
getroffen,  und  ich  besuche  keine,  weil  ich  keine  kenne.  Wie  kommt 
es  abert  dafi  in  diesen  Gesprachen  mit  mir  Herr  Schulz  sich  als  Re- 
volutionar  und  Anhanger  Strafiers  bekannt  .  und  Hitler  wtitend  ver- 
leugnet  hat,  wahrend  er  jetzt,  nach  den  Wahlerfolgen  Hitlers,  wieder 
Hitlerianer  ist?...  Es  lohnt  zwar  kaum;  aber  wenn  der  Herr  Schulz 
nicht  ganz-artig  ist,  verschaffe  ich  mir  und  produziere  ein  Schriftstuck, 
in  welchem  der  Herr  Schulz,  der  doch  sicher  siegreich  Frankreich 
zu  schlagen  gedenkt,  mit  einem  franzosischen  Grafen  zusammen  und 
selbst  als  Dichter  verkleidet  das  Projekt  einer  deutschfranzosischen 
Verstandigungs-Zeitschrift  aufstellt.  Wie  stimmt  es  zu  dem  Racismus, 
also  doch  wohl  auch  Antisemitismus  des  Herrn  Schulz,  dafi  er  mir  er- 
klart,  die  echten,  namlich  die  revolutionaren  Nationalsozialisten  seien 
keine  Antisemiten,  sondern  wollten  nur  die  nordische  Kunst  verteidi- 
gen?  (Gegen  went  konnte  mir  iibrigens  der  Herr  Schulz,  der  sehr 
schwarz  ist  und  sich  selbst  als  Kelte  bezeichnet,  nicht  sagenj"  Also 
alles  in  allem:  eine  heftig  schwankende  Figur,  dieser  Herr  Schulz  aus 
Wilmersdorf. 

Paziiist.  Auf  Initiative  von  Romain  Rolland  und  Henri  Barbusse 
hat  sich  ein  Internationales  Komitee  gebildet,  das  die  Vorbereitung 
zu  einem  grofien  Internationalen  Kongrefi  gegen. die  drohende  Kriegs- 
gefahr  treffen  will,  Der  Kongrefi  soil  auf  den  1,  August  nach  Genf 
einberufen  werden.  In  einem  Aufruf  wendet  sich  das  Komitee  an 
alle  pazifistisch  gesinnten  Organisationen  und  Einzelpersonen,  Alle 
Zuschriften  werden  erbeten  an  die  Adrsse  von  Henri  Barbusse,  Villa 
Sylvie,  Aumont-par-Seinlis   (Oise) ,  Frankreich. 

Niirnberger.  Geben  Sie  IhreAdresse  an  Herrn  Dr.  med,  Th.  Katz, 
Ludwigstrafie  1,  Telephon  215  70,  der  regelmafiige  Zusammenkiinfte 
der  Leser  Ihrer  Stadt  in  dieWege  leiten  will.  Die  ersie  Zusammen- 
kunfti  soil  am  16,  Juni,  20.15  Uhr,  ira  Katharinenbau,  stattfinden. 


FQr  Carl   von  Ossietzky! 

Dieser  Nummer  llegt  eine  Sammelllste  bei  fur  die 
von  der  Liga  fur  Menschenrechte  und  dem  Pen- 
Club   ([Deutsche    Gruppe)    veranstaitete    Petition 
fUr  Carl  von  Ossietzky  I 


Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Wellbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richteo ;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann, 
Das  Auffuhxungsrecht,  die  Verwertung  r on  Titeln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  wiedergabe  tiller  Art  and  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortrftgen 
bleiben  fur   alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beitrage  ausdruckHch  vorbebalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begriindet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung    von    Kurt  Tucholsky   geleitet   —   Verantwortlich :    Walther  Karsch,    Berlin 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telepion:  C  1,  Steinplatz  7757.   —   Postscheckkonto:  Berlin  11958. 
Bankkonto:  Dreadner  Bank.    Depositenkasse  Charlottenburg,  Kantstr.  112. 


XXVIII.  Jafirgang  7.  Juni  1932  Nummer  23 

Herr  VOn  Papen  von  Hellmut  v.  Gerlach 

Jm!  Winter  war  es,  in  einer  Versammlung  in  Frankreich,  Ich 
hattei  meinen  Horern  schr  emdringlich  versichert,  daB  Brii- 
ning  auf  keinen  Fall  in  einem  Kabinett  mit  Hitlerianern  sitzen 
wolle,  und  daB  auch  das  ganze  Zentrum  zu  einer  solchen 
Koalition  keine'  Neigung  habe. 

Nach  der  Versammlung  stellte  sich  mir  ein  franzosischer 
Journalist  vor;  er  habe  mir  offentlich  nicht  widersprechen 
wollen,  miisse  jedoch  sagen,  daB  er,  der  grade  aus  Berlin 
komme,  dort  in  Sachen  des  Zentrums  ganz  andre  Eindriicke 
gewonnen  habe,  Ein  bekannter  Zentrumsabgeordneter  habe 
ihm  gesagt,  dafl .  es  fur  das  Zentrum  gar  k  ein  en  andern  Weg 
als  den  des  Zusammengehens  mit  den  Nationalsozialisten  gebe. 
Ich  warf  ein;  f,Das  kanm  nur  Papen  gewesen  sein."  Worauf 
der  Franzose  lachelnd  bejahte  und  sich  von  mir  uber  die  Stel- 
lung  Papens  im  Zentrum  aufklaren  lieB, 

Jetzt  kann  man  von  einer  Stellung  Papens  im  Zentrum 
uberhaupt  nicht  mehr  sprechen.  Er  hat  sie  mit  dem  Kanzler- 
sitz  vertauscht,  was  Leute  von  Durchschnittsintelligenz  nicht 
grade  iiir  ein  Avancement  halten.  Wenigstens  dann  bestimmt 
nicht,  wenn  man  nur  als  aufgenordeter  Johannes  dem  nneuen 
Heiland"  Hitler  den  Weg  freimachen  soil 

DaB  Herr  von  Papen  die  Beruiung  zum  Kanzler  annahm, 
"wiirde  allein  schon  ein  hinreichender  Nichtbefahigungsnachweis 
sein,  falls  der  uberhaupt  noch  notig;  gewesen  ware. 

Herr  von  Papen  ist  in  seinem  Vaterlande  zwar  fast  un- 
bekannt,  in  der  iibrigen  Welt  aber  um  so  mehr  bekannt:  als 
abschreckendes  Beispiel  jener  MiBehe  von  Diplomatic  und 
Militarismus,  die  Deutschlands'  Verderben  war. 

Herr  von  Papen  war  als  Hauptmann  von  1914  bis  Ende 
1915  deutscher  Militarattache  in  den  Vereinigten  Staaten, 
Wid-er  seinen  Willen  und  den  seiner  Vorgesetzten  mufite  er  auf 
amerikanisches  Verlangen  vorzeitig  seinen  Posten  raumen,  um 
nicht  in  peinlichste  Strafprozesse  verwickelt  zu  werden, 

Militarattaches  werden  manchmal  als  Gentlemen-Spione 
bezeichnet.  Sie  haben  einen  Posten,  um  den  sie  niemand  be- 
neiden  wird.  Sind  sie  allzu  korrekt  dem  Lande  gegeniiber,  bei 
dem  sie  akkreditiert  sind,  sa  diirften;  sie  ihrem  eignen  Lande 
in  der  Regel  als  iiberflussige  Gehaltsempfanger  erscheinen. 

Den  Vorwurf  iibertriebener  Korrektheit  den  Vereinigten 
Staaten  gegeniiber  wird  niemand  gegen  Herrn  von  Papen  er- 
heben  konnen.     Er  iibertrieb  nach  der^  andern  Seite  hin. 

Selbst  wenn  es  sich  nur  um.  einen  Sommerkanzler  handeltt 
hat  das  deutsche  Volk  die  Pflicht,  sich  moglichst  genaue  Kennt- 
nis  iiber  seine  Person  zu  beschaffen.     Das  kann  es  am  besten, 

1  841 


wenn  -es  Einsicht  niramt  in  das  uberaus  aufschlufireiche  Buch 
f1Vor  dem  Eintritt  Amerikas  in  den  Weltkrieg",  das  der  fruhere 
dcutschc  Gcneralkonsul  in  New  York,  Falcke,  1928  im  Reifiner- 
Verlag  hat  erscheinen  lassen.  Die  darin  enthaltenen  Tat- 
sachen  sind  dem  deutschen  Publikum  fast  ausnahmslos  un- 
bekannt.  Erging  doch  im  Dezember  1915,  als  Herr  von  Papen 
und  sein  Marinekollege  Boy-Ed  aus  Washington  abgeschoben 
wurden,  die  Instruktion  des  Kriegspresseamts:  ,,Die  deutsche 
Presse  soil  iiber  diese  Angelegenheit  bis  auf  weiteres  schwei- 
gen,  da  sie  durch  ihre  Erorterung  den  betreffenden  Beamten 
keineswegs  niitzt."  Sie  hatte  durch  die  Erorterung  allerdings 
der  Wahrheit  geniitzt.  Aber  das  ging  das  Kriegspresseamt 
nichts  an.     Die  Wahrheit  gehorte  nicht  zu  seinem  Ressort. 

Erst  jetzt,  als  Herr  von  Papen  zur  lassungslosen  Ober- 
raschung  der  ganzen  Welt  einschlieBlich  seines  eignen  Volkes 
durch  Herrn  von  Schleicher  aus  dem  politischen  Nichts  heraus- 
geholt  und  an  die  Spitze  der  deutschen  Politik  gestellt  wurder 
erfuhr  wenigstens  ein  Bruchteil  der  deutschen  Zeitungsleser 
etwas  aus  seiner  Vergangenheit,  Drei  Tage  lang  hatte  die 
Wahrheit  eine  Herberge  in  Deutschland. 

Am  vierten  Tage  aber  wurde  von  Amts  wegen  bekannt- 
gegeben: 

„In  einem  Teil  der  deutschen  Presse  sind  Nachrichten  verbreitet, 
die  sich  mit  der  fruheren  auBenpolitischen  Tatigkeit  des  Reichskanz- 
lers  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Araerika  befassen.  Diese  Nach- 
richten stutzen  sich  ztun  groBten  Teil  auf  die  Wahrheit  vollig  ent- 
stellendes  Propagandamaterial  unsrer  fruheren  Gegner  aus  dem  Welt- 
kriege.  Nach  Auffassung  der  Reichsregierung  ist  es  ein  vom  Stand- 
punkt  jedes  vaterlandisch  denkenden  Menschen  unverstandliches  Ver- 
halten,  wenn  derartiges  Material  dazu  mifibraucht  wird,  urn  das  An- 
sehen  des  Reichskanzlers  vor  dem  In-  und  Auslande  herabzusetzen. 
Die  Reichsregierung  ist  entschlossen,  einer  derartigen  Brunnenvergif- 
tung  mit  alien  ihr  zur  Verfiigung  stehenden  Mitteln  entgegenzutreten." 

Niin  ist  den  Zeitungen  wieder  der  Mund  versiegelt.  Der 
ErlaB  vom  4.  Juni  ist  in  jenem  Kautschukstil  gehalten,  der 
alien  zensurfrohen  Reaktionsregierungen  willkommen  ist.  Macht 
er  doch  die  Bahn  frei  fur  jegliche  Wiilkiir. 

Keine  Zeile  iiber  Herrn  von  Papens  amerikanische  Ver- 
gangenheit war  in  der  Presse  zu  lesen,  die  nicht  dokumentarisch 
belegtes  Material  enthalten  hatte.  GewiB,  es  war  Propaganda- 
material  Aber  der  Materiallieferant  ist  Herr  von  Papen 
selbst  gewesen.     Lieferant  wider  Willen  natiirlich. 

Das  deutsche  Volk  soil  von  diesem  Material  durch  seine 
Zeitungen  und  Zeitschriften  hinfiiro  nichts  mehr  erfahren.  Die 
Regierung  will  das  „mit  alien  ihr  zur  Verfiigung  stehenden 
Mitteln11  verhindern.  Solche  Mittel  hat  sie,  wenn  ihr  das  Ge- 
setz  keine  Pein  bereitet. 

Wenn  das  deutsche  Volk  das  Material  trotzdem  kennen- 
lernen  will,  wird  ihm  zunachst  nichts  andres  ubrigbleiben,  als 
842 


das  Buch  H.  P.  Falckes  zu  lesen,  Dafi  dies  Buch  die  Wa'hrheit 
iiber  Herrn  von  Papen  enthalt,  wird  er  selbst  nicht  bestreiten. 
Sonst  hatte  er  schon  1928  dagegen  vorgehen  miissen. 

Das  Ausland  braucht  das  Material  nicht  mehr  kennen  zu 
lernen,  Es  ist  ihm  seit  1916  bekannt.  Sowie  der  Name  Papen 
jetzt  wieder  in  der  Offentlichkeit  auftauchte,  sprudelte  das 
Material  in  tausend  Leitartikeln  der  angelsachsischen  Presse 
in  die  Hohe.  Eine  Sammlung  der  Oberschriften  dieser  Artikel 
ware  iibrigens  Herrn  von  Hindenburg  zur  Information  iiber  die 
Weltgeltung  seines  Schiitzlings  zu  empfehlen. 

Graf  Bernstorff  ist  im  Ausland  fur  das  Verhalten  der 
Herren  von  Papen  und  Boy-Ed  verantwortlich  gemacht  wor- 
den.  Als  1924  der  KongreB  der  Volkerbundsligen  in  .Lyon 
stattfand,  widersetzte  sich  Herriot  als  franzosischer  Minister- 
president  mit  groBter  Energie  dem  Gedanken,  den  Grafen 
Bernstorff  als  Vorsitzenden  der  deutschen  Volkerbundsliga  zu 
empfangen.  Vergebens  habe  ich  ihn  davon  zu  iiberzeugen  ver- 
sucht,  daB  Graf  Bernstorff  die  Taten  der  direkt  dem  Militar- 
kabinett  unterstellten  Attaches  nicht  hindern  konnte.  Er  blieb 
ablehnend.  *  Graf  Bernstorff  muBte  fur  das  Verhalten  von  Pa- 
pen und  Boy-Ed  biiBen. 

Jetzt  in  Lausanne  wird  Herriot  mit  Herrn  von  Papen 
selbst  zu  tun  bekommen. 

Manche  fiihren  als  mildernden  Umstand  fiir  Herrn  von 
Papen  seine  Frau  an.  Sie  stammt  aus  der  groBen  westlichen 
Firma  Vilieroy  &  J3och,  die  dadurch  ihrem  Manne  Beziehungen 
zu  gewissen  franzosischen  Industriekreisen  vermittelte,  Hatte 
Tardieu  bei  den  Wahlen  so  viel  Sitze  gewonnen,  wie  er  ver- 
loren  hat,  so  hatten  diese  Beziehungen  vielleicht  Herrn  von 
Papen  niitzen  konnen.  Eine  Verstandigung  deutsch-fran- 
zosischer  Reaktionare  im  Zeichen  des  GroBkapitalismus  und 
Militarismus  wird  ja  seit  langem  von  riickschrittlichen  Ge- 
schaftemachern  diesseits  und  jenseits  angestrebt. 

Aber  Herr  von  Papen  hat  es  nicht  mit  Tardieu  sondern 
mit  der  franzosischen  Linken  zu  tun. 

Seine  Regierung  ist  auBenpolitisch  genau  so  katastrophal 
wie  innenpolitisch. 

Die  sonst  manchmal  verstandige  .Kolnische  Zeitung* 
schrieb  nach  der  Ernennung  der  neuen  Regierung:  f,Das  Ka- 
binett  Papen  kann  verlangen,  daB  man  ihm  eine  Chance  gibt/' 

Nein,  das  kann  es  nicht.  Es  ist  ein  dem  Sinn  der  Ver- 
fassung  zuwiderlaufendes  Minderheitskabinett.  Es  hat  keine 
Existenzberechtigung, 

Kabinett  der  nationalen  Konzentration  laBt  es  sich  nenncn. 

Es  ist  nur  ein  Kabinett  nationalistischer  Hilflosigkeit. 

Seine  erste  Leistung  war  die  Reichstagsauflosung. 

Sie  bedeutet  das  Maximum  seiner  Leistungsfahigkeit. 

843 


Briining  von  Hanns-Erich  Kaminski 

jVAan  sagt,  Herr  von  Hindenburg   habe,  als  er  Doktor  Briining 

verabschiedete,  geweint.  Der  ehemalige  Reichskanzler 
girig  darauf  nach  Hause  und  legte  sich  mit  einem  politischen 
Katarrh  ins  Bett.  So  sehen  historische  Situationen  in  der 
Nahe  aus,  die  Legenden  bilden  sich  gewohnlich  erst  spater. 

Aber  selbst  wenn  diese  Tranen  und  dieser  Katarrh  erfun- 
den  sein  sollten,  kein  Shakespeare  hatte  das  Ende  der  demo- 
kratischen  Republik  grandioser  dichten  konnen.  Da  haben  die 
braven  Leute  von  dem  Reichsbanner  und  der  Eisernen  Front 
immer  gedacht,  die  Republik  wiirde,  wenn  iiberhaupt,  nur  auf 
den  Barrikaden  fallen.  Und  nun  warten  die  Republikaner  er- 
geben  auf  die  Erlaubnis,  noch  einmaLwahlen  zu  diirfen,  und  die 
melancholische  Zentenarfeier  des  Hambacher  Festes,  die  just 
in  diese  Tage  fiel,  war  vielleicht  die  letzte  Gelegenheit,  bei 
der  sckwarz-rot-goldne  Fahnen  im  Winde  flatterten.  Die  de- 
mokratische  Republik  ist  nicht  besiegt,  sie  ist  ganz  einfach  ab- 
gebaut  worden.  Es  gibt  keine  Barrikaden,  Es  gibt  nur 
Tranen  und  einen  Katarrh. 

Es  muBte  so  kommen.  Diese  Republik  war  eine  Luge  vom 
Tage  ihrer  Entstehung  an.  Damals  beeilten  sich  die  Sozial- 
demokraten,  sich  der  revolutionaren  Bewegung  zu  bemachti- 
gen,  Ebert  wollte  zunachst  die  Monarchie  erhalten,  spater  ver- 
biindete  er  sich  mit  Groener,  und  ,,das  Werk  von  Weimar*', 
auf  das  so  viele  Meineide  geleistet  worden  sind,  war  dann 
schon  ein  Triumph  der  Mitte.  Seither  marschierte  die  Re- 
publik, die  Augen  stets  nur  auf  dem  Riicken,  langsam  aber 
sicker  nach  rechts,  niemals  bekannte  sie  sich#zu  ihren  Ur- 
spriingen,  niemals  kampfte  sie  im  Ernst  gegen  ihre  Feinde, 
'  niemals  war  sie  wahrhaft  repdblikanisch.  Jetzt  liegt  sie  da 
mit  zerschmetierten  Gliedern,  und  niemand  kann  sagen,  sie 
sei  t1eine  stolze  Rebellenleiche". 

Der  Doktor  Heinrich  Bruning  aber  war  ihr  Totengraber. 
Seine  personliche  Integritat,  von  der  man  so  viel  hergemacht 
hat,  in  alien  Ehren.  Wir  wollen  ihm  weder  seinen  FleiB  noch 
seine  Keuschheit  noch  seine  aibrigen  franziskanischen  Tugen- 
den  abspr-echen.  So  groB  seine  Schuld  ist,  sie  wird  zudem 
noch  iibertroffen  durch  die  Schuld  derer,  die  ihm  seine  Politik 
ermoglichten.  Denn  Bruning  hat  gehandelt,  wie  er  seiner  Ver- 
anlagung  und  seiner  Uberzeugung  nach  handeln  muBte,  Er 
war  ja  kein  Mann  der  Linken,  er  hat  aus  seiner  reaktion£ren 
Gesinnung  nie  ein  Hehl  gemacht,  und  gefuhlsmaBig  steht  er 
seinen  Nachfolgern  sicher  naher  als  seinen  ehemaligen  Bundes- 
genossen. 

Als  er  das  Kanzleramt  ubcrnahm,  hie  It  er  die  Zeit  ,,der 
staatsbewuBten  Rechten"  fur  gekommen,  Der  Reserveleutnant 
stand  vor  dem  Feldmarschall  stramm  und  bildete  ein  Kabinett 
der  MFrontsoldaten",  das  denn  auch  immer  abhangiger  von 
seinen  militarischen  Vorgesetzten  wurde.  Ein  neuer  Reichs- 
tag sollte  dieser  Regierung  auch  die  parlamentarische  Basis 
geben  und  sie  vollig  von  der  Sozialdemokratie  16sen<  Der 
Plan  war  gut  ausgedacht,    aber    er    miBlang.     Nrcht    der    ge- 

844  ^ 


maBigte   sondern   der   radikale   Fliigel  der   Rechten   siegte   ini 
Wahlkampf. 

Damals  schrieb  hier  Carl  von  Ossietzky:  ,,Herrn  Briinirigs 
Verschlagenheit  alle  schuldige  Hochachtung,  aber  sie  hat  min- 
destens  cine  ungeheure  Niederlage  verschuldet,  und  wenn  die 
republikanisohe  Tugend  schon  bereit  ist,  mit  dem  Teufel  zii 
paktieren,  dann  nicht  mit  einem  betrogenen.  Lieber  eine 
offene  Rechtsregierung  als  eine  Prolongation  Briinings.  Dieses 
spitznasige  Pergamentgesicht,  dieser  Pater  Filuzius  mit  deni 
E.  K.  I  am  Rosenkranz  muB  endlich  verschwinden,  Ein  Mann, 
der  nicht  widerspricht,  wenn  sein  Leiborgan  das  ,Ende  der 
Weimarer  Zeit'  verkiindet,  ist  nicht  geeignet,  in  dieser  dra- 
matischen  Epoche  die  Verfassung  von  Weimar  zu  verteidigen/' 
In  derselben  Nummer  der  ,Weltbuhne'  schrieb  ich  unter  dem 
Titel  ,,Die  Rechte  soil  regieren'Y  ,,Die  Sozialdemokratie  soil 
jetzt  fur  die  verfassungswidrige  Notverordnung  stimmen,  wegen 
der  sie  in  den  Wahlkampf  gegangen  ist!  Das  ware  Selbstmord, 
nicht  nur  der  Sozialdemokratie  sondern  der  Republik,  deren 
beste  Waffe  jetzt  die  Legalitat  ist . , .  Wir  haben  das  parla- 
mentarische  System.  Man  lasse  es  funktionieren!  Nicht  aus 
Dogma:  gegeniiber  Leuten,  die  erklarte  Feinde  des  Parlamen^ 
tarismus  sind,  braucht  man  seine  Regeln  selbstverstandlich 
nicht  anzuwenden.  Sondern:  weil  es  so  am  nutzlichsten  ist . . . 
Die  marxistische  Front  - —  und  gegeniiber  der  Reaktion  ist  es 
eine  Front  —  steht  aufrecht.  Die  Sozialdemokratie  muB  sie 
sich  stark  erhalten.  Darum  darf  sie  sich  nicht  weiter  kom- 
promittieren  lassen  . . .  Der  Kampf  fur  die  Legalitat,  fur  die 
Verfassung,  fur  die  Republik  wurde  den  Parteien  der  Mitte, 
wiirde  vor  allem  der  Sozialdemokratie  die  groBe  einigende 
Parole  geben;  sowohl  fiir  Neuwahlen  wie  fiir  ernstere  Falle . . . 
Bleibt  die  Rechte  in  der  Opposition,  so  bleiben  auch  die  Vor- 
aussetzungen  bestehen,  denen  die  Nationalsozialisten  ihren 
Triumph  verdanken." 

Jedoch  Briining  blieb  Reichskanzler,  und  die  Sozialdemo- 
kratie tolerierte  ihn  weiter.  Da  sie  es  gratis  tat,  lieB  er  es 
sich  gefallen.  „Herr  Briining",  erklarte  Ossietzk^  am  7.  Ok- 
tober  1930,  ,,fuhlt  sich  als  Kanzler  der  Sanierung,  Aber  er 
ist  kein  Beginn,  kein  Obergang,  er  ist  ein  Letzter.  Er  ist  der 
Romulus  Augustulus  unter  den  Kanzlern  der  demokratischen 
Republik,  den  das  Schicksal  bestimmt  hat,  die  Kapitulation  vor 
den  Barbaren  zu  unterzeichnen.  Romulus  Augustulus  —  das 
ist  ein  Name,  bei  dem  sich  die  Geschichte  nicht  aufhalt,  wir 
denken  uns  nicht  viel  dabei,  und  fiir  eine  Sekuride  nur  huscht 
eine  Vision  voriiber  von  niedergemahten  Legionen  und  einem 
schwachen  kranken  Knaben  mit  zitternden  dunnen  Gliedern 
und  einem  Kopf,  so  alt  und  welk  wie  das  alte  welke  romische 
Reich."    ! 

Da  Doktor  Briining  nicht  mit  der  Rechten  regieren  konnte, 
regierte  er  zwar  mit  der  Linken,  aber  er  machte  die  Politik 
der  Rechten.  Das  Parlament  durfte  von  Zeit  zu  Zeit  ja  sagen. 
Das  war  „die  autoritare  Demokratie".  Ich  habe  hier  einmal 
dariiber  geschrieben:  „Nicht  nur  die  Form  hat  sich  also  ge- 
wandelt    sondern  auch  der  Inhalt,  und  der  Geisteszustand  der 

845 


deutschen    Republik     cntspricht     bereits     vollig     dem    eincr 
Monarchie." 

Dann  kam  die  Hindenburgwahl.  Die  Sozialdemokraten, 
die  durch  dick  und  diinn  hinter  Br  lining  herliefen,  machten 
auch  diesmal  mit,  und  die  liberale  Presse  begeisterte  sich  fur 
den  Sieger  von  Tannenberg.  Ossietzky  schrieb:  nUnsre  re- 
publikanischen  Freunde  heben  warnend  den  Padagogenfinger 
und  fragen:  Was  wird,  wenn  durch  Thalmanns  Sonderkandi- 
datur  etwa  Hitler  gewahlt  wird?  Wir  stellen  eine  andre  Frage: 
Was  wird,  wenn  Hindenburg  gewahlt  wird?'*  Am  Tage  nach 
der  Wahl  fiigte  ich  dem  hinzu;  nDieser  Wahlkampf  war  kein 
Kampf  zwischen  der  Demokratie  und  der  Diktatur.  Es  war 
vielmehr  ein  Kampf.  zwischen  zwei  konkurrierenden  Firmen, 
die  um  die  Quote  ringen,  bevor  sie  sich  vertrusten/* 

Wenige,  Tage,  bevor  er  ins  Gefangnis  ging,  erlauterte 
Ossietzky  noch  einmal  die  Lage;  „Die  Quittung,  die  die  gut- 
glaubigen  Republikaner  erhalten,  ist  streng  aber  nicht  unge- 
recht.  Gegen  so  viel  Dummheit  gibt  es  nur  Stockpriigel.  Sie 
haben,  ohne  zu  fragen,  ohne  zu  fordern,  fiir  einen  Mann  ge- 
kampft,  der  gefiihlsmaBig  zur  andern  Seite  gehort  und  nach 
seiner  ganzen  Vergangenheit  nichts  andres  sein  kann  als  ein 
konservativer   Militar." 

Und  nun  ist  das  Ende  da.  Herr  von  Hindenburg,  General- 
feldmarschall,  Rittergutsbesitzer  und  Reichsprasident,  hat  den 
Leutnant  Briining  weggeschickt  und  den  Major  von  Papen 
ernannt.  Manche  Leiite  iiberlegen  jetzt,  ob  es  besser  ist,  von 
der  Militardiktatur  erschossen  oder  vom  Fascismus  gehangt 
zu  werden.  Mir  ist  das  egal,  ira  iibrigen  werden  Schleicher 
und  Hitler  sich  schon  einigen.  Hejrrn  von  Hindenburg 
freilich  sind  seine  von  Hugenberg,  gedrillten  Standes- 
genossen  lieber  als  die  Nazis  mit  ihren  parvenuhaften  Ma- 
nieren,  aber  der  Reichsprasident  ist  keine  zentrale  Figur 
mehr;  indem  er  das  Land  denen  iiberantwortet,  die  im  Wahl- 
kampf seine  Gegner  waren,  hat  er  sich  selbst  entmachtet, 
Schon  hort  man,  dafl  die  neuen  Herren  fiir  alle  Falle  an  einen 
Reichsverweser  denken.  Sie  haben  auch  schon  den  geeig- 
neten  Mann  in  petto  —  den  ehemaligen  Kronprinzen.  Ja,  wir 
miissen  verlernen,  uns  zu  wimdern, 

Jahrelang  hat  man  gesagt,  Deutschland  sei  eine  Republik 
ohne  Republikaner.  Jetzt  sind  wir  Republikaner  ohne  Re- 
publik. Jetzt  wird  es  wieder  heiBen,  man  solle  die  Vergangen- 
heit ruhen  lassen;  die  Untersuchung  der  Schuldfrage  ist  nie 
beliebt  bei  den  Schuldigen.  Aber  es  hat  nicht  nur  historischen 
Wert,  wenn  man  heute  den  Ursachen  des  Zusammenbruchs 
nachgeht.  Nur  wer  die  vergangenen  Fehler  in  ihrem  ganzen 
Umfang  begreift,  wird  zukiinftige  vermeiden,  und  die  immer 
noch  nicht  die  Wahrheit  vertragen  konnen,  mogen  daran 
denken,  daB  die  Realitat  der  Ereignisse  ihnen  heute  schlimmere 
Wahrheiten  offenbart  als  es  die  kritischste  Selbsterkenntnis 
zu  'tun  vermag. 

Es  hat  keinen  Zweck  mehr,  sich  etwas  vorzumachen. 
Doch  es  ist  auch  nicht  notig,  in  Panik  zu  verf alien  und  alles 
verloren   zu   geben.      Niemals   ist  alles  verloren,   solange   man 

846 


noch  cinen  Funk  en  Kraftgefuhl  in  sich  hat.  Noch  ist  der  Kern, 
der  Arbciterklassc  intakt,  noch  gibt  es  Rcpublikaner  in 
Deutschland,  noch  konnen  wir  kampfen,  wenn  wir  uns  nur 
zusammenfinden,  Aber  notig  ist,  daB  wir  uns  auch  von  den 
letzten  Illusionen  freimachen.  Die  alte  Linke  ist  tot,  wir 
miissen  von  vorn  aniangen.     Es  lebe  die  neue  Linke! 

Die  Ursache  von  John  Suitbert  . 

C  s  ist  unsinnig,  ein  Geheimnis  daraus  zu  machen:  der  Sturz 
Briinings,  die  Verletzung  des  parlamentarischen  Regimes 
durch  den  Inhaber  der  Prasidialgewalt,  das  alles  ergibt  sich  mit 
einfacher  Logik  aus  der  letzten  HindenburgwahL  Kein  von 
Hugenberg  und  Hitler  nominierter  und  gestiitzter  Reichsprasi- 
dent  hatte  sich  anders  verhalten  konnen,  Es  ist  wohl  ein  in 
der  Geschichte  konstitutioneller  Staaten  noch  nicht  vorge-, 
kommener  Fall,  daB  sich  ein  Gewahlter  so  schnell  nach  einem 
so  triumphalen  Erfolg  gegen  seine  Wahler  und  gegen  diejenigen 
Parteien  gewandt  hatte,  die  ihm  diesen  Erfolg  verschafft  haben. 
Man  kann  Herrn  von  Hindenburg  keinen  Vorwurf  daraus 
machen,  daB  er  sich  so  und  nicht  anders  entschieden  hat.  Nie- 
mand  kann  ihm  vorwerfen,  er  habe  sich  gewandelt.  Er  ist  sich 
treu  geblieben  in  jeder  Phase  seines  Amts,  er  ist  vor  allem  treu 
geblieben  seinem  Programm  von  1925.  Denn  denen,  die  ihn 
in  diesem  Winter  zu  ihrem  Kandidaten  machten  und  ihn  sieg- 
reich  durch  die  Plebiszite  vom  13.  Marz  und  vom  10.  April 
trugen,  hat  er  nichts  versprochen.  Er  hat  sich  nur  von  ihnen 
wahlen  lassen. 

Wie  wollen  unter  diesen  traurigen  Umstanden  die  Republi- 
kaner  sich  zur  Wehr  setzen?  Abgesehen  da  von,  daB  es  zur 
Zeit  mit  den  machtpolitischen  Voraussetzungen  dazu  schlecht 
bestellt  ist  —  unter  welcher  Parole  sollte  der  republikanische 
Widerstand  eroffnet  werden?  Herr  Holtermann,  dessen  An- 
sichten  wir  nicht  teilen,  ist  ohne  Zweifel  ein  Mann  von  groBer 
Initiative.  Aber  auch  Herr  Holtermann  ist  durch  jiingst  ver- 
gangene  Ereignisse  aufs  festeste  gebunden.  Wohl  konnte  er 
zur  Verteidigung  der  Verfassung  seine  Eiserne  Front  gegen 
Hitler  aufbieten,  selbst  gegen  Schleicher,  aber  nicht  gegen  Hin- 
denburg, zu  dessen  Wahl  die  Eiserne  Front  vor  ein  paar  Mo- 
naten  erst  gegriindet  wurde.  Das  ist  das  republikanische 
Dilemma. 

Es  ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  daB  sich  Herr  von  Hinden- 
burg im  besten  Glauben  befindet,  noch  immer  auf  dem  Boden 
der  Reichsverfassung  zu  stehen.  Allerdings  miiBte  ein  politisch 
geschulter  President  sich  sagen,  daB  er  nicht  eine  Regierung 
nach  Hause  schicken  d'arf,  nur  weil  einer  Reihe  von  ost- 
-elbischen  Granden,  deren  Rat  er  schatzt,  obgleich  sie  sich  bei 
der  letzten  Wahl  durchweg  gegen  ihn  erklart  haben,  die  Bo- 
denpolitik  dieser  Regierung  nicht  gefallt.  Herr  Briining  ist  von 
einer  zu  loyalen  Autoritatsglaubigkeit  erfiillt,  als  daB  er  Herrn 
von  Hindenburg  zu  sagen  gewagt  hatte,  wie  sehr  er  seine  eigne 
Position  damit  gefahrde.  Denn  die  ,,autoritare  Demokratie"  mit 
•einem  ziemlich  absoluten  Prasidenten  an  der  Spitze,  iiberhaupt 

847 


die  monarchenahnliche  Stellung  Hindenburgs,  das  wieder  ist 
die  besondere  Schopfung  Brunings.  Als  der  President  Jules 
Grevy  nach  einem  von  ihm  verschuldeten  Konflikt  nicht  gleich 
eine  Regierung  linden  konnte,  antwortete  ihm  der  ins  Elysee 
berufene  Clemenceau;  „Herr  Prasident,  das  ist  keine  Kabinetts- 
krise  —  das  ist  eine  Prasidentenkrise!"  Jules  Grevy  verstand 
und  demissionierte, 

Bei  uns  sind  heute  keine  Demokraten  mehr  wirksam,  die 
so  reden  und  handeln  konnten.  Die  konstitutionellen  Krafte 
sind  zu  Tode  erschopft.  Es  hatte  noch  neue  Moglichkeiten  ge- 
geben,  wenn  die  republikanischen  Parteien,  ehe  sie  Herrn  von 
Hindenburg  zu  inrem  Prasidenten  machten,  von  ihm  ein  Pro- 
gramm  mit  konkreten  Garantien  verlangt  hatten.  Wer  die 
,  Weltbiihne'  von  Januar  bis  April  durchblattert,  wird  Woche 
fur  Woche  die  schwarzesten  Prognosen  dessen  finden,  was  die 
deutsche  Linke  von  einer  zweiten  Prasidentschaft  Hindenburgs 
zu  erwarten  hat,  wenn  sie  sich  nicht  geniigende  Sieherungen 
geben  laBt.  Die  ,Weltbuhne'  ist  dafiir  von  den  besorgten 
Hochmeistern  der  demokratischen  Presse  aufs  schwerste  ge- 
ruffelt  worden,  aber  die  Genugtuung,  recht  behalten  zu  habent 
stimmt  heute  nicht  gTiicklich, 

Die  Millionenmassen  der  beiden  Wahlgange  haben  nicht 
fiir  Hindenburg  votiert  sondern  ftir  die  Republik.  Das  hat  die 
Eiserne  Front  nicht  begriffen.  Mit  kaum  geringern  Erfolg  hatte 
sie  einen  Mann  d'er  Linken  auf  den  Schild  erheben  konnen. 
Auf  den  allzu  selbstlosen  und  vertrauensvollen  Fiihrern  der 
deutschen  Republikaner  lastet  vor,  der  Geschichte  die  Verant- 
wortung  fiir  das,  was  geschehen  ist  und  noch  kommen  wird. 
In  den  Schriften  von  Franz  Mehring  liest  man  diesen  wahr- 
haft  lichtenbergischen  Satz:  ,,Es  war  eine  jener  herzbrechen- 
den  Dummheiten,  wie  man  sie  nur  in  der  preuBischen  Ge- 
schichte, aber  in  ihr  gleich  dutzendweise  findet".  Man  kann 
statt  (fpreuBisch"  ruhig  ,,deutsch"  setzen. 


Der  okonomische  Hintergrund  K.  l.  G°enrstorff 

P  s  sind  eine  Reihe  von  Faktoren  gewesen,  die  zum  Sturz  der  Brii- 
*-*  niagregierung  gefuhrt  haben,  nachdem  si3  kurz  vorher  noch  im 
Parlament  eine  Mehrheit  von  dreifiig  Stimmen  erhalten  hatte.  Auf 
die  politischen  Fragenkomplexe  ist  an  andrer  Stelle  dieser  Nummer 
eingegangen  worden.  Es  ist  sicher,  dafi  die  ostelbische  Junkerclique 
bei  Hindenburg  gegen  gewisse  Siedlungsprojekte  Sturm  gelaufen  ist, 
weil  sich  die  Bruningregierung  weigerte,  noch.  weitere  Hunderte  von 
Millionen  an  Subventionen  dem  vollig  bankrotten  ostelbischen  Be- 
trieben  zu  schenken,  Und  es  mag  sein,  daB  diese  immer  stiirmischer 
vorgetragenen  Wiinsche  der  Junker  den  auBern  AnlaB  zum  Sturz  der 
Regierung  gegeben  haben  —  den  tiefern  Grund  bilden  sie  nicht.  Der 
tiefere  Grund  ist,  daB  die  entscheidenden  hochkapitalistischen 
Kreise  von  der  Bruningregierung,  in  der  ein  ehemaliger  Gewerkschaft- 
ler  Arbeitsminister  war,  befiirchteten,  daB  das  Tempo  des  Lohnraubs 
zu  wenig  beschleunigt  wurde,  daB  es  zuriickbliebe  hinter  dem  Tempo, 
in  dem  sich  die  gesamte  wirtschaftliche  Situation  verscharft. 

Wie  sind  die  Daten?    In  dieser  Krise  ist  die  groBte  Zusammen- 
schrumpfung  der  Produktion  eingetreten,  die  wir  jemals  in  einer  Kris<> 

848 


des  Kapitalismus  erlebt  haben.  In  den  vergangenen  Monaten  betrug  die 
gesamte  Weltproduktion  nur  nocb  so  viel  wie  in  den  letzten  Vor- 
kriegs  jahren.  Aber  auch  diese  Zahlen  geben  noch  ein  zu  giinstiges 
Bild.  Denn  in  der  Weltproduktion  ist  die  Produktion  SowjetruBlands 
einbegriffen,  die  in  der  Zeit  des  Funfjahresplans  einen  kraftigen  in- 
dustriellen  Aufschwung  gen om men  hat  und  heute  ungefahr  das  Zwei- 
einhalbfache  der  Friedensproduktion  betragt.  In  den  kapitalistiscben 
Landern  ist  die  Gesamtproduktion  bereits  weit  unter  das  Niveau  der 
letzten  Friedensjahre  gesunken.  Aber  die  Entwicklung  verlief  dabei 
durchaus  nicht  gleichmiiBig.  In  Frankreich  und  in  den  Vereinigten 
Staaten  steht  die  Produktion  heute  noch  ungefahr  auf  dem  Niveau 
von  1913.  In  England,  das  seit  mehr  als  zehn  Jahren  aus  seiner  chro- 
nischen  Depression  nicht  mehr  herausgekommen  ist,  liegt  sie  nicht 
mehr  hoher  als  um  die  Jahrhundertwende. 

Im  deutschen  Kapitalismus  halt  die  Produktion.  heute  das  Niveau 
von  der  Mitte  der  neunziger  Jahre;  so  beweist  die  Gestaltung  der 
Produktion,  was  wir  immer  wieder  behauptet  haben,  daB  im  Nieder- 
gang  des  gesamten  kapitalistischen  Systems  innerhalb  der  hochkapi- 
talistischen  Zentren  der  deutsche  Kapitalismus  das  schwachste  Glied 
ist.  Der  deutsche  Kapitalismus  hat  auf  diese  ungeheure  Zusammen- 
schrumpfung  der  Produktion  bereits  mit  einem  Lohnraub  in  einem 
Umfange  geantwortet,  fur  den  es  in  der  Geschichte  keine  Parallele 
gibt.  Das  Lohneinkommen  der  gesamten  deutschen  Arbeiterschaft  be- 
tragt in  diesem  Friihjahr  nur  noch  die  Halfte  der  Sum  men  aus  der 
Konjunkturzeit.  Und  auch  die  Unterstiitzungssatze  der  Arbeitslosen 
sind  in  gradezu  phantastischer  Weise  abgebaut  worden.  In  der  Rede 
vor  der  auslandischen  Presse,  die  Briining  einen  Tag  vor  seiner  De- 
mission hielt,  betonte  er,  daB  die  Unterstiitzungssatze  fur  einen  Ar- 
beitslosen mit  Familie,  die  vor  vier  Jahren  im  Durchschnitt  neunzig 
Mark  monatlich  betragen  hatten,  im  Laufe  dieses  Jahres  auf  fiinfzig 
Mark  zuruckgegangen  sind.  Also  sogar  nach  den  Zahlen  Brtinings 
hatten  die  Arbeitslosen  fast  die  Halfte  ihrer  Unterstiitzungssatze  ein- 
gebufit.  In  Wirklichkeit  sind  die  Zahlen  noch  weit  ungiinstiger,  da 
erne  wachsende  Menge  von  Arbeitslosen,  die  bereits  in  die  Millionen 
geht,  keinen  Pfennig  Unterstiitzung  mehr  bekommt. 

Als  die  Briiningregierung  den  sozialdemokratischen  Arbeitern  ge- 
stattete4  fiir  Hindenburgs  Wahl  zu  stimmen,  und  Hindenburg  fur  ein 
Bollwerk  gegen  den  Fascismus  ausgab,  erklarte  sie  gleichzeitig,  dafi 
sie  auf  sozialpolitischem  Gebiet  keine  neue  Notverordnung  plane, 
und  daB  der  Lohn  der  deutschen  Arbeiterschaft  ziemlich  stabil  blei- 
ben  solle;  nur  sollten,  wie  Stegerwald  auf  dem  KrisenkongreB  der 
freien  Gewerkschaften  ausfiihrte,  die  ..iiberhohten"  Lohne  gewisser 
Arbeiterkategorien  an  das  allgemein  gesunkene  Lohnniveau  f,an- 
geglichen"    werden, 

Nach  den  PreuBenwahlen  sah  es  bereits  anders  aus.  Wir  kennen 
zwar  nicht  den  exakten  Inhalt  der  Notverordnung,  mit  der  Briining 
die  Finanzmisere  der  gesamten  Sozialpolitik  wieder  einmal  „sanieren" 
woltte.  Aber  was  wir  wissen,  zeigt  deutlich,  dafi  die  Regierung  einen 
neuen  brutalen  Abbau  vornehmen  wollte.  Die  hochsten  Satze  be- 
kommt der  Arbeitslose  bekanntlich,  solange  er  noch  in  deir  Arbeits- 
losenversicherung  ist.  Die  Unterstiitzungsdauer  in  der  Arbeitslosen- 
versicherung  sollte  von  zwanzig  auf  dreizehn  Wochen  herabgesetzt,  die 
Bedurftigkeitsprufung  verscharft,  die  gesamten  Unterstiitzungssummen 
verkurzt  werden.  Und  zur  Deckung  des  Defizits,  das  dann  noch  be- 
stand,  sollten  durch  eine  Kopfsteuer  alle  Beschaftigten  herangezogen 
werden;  wobei  nicht  einmal  die  Freigrenze  bis  zu  dreihundert  Mark 
Einkommen,  die  man  zunachst  Ziehen  wollte,  innegehalten  werden 
sollte.  In  diesem  Briiningentwurf  war  von  wirklichen  Besitzsteuern, 
von  einer  Steuer  auf  die  grofien  Einkommen,  von  einer  Vermogens- 
und  Erbschaftsteuer  nicht  mit  einem  Satz  die  Rede, 

2  849 


Bei  diesem  neuen  Attentat  auf  die  Sozialpolitik  waren  sich  die 
Regierungskreise  durchaus  bewuBt,,  daB  sich  im  Verlaufe  des  Jahres 
1932  eine  Verscharfung  der  Lage  auf  dem  Arbeitsmarkt  ergeben 
muBte,  Denn  es  wurde  fur  den  Durchschnitt  dieses  Jahres  mit  einer 
Arbeitslosigkeit  von  knapp  sechs  Millionen  gerechnet.  Das  heiflt,  man 
nahm  an,  daB  die  Hdchstzahlen  der  Winterarbeitslosigkeit  von  1931 
zu  1932  die  Durchschnittsziffer  von  1932  werden  wiirde.  Es  ist  aber 
ganz  klar,  daB  dieser  geplante  Abbau  der  Arbeitslosenversicherung 
das  Signal  geben  sollte  zu  einem  neuen  Lohnraub  an  den  beschaftig- 
ten  Arbeitern.  Wir  hatten  an  vielen  Stellen  in  Deutschland  zu  kon- 
statieren,  daB  bei  der  Anktindigung  neuer  Lohnherabsetzungen  die 
Streikneigungen  der  Betriebsarbeiterschaft  wuchsen,  weil  bei  der 
immer  starker  verktirzten  Arbeitszeit  und  dem  angekiindigten  neuen 
Lohnraub  die  im  ProduktionsprozeB  Stehenden  oft  nicht  mehr  ver- 
dienten  als  die,  die  von  der  Arbeitslosenversicherung  unterstutzt 
wurden.  Wenri  man  also  die  Arbeitslosenversicherung  weiter  brutal 
abbaute,  so  traf  man  zwei  Fliegen  mit  einem  Schlag;  man  „sanierte" 
das  Budget  auf  Kosten  der  arbeitenden  Klasse,  und  man  schuf  gleich- 
zeitig   die  Voraussetzung   fur   den  neuen  Lohnabbau. 

Stegerwald  hielt  sich  bereits  nicht  mehr  an  das,  was  er  den  so- 
zialdemokratischen  Arbeitern  vor  den  PreuBenwahlen  gesagt  hatte. 
Er  betonte  jetzt,  daB  die  Lohne  all  der  Arbeiter  abgebaut  werden 
sollten,  die  in  Binnenmarkt-Industrien  beschaftigt  seien.  Wenn  man 
bedenkt,  daB  in  dieser  Krise  von  der  deutschen  Produktion  noch  etwa 
drei  Viertel  im  Inland  abgesetzt  werden,  so  bedeutet  ein  Abbau  der 
Lohne  in  den  Binnenmarkt-Industrien  in  Wirklichkeit  einen  Abbau  der 
Lohne  der  gesamten  Arbeiterschaft. 

So  war  die  Lage  vor  dem  Sturz  der  Bruning-Regierung.  Aber 
selbst  diese  Plane  gentigen  dem  reaktionar  fascistischen  Kliingel,  den 
Junkern,  GroBkapitalisten  und  den  von  ihnen  ausgehaltenen  Prae- 
torianergardea  nicht-  Denn  Stegerwald  ist  ein  alter  Gewerkschaftler. 
Und  bei  allem  Abbau  der  Lohne  und  der  Sozialpolitik  sollten  doch 
die  Gewerkschaften  erhalten  bleiben,  sollte  der  Lohnabbau  in 
einer  Weise  erfolgen,  die  dem  Monopolkapital  zu  langsam  vorkam. 
Wenn  man  die  ,D.A.Z/  und  die  Hugenbergpresse  der  letzten  Zeit 
verfolgte,  dann  war  Stegerwald'  der  verhaBteste  Mann  in  diesem  Ka- 
binett,  weil  er  nach  seiner  gewerkschaftlichen  Vergangenheit  und  sei- 
nen  engen  Beziehungen  zu  den  christlichen  Verbanden  die  schlimm- 
sten  Scharfmacherplane  nicht  verwirklichen  konnte,  Zu  langsames 
Tempo  im  Abbau  der  Sozialpolitik  und  der  Lohne,  das  sind  die  ent- 
scheidenden  okonomischen  Hintergriinde,  die  Junker,  Generate  und 
Monopolkapitalisten  im  trauten  Verein  dazu  gefiihrt  haben,  hinten- 
herum   die  Brtiningregierung   zu  stiirzen. 

Von  der  neuen  Regierung  haben  wir  daher  einen  noch  brutale- 
ren,;  einen  noch  scharfern  Angriff  auf  die  Lebenshaltung  der  breiten 
Massen  zu   erwarten. 

Wenn  das  Zentrum  sich  so  absolut  reserviert  gegeniiber  der  neuen 
Regierung  verhalt,  dann  nicht  nur  darum,  weil  die  Art  und  Weise, 
wie  man  Briining  efledigte,  das  Zentrum  verschnupft  hat,  sondern 
auch  darum,  weil  es  schon  bei  den  Stegerwaldplanen  sehr  schwer  war, 
die  christlichen  Gewerkschaftsmitglieder  bei  der  Stange  zu  halten, 
und  weil  naturgemaB  bei  einem  noch  brutaleren  Angriff  der  Wider- 
stand  auch  der  christlichen  Arbeiter  immer  starker  werden  muB, 

Die  Dinge  in  PreuBen,  der  Sturz  der  Brtiningregierung  zeigen,  in 
welchem  Tempo  die  Reaktion  zum  Vormarsch  ubergeht*  Im  Ver- 
gleich  dazu  verlauft  die  Gestaltung  einer.  Arbeiter-Einheitsfront 
nur  in  einem  Schneckentempo.  Wenn  durch  den  Sturz  der 
Brtiningregierung  Hunderttausende  von  Arbeitern  sehend  werden  und 
so  der  Gedanke  der  Einheitsfront  einen  neuen  Auftrieb  bekommt, 
dann  hat  dieser  Sturz  wenigstens  ein  Positivum  gezeitigt. 

850 


Die  PrfigelpadagOgen  von  Hans  Kraufl 

\/or  mehr  als  fiinfzig  Jahren  schickte  der  Redakteur  dcr  .Frankfurter 
*  Zeitung',  Eduard  Sack,  seinen  Alarmruf  f,Gegen  die  Prugefpada- 
gogen"  ins  Land,  und  heute  beweisen  uns  die  MiChandlungen  in  den 
Fursorgeanstalten,  besonders  der  Fall  Templin,  Urteile  gegen  Lehrer 
wegen  Oberschreitung  des  Ziichtigungsrechtes  und  immer.  wiederkeh- 
rende  Klagen  von  Eltern  und  Kindernr  dafi  alles  beim  Alten  geblie- 
ben  ist. 

Sack  richtete  seine  vernichtende  Kritik  gegen  einen  Vortrag  des 
leipziger  Biirgerschullehrers  Julius  Beeger  und  gegen  eine  Kund- 
gebung  des  ersten  allgemeinen.  deutschen  Lehrertages  an  die  Reichs- 
behorden  zur  reichsgesetzlichen  Einfiihrung  der  Priigel strafe  in  den 
Schulen  —  naturlich  nur  in  den  Volksschulen.  Aber  noch  heute,  wo 
man  von  dem  Jahrhundert  des  Kindes  spricht,  finden  wir  das  Priigel - 
recht  in  Kraft;  mit  einem  Aufwand  an  Stimmitteln  und  Kraft,  daB 
man  meinen  konnte,  es  handle  sich  hierbei  urn  der  Menschheit  hochste 
Guter,  wird!  es  von  vielen  Lehrern  verteidigt.  Ja,  wir  muBten  sogar 
erleben,  daB  im  thuringer  Wahlkampf  auf  Betreiben  des  Lehrerver- 
einsvorstandes  die  Wiedereinftihrung  des  abgeschafften  Ziichtigungs- 
rechtes zu  einer  larmenden  Wahlparole  gegen  die  ehemals  rote  Re- 
gierung  gemacht  wurde, 

Bezeichnend  ist,  daB  die  Argumente,  die  die  berufenen  Hiiter  der 
Staatspadagogik  fur  ihre  Auffassung  anfiihren,  seit  den  altesten  Ta- 
gen  bis  in  die  heutige  Zeit  die  gleichen  geblieben  sind,  obwohl  sich 
doeh  mancher  Wandel  vollzogen  hat,  der  auch  diese  Padagogen  hatte 
erschiittern  miissen;  aber  sie  kommen  von  der  alten  biblischen  Weis- 
heit  nicht  los:  Wer  der  Rute  schont,  der  hasset  seinen  Sohn! 

Als  vor  fiinfzig  Jahren  der  ehrenwerte  Herr  Beeger  schrieb:  Ge- 
gen Roheit,  Wildheit,  UnbotmaBigkdt,  gegen  Arbeitsscheu  und  Ge- 
nufisucht  gabe  es  als  einziges  Abwehrmittel  nur  die  Priigels-trafe,  muBte 
er  sich  von  Eduard  Sack  dahin  belehren  lassen,  daB  schon  vor  hun- 
dett  Jahren  der  schlesische  Priigelmeister  Artelius,  vor  zweihundert 
Jahren  das  Kollegium  des  stuttgarter  Gymnasiums  und  vor  drei- 
hundert  Jahren  der  ilfelder  Rektor  Michael  Neander  diese  Be- 
weisfuhrung  fur  ihren  menschenfreundlichen  Standpunkt  geltend  ge- 
macht  hatten.  Wenn  nun  die  thuringer  Lehrer  fur  die  Beibehaltung 
dieses  Zwangsmittels  anfiihren:  „Die  Beseitigung  der  Priigel- 
strafe  ist  nicht  niir  ein  schweres  Verbrechen  an  unserer  Jugend 
sondern  auchi  ein  groBes  Unrecht  an  der  Lehrerschaft,  die  den 
Roheiten  und  Schlechtigkeiten  der  Jugend  schutzlos  ausgeliefert  ist , . . 
AuBerdem  ist  es  eine  schwere  Versiindigung  an  der  gesamten  Bevolke- 
rung,  die  jetzt  schon  unter  der  Zuchtlosigkeit  der  Jugend  zu  leiden 
hat.  Die  thuringer  Jugend  wurde  in  wenigen  Jahren  die  moralisch 
tiefststehende  Jugend  Deutschlands  sein,  wenn  nicht  in  der  Volks- 
schule  bald  wieder  ein  Zuchtmittel  eingefiihrt  wtirde,  welches  der 
Eigenart  des  Kindes  entspricht,  ohne  Kosten  anwendbar  und  wirksam 
ist",  —  so  konnen  ihre  Griinde  ebensowenig  Anspruch  auf  Original itat 
und  auf  Beweiskraft  erheben  wie  die  jener  Alten« 

Interessant  ist  der  statistische  Nachweis  Sacks,  der  die  Behaup- 
tungen  der  sittenstrengen  Magister  Liigen  straft;  denn  danach  gehen 
grade  in  Zeiten  des  Aufbegehrens  eines  unterdriickten  Volkes  die 
strafbaren  Delikte  zuritck,  wahrend  sie  in  Perioden  wiedererstarken- 
der  Reaktion  sich  um  so  mehr  haufen;  wie  denn  auch  unser  neuer- 
liches  Beispiel,  obwohl  es  grade  das  Gegenteil.  erweisen  will,  un- 
gewollt  dartut,  daB  der  Riickschritt  nach  dem  harten  Zuchtmittel 
schreit,  um  die  Milderung  der  Erziehungsmittel  aus  einer  freiheitlichen 
Periode  wieder  rtickgangig  zu  machen. 

Immerhin  hatten  jene  Manner  vor  fiinfzig  und  hundert  Jahren  vor 
unsern  modernen  Prugelheldeh  zu  ihrer  Entschuldigung  eines  voraust 

851 


Damals  fehlte  es  an  einer  wissenschaftlich  begriindeten  Psychologic 
und  Padagogik,  die  sicheren  AufschluB  iiber  die  Kindesseele  und 
zweckmaBige  Hinweise  fiir  die  Behandlung  kindlicher  Eigenart  geben 
konnten;  damals  gab  es  noch  keine  Soziologie,  die  die  Zusammenhange 
zwischen  gesellschaftlichen  Faktoren  und  individuellen  Erscheinungen 
aufdeckte.  Noch  dazu  stand  die  Zeit  des  Herrn  Beeger  unter  den 
Nachwirkungen  der  preuflischen  Regulative,  die  den  Erziehern,  wollten 
sie  den  starren  Anforderungen  und  unvernunftigen  -Zielen  der  Staats- 
padagogik  genugen,  nur  den  einen  Ausweg  grausamer  und  unnatur- 
licher  Mittel,  starksten  auBern  Zwanges  und  harter  Zucht  iubrig  liefi. 
Aber  heute  sollen  wir  doch  nach  Ellen  Key  im  „Jahrhundert  des 
Kindes"  leben,  das  dessen  Recht  auf  die  Pflege  seiner  Eigenart,  die 
grundverschieden  von  der  Erwachsener  ist,  anerkannt  hat  und  in  dem 
Menschenfreunde  als  Erzieher  wirken  sollen/ 

Die  Anwalte  zur  Verteidigung  der  Priigelstrafe  sind  alter  psycho- 
logischen  Erfahrung  bar,  die  immer  wieder  lehrt,  daB  man  mit  Prii- 
geln  in  der  Regel  nur  das  Gegentcil  von  dem  erreicht,  was  man  er- 
hofft.  Man  will  den  Willen  brechen,  aber  man  vergiBt,  daB  der 
Zogling  unter  einem  rohen  Zwang  sein  Tun  und  Lassen  nur  von>  der 
Angst  vor  Ziichtigung,  nicht  aber  von  innerer  Uberzeugung  und  freier 
Entscheidung  bestimmen  lafit.  Man  libersieht,  dafl  solcher  Art  von 
Gehorsam  jedes  sittliche  Moment  fehlt  und  daB  nun  eintreten  wird, 
was  Ellen  Key  nach  langen  und  griindlichen  Beobachtungen  immer 
wieder  als  Resultat  feststellen  konnte:  „Welche  kochende  Bitterkeit 
und  Rachgier,  welche  hiindischkriechende  Schmeichelei  ruft  nicht  die 
korperliche  Ziichtigung  hervor.  Sie  macht  den  Feigen  feiger,  den 
Trotzigen  trotziger,  den  Harten  harter.  Sie  starkt  die  beiden  Ge- 
fiihle,  die  die  Wurzeln  von  allem  Bosen  in  der  Welt  sind:  Hafi  und 
Furcht."  Mit  der  Priigelstrafe  erschlagt  man  den  Menschen  im 
Menschen. 

Wie  die  herrschenden  Klassen  in  frtihern  Jahrhunderten  die  Prii- 
gel  brauchten,  um  Mdas  Volk"  besser  leiten,  beherrscheh  und  aus- 
beuten  zu  konnen,  so  fordert  man  jetzt  die  Priigelstrafe  fur  das  Kind, 
weil  man  weifi,  daB,  wer  in  der  Kindheit  viel  Schimpf  undl  Schmerz 
bat  iiber  sich  ergehen  lassen  mussen,  sein  Leben  lang  geneigti  bleibt, 
mit  Geduld  und  Ergebung  Gewalt  und  Unrecht  zu  ertragen,  daB  viel- 
gepnigelte  Kinder  einen  fast  unausrottbar  untertanigen  Charakter 
annehmen. 

Heute  haben  sogar  die  Tierbandiger  ihre  alten  Dressurmethoden 
zugunsten  humaner  Behandlung  preisgegeben  und  beschamen  so  unsre 
padagogischen  Zunfthandwerker.  In  seinen  „Lebenserinnerungen" 
schreibt  Carl  Hagenbeck:  „Auch  fiir  die  Tieref  die  aus  der  freien 
Wildnis  in  die  Gefangenschaft  versetzt  werjden,  ist  eine  humanere  Zeit 
angebrochen.  Die  Hilfsmittel  der  Tierbandiger  frtiherer  Zeiten  waren 
Peitsche,  Stock  und  gltihend  gemachtes  Eisen.  Man  kann  sich  denken, 
daB  die  Tiere  niemals  Vertrauen  zu  ihren  Herren  faBten  sondern  ihre 
Peiniger  nur  furchtbar  und  grimmig  hafiten . . .  Die  Zeiten  der  Gewalt- 
dressuren  sind  jetzt  vorbei,  weil  man  mit  Gewalt  nicht  den  hundert- 
sten  Teil  dessen  erreichen  kann,  was  sich  mit  Giite  erzielen  lafit,  Aus 
diesem  Grunde  aber  habe  ich  seinerzeit  die  zahme  Dressur  nicht  ein- 
gefuhrt,  sondern  es  geschah  aus  Mitleid  und  aus  der  Erwagung  heraus, 
daB  es  einen  Weg  zur  Psyche  des  Tieres  geben  muB." 

Der  Weg  zur  Psyche  des  Menschen,  des  Kindes,  sollte  nicht  zu 
finden  sein?  Dann  sollte  man  jene  Schinder,  die  sich  noch  immer 
Padagogen  nennen,  jene  Beeger  und  Konsorten,  bevor  man  sie  weiter 
auf  junge  Menschenkinder  loslaBt,  zunachst  einen  Kursus  bei  Hagen- 
beck in  Stellingen  absolvieren  lassen.  Wenn  sich!  dann  erweist,  daB 
Hoffnung  auf  Besserung  nicht  besteht,  dann  soil  man  sie  stempeln 
schicken;  nur  fort  aus  einem  Amte,  fiir  das  ihnen  jede  Berufung  fehlt, 
aus  einem  Amte,  dessen  unerlaBliches  Axiom  die  uralte  Weisheit  des 

852 


Manu  aus  dem  indischen  Gesetzbuch  zu  sein  hat:  „Gute  Unterweisung 
mufi  dcm  Schuler  ohnc  unangenehme  Empfindung  gegeben  werden,  und 
ein  Lehrer,  der  der  T^ugend  huldigt,  mufi  sanfte  Worte  gebrauchen." 

Es  zcigt  sich  auch,  daB  alte  Volker,  auf  die  unsre  Muster- 
padagogen  oft  hochnasig  glauben  herabschen  zu  diirfen,  solche  bar- 
barischen  Erziehungsmethoden  nicht  kennen.  So  schreibt  Dokto-r 
Plofi  in  seinem  Buche  MDas  Kind  in  Brauch  und  Sitte  der  Volker":  „Es 
ist  bemerkenswert,  dafi  mehrere  sogenannte  wilde  Volker  diese 
deutsche  Eigentiimlichkeit  verabscheuen.  Den  Australnegern  gilt  das 
Zuchtigen  der  Kinder  als  eine  Grausamkeit,  bei  den  nordamerika- 
nischen  Indianern  gelten  harte  Schlage  meist  als  Barbarei,  die  Neger 
schlagen  ihre  Kinder  nur  selten,  und  doch  gehorchen  diese  den  Be- 
fehlen  ihres  Vaters  in  der  Regel  ptinktlich  und  gewissenhaft." 

Die  Geschichte  der  Menschheit  stellt  unter  Beweis,  dafi  der 
Starkere  und  Machtigere  nur  dann  nach  harten  Zuchtmitteln  ruft, 
wenn  soziale  Verhaltnisse  unertraglichen  Druck  erzeugen  und  die  Be- 
furchtung  nach  gewaltsamer  Auilehnung  in  greifbare  Nahe  riickt. 
Frtiher,  als  man  weniger  von  demokratischer  Gleichheit  sprach,  wurde 
nicht  selten  nach  diesem  Prinzip  verfahren;  da  mufite  jedermann  der 
Priigelstrafe  gewartig  sein,  sogar  die  Konige,  und  es  wird  versichert, 
sie  hatten  sie  ebenfails  redlich  verdient. 

In  keinem  Kulturstaat  der  Welt  wird  noch  die  Priigelstrafe  an 
wehrlosen  Kindern  geduldet.  Nur  in  Deutschland  darf  diese  Barbarei 
i rohliche  Urstand  f eiern  und  uns  eine  Blamage  vor  ganz  Europa  zu- 
fiigen,  Oberallj  hort  man  dort  bei  der  Erwahnung  deutscher  Er- 
ziehungsmethoden das  bittere  Wort  Hermann  Bahrs,  das  er  in  Grafs 
Buch  ,, Schuler jahre"  als  Bekenntnis  niedergelegt  hat:  „Ich  konnte 
tiber  meine  Schiilerjahre  nichts  sagen,  als  dafi  sie  die  schlimmste  Zeit 
meines  Lebens  gewesen  sind,  die  einzige,  die  ich  um  keinen  Preis  noch 
einmal  erleben  mochte,  und  dafi  ich  mich1  noch  heute  der  heftigsten 
Erbitterung  nicht  erwehren  kann,  wenn  ich  an  jene  tiickischen,  von 
Neid  gequalten,  schadenfrohen  Idioten  denke,  die  man  Lehrer  nennt." 

Rede  in  Budapest  von  Ernst  Toller 

\7  on  den  Machtigen  Europas  wird  heute  nichts  starker  ver- 
achtet  als  der  Geist,  niemand  hat  heute  eine  fragwiirdigere 
Stellung  als  der  geistige  Mensch.  Umsonst  scheinen  die  grofien 
Manner  des  18.  Jahrhunderts,  Voltaire,  Diderot,  Rousseau,  ge- 
lebt  zu  haben,  umsonst  Victor  Hugo  und  Emile  Zola. 

Es  ist  die  Zeit  gekommen,  von  der  Wieland  gesagt  hat: 
Freyheit  der  Presse  ist  Angelegenheit  und  Interesse  des  ganzen 
Menschengeschlechtes.  Ihr  haben  wir  hauptsachlich  die  gegenwartige 
Stuie  von  Kultur  und  Erleuchtung,  worauf  der  grofiere  Theil  der  Euro- 
paischen  Volker  stent,  zu  verdanken,  Man  raube  wis  diese  Freyheit, 
so  wird  das  Licht,  dessen  wir  uns  gegenwartig  freuen,  bald  wieder  ver- 
schwinden,  Unwissenheit  wird  bald  wieder  in  Dummheit  ausarten,  und 
Dummheit  uns  wieder  dem  Aberglauben  und  dem  Despotismus  preis- 
geben.  Die  Volker  werden  in  die  Barbarei  der  finstern  Jahrhunderte 
zuriick  sinken;  und  wer  sich  dann  erkiihnen  wird,  Wahrheiten  zu 
sagen,  an  deren  Verheimlichung  c\en  Unterdriickern  der  Menschheit 
gelegen  ist,  wird  ein  Ketzer  und  Aufruhrer  heifien,  und  als  ein  Ver- 
brecher  bestraft  werden. 

Wir  wollen  offen  sprechen.  Takt  war  das  Laster  der  Di- 
plomaten.  Es  wiirde  besser  um  Europa  und  seine  Volker 
stehen,  wenn  die  Diplomaten  taktloser  gewesen  waren  —  also 
die  Wahrheit  gesagt  hatten, 

853 


Es  ist  die  Tugend  der  Schriftsteller,  taktlos  zu  sein,  das 
heiOt:  nicht  zu  liigeti,  nichts  zu  verschleiern. 

Ich  liebc  die  ungarischc  Erde,  ich  bewundere  das  Volk  der 
Petofi  und  Adi,  aber  ich  verwahre  mich  dagcgcn,  daB  ich  die 
ungarische  Gastfreundschaft  verletzet  wenn  ich  vom  Kampf  fiir 
geistige  Freiheit  spreche. 

Unter  uns  sind  Schriftsteller,  die  fur  die  Idee  der  geistigen 
Freiheit  und  der  sozialen  Gerechtigkeit  nur  ein  mitleidiges 
Lacheln  haben,  darum  ist  es  falsch,  von  einer  wirklichen  Ge- 
meinschaft  der  hier  Versammelten  zu  sprechen.  Nicht  fiir  alle 
gelten  die  gleichen  Werte  und  Normen,  was  der  eine  verachtet, 
ist  dem  andern  hohe  Forderung,  die  Fundamente,  die  uns 
tragen,  sind  verschieden,  keine  Geselligkeit  kann  dariiber  hin- 
wegtauschen. 

Und  noch  etwas  beobachten  wir  in  diesem  Raum:  wir 
sehen  zwei  Gruppen  von  Delegierten:  jene,  deren  Volker  den 
Krieg  erlebt  haben,  und  jene,  deren  Volker  unberiihrt  blieben. 
Das  Kriegserlebnis,  aktiv  oder  passiv  ertragen,  scheidet  die 
Geister,  bestimmt  den  Grad  unsrer  Teilnahme,  unsrer  Aktivitat 
und  Intensitat. 

Der  Krieg  war  und  wird  immer  der  Feind  des  Geistes  sein, 
Verfolgung  der  Idee  gilt  als  Mittel,  das  der  Zweck  heiligt.  Ist 
der  Friede,  den  wir  sehen,  nicht  eine  versteckte;  Form  des 
Krieges  ?  Sind  die  Verf olgungen,  denen  Schriftsteller  und 
Werke  heute   ausgesetzt   sind,  nicht  Kriegs  verf  olgungen? 

In  jedem  Land  konnen  wir  sie  beobachten. 

In  England  sind  Werke  von  Joyce,  Lawrence,  James,  Hall 
verboten;  in  Deutschland  ist  der  Schriftsteller  Carl 
von  Ossietzky  eingekerkert,  weil  er  die  Wahrheit  schrieb  und 
sich  zu  unbequemer  Meinung  bekannte,  die  JBiicher  von  Neu- 
krantz,  Marchwitza,  der  Gedichtband  „Rote  Signale"  und 
andre  Werke  werden  unterdruckt;  in  Frankreich  wird  Aragon 
verfolgt  (doch,  und  das  ist  bemerkenswert,  es  bildet  sich  in 
diesem  Land  eine  gemeinsame  Front  der  ^rechten1'  und  „linken*' 
Schriftsteller  gegen  die  Verfolgung) ;  in  Italien  durf en  die 
Biicher  freiheitlicher,  italienischer  Autoren  nicht  erscheinen, 
die  Biicher  von  Remarque  und  Glaeser  nicht  iibersetzt  werden; 
in  Ungarn,  dem  Land,  in  dem  wir  tagen,  sind  die  Obersetzer 
der  Werke  von  Octave  Mirbeau  und  Margueritte  zu  vielen  Mo- 
naten  Gefangnis  verurteilt,  der  Obersetzer  von  Remarque  wird 
wegen  Pornographie  verfolgt,  Schriftsteller,  die  sozialistische 
Autoren  zitieren,  wandern  ins  Zuchthaus;  in  andern  Landern 
werden  Biicher  konfisziert,  nur  weil  sie  in  einer  Sprache,  die 
der  Regierung  nicht  genehm  ist,  geschrieben  werden. 

Sie  wollen  morgen  dariiber  diskutieren,  wie  man  den  Krieg 
mit  ,,unpolitischenl*  Mitteln  verhindern  kann.  Die  Unter- 
driickungen  und  Verfolgungen  zeigen  Ihnen,  daB  Sie  zur  Ohn- 
macht  verurteilt  sind,  wenn  die  Politiker  Sie  an  der  unpoli- 
tischen  Arbeit  hindern,  Man  muB  sich  entscheiden,  ob  man 
Objekt  der  Politik  sein  will  —  dann  darf  man  sich  iiber  Kriege 
nicht  beklagen  —  oder  ob  man  Subjekt  der  Politik  ist  —  dann 
hat  man  sie  zu  gestalten. 

Ich  unterbreite  Ihnen  einen  Antrag,  den  die  polnischen 
und  jugoslawischen  Delegierten  unterstiitzen: 

854 


Der  11,  Internationale  Penkongrefi,  der  Schriftsteller  aus  alien 
Landern  umfaCt,  protestiert  gegen  die  wachsende  Verfolgung  Von 
geistigen  Arbeitern  aus  politischen  und  kulturpolitischen  Grtinden  und 
die  Unterdriickung  ihrer1  Werke.  Der  Kongrefi  wehrt  sich  gegen  die 
Tendenz  einzelner  Regierungen,  Schriftstellern,  die  freie  Meinungen 
vertreten,  die  reinen  Motive  abzusprechen  und  sie  in  geheimen  Ver- 
fahren  zu  verurteilen. 

(Die  Resolution  wurde  von  den  franzosischen,  englischen, 
tscltechischen,  danischen  und  von  andern  Delegierten  mit  lau- 
ten^fcundgebungen  fiir  Ossietzky  angenommen.) 

Aber  die  Annahme  des  Antrags  geniigt  nicht.  Kampfen 
Sie!  Wehren  Sie  sich!  Haben  Sie  den  Mut  zur  Verantwortung! 
Was  liegt  an  uns!  Was  liegt  an  unsern  Namen!  Warum  lohht 
es  sich  zu  leben,  wenn  nicht  fiir  die  Gerechtigkeit  und  Frei- 
heit!  Vielleicht  werden  ich  und  meine  Freunde  im  nachsten 
Jahre  nicht  me hr  zu  Ihnen  sprechen  konnen,  vielleicht  werden 
unsre  Stimmen  in  den  Zellen  erstickt  sein  —  was  liegt  daran! 

Ich  griiBe  die  Schriftsteller,  die  nicht  an  den  Diners  des 
PEN-Clubs  teilnehmen  sondern,  weil  sie  fiir  Wahrheit  und 
spziale  Gerechtigkeit  gekampft  haben,  in  Gefangnissen  leben 
miissen. 


Ungarische  Antwort 

Warum  lohnt  es  sich  zu  leben? 

Im  groBen  Saal  der  Ungarischen  Wissenschaftlichen  Akademie 
fragte  Toller,  ob  es  sich  lohnt,  fiir  etwas  Andres  zu  leben 
als  fiir  die  Freiheit,  Seit  der  Saal  gebaut  wurde,  ward  viel- 
leicht zum  erstenmal  diese  Frage  gestellt. 

Allerlei  wurde  da  gefragt  und  geklart,  nur  das  nicht.  Im 
Saale  wurde  es  still  fiir  eine  Minute.  Diese  Frage  wirkte  bei- 
nahe  kindlich.  Es  wirkt  immer  kindlich,  wenn  in  einer  Ver- 
sammlung  der  Zeitgenossen  die  Frage  gestellt  wird,  ob  man 
ohne  Gerechtigkeit  leben  kann.  Im  Saale  saBen  gutwillige  und 
weise,  kahikopfige  und  bartige,  beriihmte  und  weniger  be- 
riihmte  Schriftsteller  und  horten  Toller  an,  Menschen,  von 
welchen  viele,  reich  an  Lebenspraxis,  schon  langst  vor  ihrem 
Gewissen  die  Frage  beantwortet  haben,  ob  man  ohne  Gerech- 
tigkeit leben  kann.  Und  sie  fugen  hinzu:  „Die  Menschheit  ver- 
andert  sich  nicht."  Und  zum  SchluB  mit  tiefer  Oberzeugung: 
MEs  lohnt  sich  nicht." 

Es  ist  wahr,  es  waren  viele,  die  Beifall  geklatscht  haben 
und  mit  voller  Kehle  riefen,  daB  es  fiir  den  Schriftsteller  kein 
Lebensziel  gibt  auBer  dem  Dienst  an  der  Gerechtigkeit.  Wir 
wollen  eingestehen,  daB  sie  die  Naiven,  die  Provinzler  warent 
Polen  und  Jugoslawen,  in  deren  Namen  der  Deutsche  Toller 
sprach.  Die  Mehrheit  schwieg  diplomatisch  und  weise.  Auf 
alten  bekannten  Gesichtern  war  zu  lesen,  daB  es  sich  lohnt, 
fiir  vieles  zu  leben,  zum  Beispiel  fiir  Erfolg,  fiir  Bargeld,  fiir 
Orden,  fiir  Popularitat,  fiir  Ruhe,  fiir  vieles  andre,  eher  als 
fiir  Gerechtigkeit. 

Was  ist  das  Ziel  des  PEN-Clubs?  Die  Frage  ist  kompli- 
ziert.    Wenn  es  auch  nichts  Andres  ware,  als    einige  Manner 

855 


die  urn  ihrer  Uberzeugung  willcn  im  Gefangnis  sitzcn,  daraus 
zu  befreien  —  es  wtirde  sich  lohnen,  Fiir  uns  Ungarn  ist  es 
eine  besondere  Freude,  daB  im  groBen  Saale  der  ,,Ungarrschen 
Wissenschaftlichen  Akademie"  jemand  gefragt  hat,  ob  es  sick 
lohnt,  ohne  Gercchtigkeit  zu  leben.  Es  war  ein  Deutscher. 
Sdhade,  wir  notiercn  das  mit  stillem  Neid  und  hatten  lieber  ge- 
sehen,  wenn  im  vergangenen  Jahrzehnt  auf  demselben  Platz 
ein  ungarischer  Reprasentant  des  Geistes  dieselbe  Frage  ,ipf* 
gerollt  hatte.  <£ 

Alexander  Mdrai  im  ,Uj$ag',  19.  Mai  1932. 


Redakteiire  von  Ignaz  Wrobel 


„Das  kann  man  natjirlich  nicht  ,schreiben!" 

Alter   Spruch 
II 
\/or   acht   Tagen  habe   ich   gefragt,   wie  sich   der   schmahliche 
Zustand,  daB  der  Zeitungsverleger  unumschrankt  iiber  seine 
Redakteure    herrscht,    auswirkt.      Das    lafit   sich    leicht    beant- 
worten: 

Die  Folge  ist  ein  Under  GroBenwahn  des  Redakteurs  auf 
alien  Gebieten,  wo  es  ungefahrlich  ist. 

Das  Verhaltnis  des  angestellten  Schriftstellers  zum  nicht 
angestellten  Schriftsteller  ist  ein  einziger  Skandal  —  das 
auBerste  an  Unkollegialitat  und  an  Schmierigkeit,  an  auBer- 
stem  Mangel  von  Solidaritat,  der  nur  denkbar  ist,  Ich  habe 
in  zwanzig  Jahren  Literatur  etwa  fiinf  Redakteure  kennen  ge- 
lernt,  die  sich  nicht  einbildeten,  deshalb,  weil  man  sie  an- 
gestellt  hatte,  etwas  Besseres  zu  sein  als  ihre  Mitarbeiter. 

DaB  der  Redakteur  die  Spreu  vom  Weizen  sondert,  kann 
ihm  niemand  verdenken.  In  unserm  Beruf  steht  das  Angebot 
in  einem  grotesken  Gegensatz  zur  Nachfrage  —  zu  schreiben 
vermeint  jeder  und  jede  zu  konnen,  und  den  Kram,  der  da  ver- 
langt  wird,  kann  ja  auch  jeder  Mensch  herstellen.  >  Das  hebt 
die  Stellung  des  Redakteurs;  er  sieht  die  wirtschaftlichen  Ur- 
sachen  nicht  und  halt  sich  fiir  geistig  iiberlegen,  wo  er  nur  als 
Verwalter  der  kummerlichen  Honorare  und  als  Biliettknipser 
an  der  Schranke  der  Offentlichkeit  in  Anspruch  genommen 
wird-  Und  was  er  sich  vor  seinem  Verleger  niemals  getraute, 
das  wagt  er  dem  Mitarbeiter  gegenuber  alle  Tage:  da  trumpft 
er  auf,  da  ist  er  der  groBe  Mann,  dem  zeigt  er  aber,  was  eine 
Harke  ist.     Leider  zeigt  er  ihm  nicht,  was  eine  gute  Zeitung  ist. 

Kein  Schriftsteller-Schutzverband,  keine  Presse-Organisa- 
tion  hat  das  je  zu  andern  verraocht.  Wieviel  Redakteure  mag 
es  in  Deutschland  geben,  die  von  ihrem  Verlag  tiber  die  Hohe 
des  Honoraretats  maBgeblich  gehort  werden?  Mir  sagte  einst 
einer  der  besten  Bildredakteure  der  deutschen  Presse:  ,,Wissen 
Sie,  auf  die  Honorare  kame  es  eigentlich  nicht  anM  (das  war 
in  den  guten  Jahren),  „wir  konnten  ruhig  das  Doppelte  zahlen, 
der  Verlag  merkte  das  gar  nicht!"  Sie  zahlen  aber  die  Halfte, 
und  die  Honorare  der  Provinzzeitungen  sind  ein  Hohn,  eine 
Unverschamtheit,  aber  keine  Entlohnung,  Der.  Redakteur,  der 
sich  vor   seinen  Mitarbeitern   so   gern   als   kleiner  Kaiser   auf- 

856 


spielt,  ist  der  allerletzte,  der  hier  auch  ein  Quentchen  hinein- 
zureden  hat.  Die  Honorare  wcrdcn  von  der  geschaftlichen  Lei- 
tung  festgesetzt,  und  damit  basta.  Ausnahmen  zugegeben;  die 
Regel  ist   so. 

Die  Folgcn  sind  klar.  An  Zeitungen  arbcitcn  so  viel 
AuBenseiter  mit,  daB  ihr  Niveau  tiefer  ist  als  es  unbedingt  not- 
wendig  ware:  Professoren;  Damen  der  ersten  besten  Gesell- 
schaft;  Fachleute,  die  etwas  wollen,  und  Interessenten,  die  et- 
was  nicht  wollen  —  manchmal  auch  Schriftsteller.  Nun  ver- 
spiire  ich  keine  Berufsreligion  in  mir  —  warum  soil  ein  Profes- 
sor nicht  gut  schreiben?  Aber  erstens  schreibt  er  meistens 
schlecht,  und  zweitens  bestimmten  nun  diese  Leute,  die  sich 
etwas  nebenbei  verdienen  wollen,  die  Hohe  oder  vielmehr  die 
Tiefe  der  Honorare  —  und  so  ist  aus  unserm  Beruf  eine 
schlechtbezahlte  Beschaftigung  geworden. 

Kurz:  der  Redakteur  gleicht  seine  Machtlosigkeit  vor  dem 
Verleger  durch  Machtprotzerei  vor  dem  Mitarbeiter  aus.  Und 
nicht  nur  dem  Mitarbeiter  gegenuber,  Auch  sich  selbst 
gegeniiber. 

Ich  habe  einmal  in  Dijon  einen  ganzen  Korb  voller  Journa- 
listen  auf  einem  intemationalen  Journalisten-KongreB  gesehen; 
das  war  wohl  das  jammervollste  an  Saturnalien,  das  man  sich 
vorstellen  konnte.  Lauter  Leute,  von  denen  keiner  auch  nur 
eine  Zeile  schreiben  diirfte,  wenns  ihm  der  Verleger  verboten 
hatte;  kleirie  Angestellte,  mit  einem  ungeheuren  Geltungsbedurf- 
nis;  Berichterstatter,  deren  hochster  Ehrgeiz  dahin  ging,  Welt- 
geschichte  zu  machen,  was  ja  ubrigens  der  groBte  Fehler  der 
meisten  Auslandskorrespondenten  ist:  den  Diplomaten,  die  sie 
bewundernd  verachten,  ins  Handwerk  pfuschen  zu  wollen,  es 
sind  verhinderte  Attaches  —  und  dieser  Haufe  inkoharenter 
und  nicht  homogener  Menschen  war  nur  in  zwei  Punkten  vol- 
lig  einig:  in  der  Machtlosigkeit  vor  ihren  Verlegern  und  in 
dem  wutenden  Ehrgeiz,  nach  auBen  hin  reprasentieren  zu  wol- 
len.    Es  war  traurig  mitanzusehn. 

Das,  was  die  meisten  Redakteure  zu  sein  vorgeben,  sind 
sie  gar  nicht:  unabhangige  Inhaber  von  Machtpositionen.  Das 
konnen  sie  nur  einem  unkundigen  AuBenseiter  erzahlen.  Sie 
sind  bis  ins  letzte  Komma  abhangig  wie  die  Landarbeiter,  und 
die  Stellung,  die  sie  innehaben,  nutzen  sie  niemals  aus,  weil  sie 
das  nicht  diirfen,  wie  ja  nicht  einmal  ihre  Verlage  die  ihre 
ausnutzen,  es  sei  denn  in  den  allerbescheidensten  Grenzen  klei- 
ner  oder  hier  und  da  groBerer  Geschaftemacherei  (Subventio- 
nen). 

Das  gestehn  sich  die  wenigsten  Redakteure  ein. 

Beide,  Verleger  und  Redakteure,  unterschatzen  ihre  Posi- 
tioner Sie  uberschatzen  sie  zu  gleicher  Zeit  auf  einem  Gebietr 
wo  ihre  Machtlosigkeit  zum  Himmel  schreit:  namlich  auf  dem 
Gebiet  der  groBen  Politik.  AuBenpolitisch  ist  das  nur  komisch. 
Mir  sagte  einmal  ein  ehemaliger  Redakteur  der  .Frankfurter 
Zeitung':  MAls  wir  jung  waren,  haben  wir  immer  geglaubt,  die 
Weltpolitik  werde  in  der  GroBen  Eschenheimer  StraBe  gemacht." 
Das  glauben  viele  Leute  von  ihren  Redaktionen  heute  noch,  und 
wer  einmal  im  Ausland  gelebt  hat,  der  weiB,  daB  deutsche  Zei- 
tungen  zwar    oft   zitiert,    aber   selten   gehort    werden.      Innen- 

857 


polifisch  richteri  die  Zenungen  um  so  weniger  aus,  je  groBer 
sie  sind;  tatsaehlich  ist  ja  die  Entwicklung  der  letzten  Jahre 
iJegen  die  Leitartikel  der  grofiten  Zeitungen,  und  nicht  nur 
der  sogenannten  demokratischen,  vor  sich  gegangen.  Sie  kon- 
nen  schreiben,  was  sie  wollen,  und  die  Politiker  tun,  was  sie 
wollen. 

Die  Klugen  unter  den  Redakteuren  wissen  zwar  genau, 
was  los  ist;  doch  beherrscht  die  Redaktionen  jener  Spruch,  den 
sich  die  Herren  auf  goldene  Teller  malen  lassen  sollten:  „Das 
kann  man  natiirlich  nicht  schreiben!"  Aber  warum,  warum 
konnen  sie  es  nicht  schreiben? 

Weil  sie  keine  Macht  haben.  Weil  ihre  allzu  willf ahrigen 
Organisationen,  mit  dummen  Eitelkeits-  und  Prestige-Fragen 
befaBt,  von  den  Unternehmern  rechtens  niemals  so  beachtet 
werden  wie  etwa  in  friihern  Zeiten  die  Gewerkschaften  der 
Buchdrucker,  und  weil  der  Redakteur  von  seinem  Eitelkeits- 
wahn  unheilbar  besessen  ist.  Der  Verleger  zahlt  ihn  schlecht; 
so  macht  er  sich  durch  das  bezahlt,  was  er  selber  von  sich 
halt.     Und  er  halt  sehr  viel  von  sich. 

Ich  habe  sie  kommen  und  gehen  sehn.  Ich  weiB,  wie  das 
ist,  wenn  sie  an  einem  groBen  Blatt  angestellt  sind:  die  Buch- 
verlage  hofieren  sie;  alle  Welt  kraucht  um  sie  herum;  man 
nimmt  sie  fur  voll,  man  ladet  sie  ein,  und  was  die  Theater- 
leute  mit  ihnen  treiben,  ist  bekannt.  In  dem  Augenblick  aber, 
wo  der  Verleger  sich  iiber  sie  geargert  hat  und  wo  sie  entlas- 
sen  sind,  gelten  sie  so  gut  wie  gar  nichts  mehr.  Dann  wundern 
sie  sich. 

Wolfgang  Petzet  hat  neulich  in  der  ,Deutschen  Republik' 
geschildert,  wie  die  Kaufleute,  denen  >die  munchner  , Jtigend* 
gehort,  ihn  tyrannisiert  haben,  und  wie  es  dann  nicht  mehr  mog- 
lich  gewesen  istt  mit  ihnen  zusammenzuarbeiten.  Immer  wie- 
der  frage  ich  mich:  mit  welchem  Recht,  aus  welcher  Kompetenz 
heraus  regieren  diese  Briider?  Weil  das  Unternehmen  ihnen 
gehort?  Wir  machen  ja  auch  keine  Bilanzen.  Verstehn  denn 
diese  Kaufleute  so  viel  von  dem,  was  sie  vertreiben?  Sie  ver- 
stehn es  oft  mitnichten,  sie  handeln  nur  damit,  und  das  ist 
nicht  immer  dasselbe. 

Der  treue  Aborinent  wird  im  Laufe  der  Jahre  gemerkt 
haben,  dafi  ich  mich  nie  sehr  viel  mit  Redakteuren  herum- 
.gezankt  habej  ich  halte  das  fur  sinnlos,  Man  soil  an  das  Mark 
der  Presse  heran:  an  die  Dienstherrschaft,  nicht  an  die  Koche, 
Und  diese  Dienstherrschaft  ist  in  den  meisten  Fallen  anonym; 
unfaBbar;  bar  jeder  Legitimation,  iiberhaupt  mitreden  zu  dur- 
fcn  —  und  das  regiert!  Die  Redakteure  finden  es  ganz  in  der 
Ordnung. 

Es  scheint  wenigstens  so.  Denn  so  gut  wie  nie  liest  man 
in  ihren  Fachblattern  von  diesen  delikaten  Dingen  — -  keiner 
riihrt  das  heifie  Eisen  auch  nur  an.  Auf  ihren  Kongressen  geht 
-es  gar  hoch  her:  da  wird  gesprochen  von  der  Pflicht  der  Kul- 
turbildung  und  der  Wichtigkeit  der  Presse  —  aber  von  der 
kiaglichen  Rolle,  die  der  Redakteur  vor  dem  Verleger  spielt, 
ist  nicht  die  Rede.     Mit  gutem  Grund. 

Ich  habe  nichts  zu  enthiillen  —  ich  weiB  von  keinen  Skan- 
dalgeschichten.      Mich    interessieren    die    einzelnen    Verleger 

858 


nicht/  und  ich  kann  hicr  keinen  „Sumpf"  aufzeigen.  Doch  cr- 
schien  cs  mir  richtig,  einmal  zu  sagen,  wclche  bejammernswerte 
Position  der  Redakteur  dcm  Verlcgcr  gegcntiber  einnimmt,  und 
wie  er  sich  aus  dieser  Lagc  herausltigt:  durch  Oberkompensa- 
tion  seiner  selbstverschuldctcn  Defekte  und  durch  einc  trube 
Wichtigmacherei  sich  und  scinen  Mitarbeitern  gegeniiber. 

Die  letzte  Konferenz 

Eine  Marionettenszene  in  drei  Bildern   von  Alfred  Polgar 

Zweites  Bild 
(KonferenzsaaL  Ein  Fenster  ist  offen.  Man  hort  von  Zeit  zu  Zeit 
die  Drehorgel  des  Bettlers.  Donner.  Regen.) 
Ein  Rednet:  Die  Rettung  Europas,  ja,  der  Welt,  vor  dem  Unter- 
gang  duldet  keinen  Aufschub.  Was  wir  brauchen  (die  Hande  f  attend  J 
ist  Friede,  Gerechtigkeit,  gegenseitiges  Verstandnis.  Auf  die  drin- 
gende  Frage  der  Volker  — ■  iiber  deren  Geschick  wir  beschliefien  — : 
was  ist  zu  tun?,  antworte  ich  —  und  spreche  mit  dieser  klaren  Ant- 
wort  wohl  auch  die  innerste  Meinung  der  befreundeten  Nationen 
aus  — ;  Das  Notwendige!  (Allgemeine  Zustimmung.)  Im  Wesent- 
lichen,  das  darf  ich  also  zur  Freude  der  Welt  konstatieren,  im  We- 
sentlichen  ist  die  Konferenz  einig  (gro&er  Beifall),  Es  eriibrigt  nur 
noch,  den  Ort  der  nachsten  Konferenz  zu  bestimmen.  (Setzt  sich.) 

1.  Konferenzteilnehmer:  Ich  schlage  aus  bestimmten  politischen 
Riicksichten  Biarritz   vor. 

2.  Teilnehmer:  Ich  wiirde  aus  gleichen  Riicksichten  fur  einen  Ort 
Siidtirols  stimmen,  etwa  GossensaB, 

3.  Teilnehmer:  Ich  glaube,  wir  sind  unsern  slavischen  Freunden 
eine  Ehrung  schuldig  und  schlage  deshalb  als v  nachsten  Konf erenzort, 
sagen  wir  etwa   die  altpolnische  Stadt  Karlsbad  vor. 

4.  Teilnehmer  (zu  seinem  Nachbar,  leise):  Der  Ignorant  weifi 
nicht  einmal,  daft  Karlsbad  in  Serbien  liegt ,,t\ 

Zweiter  Redner;  Meine  HerrenI  Im  Namen  meiner  Nation,  die 
leidenschaftlich  den  Prinzipien  der  Freiheit,  Menschenliebe,  Volker- 
verbrtiderung  ergeben  ist,  schlage  ich  vor  . . .  (zu  einem  Diener): 
Schicken  Sie  doch  diesen  zudringlichen  Leiermann  endl  ich  weg ! 
(Diener  geht  ans  Fenster,  spricht  hinaus)  . . .  schlage  ich  vor,  zur 
B era t ling  jener  Fragen,  welche  eine  sofortige  Losung  erfordern  und 
nicht  mehr  den  allergeringsten  Aufschub  dulden,  eine  Kommission 
einzusetzen,  die  binnen  sechs  Monaten  einem  Subcomite  Bericht  zu 
erstatten  hat.    (Allgemeine,  lebhafte  Zustimmung.) 

Dritter  Redner:  Meine  Herren!  Mein  glorreiches,  edelmiitiges 
Vaterland,  dessen  entschlossener  Firiedenswille  sich  in  seiner  un- 
besiegbaren  Armee  kristallisiert,  ist  der  Meinung,  dafi  etwas  ge- 
schehen  miisse,  wenn  nicht  etwas  geschehen  soil.  (Zustimmung.)  Was 
will  die  Welt?  (von  unten  her  Rufe  einer  naherkommenden  Menge: 
Hunger!  Arbeit!  Friedel  Brot!  Hunger!). 

Rufe  der  Konferenzteilnehmer:  Das  Fenster  zumachen!  Die  Kon- 
ferenz kann  ja  bei  diesem  Larm  nicht  beraten  (Diener  schlieBt  das 
Fenster). 

Ein  Konferenzteilnehmer:  Was  ist  denn  das  fur  Gesindel,  das  da 
unten   krawalliert? 

859 


Der  Diener:  Es  sind  Leute  von  der  fiinften  Internationale.  Von 
der  Gemeinschaft  der  Leben-Wollenden. 

Ein   andrer   Konferenzteilnehmer:   Man   mufi    sie   verhaften, 

Ein   dritter:   Gemeingefahrlich! 

Ein  vierter:  Die  T^ndenzen  dieser  Gemeinschaft  sind  geeignet,  jede 
gesellschaftliche  Ordnung  zu  erschtittern, 

Eine   Stimme:  Jawohl,   sogar   die  bolschewistische! 

Rufe1  der  Konferenzteilnehmer:  Polizei!  Polizei! 

Diener  (beim  Fenster):  Der  Regen  hat  sie  vertrieben.  (Entsetzt): 
Herrgottt  das  ist  ja  kein  Regen  mehrf  das  ist  die  Sintflut!! 

Ein  Konferenzteilnehmer  (lachelnd):  Erst  nach  uns,  bitte, 

Dritter  Redner:  Ich  fahre  also  fort,  Diese  Konferenz,  die  gleich 
den  vorhergehenden  und  den  noch  nachfolgenden  nichts  will  als  das 
Gliick  der  Volker,  —  Gptt  ist  unser  Zeuge  —  (Blitz  und  Donner. 
Die  Tiir  springt  auf.     Es  tritt  ein:) 

Der  schwarze  Herr  (einen  Stock  in  der  Hand). 

Rufe:  Wer  erlaubt  sich,  die  Konferenz  zu  storen?  .  * ,  Wer  sind 
Sie?    .., 

Der   Diener:   Jesus   Maria!  (Er  bekreuzigt  sich)  Der  Teufel! 

Der  schwarze  Herri  Der  Wunsch  aller  Unglucklichen  dieser  Erde, 
daB  euch  endlich  der  Teufel  holen  moge,  ist  zu  Gott  gedrungen. 
Er  willfahrt  dem  Wunsch.  Ich  bin  gesandt  worden,  ein  Ende  zu 
machen. 

Einige   (unterbrechend):    Gesandt?     Von   wem?     Ihr    Akkreditiv? 

Ein  deutscher  Diplomat:  Wollen  Sie  sich  als  Engel  Gottes  aus- 
geben?  Wo  ist  Ihr  Schwert?  (Ein  Engel  ohne  Schwert  widerspricht 
jeder    deutschen   Vorstellung. 

Der  schwarze  Herr:  Die  Konferenz  ist  geschlossen!  (Er  schlagt 
mit  dem  Stock  das  Fenster  ein.  Blitz.  Es  wird  ganz,  dunkel.  Ge- 
rausch   einstiirzenden  Wassers.) 

Eine  Stimme:  Damn  it!  Die  tausendste  hatt  ich  gern  noch  erlebt!! 

Vorhang 


Drittes  Bitd 
(Ein    Kahn   auf   dem   Wasser.     Im   Kahn   der   Arbeiter,   der  Intellek- 

tuelle,  Cdcilie.) 

Def  Arbeiter:  Endlich,   die  Wasser  verlaufen  sich. 

Der  Intellektuelle:  Jetzt  werden  wir  l>ald  seheh,  ob  es  noch  Uber- 
lebende  gibt    oder  ob  das  die  Sintflut  wan 

Cdcilie  (weint). 

Der  Arbeiter:  Warum  weinst  Du? 

Cdcilie:  Ich  habe  nichts   zum  Anziehen . , . 

Der   Arbeiter   (lachend):   Das   brauchst  Du   jetzt   nicht.   Wenn  es 
die  Sintflut  war,  wollen  wir  versuchen,   die  Welt  neu  aufzubauen. 

Der  Intellektuelle:  Wird   sie  nicht  werden,  wie   sie  gewesen  ist? 
Eine    Enttauschung?      Ein   Schwindel? 

Der  Arbeiter:  Aber  manchmal  ein  ganz  netter  Schwindel.     Nicht 
walxr,  Frauleinchen, 

Cdcilie  (sanft):  Manchmal  , , .  ja  , , .  Oh  ja  . . , 

Der   Intellektuelle:  Mich   freut   das   Leben   nicht   mehr. 

Der  Arbeiter:  Da  hast  Du  eine  Zigarette  (gibt  sie  ihm). 

Der    Intellektuelle    (sein    Gesicht   strahlt):   Du   hast   noch    eine? 
Herrlich!  (Er  pafft  vergniigt.) 

860 


Der  Arbeiter:  Was  schwimmt  dort  fiir  eine  Leiche? 

Cacilie  (sieht  hin):  Das   ist  ja  Monsieur 

Der  Arbeiter:  Was  halt  er  denn  so  krampfhaft  in  der  Faust? 

Der   Intellektuelle   (lost    ein   Papier  aus   der    Faust   der   Leiche, 
liest):  Vertrag   von  Versailles. 

Indent  alle   drei   in   ein  langes   herzliches   Geldchter   ausbrechen, 
ffllt  der 

Vorhang 

Theater  ohne  Biihne  von  Rudolf  Amheim 


W 


rahrend  sich  die  Aufmerksamkeit  der  meisten  Theater- 
kritiker  darauf  beschrankt,  ab  Max  Reinhardt  unsre  Stadt 
weiter  mit  seinen  Prachtinszenierungen  bedenken  wird  oder 
nicht  und  ob  die  alten  Klassiker  und  die  neuen  Ungarn  ein 
biBchen  fcesser  oder  schlechter  aufgefuhrt  werden,  kommt 
ohne  allzu  groBen  Larm  in  Versammlungs-  und  Konizertsalen 
lind  auf  dem  Papier  das  Theater  von  morgen  zur  Welt,  Heute 
heiBt  es  noch  nicht  Theater  sondern  Oratorium  oder  Revue 
oder  Proletarische  'Ballade,  aber  bald  wird  es  so  heiBen.  Die 
Polizei  beweist,  daB  sie  eine  feinere  Nase  hat  als  die  Theater- 
kritiker,  indem  sie  Auffuhrungen  unbequemer  Stiicke  mit  dem 
Hinweis  verbietet,  daB  ohne  Spielkonzession  nicht  Theater 
gespielt  werden  durfe.  Theater  in  Sal  en,  ohne  Biihne,  ohne 
Dekorationen,  ohne  Schauspieler,  ohne  Theaterstiick?  Ja, 
Theater  —  die  Polizei  hat  recht. 

Das  Theater  hat  sich  von  den  Formen  her,  denen  wir  uns 
heute  wieder  nahern,  zur  modernen  Illusionsbuhne  entwickeit. 
Dramenstil  und  Biihnenstil  sind  den  gleichen  Weg,  gegangen: 
vom  deklamatorischen  Vortrag  zur  naturalistischen  Schilde- 
rung  eines  Schauplatzes,  auf  dem  die  Menschen  moglichst  ge- 
nau  so  handeln,  sprechen,  sich  bewegen  wie  in:  der  Wirklich- 
keit.  Der  Entwicklung  einer  Ausstattungskunst,  die  heute  Zim- 
mer,  Wald,  Gebirge  und  Walk  en  in  schreckenerreigender  Na- 
turtreue  auf  die  Biihne  zu  zaubern  versteht,  entspricht  die 
Forderung  nach  Alltagsdialog  und  Alitagspantomimik.  Schau- 
spieler  und  Autor  haben  sich  zu  benehmen,  als  sei  der  Zu- 
schauer  nicht  vorhanden.  Was  dem  Parkett  mitgeteilt  wer- 
den soil,  wird  als  Konterbande  eingeschmuggelt:  die  Kunst  des 
Dialogs  besteht  darin,  das  Publikum  so  zu  belehren,  als  be- 
lehrten  sich  die  Spieler  nur  gegenseitig,  und  Aufgabe  des  Re- 
gisseurs  ist  es,  das  Publikum  auf  seine  Kosten  kommen  zu  las- 
sen,  ohne  daB  diese  Absicht,  illusionsstorend,  offenbar  werde. 
Der  Biihnenrahmen  als  Schlusselloch, 

Von  dieser  Unwahrhaftigkeit,  die  darin  besteht,  vor  dem 
Zuschauer  zu  spiel  en,  ohne  zu  ihm  hin  zu  spielen,  drangt  das 
Theater  heute  wieder  fort  zu  neuen,  zu  alten  Formen,  Das 
Ideal  tauschender  Illusion  ist  -erreicht  und  zugleich  abgetan. 
Wir  beobachten  diese  Entwicklung  nicht  nur  beim  Theater 
sondern  in  alien  darstellenden  Kiinsten,  deren,  Materialbedin- 
gungen  nicht,  wie  die  des  Films,  von  vornherein  auf  naturnahe 
Abbildung  hinweisen  sondern  erst  ktinstlich  zu  ihr  hin  ge- 
bracht  werden  muBten,  also  in  der  Malerei,  in  der  Bildhauerei 

861 


und  auf  ihre  Art  in  Literatur  und  Musik.  Wir  beobachten  em 
Wiederhinstreben  zu  den  Urformen,  die  aus  den*  Material- 
bedingungen  folgen  und  infolgedessen  auch  geschichtlich  die 
urspriinglichen  sind.  Die  Malerei  erlebte  ihren  dramatischen 
Wendepunkt,  als  der  Impressionismus  versuchtej  die  Oberhaut 
der  Welt  mit  nicht  mehr  iiberbietbarer  Treue  abzubilden,  zu 
diesem  Zweck  jedoch  Mittel  verwendete,  die  eine  Emanzipa- 
tion  des  Darstellungsmaterials  von  der  Tyrannei  des  Naturalis- 
mus  einleiteten:  namlich  den  reinen  Farb  fleck,  Der  Exp  re  s- 
sionismus  —  falschlich  als  Ausdruckskunst  deklariert  und  ihm 
engverwandten  Spielarten  wie  Futurismus  und  Konstruktivis- 
mus  gegenubergesteUt  —  fuhrte  diese  Entwicklung  auf  die 
Spitze:  Farbe  unid  Form  traten  nackt,  kaum  oder  gar  nicht 
mehr  gegenstandsgebunden  auf.  (Der  Irrtum  der  Gegenstro- 
mung,  der  Neuen  Sachlichkeit,  bestand  charakteristischerweise 
darin,  daB  man  sich  um  die  wichtige  Forderung  nach  starkerer 
Wirklichkeitsnahe  der  Kunst  herumzudriicken  suchte,  indem 
man  sie  auf  die  Form,  statt  auf  den  Inhalt  anwendete;  indem 
man  die  Haut  fanatisch  naturgetreu  darstellte,  statt  unsre  Ge- 
genwart!  Neue  Sachlichkeit,  richtig  verstandlen,  bringt  zwei, 
einander  nicht  widersprechende  Forderungen:  weg  von  faU 
schen  „IllusionenM  zu  den  Urformen  der  Kunst  und  zu  den 
Problemen  der  Gejgenwart!  Blumentopfe  haargenau  abzeich- 
nen  hiefl  beide  Forderungen  miBverstehen.) 

Ahnlich  drangen  die  Musiker  von  dem  fort,  was  man 
Naturalismus  in  der  Musik  nennen  kann,  namlich  Abbil- 
dung von  Gefuhlen.  Die  Ruckkehr1  zu  den  konstruktiven  Ur- 
formen, die  Ruckkehr  zu  Bach,  ist  programmatisch  fiir  die 
heutige  Musik,  und  charakteristischerweise  grade  dort,  wo  sie 
auch  der  zweiten  Forderung,  der  nach  starkerer  Wirklichkeits- 
naihe,  zu  geniigen  sucht,  indem  sie  sich  revolutionarer  Pro- 
grammkunst  zur  Verfiigung  stellt. 

Auch  das  Theater  kehrt  zugleich  zu  seiner  Form  und  zur 
Wirklichkeit  zuriick.  Wahrend  die  „Ursituation"  des  Films 
die  vom  Apparat  hochst  naturgetreu  abgebildete  Wirklich- 
keitsszene  ist,  kommt  das  Theater  vom  Sprecher  und  Tan- 
zer  her.  Die  naturalistische  Abbildung  von  Schauplatzen 
und  handelnden  Menschen  ist  beim  Film  der  erste  Zustand, 
beim  Theater  der  letzte.  Der  Schauspieler  ist  beim  Film  Ein- 
dringling,  muB  eingeschmuggelt  und  so  getarnt  werden,  als 
sei  er  ein  Stuck  Natur  —  daher  die  unlosliche  Antinomie, 
daB  der  Filmmensch  einerseits  moglichst  echt  (Verwendung 
chiarakteristischer  Volkstypen  an  Stelle  von  Berufsschauspie- 
lern),  andrerseits  zur  Darstellung,  zum  ^Spiel"  ibefahigt  sein 
solle!  Beim  Theater  hingegen  ist  der  Schauspieler  auto- 
chthones Urmaterial,  Sprecher  und  Tanzer,  und  nur  in  kunst- 
fernen  Zeiten  Konkurrenz  der  Menschen  auf  der  StraBe,  Un- 
dekoriert  tritt  er  auf  ein  undekoriertes  Podium.  Er  ig^ioriert 
das  Publikum  nicht  sondern  spricht  zu  ihm  hin,  in  gehobener, 
deklamatoriscber  Form.  In  diese  rezitatorisch-tanzerische  Ur- 
form  des  Theaters  greift  das  Streben  nach  Darstellung,  nach 
Abbildung  verandernd  ein  —  aber  die  Oberhand  gewinnt  es 
nur  in  Zeiten,  die  von  den  Inhalten  weg  zum  Sinneseindruck 
fliichten.     Die   Musik,  von  der  Buhne  alten  Schlages  als  un~ 

862 


naturalistisdh  verbannt  odcr  —  in  Operetten  —  zum  storen- 
den  Fremdkorper  degradiert,  tritt  heute  wicdcr  in  ihre  Rechte, 

So  bedeuten  die  immcr  haufiger  werdenden  ,tOratorien'\ 
Lehrstiicke  und  Revuen  eine  radikale  Riickkehr  zu  dem,  was 
eigentlich  Theater  ist.  Da  hier  eine  auch  in  den  andern 
Kiinsten  beobachtbare  Riickkehr  zur  Urform  vorliegt,  kann  man 
nicht  behaupten,  diese  Entwicklung  erklare  sich  beim  Theater 
daraus,  daB  fiir  politische  Inhalte,  namlich  die  kollektivistische 
Weltanschauung,  passende  Formen  geschaffen  werden  miiB- 
ten.  Es  handelt  sich  vielmehr  um  einen  allgemeinen  Selbst- 
besinnungs-  und  ReinigungsprozeB  im  Formalen,  der  aller- 
dings  erst  durch  gewisse  politische  Voraussetzungen  mog- 
lich  gcworden  sein  mag  und  dem  ein  ahnlicher  ProzcB  in  bezug 
auf  den  Inhalt,  das  heiBt;  auf  die  Gesinnung,  parallel  geht. 
Den  Riickweg'  aus  der  Sackgasse  des  Naturalismus  begiinstigt 
beim  Theater  ganz  besonders  das  Auftreten  des  Films,  der 
den  Hlicjk  fiir  Naturechtheit  auBerordentlich  scharft.  Die 
Illusion  des  naturalistischen  Theaters  mit  seiner  Schminke, 
seinem  Gebriill  zum  vierten  Rang  hinauf,  seinem  Ignorieren 
der  offenen  viertenl  Wand  wirkt  auf  die  Menschen  des  Film- 
zeitalters  komisch.  Das  Theater  ist  dadurch  formlich  gezwun- 
gen,  sich  seinem  eigentlichen  Wesen  wieder  zuzuwenden;  die 
Illusion  bewuBt  aufzugeben. 

Tut  es  dies  griindlich,  so  ergeben  sich  sehr  lehrreiche 
Schwierigkeiten,  Man  kann  die  eine  der  Wurzeln,  aus  denen 
alles  Theater  hervorwachst,  fiir  sich  herauspraparieren:  Thea- 
ter als  reines  Wort-  und  Sprechkunstwerk,  Das  Optische  ver- 
liert  dann  jede  Funktion,  es  fallt  am  besten  ganzlich  fort 
(Idealfall:  Rund^unk!)  und  ist  nur  notwendiges  Obel.  Das  Aus- 
sehen  und  Benehmen  des  Chors  etwa,  der  in  einem  sole  hen 
Oratorium  mit  wirkt,  ,,gilt  nicht".  Die  Leute  auf  dem  Podium 
sind  nur  Stimmtrager,  nicht  Schauspieler.  Mit  dieser  Form 
sind  wir  seit  langem  aus  dem  Konzertsaal  vertraut.  Aber  ein 
Stilbruch  entsteht  leicht,  sobald,  wie  man  es  heute  gem  tut, 
die  Chorvortrage  mit  kleinen,  von  Schauspielern  gespielten 
Dialogszenen  untermischt  werden  oder  gar  der  Chor  selbst 
gelegentlich  zum  handelnden  Darsteller  wird.  So  geschah  es 
etwa  in  einer  Szene  der  jiingst  aufgefiihrten  proletarischen 
Ballade  ,,Mann  im  Beton"  von  Stemmle  und  Weisenborn  (Re* 
gie:  Gerhart  Henschke,  Musik:  Walter  Gronostay),  dafi  die 
Herren  vom  Chor,  die  bis  dahin  friedlich  mit  ihrem  Noten- 
blatt  und  ohne  mehr  Pantomimik  als  zum  Singen  eben  erfor- 
derlich  vor  ihrem  Dirigenten  gestanden  hatten,  plotzlich  durch 
ein  rhythmisches  Hin-  und  Herschwenken  eine  marschierende 
Arbeiterkolonaie  darzustellen  suchten.  Und  in  diesem  Augen- 
blick  wurde  zum  komischen  Kontrast,  was  bis  dahin  ganz  in 
der  Ordnung:  gewesen  war:  daB  namlich  biedere  Sangesbriider 
in  Gehrock  und  feierlichem  ScMips  einen  Trupp  protestieren- 
der  Bauarbeiter  darstellten.  Hier  liegt  natiirlich  nicht  ein  ein^ 
z einer  Versager  sondern  eine  grundsatzliche  Schwierigkeit 
vor.  Wie  ware  es,  wenn  bei  einer  Aufftihrung  der  „Matthaus- 
passion"  Judas  Ischarioth  die  dreiBig  Siiberlinge  gerauschvoll 
ins  Parkett  wiirfe  oder  der  Sanger  des  Pilatus  vor  d-en  ersten 
Geigen  eine  Waschschiissel  aufbaute! 

863 


Es  ist  nur  natiirlich,  daB  bci  den  crstcn  Versuchen  zu 
einem  neuen  Theater  die  verschiedenen  Formbezirke,  vom  de- 
ncn  es  herkommt,  noch  roh  nebeneinander  stehen:  einerseits 
der  Deklamator  und  Sanger,  andrerseits  der  Sohauspieler,  der 
mit  seinem  Leibe  darstellt.  Dieser  Gegensatz  ist  nicht  da- 
durch  zu  tiberbrucken,  daB  die  Schauspieler  ,,stilisieren'\ 
wennschon  diese  Darstellungsform  fur  das  neue  Theater  an 
sich  sehr  geeignet  ist.  Aber  unlosbar  ist  der  Widersprucl* 
sicherlich  nicht.  Alles  wird  darauf  ankommen,  Chor  und 
,,Sprecher'\  also  die  Trager  d'es  didaktisohen  oder  untermalen- 
den  Parts,  optisch  und  in  die  Handlung  so  einzugiiedern,  dafi 
sie  nicht  als  ein  Stuck  abgeschminkter  Alltag  zwischen  lauter 
Theater  wirken,  andrerseits  aber  sich  klar  von  den  Figuren 
der  Handlung  abheben.  Ahnlich  wie  im  antiken  Drama  der 
Chor  zugleich  MVolk",  also  ein  Stiick  des  Schauplatzes  und 
der  Handlung,  und  separierter  Betrachter  ist.  Wichtig  ist  eine 
folgerichtige  Verteilung  der  Funktionen:  Der  Ansager  etwa 
soil,  wenn  es  bisher  nur  seine  Aulgabe  war,  padagogische  An- 
-merkungen  zu  machen,  nicht  plotzlich  als  Chronist  die  Hand- 
lung f ortfiihren   oder  gar  zur   handelnden  Figur  werden. 

,  SchluB  Mgt 

Viermal  Eichhornchen  von  Kaspar  Hauser 

Tatbestand 

A  uf  demParkwegc  sitzt  ein  Eichhornchen,  Als  es  mich  er- 
blickt,  macht  es  ein  Mannchen  und  lauh  auf  mich  zu.  Es 
sieht  an  mir  auf,  dann  klettert  es  an  mir  empor;  es  ist  wohl  ge- 
wohnt,  Niisse  zu  bekommen  oder  Zucker,  ich  habe  nichts,  es 
klettert  wieder  herunter,  sitzt  noch  einen  Augenblick  zu 
meinen  FuBen  und  lauft  dann  fort. 

Eichhornchen  national 

Ich  mache  einen  deutschen  Spaziergang  durch  unsern  deut- 
schen  Wald.  Meine  deutschen  Augen  mustern  die  herrliche 
deutsche  Landschaft  und  versinken  in  ihrem  Zauber:  von  die- 
ser Schneise  her  konnte  man  ganz  gut  einen  Sturmangriff  un- 
ternehmen,  die  Wiese  gabe  ein  famoses  SchuBfeld  fiir  ein  ge- 
decktes  M.G.  —  und  da!  Was  ist  das?  Der  Feind.  Unwill- 
kiirlich  nehme  ich  Deckung. 

Es  ist  ein  Eichhornchen,  ein  deutsches  Eichhornchen.  Blond 
wie  Goebbels,  laBt  es  spiel  end  seinen  Schweif  wedeln.  Doch 
was  ist  dieses?  Es  lauft  nicht  davon!  Ein  Deutscher  lauft 
nicht  davon,  Es  eilt  vielmehr  auf  mich  zu,  das  Hebe  Tierchen, 
beschnuppert  mich,  und  jetzt,  jetzt  klettert  es  wahrhaftig  wie 
ein  Eichhornchen  an  mir  hoch.  Es  sieht  mich  an  mit  seinen 
blanken  Auglein,  als  wollte  es  sagen: 

l(Haltst  nicht  auch  du  den  Schandvertrag  von  Versailles 
fiir  einen  Tschmachfleck  auf  dem  deutschen  Gewand  deutscher 
Ehre?" 

Und  fiirchterlich,  riesengroB  erhebt  sich  vor  meinem  innern 
Augc  dieses  Tier  zu  einem  Symbol  deutscher  GroBe:  auch  es 

864 


wird  einmal  uns  und  unsre  Kinder  und  Kindeskinder  an  den: 
Welschen  rachen,  Und  ich  sehe  das  Eichhorn,  vor  einen  Tank 
gespannt,  im  Dienste  der  nationalen  Sache,  einherziehn  in  die 
Schlacht,  fur  die  wir  ja  alle,  Mann  und  Jungfrau,  unsre  Kinder 
gebaren, 

Denn  was  hat  der  Deutsche  der  Welt  zu  liefern? 

Menschenmarmelade. 

„Das  Eichhornchen" 
Ein  Film 

Anny,  ein  Lebemadchen,  ist  in  Adolf  verliebt,  der  ein. 
schwerer  Junge  ist.  Anny  stammt  aus  guten  biirgerlicheii 
Verhaltnissen,  die  sich  allerdings  leider  durch  die  Ungunst  der 
Zeit  verschlimmert  haben;  der  eine  Bruder  von  ihr  ist  General- 
direktor  beim  Film,  und  der  andre  gehort  auch  der  Unterwelt 
an.  Sie  liebt  Adolf,  mit  dem  sie  gemeinsam  Kokain  schnupft, 
das  ihr  Bertold,  ein  betriigerischer  Rauschgifthandler,  ver- 
schafft  —  wir  sehn  aber,  wie  er  es  mit  Zahnpulver  verfalscht„ 
so  daB  es  unschadlich  ist,  Wie  das  Zahnpulver  verfalscht  wird,. 
sehen  wir  nicht.  Bertold  ist  gleichfalls  in  Anny  verliebt,  was 
Adolf  aber,  der  in  eine  gewisse  Milly  verliebt  ist,  die  in  einen 
gewissen  Max  verliebt  ist,  der  in  eine  gewisse  Karoline  ver- 
liebt ist,  nicht  weiB.  Milly  weiB  nur,  daB  Max  nicht  in  Ber- 
told verliebt  ist.  Wir  sehen  nun  —  zwischen  prachtigen  Parade- 
marschen  zur  See  —  wie  das  Ganze  der  Katastrophe  zutreibt. 

Zum  SchluB  sitzt  Anny  trostlos  auf  einem  Weidenstumpf 
und  schluchzt,  indem  sie  sich  fragt,  wie  das  zu  dem  kommt  und 
warum  dieser  Film  wohl   ,,Das  Eichhornchen"  heiBt, 

DaB  der  Film  von  alien  Ausschiissen  die  Bezeichnung  ,,kul- 
turbildender  Bildstreifen"  erhalten  hat,  brauchen  wir  wohl 
nicht  hinzuzufugen, 

Eichhornchen,  individualpsychologisch 

Fall  168.  Ein  siebenjahriger  Knabe  kommt  in  meine  Sprech- 
stunde,  weil  es  ihm  seine  Eltern  streng  verboten  haben.  Struk- 
turphysiologisch  bietet  er  das  Bild  eines  durch  das  Ergriffen- 
sein  des  emotionellen  Gebietes  Biozentrischen, 

Nach  langerer  Befragung  stelle  ich  Folgendes  fest: 

Vor  etwa  vier  Wochen  sei  der  Knabe  allein  durch  das  nahe; 
Stadtwaldchen  gegangen  und  sei  dort  auf  ein  Eichhornchen  ge- 
stoBen.  Das  Tier  sei  erst  an  ihm  hochgelaufen  (!),  habe  ihn 
bedroht,  und  sei  dann,  durch  das  Schreien  des  Kindes  er- 
schreckt,  wieder  davongelaufen. 

Klar  geht  aus  dieser  Aufierung  hervor,  daB  es  sich  hier  um 
ein  von  den  Eltern  verzarteltes  Kind  handelt,  das  mit  dem  Le- 
ben  nicht  fertig  wird.  -  Es  will  eben  auf  alle  Falle  im  Mittel- 
punkt  stehn;  selbst  die  Tiere  des  Waldes  (Bilderbucherinne- 
rungen!)  sollen  sich  um  den  Knaben  kummern.  (Siehe  dazu 
Doktor  S,  Popelreuther  ^Ella,  ein  schizophrenes  Eich* 
hornchen",) 

Rein  berufseignungspsychologisch  ist  der  geistige  Ort  die- 
ses Knaben  etwa  in  dem  Problem  seiner  sozialen  Bezogenheit 

865 


zu  seiner  nicht  libidinosen  Umwelt  zu  suchen,  doch  mussen  wir 
uns  htiten,  unsre  Heilpadagogik  in  den  libido energetischen  Topf 
der  Psychoanalyse  zu  werfen.  Seine  psychische  Kapazitat 
drangt  den  Knaben  zum  Spiel  (nach  Professor  Doktor  Fritz 
Giese  ,,Anleitung  zur  Errichtung  individualpsychologischer  Ke- 
gelbahnen").  Dieses  Kind  weiB  eben  noch  nicht  urn  das  Nicht- 
wissen;  meine  Aufforderung  zur  Entspannung  hat  es  leider  da- 
hin  veijstanden,  sich  in  die  Hosen  zu  machen. 

Bedauerlich  bleibt  nur,  daB  das  fragliche  Eichhornchen 
nicht  mit  in  die  Sprechstunde  gekommen  ist,  Mit  Hilfe  der 
Individualpsychologie  hatte  man  aus  dem  entarteten  Tier  das 
Ideal  der  Menschheit  machen  konnen:  eine  gute  Kindergart- 
nerin. 

Eichhornchen  mondain 

Man  geht  durch  den  sommerlich  verschneiten  Park:  neben 
mir  Kardinal  Rosenberg,  der  giitige  Finanzberater  des  Papstes, 
sowie  die  schonste  Frau  Siidamerikas,  die  Grafin  Oca-Jolly. 
Wir  plaudern  in  muntrer  Abwechslung  uber  die  Finanzen  Uru- 
beziehungsweise  Paraguays,  sowie  tiber  die  bezaubernden 
Roadster  auf  der  Auto-Ausstellung  in  Columbien,  anders  tun 
wirs  nicht.  Ein  Skeleton  mit  dem  schweizer  Baron  Ven- 
Mogli-Tagli  saust  an  uns  voriiber,  wir  griifien  winkend  mit  der 
Hand. 

Da  stoBt  die  schone  Frau,  die  ein  pfauengraues  Sportsamt- 
jackchen  mit  einem  kleinen  AufstoB  aus  Silberlame  tragt,  einen 
leichten  Schrei  aus,  und  auch  die  Eminenz  scheint  mir  bewegt, 

„Frau  ConchitaT'  rufe  ich.  „Was  tut  sich?"  ruft  der  Kar- 
dinal. 

Plotzlich  wird  mir  schwarz  mit  diagonalen  Piinktchen  vor 
Augen.  Ich  sehe  noch,  wie  im  Rugsprung  ein  riesiges  Tier 
sich  auf  mich  stiirzen  will  —  Baren!  denke  ich  pfeilgeschwind, 
es  kann  aber^auch  ein  Wisent  sein,  kiihn  entschlossen  werfe 
ich  mich  vier  bis  achtzehn  Schritt  zuriick,  als  echt  versilbertes 
Gelachter  an  mein  Ohr  klingt.  Die  Grafin  nennt  das  Tier  bei 
Namen  —  es  ist  ein  Eichhornchen!  Da  ist  es  ja  vor  die  rechte 
Edschmiede  gekommen. 

Es  ist  natiirlich  ein  besonders  elegantes  Exemplar  seiner 
Gattung:  zwei  flinke  Auglein  hat  es,  es  wippt  furchtsam  wie 
•ein  Zeitungsverleger  umher,  es  ist  brillant  angezogen.  Der  Kar- 
dinal macht  eine  jener  segnenden  Handbewegungen,  wie  er  sie 
^von  der  Borse  her  gewohnt  ist<  „Verscheuchen  Sie  es  nicht, 
Eminenz!"  bitte  ich.     Wir  stehn  still. 

Das  Eichhornchen  klettert  an  der  Grafin  Oca-Jolly  empor, 
writtert  den  Duft  ihrer  gepflegten  Augenbrauen  und  eilt  dann 
auf  den  nachsten  Baum,  zum  Lunch.  Durch  die  Zweige  griiBt 
die  Villa  des  GroBindustriellen  Bergius  heriiber,  der  durch  die 
Verleihung  des  Nobelpreises  grade  noch  dem  Hungertod  ent- 
xonnen  ist.  Im  Hintergrund  sieht  man  Gerhart  Hauptmann  mit 
«inem   neuen   Stuck   sowie   in   Golfhosen   schwanger   gehn. 

Denn  mag  die  Welt  versinken,  eines  wird  immer  bestehn 
fcleiben  — :  le  monde. 

S66 


Erinnerungen  (mit  Randbemerkung) 

von  Alice  Ekert-Rothholz 

\V7enn  der  Mensch  in  die  reiferen  Jahre  geht 
"    wirkt  er  leicht  etwas  abgesungen. 
Dann  lebt  er  gern  seiner  kleinen  Diat 
und  den  groBen  Erinnerungen. 

(Erinnerungen  mtissen  das  GardemaB   naben!) 

Die  Erinnerung  ist  dann  das  einzige  Licht 
-das  wir  —  auBer  elektrischem  —  brennen. 
Und  ob  sie  nun  schon  ist  oder  nicht  — 
Sie  verlangt,  dafi  wir  sie  so  nennen. 

(Die  Erinnerung  ist  weiblichen  Geschlechts.) 

Unser  wirkliches  Leben  — ?     Da  sage  icb:  Prost! 

Achtzig  Prozent  sind  miGlungen, 
Darum  fabrizieren  wir  uns  zum  Trost 

unsere  groBen  Erinnerungen . . . 

(Teure   Erinnerungen  htiten,  da  unersetzlich!) 

Nach  dem  Abendbrot  rticken  sie  an.    Wie  ein  Heer. 
Und  stehen  stramm  wie  die  Narren, 
Aber  manchmal  fallen  sie  tiber  uns  her , . . 
Ganz  olle  Kamellen  knarren. 

(Dieselben  sind  vor  dem  Gebrauch  zu  fi1«»«n 

Liebe  ist  scbbn,  weil  man  so   schon  vergiBt , . . 

Sein   Schnarchen.      Sein  Fremdgehn.     Sein  Rauspern  vor  Witzen. 

Wissen  Sie,  was  Erinnerung  ist? 

Die  ganze  Geschichte  nochmal   ohne   Schwitzen . . . 

(Sogen.  ,,Blamagen"  stets  etwas  ruhen  lassen!) 

Herr  M,  hatte  nichts.     Aufier:  Pech  beim  Zoll. 
Selbst  sein  tiefes  Geftihl  war  Attrappe. 
In  Wirklichkeit  ist  alles  halb   so   toll . . . 
Die  Erinnerung   macht   Marmor  aus   Pappe. 

(Siehe  berliner  Siegesallee!) 

Selbst  unser  Weltkrieg  war  gar  nicht  so  groP 
wie  die  Leute  schon  wieder  sagen  . . , 
Schreibstube  heifit   nachher:    „SoIdatenlos" 
Sowie:   f(Vorm  Feind  nicht  verzagen", 

(Erinnerungen  mtissen  personlich   sein!) 

Kurz:  Erinnerung  bessert  die  Tatsachen  aus. 
Gut  erinnert,  sind  sie  nicht  zu  erkennen ... 
Erinnerung  ist:  Paradies  im  Haus. 
Wird  man  unsern  Kram  auch  mal  so  nennen? 

(Paradies    1932  , . .  suche   unter;    „Bankfach") 

Mensch  — !     Von  den  Klamotten  aus  dieser  Zeit 

kommt  mal  nichts   Paradiesisches   raus. 
Denn  dies  Paradies  sieht  so  lang  wie  breit 

in  Wirklichkeit  und  in   Ewigkeit 

genau  wie  die  Holle  aus. 

(Genau  wie  die  Holle  aus!) 

867 


Bemerkungen 

Geister  am  Schlanitzsee 

T*\  as  interessanteste  unter  alien 
*^  Rechtsblattern  ist  heute  die 
Deutsche  Allgemeine  Zeitung', 
Dieses  von  Herrn  Cuno  wesent- 
lich  soutenierte,  aber  auch  von 
der  Keichsbahn  subventionierte 
Biatt  vertriit  gegenwartig  die  po- 
litischen  und  wirtschaftlichen 
Machtwiinschc  der  Schwerindu- 
strie  am  robustesten,  Der  Chef- 
redakteur,  Herr  Doktor  Fritz 
Kleinf  ein  ungarischer  Jude,  der 
sich  gern  als  „Siebenburger 
Sachse"  geriert,  bemiiht  sich  stre- 
bend  um  eine  grofie,  kraftvolle 
Rechte,  wobei  es  ihm,  der  ein 
Praktiker  ist  und  kein  Doktrinar, 
ganz  gleich  bleibt,  wer  diese 
Rechte  formt,  welcher  Gedanke 
sie  pragt,  Aus  diesem  Grunde 
gewahrt  die  ,D.A.Z/  einen  viel 
tiefern  Einblick,  nicht  nur  in  die 
grofien  Fraktionen  der  Rechten 
sondern  auch  in  die  kleinern 
vielfach  nuancierten  Coterien,  von 
denen  der  Mann  auf  der  Linken 
durchweg  keine  Ahnung  hat.  Und 
dabei  erfahrt  man  auch  etwas  von 
den  Hoffnungen  der  Monarchi- 
sten. 

Am  24,  Mai,  zum  Zusammen- 
tritt  des  neugewahlten  Preufii- 
schen  Landtags,  schrieb  Herr  Dok- 
tor Klein  einen  Leitartikel  „Der 
schwarz-braune  Block"  fur  die 
Allianz  Zentrum-NSDAP,,  in  dem 
ihra  eine  erstaunliche  Wendung 
entschliipfte.  Kommt  dieser  Block 
nicht  zustande,  so  fuhrt  der  Ver- 
fasser  sorgenvoll  aus,  dann  be- 
ginnt  erst,  und  nun  muB  man 
wortlich  zitieren,  „der  wirkliche 
Kampf  um  das  Regime,  bei  dem 
wir  nicht  nur  mit  einer  taktischen 
Einheitsfront  der  ,  sogenannten 
marxistischen  Parteien  sondern 
auch  mit  dem  verfruht  erzwun- 
genen  Eingreifen  der  Trager  der 
monarchischen  Idee  zu  rechnen 
haben  konnten".  Das  ist  wirklich 
sehr  beachtlich  und  sollte  vor 
dem  Vergessen  bewahrt  werden. 
Es  zeigt  aufs  beste,  was  hinter 
dem  ganzen  Gerede  von  der 
„neuen  Rechten"  und  hinter  der 
ganzen  kunstlich  wichtig  gemach- 
ten  neokonservativen  Literatur  im 

868 


Grunde  steckt.  Wenn  man  ge- 
nauer  zusieht,  bleibt  nur  die  tra- 
ditionelle  Konterrevolution,  und 
seit  1920  hat  sich  nicht  mehrver- 
andert  als  die  Terrainologie,  Es: 
ist  wohl  nicht  nur  die  Anhang- 
lichkeit  der  alten  Offiziosin,  was 
die  ,D,A;Z.'  so  oHenherzitf  reden 
lafit. 

Doch  versteht  es  die  ,D,A.Z.* 
auch,  mit  feinern  Waffen  fur  die 
Dynastie  Reklame  zu  machen. 
Sogar  die  Umwandlung  von. 
Schlofi  Marquardt  am  Schianitz- 
see in  einen  Restaurationsbetrieb 
muB  dazu  herhalten-  Denn  da- 
durch  kann  wieder  eine  Statte 
geschaffen  werden,  „an  der  fur 
eine  lebendlge  Verbindung  der 
Gegenwart  mit  der  Geschichte  ge- 
arbeitet  wird'\  Wie  das  gemacht 
wird?  „In  der  Grotte  von 
Schlofi  Marquardt  ftihrte  General 
von  Bischofswerder  dem  zweiten 
Friedrich  Wilhelm  von  ^reufien 
seine  Geisterstimmen  vor,  liefi  er 
ihm,  wie  im  Belvedere  von  Char- 
lottenburg,  die  Gestalten  der  Ver- 
gangenheit  erscheinen  und  zu  ihr 
sprechen,  Gastronomie  und  Astro- 
logie,  Naturgeschichte  und  Qkkul- 
tismus  konnen  hier  eine  sehr 
witzige  Verbindung  eingehen, 
und,  geschickt  benutzt,  konnen. 
die  Geister  von  Marquardt  «genatl 
so  zu  einem  Werbungsmittel  ftir 
uns  werden  wie  Mozarts  Kleine 
Nachtmusik  unter  den  fackel- 
beleuchteten    Schliiterbalkons." 

Leider  verrat  die  ehemalige 
Offiziosin  kein  genaueres  Rezept, 
Wir  empfehlen  Kempinski  das 
Engagement  von  ein  paar  poli- 
tisch  grade  abkommlichen  Hohen- 
zollernprinzen,  die  den  Gasten. 
im  historischen  Kostum  die  Hon- 
neurs  machen,  Unsres  Erachtens 
aber  diirfte  es  das  Zugkraftigste 
sein,  den  Exkronprinz  mit  seinen 
Freundinnen  bei  Nachtmusik  und 
Fackelbeleuchtung  in  die  Grotte 
zu  setzen,  wo  Bischofswerder  mit 
dem  erlauchten  Vorfahren  seinen 
okkultistischen  Hokuspokus  ge- 
trieben  hat.  Das  ware  nicht  nur 
im  Sinne  der  ,D.A.Z.'  eine  sehr 
witzige  Verbindung  von  Okkul- 
tismus  und  Naturgeschichte    son- 


dern  atich  eine  lebendige  Ver- 
ibindung  von  Gegenwart  und 
Historic  Wir  werden  zuriick- 
versetzt  in  die  galanteste  Zeit 
Preufiens,  in  die  des  dicken 
Wilhelm  und  der  Lichtenau,  und 
erfahren  zugleich,  dafi  sich  in 
der  hohen  Familie  seither  nicht 
viel  geandert  hat.  Wir  glauben 
trotzdem,  dafl  die  ,D,A.Z.'  der 
Restitution  der  Hohenzollern 
nicht  dient,  wenn  sie  grade  an 
diese     Epoche   wieder    ankniipfen 

™1L  Hans  Kurzweg 

Ein  Vorschlag 

P*  in  kiirzlich  in  Berlin  unter- 
*-*  nommener  Versuch,  '  Bilder 
lebender  Kiinstler  im  Licitando- 
Wege  an  den  Mann  zu  bringen, 
ist  gescheitert.  Begreiflich,  Bil- 
der sind  kein  lebenswichtiger  Ge- 
genstand,  nur  schwer  trennt  sich, 
^vver  Bares  hat,  von  diesem,  und 
die  Kunst  hat  schlechte  Zeiten 
in  Zeiten,  in  denen  die  Mazene 
selber  dringend  einen  Mazen 
l>rauchen. 

Es  wird  sich  heute  iiberhaupt 
kaum  eine  Ware,  sei  sie  nun  edel 
oder  profan,  finden  lassen,  die, 
zur  Auktion  gestellt,  die  Men- 
schen  anreizt,  einander  mit 
Kaufofferten  zu  iiberbieten,  Wirk- 
lich  gesucht  und  begehrt  ist  in 
unsern  Tagen  nur  ein  einziger! 
Artikel:  Geld.  Deshalb  miifite 
man  jetzt,  glaube  ich,  umge- 
kehrte  Auktionen  veranstalten, 
namlich  Geld  ausbieten  und  zu- 
sehen,  was  es  sich  die  Inter- 
«ssenten  kosten  lassen,  in  den 
Besitz  der  seltenen  Sache  zu  kom- 
men,  Eine  solche  Geldverlicitie- 
rung  hatte  ungeheuren  Zulauf 
und  sichern  Erfolg. 


„Es  gelangen  zur  Versteigerung: 
1000  Mark,  wer  bietet?" 

Samtliche  Anwesende  springen 
von  den  Sitzen  auf,  heben  beide 
Hande  hoch,  uberschreien  einan- 
der mit  auBerster  Stimmkraft,  es 
geht  wilder  zu  als  bei  irgend 
welcher  politischen  Versammlung, 
der  ganze  Saal  —  soweit  die 
Auktion  nicht,  was  notwendig 
sein  diirfte,  auf  freiem  Felde 
stattfindet  —  tobt  von  entfessel- 
ter  Sammlerleidenschaft,  das  aus- 
gebotene   rare    Stuck    zu    erobern. 

Die  Angebote  drangen  und 
iibersteigern   sich : 

„Meine   Bibliothek!" 

„Mein  Auto!" 

„Unsern  gesamten  Familien- 
schmuck!" 

„Meine  politische  Gesinnung, 
mit  allem  weltanschaulichem  Zu- 
behor!" 

„Drei  Kilo  erstklassiger  Mili- 
tar-Film-Exposes  I" 

MEinen  Posten  als  Theater- 
direktor!"  (Heiterkeit,  in  die 
auch  der  Auktionator  und  die 
berittene   Schupo  einstimmen.) 

„Eine   Villa   im   Grunewaldl" 

Der  Auktionator  wiederholt: 
„Eine  Villa  im  Grunewald  —  zum 
ersten  —  zum  zweiten  —  , . .  gibt 
niemand  mehr?" 

„Eine  Villa  in  Dahlem  plus. 
Oberlassung  der  Hausfrau!"  (Leb- 
hafter  Widerspruch:  „Das  mochte 
ihm  so  passen!  . . .  verdienen  will 
er  auch  noch  dabeif") 

„Meinen   guten   Namen!" 

„Meine  linke  Hand!" 

„Den  ganzen  Arm!" 

„Meine  Bereitschaft  zu  Allem 
und  Jedem!" 

Und  so  weiter. 


FQr  Car!   von  Ossietzky! 

Dieser  Nummer  liegt  eine  Sammelliste  bei  fair  die  von 
der  Liga  fiir  Menschenrechte  und  dem  PEN-Club 
(Deutsche  Gruppe)  veranstaltete  Petition  fiir  Carl  von 
Ossietzky.  Den  besonders  von  den  Betrieben  ausgehen- 
den  Anforderungen  nach  ihren  groflern  Sammellisten 
kann  die  Liga  nicht  mehr  nachkommen,  da  ihre  Exem- 
plare  vergriffen  sind.  Es  wird  deshalb  vorgeschlagen,  im 
Bedarfsfall  eigne  Sammellisten  mit  am  Kopf  aufgekleb- 
tem  Petitionstext  herzustellen. 


869 


Damit  em  biBchen  Ordnung 
und  System  in  die  Sache  kommt, 
wird  es  sich  empfehlen,  die.Geld- 
versteigerungen  fiir  bestimmte 
Kategorien  von  Angeboten  zu 
spezialisieren,  also  etwa  eine 
Geldauktion,  wo  nur  Sachwerte, 
eine  andre,  wo  nur  ideale  Werte 
in    Zahlung  genoramen  werden. 

■kt-    *  •      _  .„ JnM1^A«i      \\%e    an    Wfil- 

iNicnx  aUsz.ua^ix**.^")  «»-  --   ■•-- 
chen   Hochstleistungen  an   Opfer- 
willen  die  Aussicbt,   so  ein  scno- 
nes       Stuck       wie      etwa      einen 
Tausendmarkschein     von    beglau- 
bigter      Echtbeit       zu       erstehen, 
die      unubersehbare     Schar      der 
Interessenten      hinreiBen     w^rde; 
Fiir     irgend     etwas     heute     Geld 
zu      bekommen,      ist      entsetzlich 
schwer,      aber      fiir      Geld     alles 
Mogliche  zu  bekommen,  ist  ganz 
leicht,     Vielleicht   ware   von  hier 
aus    uberbaupt    die    stehengebhe- 
bene   Wirtschaft    in   Schwung    zu 
bringen,    indem    Ware    und    Geld 
ihre   Rollen  tauschen,  dieses   zura 
Verkaufsobjekt     und     jenes     zum 
Zahlungsmittel  wird.     Sie  kennen 
alle    das    hubsche    Gesellschafts- 
spiel;  Was  mtiBte  man  Ihnen  zab- 
len,    damit    Sie    dies    oder    jenes 
tun?      Wenn   man   es   nun   umge- 
kebrt  spielte:  Was  waren  Sie  im- 
stande   zu   tun,    wenn   man   Ihnen 
so  und  soviel  zahlte?,  . . .  die  Ant- 
worten     wurden      zeigen,      welch 
heroischer    materieller     und    gei- 
stiger    Qpfer     der    Mensch    fahig 
ist,     wenn     nur     sein     Idealismus 
durch     das      rechte      Zauberwort 
wachgeriittelt   wird. 

Florian 

Unser  kluger  Selzer 

Pastor    Cremer     hat   von    einem 
x  seiner    vielen    Geheimkonten 
bei   dem  ZentralausschuB    der    In- 
nern    Million    20  000    Mark    weg- 
genommen,  ohne  jede  Angabe. 
,Weltbuhne*    Nr.  22 


Pg.  Generaldirektor 

Zu  den  groBten  Wundern  des 
nationalsozialistischen  Vor- 
marsches  gehort  die  finanzielle 
Ausstattung  dieser  Bewegung.  Der 
gewaltige  Parteiapparat,  die  kost- 
spieligen  Propagandaaktionen^ 

die  Besoldung   der   SA.  und    die 
durchaus  nicht  knapp  bemessenen 
Gehalter    der    hohen    Parteichar- 
getT"  erfordern      einen    Aufwand,. 
der   durch   Mitgliedsbeitrage    me- 
mals     bestritten    werden     konnte, 
Man  weiB  langst,   daB   die  Partei 
iiber    eine   groBe   Anzahl   kapital- 
kraf tiger  Protektoren  verfugt,  die 
aus  Furcht  oder  Hoffnung  an  die 
Seite     "  der      NSDAP.       getreten 
sind,      Wenn    zum    Beispiel    der 
amerikanische    Warenhauskonzern 
Woolworth  betrachtliche  Summen 
fiir    die   nationalsozialistische  Be- 
wegung    gegeben     hat,     so     kann 
nicht   personliche   Sympathie   son- 
dern  lediglich  die  Furcht  vor  der 
Gegnerschaft  der  kiinftigen  Macht- 
haber     ausschlaggebender    Beweg- 
grund  gewesen  sein.    Ebenso,  wie 
man     sich     gegen    Aufruhr    oder 
Feuer       versichert,       kann      man 
sich      anscheinend      auch      gegen 
das  „Dritte  Reich"  versichern  las- 
sen.     Eine  solche  Handlungsweise 
spricht  weniger  gegen  den  auslan- 
dischen       Konzern,        dem        die 
deutsche    Politik   gleichgultig    ist, 
als    gegen    eine    Partei,    die    sich 
als  Verkiinder   des  nationalen  Ge- 
dankens  und  als  besonderer  Feind 
des      Warenhauskapitals      aufzu- 
spielen  pflegt. 

Bereits  wenige  Wochen  nach 
den  Wahlen  vom  14.  September 
1930  nahm  das  damalige  Vor- 
standsmitglied  der  Deutschen 
Bank,  Herr  von  StauB,  Verhand- 
lungen  mit  Adolf  Hitler  auf. 
Wenn  damals  das  Institut  sein 
Vorstandsmitglied  nicht  zuruck- 
gepfiffen   hat,   so   unterblieb     dies 


A  He  Firmen  lassen  sich  auf  keine  Experiment  ein.  Unser 
A  Verlag  besteht  iiber  hundert  Jahre  und  wir  wissen,  was i  wir 
tun,  wenn  wir  uns  far  die  Bucher  von  Bo  Yin  Ra,  J.  Schneider- 
franken,  einsetzen.  Alle  guten  Buchhandlungen  halten  sie  jetzt 
auf  Lager.  Als  Einftihrung  empfehlen  wir  das  zuletzt  erschienene 
Werk  des  Verfassers  „Der  Weg  meiner  SchiUef.  Oebunden 
RM  6  -  Der  Verlag:  Kobei'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr. 
1816)  Basel-Leipzig. 


870 


mit  etwa  folgender  Begriindung: 
Einc  Groftbank,  die  fiir  die 
Sicherheit  ihrer  Einleger  verant- 
wortlich  ist,  mu6  auf  die  gege- 
benen  Tatsachen  Rucksicht  neh- 
men.  Schon  anders  erklart  sich 
das  Verhalten  des  Direktors  der 
Commerz-  und  Privat-Bank,  Fried- 
rich  Reinhart,  der  aus  seinen 
Sympathien  fiir  die  auBerste 
Rechte  kein  Hehl  macht.  Aus 
dieser  Haltung  erklart  sich  auch 
die  Bedenkenlosigkeit,  mit  der 
Reinhart  im  Falle  der  Use  Berg- 
bau  A.-G,  gegen  die  Reichsinter- 
essen  aufgetreten  ist.  Selbstver- 
standlich  hatte  die  Reichsregie- 
r  ung  die  Moglichkeit  gehabt , 
ihren  Majoritatseinflufi  bei  der 
Commerz-  und  Privat-Bank  durch 
Abberufung  Reinharts  geltend  zu 
machen,  Der  Commerzbank- 
Direktor  rechnete  aber  damit, 
daB  sich  eine  absterbende  Regie- 
rung  nicht  mehr  zu  einem  solchen 
Schritt  bequemen  wiirde.  Leider 
hat  er  sich  nicht  verrechnet. 

Die  Wintershall-Kaii  A.-G.  hat 
einen  jahrlichen  Dispositions- 
fonds  von  zwei  Millionen  Mark, 
liber  den  Generaldirektor  Rosterg 
in  Gemeinschaft  mit  dem  stell- 
vertretenden  Aufsichtsratsvorsit- 
zenden  Rechtsanwalt  Schmidt  I, 
Hannover,  verfiigen  kann,  Es  be- 
steht  kein  Zweifel,  dafi  ein  er- 
heblicher  Teil  dieser  Mittel  fiir 
die  Unterstiitzung  der  national- 
sozialistischen  Bewegung  ver- 
wandt  wird.  Hier  Iiegt  schon 
nicht  mehr  der  Gedanke  einer 
Riickversicherung  vor,  sondern 
die  Hoffnung,  daB  sich  dieses  po- 
litische  Geschaft  spater  einmal 
bezahlt  machen  wird;  Die  Win- 
tershall  A.-G.,  die  etwa  vierzig 
Prozent  der  Quoten  des  Kali- 
Syndikats  besitzt,  strebt  seit  Ian- 
gerer  Zeit  nach  der  Alleinherr- 
schaft  in  der  Kali-Industrie,  Bei 
der  finanziellen  Lage  des  Kon- 
zerns  ist  es  nicht  moglich,  dieses 


Ziel  durch  kauflichen  Erwerb 
andrer  Kali-Quoten  zu  erreichen, 
Mit  den  Mittein  der  Politik  laflt 
sich  vielleicht  auch  diese  ISchwie- 
rigkeit  iiberwinden,  Ahnliche 
Griinde  haben  wohl  auch  seiner- 
zeit  bei  den  Lahusens  mitgespieltP 
obwohl  selbstverstandlich  die  in 
sich  gesunde  Wintershall  A.-G. 
nicht  mit  der  Norddeutschen 
Wollkammerei  verglichen  werden 
kann.  Die  Briider  Lahusen  spe- 
kulierten  vermutlich  darauf,  daft 
ihnen  im  „Dritten  Reich"  das 
Wollmonopol  zufallen  wiirde.  Ihr 
Kalkulationsfehler  bestand  ledig- 
lich  darin,  dafi  ihr  Zusammen- 
bruch  rascher  erfolgte  als  Hitlers 
Machtergreifung. 

Schliefilich  gibt  es  auch  Wirt- 
schaftsfuhrer,  die  aus  innerer 
Oberzeugung  den  Nationalsozia- 
listen  Gefolgschaft  leisten.  Einem 
Manne  wie  Fritz  Thyssen  wird 
man  die  Aufrichtigkeit  seiner 
Gesinnung  zubilligen  konnen- 
Ahnliches  wird  ^  auch  dem 
General  dir ektor  B  er ckemey er  von 
den  Oberschlesischen  Kokswerken 
nachgesagt,  bei  dem  Hitler  wah- 
rend  seiner  jungsten  Anwesen- 
heit  in  Berlin  zu  Gast  gewesen 
ist,  Aber  der  Zulauf,  den  die 
Nationalsozialisten  aus  dem  in- 
dustriellen  Lager  in  letzter  Zeit 
bekommen  haben,  ist  doch  zum 
groBten  Teil  Ausnutzung  einer 
kommenden  Konjunktur. 

Bernhard  Citron 

Liebe  Weltbuhne! 

p  in  berliner  Filmmann  betrach- 
*-*  tet  sinnend  das  Titelblatt  des 
,Weltspiegels\  das  den  Regis- 
seur  S.  M.  Eisenstein  zeigt,  wie 
er  f(uber  den  Dachern  von  New 
York"  eingeseift  und  rasiert 
wird.  „Die  Unterschrift  ist  nicht 
richtig",  sagt  er,  „sie  sollte  lau- 
ten;  Eisenstein  verhandelt  mit 
der  amerikanischen  Filmindu- 
strie". 


Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Individualpsychologische  Gruppe.    Montaff  20.00.    Klubhaus  am  Knie,   Berliner  Str.  27: 

Nietzsche  und  die  Individualpsychologie,  Harald  Landry. 
Gruppe   Revolution  arer   Pazifisten.    Donnerstag    20.00.    Cafe    Adler    am    Donhoffplatz. 

Offeutliche  Diskussion.    Walter  Arnold  und  Wilhelm  Prugel:  Die  Schuld  der  Linken. 

Kurt  Hilter :  Sind  wir  Marxisten  ? 
Buchhandlung  Karl  Buchholtz,  Kurfurstendamm  30.      Ausstellung  von  K.  Harald  Isen- 

steins  Illustrationen  zu  Goethes  Gedicht  „Das  Tagebuch", 

871 


Antworten 

Kinobesucher.  Der  Film  „Kuhle  Wampe",  der  hier  anlaBlich  des 
2ensurverbots  bcsprochcn  wurde,  ist  nun  freigegeben.  Auch  im  zer- 
schnittenen  Zustand  hat  er  die  Reize  und  die  Nachteile  einer  Ex- 
peritnentierarbeit,  Ein  lockeres  Szenengefuge,  ein  biBchen  rauh 
im  Ton,  ein  bifichen  grau  in  der  Farbe,  aber  wichtig  durch  einige 
neue  dramaturgische  Effekte,  vor  allem  in  der  Verwendung  der 
Musik,  schon  durch  den  Schauspieler  und  Sanger  Ernst  Busch  und 
das  prachtige  Arbeitermadchen  Marta  Wolter  und  vollig  einzigartig 
als  ein  Versuch,  das  Proletarierleben  anders  zu  schildern  ais  im 
Operettenton  der  Filmindustrie,  Nur  das  Liebeslied  der  Helene  Wei- 
gel,  der  Heilpadagogin  der  berliner  Weltrevolution,  sollte  nian 
schleunigst  entfernen., 

Vcrein  der  Saarpresse.  Sie  beanstanden  in  unserm  ersten  Saar- 
artikel  (Nr.  17)  den  Satz:  „Eines  ist  sicher,  die  Schwerindustrie  wiirde 
auch  bet  der  letzten  Entscheidung,  ob  die  Saar  bei  Deutschland  ver- 
bleiben  soil  oder  nicht,  nur  den  eignen  Interessen  gemafl  handeln  und 
.sich  nicht  an  die  feinen  nationalen  Maximen  halten,  die  sie  in  der 
von  ihr  ausgehaltenen  Presse  aufstellen  lafit."  Sie  bestreiten,  daB  es 
im  Saarrevier  eine  von  der  Schwerindustrie  ausgehaltene  Presse  gebe, 
Der  Verfasser  des  Artikels  bemerkt  zu>  Ihrer  Beanstandung,  daB  er 
bei  seinen  Ausfiihrungen  nicht  an  Blatter  des  Saarreviers  sondern 
an  andre  von  der  Schwerindustrie  abhangige  Organe  gedacht  habe. 
Soweit  ein  MiBverstandnis  durch  die  Fassung  des  beanstandeten  Satzes 
«ntstehen  konnte,  sei  dies  hiermit  richtiggestellt. 

Der  Vorposten,  Danzig,  Wir  bestatigen  dankend  den  Empfang 
Eures  Artikels  mit  der  Oberschrift  „Das  Pazifistenschwein  H.  von 
Gerlach",  Die  kraftige  Ausdrucksweise  betrachten  wir  als  Beweis 
Euresi  blutechten  Germanentums.  DaB  Ihr  Gerlach,  ebenso  wie  Bru- 
ning,  des  Landesverrats  zeiht,  beruhigt  uns.  Wen  Ihr  nicht!  fur  einen 
Landesverrater  erklart,  der  miiBte  ja  in  den  Verdacht  kommen,  Nazi 
zu   sein. 

Westdeutscher  Rundfunk.  Wir  hatten  kritisiert,  daB  bei  Dir 
die  Polizeiflagge  als  Schwarz-Rot-Gelb  bezeichnet  worden  war.  Und 
nun  erfahren  wir  von  Dir,  daB  zwar  das  Fahnentuch  Gold  kennt,  das 
Flaggentuch  aber  nur  Gelb.  Dieser  feine  Unterschied  zwischen  panne 
und  Flagge  war  uns  neu,  Man  lernt  nie  aus.  Nun  sind  wir  belehrt. 
HeiBen  Dank! 

Ungebildeter.  Sie  wissen  nicht,  was  ein  Lachkabinett  ist?  Fra- 
gen  Sie   doch  Herrn  von  Papen, 

Dieser  Nummer  liegt  ein  Prospekt  des  Malikverlages  bei,  der  iiber 
den  neuen  Roman  von  Theodor  Plivier  „Der  Kaiser  ging}  die  Gene- 
rate blieben"  unterrichtet  Wir  empfehlen  die  Lektiire  des  Prospekts 
der  besonderen  Aufmerksamkeit  unsrer  Leser.   

Dieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fur  die  Abonnenten  bei,  auf 
der  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  itir  das  III.  Viertelfahr  1932 

einzuzahlen,  da  am  10.  Juli  1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht. 

Manuskripte  sind  nur  «n  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  CharlotUnburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Riicksendung  erfolgen  kann. 
Das  AuffQhrune*recht,  die  Verwertung  vonTitelnu.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechaniscbc  Wiedergabe  aller  AH  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortrftgen 
bleiben  filr  alio  in  der  Weltbuhne  erachelnenden  Beitrage  ausdrucklicb  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begriindet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung    von   Kurt  Tucbolsky  geleitet  —  Verantwortlich :    Walther  Karsch,    Berlin 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  CI,  Steinplatx  7767.   -  Postscheckkonto:  Berlin  U958- 
Bankkonto;  Dresdner  Bank.    Depositenkasse  Charlottenburg,  Kantstr.  112. 


XXVIII.  Jahrgang  14.  Jnni  1932  ' Nummer  24 

Nur  keine  Schwache!  von  Hanns-Erich  Kaminski 

Wir  wissen,  daB  wir  unser  Volk  nur  erhalten  konnen,  wenn 
wir  in  warmer  Liebe  uns  einsetzen  fiir  das  richtig  verstandene 
Wohl   der  breitcn  arbeitnehmenden  Massen. 

Freiherr  von  Gayl 
Wirst  Du  jetzt  gleich  zum  Kreuz  kriechen  und  um  Gnade 
und  Schonung  flehen,  siehe,  so  wird  Dir  die  Strenge  selbst  Er- 
barmen,  die  Gerechtigkeit  eine  liebende  Mutter  sein  —  sie 
driickt  das  Auge  bei  der)  Halfte  Deiner  Verbrechen  zu,  und 
laBt  es  —  denk  doch!  —  und  laBt  es  bei  dem  Rade  bewenden. 

Friedrich  Schiller 
|7  s  ist  nicht  bekannt  geworden,  wieviel  neue  Mitglieder  Hit- 
ler  in  diesen  Tagen  gcwonnen  hat.  Ihrc  Zahl  diirfte  be- 
trachtlich  sein.  Vielen  werden  jetzt  die  Knie  weich,  brave 
Burger  fragen  entnistet,  warum  die  Arbeiter  noch  nicht  den 
Generalstreik  proklamiert  haben,  Horsing  griindet  eine  neue  Par- 
tei,  und  Otto  Braun  hat  Urlaub  genommen,  Gotterdammerung! 
Auch  Zeiten  wie  diese  haben  ihr  Gutes:  sie  enthiillen  die 
Din,ge  und  die  Menschen.  Jetzt  igibt  es  nur  noch  ein  Hiiben 
und  ein  Driiben.  ,  Jetzt  zeigt  sich,  was  jeder  wert  ist.  Jetzt 
erfahrt  man  endlich,  wer  Freund  und  wer  Feind  ist. 

Schlimmer  noch  als  die  offenen  Feinde  sind  freilich  die 
fal'schen  Freunde,  die  durch  ihre  Feigheit  die  demokratische 
Republik  zugrunde  gerichtet  haben.  Typisch  fiir  diese  angst- 
liche  Riicksichtnahme  sind  die  letzten  MaBnahmen  der  ge- 
schaHsfuhrenden  preuBischen  Regierung,  Vielleicht  war  es 
richtig,  auoh  den  kleinsten  AnlaB,  der  sie  ins  Unrecht  setzen 
konnte,  zu  beseitigen.  Aber  selbstmorderisch  war  es,  die  Be- 
amtengehalter  erneut  zu  kiirzen  und  das  Fleisch  zu  vert  euern 
und  so  der  Reaktion  nochmals  Agitationsmaterial  zu  liefern, 
statt  wenigstens  zuguterletzt  noch  popular  zu  regieren  und  die 
notwendigen  Lasten  den  Besitzenden  aulzubiird'en.  Jetzt  sind 
die  kommenden  Notverordnungen  Papens  schon  ini  Voraus 
durch  die  preuBische   Regierung  gerechtfertigt. 

So  hat  man  es  immer  gemacht.  So  aber,  grade  so  darf 
man  es  nicht  machen.  Es  bat  nie  Sinn  gehabt,  dem  Gegner 
entgegenzukommen.  Heute  ist  jeder  derartige  Versuch  Verrat. 
Noch  ein  andrer  Fehler  muB  fortan  vermieden  werden:  die 
Hoffnun,g  auf  andre.  Die  Leute,  die  immer  behaupteten,  Hin- 
denburg  wiirde  „das"  nicht  mitmachen,  sind  nun  zwar  ver- 
stummt.  Dafiir  prophezeien  sie  jetzt  auBenpolitische  Schwie- 
rigkeiten  und  rechnen  auf  allerlei  Konllikte;  zwischen  der  Re- 
gierung und  ihren  Hintermannern,  zwischen  Neurath  und 
Papen,  zwischen  Bayern  und  dem  Reich.  Alle  diese  Pro- 
pheten  haben  eine  groBe  Vorliebe  fiir  Psychologie,  sie  zer- 
brechen  sich  die  Kopfe  der  neuen  Machthaber  und  wissen  ge- 
nau,  an  welchem  Pupkt  diese  Kopfe  aneinander  geraten 
miissen, 

Es  ist  selbstverstandlich,  daB  das  neue  Regime  starke 
Gegensatze  in  sich  birgt  und  auf  zahlreiche  Widerstande  sto- 
Ben  wiirde,  auch  wenn  es  keine  Linke  gabe.  Jedoch  so  sorg- 
faltig   wir  alle  diese    Moglichkeiten    beobachten   miissen,    ver- 

873 


lassen  konnen  wir  uns  nur  auf  uns  selbst.  Denn  die  Personen, 
die  uns  gegenuberstehen,  sind  nicht  sehr  erheblich,  sie  konnen 
jederzeit  durch  andre  ersetzt  werden,  ohne  daB  sich  dadurch 
etwas  Wesentliches  andern  wiirde.  Was  die  Reichsregierung 
und  die  hinter  ihr  stehenden  Krafte  zusammenkittet,  das  ist 
ihr  gemeinsames  Klasseninteresse.  Nicht  mit  Personen  oder 
gar  mit  Personlichkeiten,  sondern  mit  einer  Klasse  haben  wir 
es  also  zu  tun,  und  selten  ist  eine  Regierung  in  ihrer  klassen- 
maBigen  Zusammensetzung  so  homogen  gewesen  wie  diese. 

Dem  Klasseninteresse  der  zur  Herrschaft  gelangten  Reak- 
tion  muB  die  Linke  darum  ihr  eignes  Klasseninteresse  ent- 
gegenstellen.  Jede  andre  Konstellation  kann  die  Gegensatze 
nur  verwischen  und  die  Situation  verfalschen,  wobei  die  Linke 
nichts  zu  gewinnen  hatte.  Die  deutsche  Linke  aber  ist  die 
deutsche  Arbeiterklasse.  Ein  linkes  Biirgertum  gibt  es  in 
Deutschland  nicht  mehr,  wer  sich  zur  Linken  gehorig  fiihlt,  der 
muB  darum  an  dem  Klassenkampf  des  Proletariats  teilnehmen- 

Dieser  Klassenkampi  ist  niemals  so  hart  und  deutlich  ge- 
wesen wie  jetzt,  da  der  Reichsinnenminister  erklart  hat:  ,,Wir 
sind  keine  Vertreter  einseitiger  Standes-.und  Berufsinteressen, 
sondern  Reichsminister,  deren  Sorge  und  Liebe  jedem  einzel- 
nen  Volksgenossen  gehort,"  Wollen  die  Arbeiterparteien  trotz- 
dem  fortfahren,  jede  iur  sich  und  gegeneinander  zu  kampfen? 

Die  kommunistische  Idee,  die  Arbeiterschaft  ,,von  unten 
her",  ohne  und  gegen  die  sozialdemokratischen  Fiihrer  zu  eini- 
gen,  hat  sich  als  undurchfuhrbar  erwiesen,  Auch  die  kuriose 
Behauptung  einiger  Sozialdemokraten,  die  Einigung  sei  durch 
die  Eiserne  Front  schon  verwirklicht,,  diirfte  heute  von  nie- 
mand  mehr  aufrechterhalten  werden,  Ich  bin  stets  der  Mei- 
nung  gewesen,  zwar  nicht  die  Einigung  aber  wenigstens  die 
Zusammenarbeit  sei  nur  moglich,  wenn  es  gelange,  die  Fiihrer 
beider  Parteien  an  einen  Tisch  zu  bringen,  und  ich  habe  mich 
schon  vor  Monaten  bemiiht,  in  dieser  Richtung  zu  arbeiten. 
Leider  scheiterte  dieser  Versuch  genau  wie  alle  ahnlichen. 
Heute  ist  die  Geneigtheit  zur  Verstandigung;  zweiiellos  auf  bei- 
den  Seiten  vorhanden,  aber  heute  ist  keine  Zeit  mehr  fiir  di- 
plomatische  Vorarbeiten, 

Selbstverstandlich  kann  der  prinzipielle  Gegensatz  zwi- 
schen  Sozialdemokraten  und  Kommunisten  nicnt  uberbruckt 
werden,  und  auch  die  Sentiments  und  Ressentiments,  die  sie 
seit  Jahren  trennen,  konnen  nicht  von  einem  Tag  zum  andern 
verschwinden.  Moglich  aber  ist  eine  Listenverbindung,  die 
verhindert,  daB  bei  der  bevorstehenden  Reichstagswahl  Rest- 
stimmen  verloren  gehen.  Moglich  ist  ferner  eine  Verstandi- 
gung uber  die  Wahlagitation.  Die  Angriffe  auf  die  proleta- 
rische  Nachbarpartei  miissen  eingestellt  werden,  damit  ein 
umso  groBerer  Teil  der  Redezeit  jedes  Agitators  zu  Angriffen 
auf  die  Reaktion  verwendet  werden  kann.  Ebenso  miissen  Red- 
ner  und  Drucksachen  gleichmafiig  iiber  das  ganze  Land  ver- 
teilt  werden,  damit  nicht  an  einem  Ort  Krafte  vergeudet  wer- 
den und  in  andern  iiberhaupt  keine  Versammlungen  stattfin- 
den  und  iiberhaupt  keine  Flu,gblatter  verteilt  werden. 

Doch  das  sind  vorwiegend  technische  Fragen.  Die  Haupt- 
sache    ist,    daB    die    beiden   Parteien   sich   verstandigen,  wofiir 

874 


sic  kampfen  wollen.  Wenn  sick  in  der  Mitte  um  das  Zentrum 
herum  ebcnfalls  einc  Front  gegen  die  Diktatur  bildet,  umso 
besser,  Verhangnisvoll  ware  es  jedoch,  wenn  ein  Teil  der 
Linken  gegen  Papen  fur  Briming,  gegen  die  ganze  fur  die  halbe 
Diktatur,  gegen  den  Vollstrecker  fur  den  Wegbereiter  fechten 
wollte.  Was  Doktor  Briining  getan  und  unterlassen  hat,  eignet 
sich;  nicht  zur  Parole  fur  eine  Entscheidungsschlacht. 

Wir  wollen  die  Bedeutung  dieser  Wahl  nicht  iiberschat- 
zen,  aber  zum  letzten  Mai  ernalt  die  Linke  durch  sie  eine  ge- 
waltige  Chance.  Jetzt  diirfen  keine  Zugestandnisse  mehr  ge- 
macht  werden!  Jetzt  miissen  wir  ausschlieBHch  auf  unsre 
eigne  Kraft  bauen  und  fur  unser  eignes  Ideal  eintreten. 

Duell  Hitler-Schleicher  von  Hellmut  v.  Gerlach 

VW'er    Hitlers    Selbstbiographie     „Mein   Kampf"    gelesen    hat, 

wird  sich  mit  Entsetzen  fragen,  wieso  ein  solcher  sadisti- 
scher  Oberkonfusionsrat  zum  Fiihrer  eines  starken  Drittels  des 
deutschen  Volkes  werden  konnte. 

In  Hitler  steckt  jedoch  etwas  mehr  als  in  seinem  Buch. 
Er  hat  Instinkt.  Damit  verdeckt  er  die  Locher  in  seinem  In- 
tellekt.  Sein  Instinkt  lehrt  ihm  die  Kunst  der  Menschen- 
behandlung  in  ein  em  Mafle,  um  das  ihn  jede  Kartenlegerin  und 
Kaffeesatzleserin  beneideh  muB.  Sein  Instinkt  macht  ihn  zum 
Menschenfanger.  Wenigstens  zum  Fanger  gewisser  Menschen. 
Aber  sie  sind  sehr  zahlreich. 

Herr  von  Schleicher,  gait  seit  Jahren  als  der  kliigstei  und 
darum  gefahrlichste  Mann  der  Reichswehr.  Er  ist  verzehrt  von 
■Ehrgeiz.  Warum  kann  nicht  auch  Deutschland  einen  Bona- 
parte produzieren?  Das  Heer  hat  er  ja  langst  im  der  Tasche. 
In  diesen  gottverfluchten  demokratischen  Zeiten  braucht  man 
nur  leider  auch  noch  das  Zivil. 

Darum  schloB  er  mit  Herrn  Hitler  einen  Pakt.  Pactum 
leoninum  nannten  die  Romer  solche  Art  Vertrage.  Hitler  gelang 
ein  Meisterstiick  in  seinem   Jugendgewerbe   des  Anstreichers- 

Herr  von  Schleicher  wollte  sich  die  parlamentarische  Un- 
terstutzung  der  Nationalsozialisten  sichern.  Darum  verpflich- 
tete  er  Hitler  durch  allerlei  Gaben  zur'  wohlwollend'en  Neutra- 
litat.  Er  versprach  ihm  baldige  Auflosung  des  Reichstags,, 
scharfes  Vorgehen  gegen  die  bisherige  preuBische  Regierung, 
Wiederzulassung  der  braunen  Privatarmee,  Freigabe  des  Rund- 
funks,  uberhaupt  jede  Forderung  der  nationalsozialistischen 
Agitation. 

Herr1  von  Schleicher  hat  die  ubernommenen  Verpflichtun- 
gen  geleistet  oder  steht  im  Begriff,  sie  zu  leisten. 

Herr  Hitler  befindet  sich  in  der  angenehmen  Lagef  von 
der  einzigen  Leistung,  die  er  zugesagt  hatte,  durch  den  Gang 
der  Ereignisse  dispensiert  worden  zu  sein.  Er  sollte  die  Re- 
gierung Schleicher  parlamentarisch  unterstiitzen,  ihr  bei  der 
Vorstellung  im  Reichstag  ein  Vertrauensvotum  sichern.  Damit 
hatte  seine  Partei  die  Verantwortung  fur  die  Taten  der  feu- 
dalen  Regierung  iibernbmmen. 

Herr  Hitler  ist  diesmal  nicht  wortbriichig  geworden.  Es 
fehlt   ihm   die  Gelegenheit   dazu.     Die   Ereignisse   selbst   ent- 

875 


banden  ihm  seines  Wortes.     Der  Reichstag  flog  auf,  ohne  die 
neue  Regierung  zu  Gesicht  bekommen  zu  haben. 

Bebel  hat  einmal  von  dem  Schweine,gluck  der  Sozial- 
demokratie  gesprochen,  Diesmal  haben  die  Nationalsozialisten 
das  Schweinegluck  gehabt.  Auf  Kosten  des  Herrn  von 
Schleicher. 

Alle  Leute  nennen  Herrn  von  Schleicher  klug.  Ich  will 
nicht  klttger  sein  als  alle  Leute.  Aber  wenn  alle  Leute  recht 
haben,  so  spricht  das  nur  dafiir,  daB  man  als  General  sehr 
leicht  —  mangels  wirksamer  Konkurrenz  im  Offizierkorps  — 
in  den  Geruch  der  Klugheit  kommen  kann.  Dabei  denke  ich 
haturlich  nicht  an  das  Militarisch-Technische,  das  nicht  zur 
Debatte  stent,  sondern  an  das  Politische.  Darum  aber  handelt 
es  sich  ausschlieBlich  bei  der  Rolle,  die  sich  Herr  von  Schlei- 
cher erwahlt  hat. 

Wollte  Herr  von  Schleicher  parlamentarisch  regieren,  so 
muBte  er  si<5h  zunachst  die  wohlwollende  Neutralitat  des  Zen- 
trums  sichern.  Das  wuBte  jeder  politische  ABC-Schutze,  Herr 
von  Schleicher  hat  es  offenbar  nicht  gewuBt.  Er  scheint  sich 
eingebildet  zu  haben,  daB  es  geniige,  einen  bisherigen  Zen- 
trumsmann  an  die  Spitze  der  Regierung  zu  stellen,  urn  das 
Zentrum  moralisch  zu  binden. 

Hatte  Herr  von  Schleicher  eine.  Ahnung  von  der  Partei- 
geschichte  Deutschlands,  hatte  er  nur  das  geringste  Verstand- 
nis  fiir  politische  Psychologies  so  hatte  er  einen  solchen  Schnit- 
zer  nicht  machen  konnen,  So  hatte  er  wissen  rmissen,  daB  das 
Zentrum  sich  mit  einem  Protestanten,  zur  Not  sogar  mit  einem 
Dissidenten,  politisch  abfinden  kann,  aber  nie  mit  einem  Katho- 
liken,  der  als  Rebell  gegen  das  Zentrum  auftritt.  Unbeugsam 
halt  es  an  dem  Autoritatsprinzip  seinen  eignen  Glaubens- 
genossen  gegenuber  fest.  Es  weiB,  daB  seine  unbeschreiblich 
groBe  politische  Macht  ausschlieBlich  auf  seiner  vorbildlich 
straffen  Disziplin  beruht.  Der  Katholik,  der  aus  der  Reihe 
tanzt  — ;  das  ist  der  Feind! 

In  demselben  Augenblick,  als  Herr  von  Schleicher  Herrn 
von  Papen  ohne  Zustimmung  des  Zentrums  zum  Reichskanz- 
ler  machte,  hatte  er  schon  sein  Spiel  verloren. 

Natiirlich  gibt  er  selbst  sich  nicht  verloren,  Dafiir  ist  er 
viel  zu  sehr  von  seiner  Gottahnlichkeit  durchdrungen,  Er  soil 
ja  schon  von  der  vierjahrigen  Dauer  der  von  ihm  .geschaffenen 
Regierung  gesprochen  haben. 

Hitler  wird  schmunzeln.  Je  mehr  Illusionen  sich  sein  letz- 
ter  ernsthafter  Konkurrent  auf  der  Rechten  macht,  um  so  leich- 
ter  wird  er  ihn  zu  Boden  driicken. 

Der  deutsche  Fascismus  hat  im  Gegensatz  zum  italieni- 
schen  darunter  gelitten,  daB  er  eine  Mehrzahl  von  Pratenden- 
ten  hatte:  Ludendorff,  Hugenberg,  Duesterberg.  Hitler  hat  sie 
allmahlich  alle  kleingekriegt.  Schleicher  aber  glaubt,  daB  er 
Hitler  kleinkriegen  werde.  Gestiitzt  auf  die  Reichswehr  halt 
er  sich  fur  starker  als  jeden  Zivilisten. 

GewiB,  mit  hunderttausend  Mann  Bewaffneter  ist  man 
starker  als  viele  Millionen  Unbewafineter.  Namlich  im  Augen- 
blick  einer  blutigen  Auseinandersetzung. 

876 


Aber  Schleichers  Rechnung  hat  zwei  Liicken.  Einmal: 
weiB  er  denn,  ob  bci  einer  solchen  blutigen  Auseinanderset- 
zung  er  auf  die  Gesamtheit  der  Reichswehr  gegen  Hitler  rech- 
nen  konnte?  Und  dann:  glaubt  er,  gestiitzt  auf  hxinderttausend 
SchieBwerkzeuge,  Jahre  hindurch  gegen  die  drei  millionen- 
starken  ziyilen  Heerhaufen  der  Marxisten,  der  Natiomalsozia- 
listen  und  cle's  Zentrums  regieren  zu  konnen? 

Sein  Denken  ist  rein  militarisch  und  darum  politisch  falsch. 
Er  rechnet   kurzfristig,   der  Politiker  muB  langfristig   rechnen. 

Naive  Seelen  glauben  an  eine  Art  Verschworung  von  Hit- 
ler und  Schleicher.  GewiB,  beide  sind  sich  vollig  einig  in 
ihrem  HaB  gegen  die  demokratische  Republik.  Aber  sonst 
sind  sie  Todfeinde,  namlich  Konkurrenten.  Jeder  mochte  sich 
des  andern  bedienen.  Bisher  hat  sich  bei  dies  em  Spiel  Hitler 
als  der  weitaus  Oberlegene  gezeigt. 

Schleicher  konnte  nur  dann  eine  ausschlaggebende  Stel- 
lung  erringen,  wenn '  die  Wahlen  den  Nationalsozialisten  und 
den  Deutschnationalen  zusammen  zwar  die  absohite  Mehrheit 
brachten,  dabei  aber  die  Deutschnationalen  so  starken  Zu- 
wachs  erhielten,  daB  ohne  sie  Hitler  nicht  zur  Macht  gelan- 
gen  kann.  Dann  kame  es  in  der  Tat  au{  Schleicher  und  seine 
Reichswehr  an. 

Aber  so  werden,  die  Dinge  nicht  laufen. 

Die  Nationalsozialisten  werden  die  weitaus  starkste  Par- 
tei  im  neuen  Reichstag  sein.  Aber  wenn  sie  nicht  einmal  in 
Preufien  mit  den  Deutschnationalen  zusammen  die  absolute 
Mehrheit  erringen  kormten,  so  erst  recht  nicht  im  Reichstag, 
fur  den  Siiddeutschland  mitwahlt. 

Die  Deutschnationalen  werden  im  kommenden  Reichstag 
ein  so  kleines  Hauflein  sein,  daB  es  auf  der  Rechten  nicht  auf 
sie,  sondern  nur  auf  die  Nationalsozialisten  ankommt.  Denen 
hat  Herr  von  Schleicher  die  Tiiren  sperrangelweit  geoffnet.  Sie 
werden  mit  ihrem  Terror  auf  dem  platten  Lande  die  Deutsch- 
nationalen flach  an  die  Wand  driicken,  Sie  sind  ja  in  der 
glanzenden  Lage,  die  Regierung  Papen-Schieicher  nach  Belie- 
ben  kritisieren  zu  konnen.  Und  was  sich  in  der  Beziehung 
nach  Lausanne  tun  wird,  das  kann  sich  kaum  der  phantasie- 
vollste  Dichter  ausdenken. 

Hatte  Herr  von  Schleicher  nur  ein  Atom  politischen  Den- 
kens,  so  hatte  er  entweder  in  die  neue  Regierung  ein  paar 
Nationalsozialisten  hineinzwingen  oder  sich  selbst  aus  ihr  her- 
aushalten  miissen.  Er  muBte  die  Nationalsozialisten  mit  der 
Mitverantwortung  belasten.  Als  er  dies  unterlieB,  diente  er, 
wider  seinen  Willen  natiirlich,  ausschlieBlich  dem  Spiel  Hitlers. 

Fur  den  Republikaner  sind  das  Dritte  Reich  Hitlers  und 
die  Militardiktatur  Schleichers  zwei  ganz  gleichgroBe  Ob  el. 

Ware  der  Herr  der  Reichswehr  ein  Instrument  Hitlers,  so 
ware  die  Republik  kaum  noch  zu  retten. 

Die  intime  Feindschaft  der  beiden  Republikfeinde  unter- 
einander  ist  eine  Chance  der  Republik. 

Diese  Chance  zerrinnt,  wenn  die  Republikaner  nicht  dafur 
sorgen,  daB  der  Linksblock  den  Rechtsblock  iiberragt. 

Jede  verlorene  Stimme  ist  ein  Stein  zur  Erhohung  des 
Rechtsblocks. 

2  877 


Zerschlagung  des  Tarifrechts?von  Thomas  Tarn 

A  Is  Briining  gestiirzt  und  die  neue  Regierung  gebildet  wurdcr 
*^  meintcn  manche  kommunistischen  Zeitungen,  weil  dcr 
Widerstand  der  Arbeiterschaft  gegen  den  Briiningkurs  immer 
starker  geworden  sei,  hatten  die  wahren  Machthaber  geglaubt, 
mit  noch  scharfern  Mitteln  als  die  Briiningregierung  vorgehen 
zu  miissen.  In  Wirklichkeit  war  das  genaue  Gegenteil  fest- 
zustellen.  Die  Briiningregierung  ist  nicht  infolge  des  wachsen- 
den  Widerstandes  der  Arbeiterklasse,  sondern  sie  ist  von 
rechts  gestiirzt  worden,  von  den  Cliquen  der  Schwerindustrie, 
der  Junker  etcetera,  denen  der  Kurs  der  Briiningregierung 
noch  nicht  reaktionar  genug  war.  -Das  zeigte  sehr  deutlich  be- 
reits  die  Regierungserklarung,  Sie  war  in  manchen  Punkten 
sehr  verschwommen,  in  einem  aber  absolut  deutlich:  In  der 
Kamplansage  gegen  den  Wohlfahrtsstaat,  Wortlich  war  die 
Rede  von  dem  ,,Staat,  den  man  zu  einer  Wohlfahrtsanstalt  zu 
machen  versucht  habe,  wodurch  man  die  moralischen  Krafte 
der  Nation  geschwacht  habe". 

Was  ist  der  Kern  dieses  „Staatssozialismus"  gewesen? 
Die  Arbeitslosenversicherung,  Sie  also  soil  die  moralischen 
Krafte  der  Nation  geschwacht  haben.  Sie  gilt  es  daher  ab- 
zubauen.  Und  wahrend  es  nach  dem  Sturz  der  Regierung  hieBT 
das  neue  Regime  wolle  ohne  Notverordnungen  auskommen, 
hat  sich  schon  in  wenigen  Tagen  das  genaue  Gegenteil  er- 
geben.  Die  neue  Notverordnung  bringt  einen  noch  weit  radi- 
kalem  Einschnitt  als  die  der  ehemaligenj  Regierung. 

Am  Tage  vor  seiner  Demission  hatte  Briining  in  seiner  be- 
kannten  Rede  vor  der  auslandischen  Presse,  nicht  ahnend,  wie 
weit  die  Machinationen  hinter  seinem  Riicken  bereits  gediehen 
waxen,  erklartf  daB  man  keine  Zeit  fur  Regierungskrisen  habe, 
sondern  alle  Anstrengungen  auf  das  Problem  der  Arbeitslosig- 
keit  konzentrieren  miisse.  Briining  hatte  schon  damals  fest- 
gestellt,  daB  von  der  Arbeitslosenversicherung  im  eigentlichen 
Sinne  bereits  im  Friihling  1932  nicht  mehr  die  Rede  war. 
Urspriinglich  sollte  durch  die  Arbeitslosenversicherung  den 
umbeschaftigten  Arbeitern  nicht  nur  das  nackte  physische 
Existenzminimum  garantiert  werden  —  was  ihm  ja  auch  die 
Armenfiirsorge  geben  konnte,  ^—  sondern  ein  bestimmter  Le- 
bensstandard.  Als  die  Arbeitslosenversicherung  geschaffen 
wurde,  war  der  durchschnittliche  Unterstiitzungssatz  etwa 
neunzig  Mark.  Im  Friihling  1932  betrug  er  dagegen  nur  noch 
etwa  fiinfzig  Mark.  Und  zwar  gait  dies  nur  fiir  den  verheirate- 
ten  Arbeiter  mit  Familie,  Schon  mit  diesem  Satz  ist  eine 
menschliche  Existenz  nicht  mehr  moglich,  der  Arbeitslose 
wird  schon  dabei  im  -wahrsten  Sinne  des  Wortes  zum  Sub- 
stanzraub  gezwungen.  Aber  seibst  diese  Satze  sind  den  re- 
aktionaren  Cliquen  zu  hoch.  Sie  werden  durch  die  neue  Not- 
verordnung weiter  radikal  abgebaut,  weil  man  anscheinend 
durch  Hunger  die  moralischen  Krafte  der  Nation  heben  will 

Es  ist  bezeichnend,  daB  nicht  nur  das  Zentrum  in  seiner 
Reichstagsfraktion  der  neuen  Regierung  den  scharfsten  Kampf 
angesagt  hat  sondern  daB  auch  die  christlichen  Gewerkschaf- 
ten    das   Regierungprogramm    und   die  Notverordnung   als   An- 

878 


griff    empfinden.      In   eincm   Aufruf    der    christlichen    Gewerk- 
schaften  wird  mit  allem  Nachdruck  gesagt: 

Ihre  (der  Regierung)  sozialpolitische  Haltung  geht  von  der  Schlag- 
wortpolitik  reaktionarer  Kreise  aus.  Den  sozialpolitischen  Ver- 
pflichtungen,  die  Staat  und  Nation  in  der  Not  der  Krise  iibernehmen 
muBten,  wird  Schwachung  der  moralischen  Krafte  der  Nation  und' 
eine  Steigerung  der  Arbeitslosigkeit  vorgeworfen.  Diese  Haltung 
wird  ftir  sie  der  Auftakt  zum  Abbau  der  Arbeitslosen-  und  Sozial- 
versicherung,  des  Tarif-  und  Schlichtungswesens,  sowie  des  sozialen 
Schutzes   iiberhaupt. 

In  dieser  Erklarung  der  christlic*hcn  Gewerkschaiften  ist 
mit  Recht  darauf  hingewiesen  wordcn,  daB  die  Steigerung  des 
reaktionaren  Kurses  sich  nicht  nur  in  dem  bisher  brutalsten 
Abbau  der  Arbeitslosenversicherung  sondern  auch  in  dem  di- 
rekten  Angriff  auf  das  Tarifrecht  zeigt.  Es  ist  von  Regiertmgs- 
seite  aus  dementiert  worden,  daB  die  Verabschiedung  Briinings 
sich  in  der  Form  vollzogen  habe,  wie  es  der  .Dortmunder  Gene- 
ralanzeiger'  darstellt,  der  unter  anderm  hervorhebt,  daB  Hin- 
denburg  erklart  habe,  es  sollten  keine  Gewerkschafter  in  der 
neuen  Regierung  sitzen.  Unabhangig  davon,  in  welchen  For- 
raen  die  Entlassung  Briinings  stattfand,  das  eine  ist  sicher;  in 
der  neuen  Regierung  sitzen  keine  Gewerkschaftsvertreter,  in 
der  neuen  Regierung  linden  daher  die  Scharfmacherplane  keine 
Barriere  mehr.  Es  ist  schon  hervorgehoben  worden,  dafl  der 
meist  gehaBte  Mann  in  der  Briiningregierung  der  Arbeits- 
minister  Stegerwald  war,  und  es  ist  charakteristisch,  daB  man 
in  den  ersten  Tagen  nach  der  Regierungsbildung  zuinachst 
niemanden  finden  konnte,  der  geneigt  war,  den  Posten  des  Ar- 
beitsministers  zu  iibernehmen.  Was  die  Schwerindustrie,  was 
das  Monopolkapital  hier  fordert,  ist  klar  und  eindeutig:  weitere 
Aushohlung  des  Tarifrechts  mit  dem  Ziel  seiner  Zerschlagung. 
Die  staatlichen  Instanzen  sollen  immer  weniger  in  den  direk- 
ten  Kampf  der  Parteien  um  die  Festsetzung  der  Lohne  eingrei- 
fen.  Der  Lohn  soil  nicht  mehr  ein  „politischer"  sein,  sondern 
er,  soil  sich  wieder  ,,im  freien  Spiel  der  Krafte"  bilden.  Was 
das  bei  den  heutigen  Arbeitslosenzahlen  bedeutet,  ist  klar. 
Wenn  man  den  Arbeitslosen  die  kargliche  Unterstiitzung  noch 
weiter  herabsetzt,  wenn  man  gleichzeitig  das  staatliche  Schlich- 
tungswesen  immer  mehr  einschrankt,  so  heiBt  das,  dem  Mono- 
polkapital, den  reaktionaren  Gewalten,  voilig  freie  Hand  lassen 
im  Lohnraub   gegen   die  Arbeiterschaft, 

Die  ,Deutsche  Allgemeine  Zeitung'  spricht  am  unverhiillte- 
sten  die  Plane  der  Scharfmacher  aus.  Sie  hatte  schon  vor  Mo- 
naten  geschrieben,  daB  sie  an  sich  nichts  gegen  die  Beibehal- 
tung  des  Tarifrechts  habe,  wenn  man  nur  die  Lohne  elastischer 
gestalte.  Man  behalt  so  auch  in  der  neuen  Notverordnung  das 
Tarifrecht  formal  bei,  in  Wirklichkeit  aber  wird  es  inhaltlich 
ausgehohlt,  wird  de  facto  zerschlagen. 

Die  gesamte  Arbeiterbewegung,  von  den  christlicheD  Ge- 
werkschaiten  bis  ganz  nach  links,  fiihlt  diese  Bedrohung.  Sie 
fiihlt,  daB  das  Monopolkapital  zum  entscheidenden  Kampf 
gegen  die  Gewerkschaften  iiberhaupt  ausholt.  Und  es  steht  in 
mannigfaltigem  Zusammenhange  mit  dem  radikalen  sozialen 
Abbau  in  der  neuen  Notverordnung,  daB  die  SA.-  und  $S>- 
Formationen  in   neuer  Gestalt  wieder  aufleben    sollen.    Grade 

879 


bei  der  Durchsetzung  der  lohnpolitischen  Scharfmacherplane 
gegen  die  Arbeiterschaft  hat  die  SAM  hat  die  Terrorarmee 
Hitlers  sehr  wichtige  Funktionen. 

Wenige  Tage  vor  der  Proklamierung  der  Notverordnung 
brachte  der  ,Vorwarts*  einen  Bericht  iiber  den  SA-Terror  in 
der  unmittelbaren  Nahe  von  Berlin,  in  Frankfurt  a,  0.: 

. , ,  die  Trupps  zogen  nach  dem  Gewerkschaftshaus  und  schlugen 
hier  mit  Stocken  und  Steinen  samtliche  Scheiben  der  unteren  Fenster 
und  einiger  Fenster  im  oberen  Stockwerk  ein.  Das  Gewerkschafts- 
haus, em  altes  historisches  Gebaude,  das  unter  Denkmalschutz  steht, 
bietet  ein  trostloses  Bild  der  Verwiistung . , .  Die  Polizei,  die  den 
Nazis  gegeniiber  niemals  mit  der  notwendigen  Strehge  durchgegriffen 
hatte,  stand  diesen  Exzessen  machtlos  gegeniiber,  obwohl  am  Nach- 
mittag  unsre  Stadtverordnetenfraktion  auf  die  Gefahr  aufmerksam 
gemacht   hatte. 

Der  Uberfall  auf  das  Gewerkschaftshaus  in  Frankfurt 
a.  d.  Oder  fand  statt,  be  vor  die  SA,  offiziell  wieder  erlaubt 
waren.  Er  gibt  eine  ungefahre  Vorstellung  davon,  mit  welcher 
Intensitat  die  Angriffe  der  Nazihorden  gegen  die  Gewerk- 
schaf ten  wie  iiberhaupt  gegen  alle  Einrichtungen  und  Organi- 
sationen  der  Arbeiterschaft  vor  sich  gehen  werden,  wenn  jetzt 
die  SA.  in  neuen  Formen  auferstehen  werden.  Der  Zweck  des 
Terrors  ist  klar.  Die  passiven,  die  defaitistischen  Stromungen 
in  der  deutschen  Arbeiterschaft  sollen  durch  den  national- 
sozialistischen  Terror  immer  mehr  gesteigert  werden,  die  Wi- 
derstandsfahigkeit  der  deutschen  Arbeiterklasse  soil  zertriim- 
mert  werden,  so  daB  sie  auch  die  reaktionarsten  MaBnahmen 
des  Monopolkapitals  in  Lohn-  und  Sozialpolitik  ohne  Wider- 
spruch  hinnimmt.  Die  neue  Notverordnung  ist  so  ein  Alarm- 
signal.  Die  Arbeiterschaft  muB  erkennen,  daB  sie  auf  die  ge- 
samten  reaktionaren  Machenschaften  nicht  allein,  mit  dem 
Stimmzettel  antworten  kann,  sondern  daB  sie  auf  den  immer 
starkeren  Terror  der  Nazis  mit  auBerparlamentarischen  Mit- 
teln   erwidem  muB. 

Es  hat  kein  Jahr  in  der  Geschichte  des  deutschen  Kapi- 
talismus  gegeben,  in  dem  so  wenig  gestreikt  wurde  wie  1931/32. 
Und  es  ist  sicher,  daB  die  riesenhaften  Arbeitslosenzahlen 
Streiks,  die  sich  auf  das  wirtschaftliche  Gebiet  beschranken, 
in  der  iiberwiegenden  Zahl  der  Falle  unmoglich  machen. 
Moglich  aber  sind  Proteststreiks.  Und  wenn  beispielsweise 
auf  die  Notverordnung  bin  oder  auf  Terrorakte  der 
Nazis  der  ADGB.  zu  befristeten  Protesstreiks  in  be- 
stimmten  Gebieten  aufriefe,  dann  wurde  er  voraussichtlich 
die  gesamte  Arbeiterschaft  von  den  christlichen  bis  zu  den 
kommunistischen  Arbeitern  hinter  sich  haben,  weil  auch  die 
christlichen  Arbeiter  immer  deutlicher  spiiren,  daB  der  Terror 
der  Nazis  die  gesamten  Arbeiterorganisationen  trif ft  und  nicht 
nur  die  sozialistischen.  In  der  Abwehr  gegen  die  Sozialreaktion, 
gegen  den  Naziterror,  wachst  der  Einheitswille  der  Arbeiter- 
schaft. SoUen  die  Arbeiterorganisationen  erhalten  bleiben,  soil 
die  Aushohlung,  die  Zerschlagung  des  Tarifrechts  und  des 
Kollektivvertrages  verhindert,  soil  den  Erwerbslosen  das 
nackte  Existenzminimum  garantiert  werden,  so  ist  die  ein- 
heitliche  auBerparlamehtarische  Aktion  der  Arbeiterklasse  un- 
bedingt  notwendig. 

880 


Die  „bedrohte  Provinz"  von  Rudolf  oiden 

A  uf  der  groBen  Tagung  des  VDA  in  Elbing,  sagte  in  seiner 

Festrede  der  friihere  Reichswehrminister  GeBler: 
nDeutschlands  Schicksal  wird1  im  Osten  entschieden."  Also 
tonende  Worte  ist  man  geneigt  fiir  Edelstumpfsinn  zu  halten, 
gesprochen,  nur  um  die  Gemiiter  der  Horenden  in|  Bewegung 
zu  bringen.  Denn  was  ist|  das.,  MDeutschlands  Schicksal"? 
Und  wie  soil  es  Msich  entscheiden"?  Enitschied  sich  das  Schick- 
sal jedes  Volkes  nicht  hundertmal,  und  wird  es  sich  .nicht  noch 
hundertmal  entscheiden?  Und1  waruni  sollte  Oesterreich, 
Bayern,  Rheinland  nicht  ebenso  wichtig,  so  schicksalsvoll  fiir 
Deutschland  sein,  Regionen,  reicher  an  Menschenzahl  und  an 
Vergangenheit  als  OstpreuBen?  Aber  es  konnte  sein,  daB 
man  Herrn  Doktor  GeBler  Unrecht  tut  und  daB  er  nur  ab- 
sichtlich  in  eine  dunkle  Phrase  verhiillte,  wovon  er  wuBte,  daB 
es/  seine  Horer  wohl  verstanden, 

#Was  aber  kann  der  President  des  groBen,  eintluBreichen 
„Vereins  fiir  das  Deutschtum  im  Ausland"  gemeint  haben? 
Grade  noch  schien  es  so,  als  ob  er  wieder  Reichsminister 
werden  sollte  und  mit  dem  Wurttemberger  der  leipziger 
Oberburgermeister  Doktor  Goerdeler,  vor  kurzem  noch 
Staatskommissar  fiir  Preissenkung,  ein  Ostpreufie.  Von 
ihm  kennen  wir  Worte,  die,  offenbar  gleichen  Gedanken  fol- 
gend,  deutlicher  klingen.  Vor  der  Frauen-Ortsgruppe  dessel- 
ben  VDA  in  Leipzig  sagte  er  einen  Monat  vorher,  wie  die 
.Leipziger  Neuesten  Nachrichten*  meldeten: 

Vor  Gbtt  und  den  Menschen  habe  Deutschland  ein  Recht  auf 
OstpreuBen  und  die  Gebiete  des  Korridors.  '  Sa  wie  jetzt  korine  der 
Zustand  nicht  bleiben  und  auf  die  Dauer  auch  nicht  hingenommen 
werden.  Mit  einer  Auseinandersetzung  sei  bestimmt  zu  rechnen  undf 
wie  er  seine  Landsleute  kenne,  werde  es  hart  auf  hart  gehen. 

Auch  hier  ist  man  versucht,  nach  dem  Sinn  der  Rede  zu 
fragen.  Stellt  Herr  Goerdeler  sich  vor,  eine  Auseinander- 
setzung werde  sich  auf  seine  ostpreuBischen  Landsleute  be- 
schranken,  deren  Harte  er  riihmt?  Aber  man  darf  nicht  nach 
Logik  und  Oberlegung  fragen  —  auch  nicht  bei  Ministerkandida- 
ten  — ,  wo  Gefiihle  so  offenbar  die  Oberlegung  zuriickdran- 
gen.     Genug,  daB  die  „Auseinandersetzung"  angekiindigt  wird, 

Es  erschiene  mir  freventlich,  nationale  Festreden  vonHinz 
und  Kunz  zitierend  aus  der  Dammerung  zu  ziehen,  wenn  die 
Geister  ringsum  in  Hitze  stehen.  Aber  zwei  Manner,  mini- 
strabel  in  hohem  MaB,  Vertrauensleute  der  Kabinette  wie 
des  Reichsprasidenten,  reden  so  an  weithin  horbarer  Stelle. 

Und  nicht  nur  an  dieser  Stelle  wurde  die  Auseinander- 
setzung angekiindigt.  In  einer  konigsberger  deutschnationalen 
Zeitung  erschien  die  romantische  Schilderung,  wie  Polen  Ost- 
preuBen  iiberf allt.  Von  dieser  Schrift  des  Mannes,  der  sich  Nitram 
nannte,  haben  wir  alle  gehort  und  haben  dariiber  weggehort.  Es 
gesichieht  so  viel  und  jeden  Tag  etwas,  wer  hat  Zeit  und  MuBe, 
immerfort  an  OstpreuBen  zu  denken.  Wir  sollten  mehr  an 
OstpreuBen  denken.  Was  diese  Schrift  fiir  die  Provinz  bedeu- 
tet  hat,  das  mufil  man  sich  dort  erzahlen  lassen.  Die  Zeitung 
kiindigte  den  ^OberfalK  auf  OstpreuBen"  in  Plakaten  an.     Die 

881 


Fortsetzungen  liefer*  erst  in  der  konigsberger,  danni  in  vielen 
Zcitungen  kleinerer  Stadte.  Man  begmigte  sich  nicht  damit 
Der  alte  Roman  von  Skowronnek  ,,Sturmzeichen",  der  eben- 
falls  einen  Oberfall  auf  OstpreuBen  darstellt,  wurde  ausgegra- 
ben  und  lief  von  neuerh  durch  die  Druckmaschinen.  Die  Buch- 
ausgabe  von  Nitrams  Phantasie  wurde  gleichfalls  in  Plakaten 
angekundigt.  Wenn  der  Oberprasident  auch  ihre  Affichierung 
an  Saulen  verbot  und  trotz  alien  Beschwerden  bei  seiner  Ent- 
scheidung  blieb,  so  prangten  sie  doch  in  den  Fenstern  der 
Buchhandluagen:  ,,Achtung!  Ostmarkenrundfunk!  Polnische 
Truppenl  haben  heute  nacht  die  ostpreufiische  Grenze  iiber- 
schritten!"  Man  muB  sich  in  die  primitiven  Gemiiter  ostlicher 
Landleute  versetzen.  Ists  Dichtung,  ists  Wahrheit,  was  da  ver- 
kundet  wird?  Ists  heute  Dichtung,  morgen  Wahrheit?  So 
war  es  gemeint,  einen  Mischkomplex  von  Glaube  und  Angst 
zu  schaffen,  und  so  ist  es  gelungen. 

Dann  renommierte  der  Verlag,  Gerhard  Stalling,  es  sei 
ein  Reichswehroffizier,  der  das  Buch  verfaBt  habe,  Unglaiubiges 
Lacheln  derSkeptiker<  Aber  es  war  keine  Rennomage.  Nifram 
gleich  Martin  —  der  Verlasser  ist  Oberleutnant  im  3.  (preuBi- 
schen)   Infanterieregiment,  Garnison  Marienwerder. 

Man  tate  ihm  Unrecht,  hieBe  man  ihn  talentlos.  Das  Ding 
ist  ein  ReiBer,  der  Schriftsteller,  der  sonst  mit  weniger  Erfolg 
Empfindsames  dichtete,  wiird'e  eine  Stellung  als  Aufmachr 
redakteur  bei  Hugenbergs  Asphaltpresse  verdienen.  In  vielen 
Kartenskizzen  ist  gezeigt,  wie  kurz  der  Weg  von  Polen  zu  den 
ostpreuBischen  Stadtchen  ist.  (Das  ist  die  Eigenheit  der 
Grenze,  jeder  Grenze.  Ein  Schritt,  und  man  ist  druben.  Aber 
Nationalistenangst  ersehnt  unbewuBt  einen  breiten  Streifen 
der  Zerstorung  zwischen  Heimat  und  Nachbar,)  Die  Steige- 
rung  ist  in  fliissigem  Stil,  mit  schaurigen  Bildern,  abenteuer- 
lich-humoristisch-heroisch,  wohl  angelegt  und  festgehalten  bis 
zum  pathetischen  Ende: 

Die  OstpreuBen  werdeni  sich  an  ihrem  Heimatboden,   der  ihnen 
seit   Jahrhunderten  gehort,   festkrallen. 

Sie  werden  sich  vor  Konigsberg,  in  Konigsberg  und  hinter  K6- 
nigsberg  schlagen. 

Noch  auf  der  Mole  von  Pillau  wird  das  letzte  deutsche  Maschi- 
nengewehr  den  Polen  eine  blutige'  Lehre  geben. 

An   dieses   ,Grunwald*  sollen  sie  denkenl 

Ich  weiB  nicht,  welche  Bestimmungen  in  der  Reichswehr 
fur  Publikationen  voni  Offizieren  gelten.  Die  OstpreuBen 
wissen  es  wahrscheinlich  ebensowenig.  Aber  wie  unsre  Be- 
griffe  von  militarischer  Disziplin  nun  einmal  sind,  so  denkt 
niemand,  ein  Offizier  werde  ein  militarisch-politisches  Buch 
veroffentlichen  und  der  Verlag  das  leicht  durchschaubare 
Pseudonym  liirten,  ohne  daB  die  vorgesetzten  Stelien  ihr  Placet 
erteilt  haben.  Das  mag  ein  Irrtum  sein.  Aber  es  bedeutet 
wenig,  wenn  Monate  nachher  der  Stabschef  des  Wehrkreis- 
kommandos  in  einer  vertraulichen  Pressekonferenz  vorsichtig 
und  einen  kleinen  Schritt  weit  von  dem  Buch,  wie  der  Aus- 
druck  lautet,  ttabnickt".  Inzwischen  hat  es  langst  seine  Wir- 
kung  getan^  Mir  sagten  nicht  Wenige  in  verschiedenen  Orten 
derProvinz:  mit  dem  Buch  und  durch  das  Buch  sei  die  Stim- 
mung  der  Bevolkerung.  von  Grund  aus  geandert  worden, 

882 


Der  Baden  war  gut  durchgeackert,  als  im  Wahlkampf 
der  Ruf  hereinbrach:  „Das  Reich  schiitzt  Euch  nicht!" 
Was  niitzen  Dementis,  Erklarungen,  Versicherungen,  wenn  dem 
Angst-Glauben  so  begehrte  Nahrung  geboten  wird.  Obrigens 
wird  der  Widerstand  nicht  mit  groBer  Tatkraft  geleistet.  Als 
die  ,PreuBische  Zeitung'  Hitlers  wieder  einmal  bellt:  Das  Reich 
schiitzt  OstpreuBen  nicht!  und1  ein  Mittelparteimann  MaBre'geln 
fordert,  die  die  Presse-Verordnung  zulaBt,  erhalt  er  die  resig- 
nierte  Antwort:  ffMan  hebt  mich  doch  auf . .  /'  Der  Siinden 
zentraler  Stellen  ist  keine  geringe  Zahl.  Es  ist,  nicht  seit 
Western,  nein  seit  Kriegsende  der  Inhalt  ailer  „nationalen"  Agi- 
tation: ,,In  Berlin  hat  man  die  ,Kolonie'  vergessen."  Auch 
verstandigeren  OstpreuBen  lieg^  immer  das  Wort  auf  den  Lip- 
pen:  „Wir  sind  das  Stiefkind."  Alle  Osthilfen  der  Welt  wtir- 
den  nichts  dagegen  helfen.  Das  in  selbstqualerischem  Eifer 
geliebte  Motiv  vom  Wirtschaftlichen  aufs  Militarische  zuuber- 
tragen,  —  ein  leichter  Kunstgriff.  Brtinings  konigsberger  Rede, 
.sagt  man  miBtrauisch-verbittert,  hat  ein  paar  Nebensatze  iiber 
die  Ostfragen  enthalten.  Abef  Hitler  ist  hereingebrochen  mit 
dem  Schrei:  „Ihr  seid  verloren!  —  wahlt  Ihr  nicht  nazi .  . ." 
Der  gesamt-deutsche  Masochismus  hat  hier  seinen  Brennpunkt. 
Und;   ,,Wir  sind  verloren!"  wird  briinstig  nachgesprochen. 

Es  ist  nicht  *nur  in  OstpreuBen  hitlerisch  gewahlt  worden. 
Aber,  charakteristisch  gemug,  besonders  stark  in  den  Grenz- 
bezirken,  Pommern  und  OstpreuBen.  Nehmen  wir  zu  den  vie- 
len  Ursachen  auch  die,  die  der  Reichswehroberleutnant  lie- 
ierte.  Man  wird  erwidern:  Grenzland  neigt  zur  Furcht,  zur 
Unruhe,  zum  Radikalismus.  Mag  sein.  Die  Frage  bleibt,  soil 
dem  Nahrung  geliefert  werden  oder  nicht? 

Nicht  lange  nach  der  Wahl  kam  der  danziger  Zwischen- 
f  all.  Der  Korrespondent  des  .Daily  Express',  Herr  Greenwall, 
meldete,  Polen  wolle  die  freie  Stadt  uberrennen.  Man  vergesse 
nicht:  Das  ist  wie  ein  einziges  Gebiet,  Danzig  und  OstpreuBen, 
nicht  nur  territorial,  auch  psychisch,  je der  Funk e  springt  hin- 
iiber,  heriiber  und  ziindet.  Wer  hat  das  ausgekocht?  Der  Hohe 
Kommissar,  Graf  Gravina,  wurde  genannt,  der  Fascist  ist  aber 
auch  Enkel  Wahnfrieds,  wo  man  dem  Braunen  Haus  nahe- 
steht.  Zugleich  auch  ein  Freund  der  deutschnationalen  Regie- 
rung  Ziehm,  die  von  den  Nationalsozialisten,  so  riihmen  sie 
sich,  ,,unter  Damp!  gehalten*'  wird.  Das  alles  ist  eng  verfilzt, 
und  man  braucht  wenig  danach  zu  fragen  —  was  man  spater 
einmal  in  den  Memoiren  lesen  wird  — ,  ob  Verabredungen  ge- 
troHen  wurden  oder  ob  nur  eine  gemeinsame  Grundstimmung 
alle  bewegt.  Hat  Herr  Greenwall  —  er  war  nicht  der  Einzige, 
der  die  Meldung  brachte  —  sie  aus  den  Fingern  gesogen?  Das 
pflegen  Journalisten  nicht  zu  tun,  Oder  wie  ist  es  dazu  ge- 
kommen? 

Ist  es  wahr,  daB  Polen  Danzig  uberf alien  wollte?  DaB  es 
OstpreuBen  liberf alien  will?  Ich  weiB  es  nicht.  Ich  weifi 
nur,  daB  nichts  vorgebracht  wurde,  was  dafiir  spricht. 

Ist  die  Situation  OstpreuBens  uberhaupt  besonders  gefahr- 
det,  durch  die  Abtrennung  vom  Reich  besonders  gefahrd-et? 
Man   erinnere   sich:   der  Bau  der   Panzerkreuzer  wurde   damit 

883 


begriindet.  Soil  man  dem  Reichswehrministerium,  der  hoch- 
sten  fachmannischen  Instanz  widerspechen?  Immerhin  kann 
man,  scheint  mir,  zweierlei  Meinung  haben,  Ein  Blick )  auf  die 
Karte  namlich  lehrt  das  Gegenteil:  Der  Korridor  ist  besonders 
gefahrdet.  General  Weygand  sagte  von  ihm  —  ich  zitiere  nach 
Axel  Schmidts  bei  Runge  erschienener  Schrift  „Gegen  den 
Korridor*'  — :  MUnniitz  im  Frieden,  nicht  zu  verteidigeri  im 
Kriege/' 

Aber  das  Eine  schlieBt  das  Andre  nicht  aus.  Ein  Drittes 
ist  gewiB:  daB  OstpreuBens  deutsche  Zugehorigkeit,  kommt  es 
zur  ,,Auseinandersetzung",  nicht  in  OstpreuBen  entschieden 
wird.  So  wie  iiber  Ostafrika  nicht  in  Ostafrika  entschieden 
wurde, 

Man  liest  weiter  in  ostpreuBischen  Zeitungen  die  Balken- 
tiberschrift:  ,,Die  Aufgaben  des  zivilen  Luftschutzes.  Am 
25.  Juni  groBe  Luftschutzubung,"  Folgt  eine  eingehende  In- 
struktion,  die  fortgesetzt  wird.  Das  gibt  es,  wie  man  weifi,  im 
Reich  nicht.  Fliegen  Flugzeuge  nur  nach  OstpreuBen?  Ist 
nicht  auch  anderswo  die  Grenze  nur  ein  Strich,  eine  Linie? 
Ist  Geschwindigkeit  und  Aktionsradius  der  Aroplane  zu  ge- 
ring,  um  irgendeine  deutsche  Stadt  zu  erreichen? 

Man  liest,  von  der  Telegraphen-Union  verbreitet: 

Das  Wehrkreiskommando  I  in  Konigsberg  teilt  mit,  die  dauernde 
Bedrohung  der  vom  Reich  abgetrennten  Provinz  habe  das  Reichs- 
wehrministerium veranlaBt,  ihre  Verteidigungsfahigkeit  im  Rahmen 
des  durch  das  Versailler  Diktat  Erlaubten  zu  verbessern , , . 

Abwehrl^raft,  Geland'everstarkungen. 

Ich  will  nicht  uber  Strategie  orakeln.  Ich  sage  nur,  daB 
man  —  objektiv,  wcr  weiB  vom  Subjektiven  —  alles  tut,  um 
die  OstpreuBen  vernickt  vor  Angst  zu  machen.  DaB  Hitler 
ihnen  verspricht:  Ich  schiitze  Euch.  Das  Reichswehrministe- 
rium spricht,  so  wie  Nitram-Martin;  ,,Die  dauernd  bedrohte 
Provinz."  Die  Zeitungen,  ob  englische  oder  deutsche  ist 
gleich:  Die  jetzt,  morgen,  im  Augenblick  bedrohte  Provinz. 
Beides  sagt  im  Grunde  d'asselbe. 

Als  besorgter  Staatsbiirger  irage  ich  mich:  was  will  man? 
Ein  kluger  Mann  in  Danzig  sagte  mir,  nicht  nur  iiber  das,  was 
heute  geschieht  sondern  iiber  alles,  was  seit  1918  geschah:  Man 
kann  friedliche,  man  kann  feindliche  Politik  machen,  aber  man 
macht,  in  Berlin,  tiberhaupt  keine  Politik.  Der  Zustand  ist 
unhaltbar?  Gut.  Befragt:  wie  wollt  Ihr  ihn  andern?  hat  noch 
kein  deutscher  Minister  geantwortet. 

General  Foch  hat,  ich  zitiere  wieder.  nach  Axel  Schmidt, 
auf  das  Korridorgebiet  weisend,  gesagt:  ,,Dort  liegt  die  Wur- 
zel  des  nachsten  Krieges.'*  Man  kann  das  akzeptieren.  Und 
Herr  GeBIer  mag  recht  haben,  wenn  er,  dasselbe  wie  Foch 
meinend,  in  Marienburg  gesagt  hat:  „Deutschlands  Schicksal 
wird  im  Osten  entschieden."  Wer  die  Nerven  dazu  hat,  kann 
daibei  ruhig  bleiben, 

Aber  der  dickste  Nervenstrick  muB  ins  Zittcrn  kommen, 
wenn  Dinge  gesagt  und  getan  wer  den,  die  Herrn  Goerdelers 
Meinung  entsprechen,  daB  es  ,,hart  ^auf  hart"  kommen  werde, 

884 


Weil  so  seine  ostpreuBischen  Landsleute  seien.  Es  gibt,  dazu 
brauchen  wir  keine  Erklarung  des*  Reichskabinetts,  kein  ost- 
preuBisches,  kein  badisches,  kein  sachsisches  Volk,  —  es  gibt 
nur  ein  deutsches  Volk,  Und  wallen  oder  sollen  wir  uns  in 
«ine  Kriegspsy  chose  stiirzen,  so  muB  OstpreuBen  nicht  grade 
darin  allein  stehen.  Kein  polnisches  Kind  ist  kindisch  genug, 
zu  glauben,  daB  es  einen  Krieg  Polens  gegen  OstpreuBen  geben 
konne.     Nur  den  ostpreuBischen  Kindern  wird  das  eingeredet. 


Schlppeil  tut  not  von  Jan  Bargenhusen 

Im  Gegensatz  zu  der  bisher  fast  allgemeinen  Ablehnung 
des  freiwilligen  Arbeitsdienstes  durch  die  Linke  ist  an  einigen 
Stellen  ein  Umschwung  in  der  Beurteilung  eingetreten.  Dies 
veranlaBt  uns,  das  Thema  zur  Diskussion  zu  stellen.  Im  nach- 
sten  Heft  wird  unser  Mitarbeiter  K,  L.  Gerstorff  dazu  das  Wort 
nehmen. 

FNie  Notverordnung  vom  Juli  letzten  Jahres  hat  die  Institution 
des  freiwilligen  Arbeitsdienstes  geschaffen,  Sie  kann  als 
Abschlagszahlung  auf  die  Forderungen  der  sogenannten  jung- 
deutsch-volksnationalen  Politiker  und  der  Kreise  um  die  Wehr- 
verbande,  —  als  Ersatz,  vielleicht  auch  als  Vorlaufer  fiir  den 
verlangten  obligatorischen  Arbeitsdienst,  also  die  Arbeits- 
dienstpflicht  gelten. 

Im  Oktober  etwa,  nach  einer  Anlaufszeit  von  einigen  Mo- 
naten, hatte  sich  die  Bureaukratie  der  Arbeitsamter  hin- 
reichend  mit  den  Modalitaten  der  neuen  Institution  vertraut 
.gemacht;  seit  jener  Zeit  also  lauft  die  Karre  in  der  Praxis.  Bis 
zum  Marz,  nach  Ablauf  von  sechs  Monaten,  hatten  rund  30  000 
Jugendliche  den  Arbeitsdienst,  der  im  Einzelfall  bis  zu  zwanzig 
Wochen  dauern  kann,  passiert.  Das  ist  gewiB  nicht  viel:  aber 
man  muB  bedenken,  daB  Jenes  merkwurdige  Zwitterding  des 
,,freiwilligen  Dienstes"  verwaltungsmaBig  recht  kompliziert  ist, 
also  in  jedem  Fall  eine  lange  Vorbereitungszeit  braucht  Und 
weiter:  Da  es  sich  fast  ausschlieBlich  um  AuBenarbeiten  han- 
delt,  also  um  Arbeiten  unter  freiem  Himmel,  konnte  im  Win- 
terhalbjahr  noch  nicht  viel  geschehen. 

In  den  ersten  Monaten  des  Fnihjahrs,  bis  Anfang  oder 
Mitte  Mai,  sind  denn  auch  weitere  30  000  Arbeitsfreiwillige 
hinausgegangen.  Dieser  Auftrieb  ist  wohl  teils  durch  die 
jahreszeitlichen  Moglichkeiten  bedingt,  teils  dadurch,  daB  die 
Idee  des  Arbeitsdienstes  mehr  und  mehr  an  Boden  gewinnt. 
Nicht  gahz  freiwillig  ubrigens:  denn  seit  der  Dezember-Not- 
verordnung  ist  die  Zahhing  von  Unterstiitzungen  fiir  eine  ge- 
wisse  Gruppe  von  jugendHchen  Arbeitslosen  so  gut  wie  voliig 
weggefallen.  Fiir  jene  jungen  Menschen  gibt  der  „freiwilligeM 
Arbeitsdienst  die  einzige  Moglichkeit,  sich  ohne  Inanspruch- 
nahme  von  Eltern  und  Verwandten  ehrlich  durchzuschlagen. 

Auch  gewisse  Stellen,  die  vor  allem  als  ffTrager"  des  frei- 
willigen Arbeitsdienstes  in  Frage  kommen,  hat  man  mittier- 
weile  mit  sanfter  Gewalt  starker  an  der  neuen  Institution 
interessiert.     So  besonders  die   offentlich-rechtlichen  Korper- 

3  885 


schaften:  sie  erhalten  fast  keine  Zuschiisse  fur  ihrc  Notstands- 
arbeitcn  mehr;  der  Arbeitsfreiwillige  tritt  also  vielfach  an  die 
Stclle  des  Notstandsarbeiters.  Auch  regulare  Arbeiten  offent- 
licher  Stellen  konnen,  nach  der  Lockerung  der  t,Richtlinien" 
fur  den  Arbeitsdienst,  mit  Arbeitsfreiwilligen  —  und  das  heiBt 
also  in  der  Regel:  mit  billigeren  Arbeitskraften  —  durchge- 
fiihrt  werden. 

So  ist  die  schnelle  Ausbreitung  des  Arbeitsdienstes  in  den 
letzten  Monaten  ziemlich  einfach  zu  erklaren.  Bei  einer  Ar- 
beitslos-enziffer  von  funf  bis  sechs  Millionen  bedeutet  aller- 
dings  die  Zahl  von  60  000  Arbeitsfreiwilligen,  von  denen  der 
Einzelne  ja  auch  nur  vortibergehend  beschaftigt  wird,  beinahe 
ein,  Nichts.  Aber  wenn  man  bedenkt,  daB  die  Arbeitsfreiwilli- 
gen sich  ja  nur  aus  dem  rund  eine  Million  Menschen  umfassen- 
den  Heer  der  jugendlichen  Erwerbslosen  rekrutieren,  dann 
verschiebt  sich  das  Bild  doch  etwas:  ganz  bedeutiangslos  ist 
der  freiwillige  Arbeitsdienst  jetzt  auch  ziffernmaBig  nicht  mehr. 
Und  in  Zukunft  wird  er  an  Bedeutung  noch  weiter  gewinnen, 
Im  Reichsarbeitsministerium  zeigt  sich  ganz  eindeutig  die  Ten- 
denz,  die  Anwendbarkeit  dieser  Institution  zu  erleichtern  und 
damit  zu  erweitern.  Die  letzte  Verordnung,  die  das  Kabinett 
Bruning  vor  seinem  Rucktritt  erlassen  hat,  liegt  in  dieser 
Richtung.  Und  von  der  neuen  Reichsregierung  wird  bestimmt 
auf  dem  gleichen  Wege  weiter  fortgeschritten  werden. 

Bei  den  Gewerkschaften  sieht  man  diese  Entwicklung  mit 
recht  zwiespaltigen  Gefiihlen  an.  Die  freien  Gewerkschaften 
mochten  am  liebsten  den  Arbeitsdienst  in  Grund  und  Boden 
verdammen;  besonders  hartnackig  hat  der  Baugewerksbund 
gegen  die  —  geplante  —  Einschaltung  der  Arbeitsfreiwilligen 
in  die  Vorbereitungsarbeiten  fiir  die  —  geplante  —  erweiterte 
Ost-Siedlung  protestiert.  Man  befiirchtet,  daB  der  freiwillige 
Dienst  den  Vorlaufer  und  Schrittmacher  des  obligatorischen 
Arbeitsdienstes  abgeben  konnte.  Man  erklart,  daB  schon  heute 
die  Arbeitsfreiwilligen  vielfach  den  regular  entlohnten  Tarif- 
arbeiter  von  seiner  Werkstelle  verdrangen,  daB  also  neue  Ar- 
beitslosigkeit  oder  vielmehr  eine  Umlagerung  der  Erwerbs- 
losigkeit  bei  verringertem  Lohnvolumen  entstehen  miisse.  Der 
Arbeitsfreiwilligej  der  fiir  freie  Station  und  ein  —  mitunter 
noch  nicht  einmal  voll  in  bar  ausgezahltes  —  geringes  Taschen- 
geld  sechs  oder  sieben  Stunden  taglich  arbeitet,  wird  als  Lohn- 
driicker  empfunden.  Und  schlieBlich  sieht  man  es  als  eine  Ge- 
fahrdung  der  gewerkschaftlichen  Errungenschaften  an,  daB  im 
freiwilligen  Arbeitsdienst  keime  Betriebsvertretungen  zuge- 
lassen  sind  und  daB  hier  auch  die  Schutzbestimmungen  des 
Arbeitsrechts  keine  Geltung  haben, 

Der  Karnpf  der  freien  Gewerkschaften  gegen  den  nUnsinn" 
des  freiwilligen  Arbeitsdienstes  wird  allerdings  durch  zwei 
Momente  erheblich  erschwert.  Erstens  dadurch,  daB,  die 
„Christen",  Baltrusch  an  der  Spitze,  in  ihrem  Arbeits- 
beschaffungsprogramm  die  Forderung  des  Arbeitsdienstes  auch 
finanziell  (aus  Reichsmitteln)  sehr  entschieden  verlangen,  Und 
zweitens  dadurch,  daB  nun  auch  das  Reichsbanner  —  wie  man 
annehmen  darf,  weniger  aus  theoretischen  oder  ideologischen 
Oberlegungen  als  vielmehr  auf  das  Verlangen  seiner  erwerbs- 

886 


losen  Jungmannschaften  hin  —  den  freiwilligen  Arbeitsdienst 
als  Aufgabe  proklamiert  und  zu  realisieren  beginnt.  Das  ist  bei 
der  gewerkschaftlichen  Schulung  dcr  Reichsbannerjugend 
eigentlich  recht  mcrkwurdig.  Aber  das  Elend  der  Arbeits- 
losigkeit,  das  materielle  und  das  psychische,  ist  eben  so  groB, 
daB  es  alle  Bedenken  und  traditionellen  Hemmungen  sprengt. 
Der  Mensch  braucht  eine  Beschaftigung  —  das  ist  zwar  ein 
Gemeinplatz,  aber  es  ist  auch  eine  unumstoBliche  Wahrheit. 
Und  wenn  sich  eine  Chance  zu  bieten  scheint,  aus  dem  enervie- 
renden  Warten  auf  lohnende  Beschaftigung,  das  durch  die  Be- 
tatigung  in  Krisen-  und  Schulungswochen  nur  tinzulanglich 
unterbrochen  wird,  einmal  herauszukommen  —  dann  wird  eben 
diese  Chance  mit  Leidenschaft  verfolgt,  und  man  fragt  dabei 
wenig  nach  Lohn  und  nach  gewerkschaftlichen  Mindestforde- 
rurigen,  Romantische  Vorstellungen  vom  Lagerleben  in  land- 
licher  Umgebung,  vom  Wert  der  ,,produktiven"  Arbeit  fur  die 
Kultivierung  des  Bodens  und  die  Regulierung  der  Fliisse  spie- 
len  dabei  eine  nicht  geringe  Rolle  —  wenn  in  Wirklichkeit 
auch  nur  ein  gutes  Drittel  der  „MaBnahmen"  des  freiwilligen 
Arbeitsdienstes  derartigen  Aufgaben  gewidmet  ist. 

So  sind  die  Fakten,  und  mit  ihnen  muB  man  rechnen.  Man 
entsinne  sich  doch  einmal  der  Berichte  iiber  die  Exerzier-  und 
Schulungskurse  des  Stahlhelms,  die  in  der  Rechtspresse  zu 
finden  sind  —  mit  welcher  Wonne  die  Jungens  davon  erzah- 
len,  wie  sie  ,fgeschliHen"  worden  sind!  Der  Drang,  sich  einmal 
richtig  ,,auszuarbeiten",  ist  etwas  ganz  Elementares;  wer 
sich  mit  den  Sorgen  der  Jugend  beschaftigen  will, 
muB  ihn  in  sein  Kalkiil  einsetzen.  Ein  paar  Stun^en  Sport  ge- 
niigen  nicht,  urn  diesen  Drang  zu  erfiillen,  geschweige  denn 
Kurse  und  Beschaftigungsabende  in  irgendwelchen  Heimen. 
SchlieBlich  ist  die  physische,  die  praktische  Arbeit,  zu  deren 
Lobe  man  vielleicht  vor  allem  andern  sagen  darf,  daB  sie  die 
beste  Schule  der  Solidaritat  unter  den  Arbeitenden  abgibt, 
jeder  Art  von  Soldatenspielerei  immer  noch  weit  vorzuziehen. 
Die  ungeheure  Anziehungskraft,  die  jene  Spielereien  mit  Uni- 
form und  mit  Waffen  auf  die  Schicht  der  erwerbslosen  Jugend- 
lichen  ausiiben,  kennen  wir  leider  zur  Geniige,  Mag  auch  oko- 
nomisch  fiir  die  Behebung  der  Arbeitslosigkeit  oder  gar  fur  die 
Belebung  der  Wirtschaft  von  dem  freiwilligen  Arbeitsdienst 
nichts  zu  erhoffen  sein:  psychologisch  und  politisch  gesehen  ist 
er  gewiB  besser  als  das  erzwungene  Nichtstun,  aus  dem  nur 
gar  zu  leicht  der  Weg  zur  Betatigung  in  irgendwelchen  reaktio- 
naren  Sturmtrupps1  fiihrt. 

Man  muB  gelegentlich  auch  einmal  den  Mut  haben,  eine 
bedenkliche  Mode-Sache  mitzumachen,  wenn  die  Einschaltung 
das  kleinere  Obel  als  das  Fernbleiben  ist,  und  wenn  mit  der 
Einschaltung  ein  Schlimmeres  verhtitet  werden  kann.  Diese 
Oberlegung  mag  fiir  die  Haltung  des  Reichsbanners  und  ver- 
wandter  Gruppen  in  der  Frage  des  freiwilligen  Arbeitsdienstes 
maBgebend  gewesen  sein.  Ich  glaube,  man  sollte  sie  deswegen 
nicht  als  prinzipienlos  tadeln.  Und  man  muB  ja  heute  auch  an 
gewisse  taktische  Notwendigkeiten  denken,  die  sich  vielleicht 
in  naher  Zukunft  ergeben  konnen.  Vielleicht  werden  einmal 
die    Arbeitslager    der    Arbeitsfreiwilligen     ein    wichtiges   Re- 

887 


fugium  fur  die  sonst  von  den  neuen  Machthabern  unterbundene 
politische  Aufklarungs-  und  Schulungsarbeit  abgeben. 

In  der  Seelenlangerei  mit  politischen  Maskeraden  und 
hochtoneiudem  Geschwatz  werden  Hitler  und  Konsorten  der 
Linken  stets  uberlegen  sein.  Wenn  aber  erst  einmal  die  prak- 
tische  Arbeit  losgeht,  mit  der  Schippe  in  der  Hand,  dann  ver- 
fangt  dieser  Fastnachtszauber  nicht  mehr  lange,  Dann  ist  die 
Chance  gegeben,  den  freiwilligen  Schipper  zum  Nachdenken 
liber  seine  wirkliche  Lage  und  iiber  den  Charakter  seiner  bis^ 
herigen  Freunde  zu  bring  en.  Und  wenn  ein  Arbeit  er  erst  nach- 
denkt,  ist  er  fu>  die  SA.  schon  dreiviertel  verloren,  fur  die  Idee 
der  Gewerkschaft  schon  halb  gewonnen. 

Waldhof-TempHn  von  Brniio  Frei 

In  der  Gerrieindestube  des  markischen  Stadtchens  Templin 
verhandelt  seit  mehr  als  einer  Woche  das  Landgericht 
Prenzlau  gegen  den  Erziehungsleiter  Franke  und  sechs  seiner 
Genossen,  die  beschuldigt  werden,  die  Zoglinge  d^er  Fiirsorge- 
erziehungsanstalt  Waldhof-Templin  fortgesetzt  gepriigelt  und 
miBhandelt  zu  haben.  In  Waldhol-Templin  ist  zwar  kein  Junge 
mit  einer  Harke  totgeschlagen  worden;  in  Waldhof-Templin  gab 
es  keine  Revolte;  in  Waldhol-Templin  gab  es  nicht  einmal 
erne  Saalplatte.  Und  doch  ist  Templin  nach  Scheuen  eine 
Steigerung. 

Es  kommt  bei  den  Greueln;  der  Fursorgeerziehung  nicht 
darauf  an,  ob  in  eine  Wunde  Salz  gestreut  wird  oder  nicht. 
Zurugung  von  Wunden  als  Erziehungsmittel,  jahrelang  systema- 
tisch  angewandt  und  theoretisch  begriindet,  ist  weit  gefahr- 
licher,  weit  verbrecherischer  als  die  schlimmste  im  Blutrausch 
eines  sadistischen  Affekts  ersonnene  Indianermarter.  Und  das 
war  in  Waldhof,  der  Erziehungsanstalt  der  Inneren  Mission, 
der  Fall. 

Zwei  Prugelpadagogen  stehen  als  Hauptfiguren  des  Pro- 
zesses  vor  Gericht:  der  eine  auf  der  Anklagebank,  der  andre 
auf  d'er  Zeugenbank.  Der  Erzieher  Franke  und  sein  Direktor 
Griiber  sind  nicht  nur  miteinander  verwandt  und  verschwagert, 
sie  decken  sich  auch  so.  Ihre  Methoden  sind  durchaus  ver- 
schieden,  aber  zusammen  als  Teile  eines  geschlossenen 
Systems  zu  erkennen.  Franke,  ein  jiingerer  Mensch,  Sol- 
datentyp,  finsterer  Blick,  karg  an  Worten,  erklart:  ,,Prugeln 
ist  eine  Weltanschauungssache:  Ich  weiB,  daB  das  gut  ist.  Ich 
habe  die  Ministerialerlasse,  die  das  Priigeln  verbieten,  bewuBt 
iibertreten,  um  den  Jungen  zu  hell  en."  Wohlgemerkt,  durch 
Schlage  mit  Latten,  Holzscheiten,  Leibriemen,  Schliisselbunden, 
durch  Treten  mit  FiiBen,  Stielelabsatzen  und  durch  blutige 
Verletzungen.  Jawohl,  er  war  und  er  ist  ■  davon  iiber- 
zeugt,  daB  das  gut  ist  und  eine  Hille  liir  seine  Jungens.  So 
hat  sein  Vater  inn  behandelt;  er  dankt  ihm  noch  heute  dafiir. 
Und  so  verstand  er  seine  erzieherische  Aufgabe.  Er  riskierte 
bewuBt  seine  Stellung,  denn  nichts,  auch  nicht  die  Rucksicht 
auf  sich  selbst,  konnte  ihn  an  der  Erfiillung  der  sittlichen 
Pllicht  hindern;  zu  schlagen.  Ein  Martyrer  der  Priigelstrafe. 
Ein  Apostel  unter  den  Heiden. 

888 


Franke  glaubt,  was  er  sagt.  Aber  schlicBlich  steht  diese 
Theorie  in  allzu  krassem  Gegensatz  zu  den  bestehenden  Ge- 
setzen,  so  daB  sic  auf  sich  allein  gestellt  undurchfuhrbar  ware, 
selbst  gegenuber  Fursorgezoglingen,  fiir  die  es  ja  im  all- 
gemeinen  keine  Rechtsgarantien  gibt.  Und  so  bedarf  die 
starre  Position  Frankes  noch  einer  Stiitzung.  Dazu  ist  Pastor 
Griiber  da.  Er  ist  zwar  als  Direktor  der  Anstalt  selbst  we- 
gen  MiBhandlungen  in  Voruntersuchung  gewesen,  aber  er 
wurde  auBcr  Verfolgung  gesetzt,  Nicht  ctwa  weil  die  gegen 
ihn  vorliegenden  Beschuldigungen  unwahr  sind,  sondern  weil 
sie  nach  der  voriibergehenden  Auffassung  der  Staatsanwalt- 
schaft  zur  Erhebung  der  Anklage  nicht  ausreichten.  Diese 
Auffassung  hatte  eine  sehr  begrenzte  Dauer;  namlich  von  dem 
Zeitpunkt  der  Eroffnung  des  Hauptverfahrens  bis  zum  dritten 
Verhandlungstag.  Vorher  und  nachher  war  und  ist  die  Auf- 
fassung der  Staatsanwaltschaft  die,  daB  Griiber  auf  die  An- 
klagebank  gehort.  Aber  diese  kleine  Wankelmiitigkeit  ge- 
nugte,  daB  er  jetzt  auf  der  Zeugenbank  sitzt  und  von  dort  aus 
die  Schroffheiten  der  Thesen  Frankes  abztischleifen  versucht. 

Also  vom  Priigeln  sei  iiberhaupt  keine  Rede.  Die  Schlage, 
die  ausgeteilt  wurden,  waren  der  MAusdruck  eines  korperlichen ' 
Protestes  zwecks  Erweckung  korperlicher  Unlust."  Und  also 
erlaubt.  Arrestzellen  waren  verboten,  also  wurden  sie  Isolier- 
zellen  genannt.  Das  war  erlaubt.  Strafexerzieren  war  ver- 
boten, also  wurde  es  Turnen  genannt.  Kahlscheren  als  Straf- 
maBnahme  war  verboten,  aber  als  sanitare  MaBnahme  selbst- 
verstandlich  erlaubt.  PolitiscKe  Betatigung  war  verboten, 
aber  Kyffhauserjugend  ist  doch  nicht  politisch.  Zum  Gottes- 
dienst  durfte  niemand  gezwungen  werden,  aber  es  ist  doch 
selbstverstandlich,  daB  diejenigen  Zoglinge,  die  nicht  zum 
Gottesdienst  gingen,  im  Inter  esse  der  Allgemeinheit  liegende 
Arbeiten  auszufiihren  hatten,  zum  Beispiel  Klosettreinigen. 
In  Pastor  Griibers  elastischer  Rhetorik  wird  aus  einer  ver- 
botenen  Ohrfeige  ein  erlaubtes  Schutteln,  aus  einem  brutalen 
Schleifen  eines  fuBkranken  Jungen  uber  den  Hof  ein  harm- 
loses  Ziehen.  Pastor  Griiber  ist  reich  an  umschreibenden 
Einf alien.  ■  Statt  Priigeln  sagt  er  auch  gerne:  „in  der  Sprache 
der  Jungen  red  en"  oder  noch  drastischer  ,,mit  den  Hand  en 
reden'*. 

Wie*fean  sieht,  ist  alles  nur  eine  Sache  der  Auslegung  und 
der  Sprachgewandtheit,  Hinter  d'ieser  elastischen  wort- 
decke  verbarg  sich  jahrelang  das  Priigelsystem  von  Waldhof- 
Templin.  Denri  soviel  ist  klar:  diese  theologischen  Spitz- 
findigkeiten  sind  nicht  erst  zum  Zwecke  der  Verantwortung 
vor  Gericht  ausgeklxigelt  worden,  sondern  sie  sind  die  Grund- 
lage  -des  Systems,  auf  dem  sich  jahrelang  das  Verbrechen  des 
Jugendmordes  aufbauen  konnte  und  das  sich  trotz  zwei  voll- 
endeten  und  zwei  versucht  en  Selbstmorden  von  Jugendlichen 
mit  seiner  evangelischen  Leisetreterei  vor  jedem  behordlichen 
Zugriff  zu  deck  en  verstand. 

Und  damit  kommen  wir  zu  dem  dritten  Hauptangeklagten, 
der  von  keinem  Staatsanwalt  zur  Rechenschaft  gezogen  wird, 
zu  den  Fiirsorgeerziehungsbehorden,    die    fiir    das   Wohl    der 

889 


ihnen  anvertrauten  Jugendlichen  und  fur  die  Durchfuhrung  der 
gesetzlichen  Bestirnmunigen  verantwortlich   sind. 

Die  Fiirsorgeerziehungsanstalt  der  Inneren  Mission  Wald- 
hof-Templin  wurde  belegt  von  dem  Landesdirektor  der  Pro- 
vinz  Brandenburg  und  vom  Landesjugendamt  Berlin.  In  Pastor 
Griibers  Verteidigung  gibt  es  einen  Punkt,  wo  sogar  wir  ihm 
zustimmen,  Seine  hohnische  Frage,  warum  denn  die  Behorden 
mit  ihm  zufrieden  waren,  wenn  alles  so  schlecht  ist,  trifft  ins 
Schwarze.  Die  Provinzialbehorde  ist  noch  heute  mit  der  An- 
stalt  zufrieden  und  laBt  ihre  Zoglinge  in  Waldhof,  und  niemand 
kann  sag  en,  ob  nicht  eine  halbe  Stunde  von  der  Gerichtsstatte 
entfernt  jetzt  noch  wetter  igepriigelt  wird.  Jedenfalls  war  die 
Fursorgeerziehungsbehorde  der  Provinz  Brandenburg  einver- 
standen  mit  den  barbarischen  Arrestzellen  und  hat  nicht  ein- 
mal  ihre  Umbenennung  in  Isolierzellen  verlangt.  Dagegen  soil 
nach  der  Aussage  Griibers  Obermagistratsrat  Knauth  sich  mit 
der  Umbenennung  zufrieden  gegeben  haben,  Und  was  die 
MiBhandlungen  betrifft,  so  hat  zwar  die  padagoigische  De- 
zernentin  des  berliner  Landesjugendamts  Frau  Todtenhagen 
die  Beschwerden  der  Zoglinge  dem  Direktor  vorgehalten,  — 
aber  das  war  auch  alles.  Es  steht  fest,  daB  d'as  Landesjugend- 
amt Berlin  ebenso  wie  im  Falle  Scheuen  seit  Jahren  von  den 
schweren  MiBhandlungen  und  von  dem  Priigelsystem  in  Wald- 
hof durch  Zoglingsbeschwerden  unterrichtet  war.  Es  steht 
fest,  daB  ebenso  wie  in  Scheuen  die  Beschwerden  dem  Di- 
rektor zur  Stellungnahme  ubermittelt  wurden;  mit  der  ,,Stel- 
lungnahme"  des  Direktors  war  der  Fall  erledigt.  Das  Landes- 
jugendamt hat  dem  Manneswort  Pastor  Griibers'  ebenso  ver- 
traut  wie  dem  Manneswort  Straubes.  Pastor  Gruber  erklart: 
er  hatte  private  Ermahnungen  nicht  zur  Kenntnis  zu  nehmen; 
wenn  das  Landesjugendamt  Ubelstande  abstellen  wollte,  so 
hatte  es  das  als  Aufsichtsbehorde  ohne  weiteres  tun  konnen. 
Es  hat  aber  nichts  getan.  Es  hat  die  berliner  Jungens  erst  aus 
Templin  abberufen,  als  die  ersten  Veroffentlichungen  uber  die 
Anstalt  erschienen.  Zu  einer  Zeit  also,  als  Frau  Weyl  infolge 
der  Scheuenaffare  nicht  mehr  amtierte. 

Und  so  endet  auch  dieser  Skandal  bei  Frau  Weyl.  Pastor 
Gruber  hat  ihr  das  Zeugnis  ausgestellt,  daB  er  mit  ihr  ausge- 
zeichnet  zusammengearbeitet  habe.  Ein  MiBton  sei  in  die  Be- 
ziehungen  zwischen  Waldhof  und  Landesjugendamt  erst  hinein- 
gekommen,  als  Frau  Weyl  zuriickgetreten  war.  Man  muB  das 
nicht  nur  subjektiv  sondern  auch  objektiv  verstehn.  Frau  Weyl 
stand  auf  dem  Standpunkt,  und  sie  hat  das  in  dem  unseligen 
borgsdorfer  Beschlufi  kodifiziert,  daB  bei  Beschwerden  von 
Fiirsorgezoglingen  die  Anstaltsleiter  nicht  als  Beschuldigte 
sondern  als  Untersuchungsleiter  anzusehen  sind.  Frau  Weyl 
glaubte  den  Straubes  und  Griibers  alles,  den  Fursorgezoglingen 
nichts.  Hier  liegt  die  Wurzel  des  Obels.  Hier  liegt  die  Keim- 
zelle  sowohl  des  Scheuen-  wie  des  Templiner  Prozesses.  Ohne 
diese  Haltung  hatte  sich  kein  Priigelsystem,  weder  in  Scheuen 
noch  in  Templin,   jahrelang  halten  konnen. 

Pastor  Gruber  sagte  auf  eine  Frage  des  Vertreters  der 
Nebenklage,  Rechtsanwalt  Doktor  Georg  Lowenthal,  der  Fall 
Straube   habe   ihn  in  seinen   Erziehungsgrundsatzen  in   keiner 

890 


Weise  beeintrachtigt.  Er  hatte  aus  dem  Fall  Straube  wenig- 
stens  entnehmen  sollen,  daB  die  Saule  des  Priigelpadagogen- 
tums,  das  System  Weyl-Knauth,  geborsten  war  und  daB  damit 
nach  dem  Fall  Straube  der  Fall  Griiber  reif  geworden  ist.  Reif 
fiir  den  Staatsanwalt, 

Noch  ein  Wort  muB  gesagt  werden.  So  wenig  wie  iiber 
Scheuen  je  eine  Silbe  in,  die  Offentlichkeit  gekommen  ware 
ohne  Enthiillung  durch.  die  Presse,  so  wenig  gabe  es  einen 
FtirsorgeerziehungsprozeB  Templin  ohne  Enthullung  durch  die 
Presse.  Im  Kampfe  mit  den  Behorden,  die  fiir  die  Fiirsorge- 
erziehung  verantwortlich  sind,  muBte  die  Wahrheit  erstritten 
"werden.  In  Scheuen  wie  in  Templin.  Dieser  Kampf  geht 
^weiter. 


„KullSSen"   von  Peter  Panter 


17  s  ist  ein  Jammer,  daB  es  keinen  rechtschaffenen  Teufel 
"  mehri  gibt.  Jetzt  behilft  man  sich  da  mit  deri  Welschen, 
mit  den  Juden,  mit  den  Radfahrern,  mit  dem  Vertrag  von  Ver- 
sailles . . .  aber  das  Richtige  ist  das  alles  nicht.  Immerhin  muB 
einer  da  sein,  der  schuld  ist.  Gehts  gut,  dann  haben  wir  es 
herrlich  weit  gebracht  —  gehts  aber  schief,  dann  wirft  der 
Fachmann  wilde  Blicke  um  sich  und  sucht  den  Teufel. 

Das  Theater  hat  den  seinen  im  Film,  im  Rundiunk  und 
in  der  Krise  gefunden,  Vielleicht  sehen  die  Herren  auch  ein- 
mal  ein  biBchen  in  ihren  Bureaus  nach?  Da  sitzt  namlich 
auch  ein  Teufel.  i 

Wer,  so  frage  ich  mich  manchmal,  wenn  ich  gar  nichts 
Besseres  zu  tun  habe,  bestimmt  eigentlich  den  Spielplan  der 
deutschen  Biihnen?  Ich  weiB  schon:  die  Angst.  Denn  wenn 
«iner  nichts  hat;  Bedenken  hat  er. 

Wer  bestimmt  den  Spielplan,  und  nach  welchen  Gesichts- 
punkten  bestimmt  er  ihn?  Das  verstehe  wer  mag.  Die  Kerle 
haben  doch  keinen  Erfolg,  hochstens  hat  mal  hier  und  da 
einer  einen  —  der  Rest  pumpert  sich  so  durch.  Aber  die 
KroBe   Schnauze. 

Mir  kanns  gleich  sein;  ich  bin  kein  Dramatiker.  Ich  habe 
nur  einmal  mit  Walter  Hasenclever  ein  Stuck  geschrieben,  das 
heiBt  „Cristoph  Kolumbus  oder  Die  Entdeckung  Amerikas". 
Doch  bin  ich  so  befangen,  daB  ich  ein  unaufgefiihrtes  Stiick 
meines  Mitarbeiters  Hasenclever  auf  das  herzlichste  laben  muB. 
Wenn  das  Publiknm  auch  nur  haib  so  viel  lacht,  wie  ich  bei  der 
Lektiire  dieser  Komodie  gelacht  habe  — :  dann  wird  sehr  oft 
lange  nicht  weitergespielt  werden  konnen. 

*, 

Das  Stiick  heiBt   „Kulissen"   [im  Arcadia-Verlag,   Berlin). 
Das  Stiick   hat   einen   Fehler;    es   nennt  die  dargestellten 
Personen    mit  Nam  en,    und    das  Persorienverzeichnis    sieht  so 
aus: 

Herr  Deutsch 
Herr  Graetz 
Herr  Hasenclever 
Die  Dame 
Der  Gesandte 

891 


Der  Intendant 
Aennc 
Sahlmann 
Portier 
—  aber  kerne  Sorge:  die  Dame  ist  keine  Dame,  der  Gesandte 
ist  kein  Gesandter,  nur  der  Intendant  ist  ein  Intendant,  und 
das  ist  ihm  ganz  recht. 

y  Nannte  das  Stuck  die  Leute  namlich  nicht  bei  vollem  Namen, 
dann  konnte  es  in  jeder  Stadt  fiinfzig  Auffuhrungen  hinterein- 
anderweg  haben,  so  lustig  ist  es.  Denn  so  sind  die  Schau- 
spieler,  so  ist  der  Dichter  —  und  seltem  bat  sich  einer  so 
grazios,  so  leicht,  so  vergniigt  uber  sich  selbst  lustig  gemacht 
wie  hier  Herr  Hasenclever  tiber  Herrn  Hasenclever.  Diese  zwet 
Akte   skid  bezaubernd. 

Wie  sie  sich  alle  beloben  und  belugen,  Wie  sie  sich  die 
schlechten  und  die  guten  Kritiken  vorlesen.  Wie  Deutsch  em- 
sig  die  Frauen  ignoriert,  Paulchen  Graetz  mit  seiner  Rolle  be- 
fafit  ist,  in  die  er  ein  Couplet  hineingelegt  haben  will;  wie  der 
Dichter  alles  und  alle  zu  verachten  vorgibt,  es  aber  mitnich- 
ten  tut  —  das  glitzert  von  Witz,  von  schneidigen  Hieben,  von 
Scherz,  Satire  und  der  ganzen  Firma. 

Haben  sie  so  viel  gute  Stiicke?  Siehej  sie  haben  Beden* 
ken.  Dieses  Lustspiel,  in  der  richtigen  Zeit  in  Berlin  creiert* 
hatte  gut  und  gern  einen  Monat  lang  jede  Nachtvorstellung 
gefiillt,  und  ich  sage  Nachtvorstellung  mit  gutem  Grund.  Es 
ist  ein  biBchen  Atelierscherz  darin;  das  Stiick  wendet  sich  an 
die  Welt  der  Literatur  und  des  Theaters!  —  setzt  also  ein  ent- 
sprechendes  Publikum  voraus.  Das  haben  wir  nicht  j  in  eine 
Nachtvorstellung  aber  gingen  die  hinein,  fiir  die  es  geschrieben 
ist,  Und  die  wtirden  sich,  Mann  pro  Mann,  fur  neun  Mark 
und  achtzig  amusieren,    Es  ist  aber  auch  recht  heiter. 

Wie  der  Garderobier  die  Kerrsche  Kritik  vorliest,  au£ 
daB  der  Dichter  platze  —  und  wie  Paule  hineingeweht  kommtt 
Herr  Graetz  personlich  — :  das  ist  eine  einzige  KostbarkeiU 
Denn  so  etwas  ist  nicht  nur  Graetz;  das  ist  Theater. 

Graetz-.  Walter,  sieh  mich  an  —  auf  Pupille:  wie  fandest 
du  mich  denn? 

Hasenclever:    GroBartig,   Paul. 

Graetz:  Was?  Wie  der  alte  Graetz  das  gemacht  hat;  den 
AktschluB  bei  Mondschein  —  Knorke.  Da  bleibt  kein  Auge 
trocken.     So  was  von  Beifall  war  noch  nicht  da. 

Hasenclever:    Wie  fandest  du  denn  Deutsch? 

Graetz:  Walter,  unter  uns,  aber  ganz  unter  uns  —  das; 
sage  ich  nur  dir  —  Walter,  versprich  mir,  reinen  Mund  zu 
halten! 

Hasenclever:     Aber  selbstverstandlich,  Paul 

Graetz:  Walter,  du  bist  mein  Freund.  Ich  liebe  .dich~ 
Und  dein  Stiick,  alle  Achtung.     Aber  Deutsch  wird  alt! 

Und  so  in  infinitum. 

Nun  gibt  es  doch  in  jeder  Stadt  einen  Liebhaber;  einen 
Komiker;  einen  Dichter . . .  das  ist  ja  nicht  nur  in  Berlin  so,  wa 
naturlichi  die  Namen  Deutsch  und  Graetz  und  Kerr  sofort 
Assoziationen  auslosen.    Man   ersetze  die   Namen;    man   feilfe 

892 


sehr  vor  sich  tig*  an  dem  Stiick  —  und  man  hat  eine  uberall  gul- 
tige,  umendlich  lustige  und  leichte  Sache, 

Haben  aber  Bedenken,  die  Herren, 

Erstcns  kann  man  kcin  Stiick  spielen,  das  nicht  frisch 
aus  der  Schreibmaschinie  kommt  —  wie  ja  auch  der  f  eine  Mann 
keine  Biicher,  sondern  Neuerscheinungen  kauft.  Zweitens  mu£ 
man  die  professionell  schlechte  Laune  aller  Kunstkaufleute 
kennen:  ,,Ich  weiB  nicht  . . ,  wissen  Sie  . . ."  kurz:  zu  viel 
Magensaure.  Man  ermesse,  was  herauskommt,  wenn  die  einea 
Spielplan  machen.    Genau  so  sieht  er  denn  auch  aus. 

Und  dann  ware  da  vielleicht  noch  etwas. 

Friiher  bestimmten  den  Theaterspielplan  jene  blau  rasier- 
ten  Schmieren-Jockel,  die  halbe  Analphabeten  waren  —  aber 
von  Publikumswirkung  verslanden  sie  etwas.  Heute  gespen- 
stert  durch  die  Theaterbureaus  der  sanft  bebrillte  Dramaturge 
der  sehr  gebildet  ist,  Dafiir  versteht  er  wieder  vom  Publi- 
kum  einen  Schmarren,  Und  was  die  Direktoren  auBer  ihren 
Pachtgeschaften  eigentlich  treiben,  das  habe  ich  nie  begriffen. 

Jedenfalls  hat  da  ein  Satz  Max  Reinhardts  viel,  vielUnheil 
angerichtet: 

,,Das  Theater  gehort  dem  Schajuspieler." 

Wirklich?  Tut  es  das?  Dann  sollten  sich  die  Schauspie- 
ler  auch  ins  Parkett  setzen  und  sich  selber  Beifall  klatschen. 
Natiirlich  gehort  das  Theater  weder  dem  Schauspieler,  noch 
dem  Autor,  noch  dem  Regisseur  -7-  sondern  es  gehort  alien  zu- 
sammen.  Der  Schauspieler  sei  nicht  das  Megaphon  des  Autors 
wie  der  Text  nicht  der  Vorwand  fur  die  Kapriolen  des  Schau- 
spielers.     Was  tun  nun  die  Direktoren? 

Die  nehmen  ein  Stiick  nur  im  Hinblick  auf  diese  Frage 
an:  Was  konnte  man  damit  anfangen — ?  Denn  daB  manes  in 
keinem  Fall  so  lassen  kann,  wie  es  da  ist,  dariiber  herrscht 
kein  ZweifeL 

Sie  drehen  -es.  Sie  wenden  es.  Sie  dichten  es  urn.  Sie 
streichen  und  fiigen  hinzu,:  Ludwig  Marcuse  schrieb  neulich, 
es  sei  Lernet-Holenia  ganz  recht  geschehn,  daB  sie  ein  Stiick 
von  ihm  gemeuchelt  hatten  —  die  Arbeit  des  Dramatikers  set 
eben  mit  der  Niederschrift  des  Textes  nicht  beendet.  Ich  bin 
da  andrer  Meinung.  Ich  halte  sie  fur  beendet,  wenn  das  Stiick 
beendet  ist.  Besetzt  derDirektor  falsch  und  hat  sich  der  Autor 
nicht  darum  gekummert,  so  muB  er  die  Folgen  tragen.  Aber 
daB  die  Theater  Stiicke  umdichten,  das  ist  einfach  ein  Rechts- 
bruch. 

Eine  falsche  Allgemeinbildung  und  damit  die  Verflachung 
der  Bildung  haiben  dazti  gefaihrt,  daB  jeder  jedes  zu  konnen 
glaubt.  Schreiben  — ?  Schreiben  kann  jeder.  Und  so  tun  denn 
alle  wacker  mit.  Respekt  vor  geistigen  Leistungen  ist  kaum 
noch  vorhanden-,  Respekt  vor  der  kiinstlerischen  Vision,  die  so 
und  nicht  anders  ans  Licht  getreten  ist,  das  gibt  es  gar  nicht. 
„Da  machen  wir  einfach . . ."  Ja,  aber  das  hat  doch  der  Autor 
nicht  so  geschriebeni  Und  selbst  —  erstarre,  Mime!  —  selbst 
wenn  sein  Text  weniger  wirkungsvoll  ist  als  der  deine,  den 
du  neu  auf  der  Probe  hinzugekleckert  hast  — :  selbst  dann 
ist  fast  immer  der  Dramatiker  im  Recht.      Gefallt    euch  das 

893 


nicht?    Dann  schreibt  euch  cure  Stiicke  allein.    Und  das  tun  sic 
ja  dcrui  auch.    Mit  bekanntem  Erfolg. 

Sie  nennen,  was  sie  da  treiben,  Kollektivarbeit,  aber  es 
ist  nur  ein  Durcheinander.  So  kann  manbeidenfettlackierten 
Revuen  arbeiten,  die  Rcinhardt  auf fiihrt  —  da  kommts  wirk- 
lich  nicht  auf  den  Text  an.  Da  kommts  auf  die  Farben  an. 
DaB  aber  leichte  Lustigkeit  auch  und  grade  auf  dem  Wort 
stehn.kann  — :  wer  begriffe  das  in  Deutschland!  Seltsamer- 
weise  hats  Reinhardt  einmal  begriffen:  in  seinem  alten  Schall 
und  Rauch  namlich.     .  , .  long  ago. 

Der  Autor  stort.  Der  Text  ist  Vorwand,  Und  dann  be- 
klagen   sie    sich,   daB   keine   Dramatiker  aufwachsen. 

*. 

Oben  an  der  Decke  schwebt  eine  leichte  Seifenblase:  das 
Lustspiel  ,,Kulissen(\  Leicht  wie  ein  Hauch,  bunt,  spiegelnd, 
blitzend  vor  Lustigkeit ,  . ,  du  rundes  Ding,  wer  fiihrt  dich  auf? 

KllliSSen  von  Walter  Hasenclever 

Aus  dem  im  Arkadia-V erlag,  Berlin, 
erschienenen  Biihnenmanuskript 

Deutsch:  Ja,  liebe  Kinder,  jetzt  werde  ich  mich  wohl  endlich  an- 
ziehen  mussen.  Sonst  gcht  das  Stuck  heute  abend  nicht  weiter,  (Er 
geht  mit  Sahlmann  in  den  Ankleideraum.  Man  hort  drauQen  ein 
lautes  GebriilL  Die  Tiire  wird  aufgerissen,  und  Graetz  stiirzt  halb- 
angekleidet  herein.) 

Hasenclever:  Halloh!    Der  alte  Graetz! 

Graetz:  LaB*  dich  umarmen,  Walter.  Alte  Type!  Mensch;  Dein 
Stuck  ist  wundervoll.     Ein  Triumph  der  Generation,    Trotz  Kerr.' 

Haser clever:  Was  schreibt  er  denn  liber  dioh? 

Graetz:  Mich  hat  er  gar  nicht  erwahnt, 

Hasenclever:  Da  hast   du  aber  Gliick  gehabt. 

Graetz:  Walter,  sieh  mich  an  —  auf  Pupille:  wie  fandest  du  mich 
<lenn? 

Hasenclever:  GroBartig,  Paul. 

Graetz:  Was?  Wie  der  alte  Graetz  das  gemacht  hat:  den  Akt- 
schluB  bei  "Mondschein  —  knorke.  Da  bleibt  kein  Auge  trocken.  So 
was  von  Beifall  war  noch  nicht  da. 

Hasenclever:   Wie   fandest   du   denn  Deutsch? 

Graetz:  Walter,  unter  uns,  aber  ganz  unter  uns  —  das  sage  ich 
nur   dir  —  Walter:  versprich  mir,   reinen  Mund  zu  halten! 

Hasenclever:  Aber   selbstverstandlich,   Paul. 

Graetz:  Walter,  du  bist  mein  Freund.  Ich  Hebe  dich.  Und  dein 
Stuck:   alle  Achtung.    Aber  der  Deutsch  wird  alt, 

Hasenclever:   Meinst  du  wirklich? 

Graetz:  Der  Junge  kann  ja  nicht  mehr.  Die  Stimme  wird 
briichig.     Ich  sage  dir:  noch  zwei  Jahre  —  und  aus. 

Hasenclever:   Was    sagst   du  bloB  zu   seinen   Kritiken? 

Graetz:  Der  Junge  hat  phantastisches  Gliick  bei  der  Presse. 
Unsereins  rackert  sich  ab:  Biihne,  Film,  Rundfunk  —  Schwamm  driiber. 
Man  regt  sich  nur  auf.  Was  ich  sagen  wollte . , .  Hor  mal  zu,  mein 
Junge.  Meine  Rolle  ist  nicht  groB.  Ich  habe  sie  gespielt  aus  Freund- 
schaft,  aus  Liebe  zu  dir.  Den  Erfolg  hast  du  mir  zu  verdanken,  Du 
muflt  mir  jetzt  auch  einen  Gef alien  tun, 

Hasenclever:  Aber  gern,  Paul, 

Graetz:  Sieh  mich  an.  Wenn  der  alte  Graetz  herauskommt,  er- 
warten   die  Leute   etwas  Besonderes   von   ihm.    Etwas   Richtiges,   ver- 

B94 


stehst  du!  Mich  kennt  doch  jeder.  Ich  brauche  noch  etwas  vor  dem 
Aktschlufi.    Irgend  eine  dufte  Sache.     Mach  mir  ein  Couplet.  * 

Hasenclever:   In   meinem    Stuck? 

Graetz:  Ich  mochte  so  etwas  im  Mondschein  singen  ...   * 

Hasenclever:  Aber  Paul,  das  ist  doch  em  ernstes  Stuck! 

Graetz:  Das  ist  den  Leuten  ganz  egal.  Das  Publikum:  Mensch 
hore  auf  einen  alten  Schauspieler,    Zwanzig  Auffiihrungen  mehr! 

Hasenclever:  Unmoglich,  Paul.  Sonst  schmeiBt  mir  der  Deutsch 
die  Rolle  hin. 

Graetz:  Der  Deutsch  hat  das  Stuck  ja  gar  nicht  gelesen.  Der  mit 
seiner  Sterbeszene  —  und  blofi  weil  die  Weiber  im  Parkett  sitzen.  Du 
sollst  mal  sehen,  wenn  wir  beidei  auf  der  Biihne  stehen  —  wie  ich 
ihn  da  an  die  Wand  spiele!  (Deutsch  tritt  ein  in  Kostiim  und  Maske) 
Ernst!  Du  warst  herrlich!  Ohne  Spafi:  das  Beste,  was  ich  je  von  dir 
gesehen  habe!    Eine  dicke   Sache! 

Deutsch:  Du  warst  auch  sehr  gut,  Paul. 

Graetz:  Kunststuck  —  bei  so  einem  Dichtetr!  Wenn  ich  denke:  wir 
alten  Freunde!    Mir  kommen  die  Tranen. 

Deutsch:  Aber  was  sagt  Ihr  zu  der  Regie? 

Graetz:  Den  Intendanten  sollte  man  ausstopfen.  So  ein  Hans- 
wurst!  Der  spukt  ja  wie  die  weiBe  Dame  im  Schniirboden  herum.  Wie 
wird  mir  da  . , .  (er  imitiert  phonetisch  und  pantomimisch  die  Ge- 
rdusche  einer  modernen  Inszenierung)  Windmaschine,  Trommel  und 
vorne  die  Knallerbsen,  Und  jedesmal,  wenn  einer  riilpst,  kommt 
hinten  ein  Triller.  Der  reine  Zapfenstreich!  Wenn  ich  schon  sehe,  wie 
das  alte  Suppenhuhn  liber  die  Biihne  schleicht . . .  (er  kopiert  Schritt 
und  Stimme  des  Intendanten)  f,Meine  Herren,  wollen  Sie  bitte  die 
Giite  haben,  an  dieser  Stelle  etwas  starker  zu  betonen.  Kraft,  meine 
Herren,  innere  Erregung!  Ich  vermisse  Schwung  und  Leidenschaft. 
Wir  sind  ein  Gesinnungstheater,"  Kinder  —  mir  fliegt  der  Salat  aus 
den  Ohren.  (Die  Tiir  geht  auf,  und  der  Intendant  tritt  ein.  Graetz 
erstarrt  im  Sprung.     Alle  >stehen  ehrfurchtsvoll  auf.) 

Der  Intendant:  Guten  Abend,  meine  Herren.  Lassen  Sie  sich  nicht 
storen.  Zunachst,  meine  Herren,  mochte  ich  Ihnen  zu  unserem  groBen 
Erfolg  von  Herzen  gratulieren!  Es  war  wirklich  ein  schoner  Erfolg. 
Und  dann  mochte  ich  noch  eine  Kleinigkeit  sagen  (er  zieht  ein  Notiz- 
huch  aus  der  Tasche).  Herr  Deutsch:  wenn  Sie  im  zweiten  Akt  ab- 
gehen,  vergessen  Sie  nicht,  das*  Taschentuch  aufzuheben  und  wieder 
einzustecken.  Man  konnte  sonst  glauben,  es  lage  absichtlich  da.  Und 
Sie,  Herr  Graetz:  bitte  nicht  so  laut.  Sie  schreien  zu  viel  in  dem 
Stuck.  Sie  sind  so  ausgezeichnet,  Sie  haben  so  viel  Schwung,  so  viel 
innere  Erregung,  es  ware  schade  darum,  Ja,  und  dann  noch  eine 
kleine  Anderung,  die  ich  vorschlagen  mochte,  Herr  Hasenclever.  Ich 
mochte  den  Angriff  gegen  die  Kirche  streichen.  Glauben  Sie  mir,  es 
macht  boses  Blut. 

Hasenclever:  Aber,  Herr  Intendant,  gerade  die  Satze  liegen  mir 
besonders  am  Herzen.     Deswegen  habe  ich  das  Stuck  geschrieben. 

Der  Intendant:  So  sehr  ich  Ihre  Griinde  respektiere:  ich  muB  auf 
die  Regierung  Riicksicht  nehmen,  Wir  haben  eine  Zentrumsmehrheit. 
Ich  leite  ein  staatliches   Institut, 

Hasenclever:  Dann  konnen  wir  ja  das  ganze  Stuck  streichen. 

Der  Intendant:  Das  durfen  Sie  mir  nicht  sagen.  Wenn  jemand 
«in  Gesinnungstheater  in  Deutschland  gemacht  hat,  so  war  ich  es. 
Wenn  jemand  dem  republikanischen  Gedanken  gedient  hat,  so  darf 
ich  wohl  sagen,  war  es  meine  Personlichkeit.  Ich  habe  den  ersten 
revolutionaren  Spielplan  geschaffen.  Aber  die  Zeiten  andern  sich 
leider. 

Hasenclever:  Das  merkt  man. 

.895 


Das  Schaufenster  von  Kari  scheftier 

Aus  ciner  soeben  im  Insel-Verlag,  Leipzig, 
crschienenen  Essay-Sammlung  „Der  neuc  Mensch". 
*WJ  as  steht  eincm  am  lebendigsten  vor  Augen,  wcnn  man  an 
w  die  StraBen  dcr  Stadte,  der  GroBstadte  denkt?  Es  ist  der 
Glanz  dcr  bunten,  am  Abend  hell  aufleuchtenden  Schaufen- 
ster, es  sind  die  Laden,  vor  denen  sich  Menschenmassen 
stauen,  es  sind  die  hohen,  breiten  Auslagen,  in  denen  begeh- 
renswerte  Dinge  lock  en,  die  straBauf  und  straBab  zum  Kauf 
verfiihreni  und  mit  ihrem  OberfluB  ein  Schlaraffenland  vortau- 
schen.  Es  ist  dieser  taglich  geoffnete  schillernde  Bazar,  der 
die  Liiste  reizt  und  die  Phantasie  schaubuhnerihaft  unterhalt. 

Und  doch  ist  dieses  ganze  Schauf  ensterwesen  recht  jung. 
Selbst  das  achtzehnte  Jahrhundert  kannte  kaum  schon  das 
Schaufenster  und  den  dahinter  liegenden  Laden.  Damals  be- 
fanden  sich  die  Warenhandlungen  in  geraumigen  Dielen,  in 
Magazinen  und  Gewolben,  oder  sie  standen  in  Verbindung  mit 
den  Werkstatten  der  Handwerker.  Nach  der  StraBe  hin  tra- 
ten  sie  kaum  in  Erscheihung.  Wurden  einige  Waren  einmal 
zur  Schau  ins  Fenster  gestellt,  so  wurde  ein  simples  Wohn- 
stubenfenster  benutzt.  Besonders  gebaute  Verkaufsladen  gab 
es  nur  vereinzelt  in  den  Hauptstadten  der  Kultur.  Ungewohn- 
lich  war  noch  im  achtzehnten  Jahrhundert  ein  offener  Ver- 
kaufsraum  wie  der  des  Kunsthandlers  Gersaint  am  Pont  Notre- 
dame  in  Paris,  den  Watteau  auf  seinem  bekannten  ,,Firmen- 
schild"  veranschaulicht  hat.  Die  Stadter  bedurften  damals 
keiner  Wafenladen;  was  sie  brauchten,  bestellten  sie  bei  den 
Handwerkern  —  deren  Leistungsfahigkeit  nie  hoher  war  — , 
oder  sie  kauften  auf  offenen  Markten.  Alte  Stiche  belehren 
dariiber,  daB  sich  die  Fronten  der  Stadthauser  in  charakter- 
voller;  Ahnlichkeit,  mit  Wohnraumen  selbst  in  den  Ieicht  aiif- 
getreppten  Erdgeschossen,  aneinanderreihten,  daB  die  StraBen 
begrenzt  wurden  von  fest  gcschlossenen,  wohl  gegliederten 
Fassadenwanden  und  daB  die  Passanten  nirgends  Ursache  hat- 
ten,  schaulustig  zu  verweilen.  Die  vollkommene  Einheitlichkeit 
der  Stadtarchitektur  in  friihern  Jahrhunderten  ist  nicht  zuletzt 
auf  das  Fehlen  der  Verkaufsladen  und  der  Schaufenster  zii- 
rtickzufuhren.  ] 

Erst  im  Anfang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  wurde  be- 
gonnen,  mehrere  Fenster  zusammenzuziehen  oder  hier  und 
dort  ein  Schaufenster  auszubrechen,  urn  Waren  offentlich  zur 
Schau  zu  stellen.  Es  gibt  Lithographien  und  Stahlstiche  alt- 
berliner  StraBen,  auf  denen  der  Vorgang  deutlich  zu  verfolgen 
ist.  Wobei  es  bezeichnend  ist,  daB  auch  jetzt  wieder  die  Kunst- 
handlungen  vorangingen.  Man  weiB,  wie  die  Entwicklung  dann 
war:  zuerst  wurden  die  Wohnraume  als  Laden  ausgebaut  und 
bescheidene  Schaufenster  geschaffen;  dann  forderte  das  Be- 
diirfnis  in  schneller  Folge  Erweiterungen.  Die  Wohnhauser 
wurden  abgebrochen,  an  ihre  Stelle  traten  groBere,  hohere, 
aber  auch  haBlichere,  reklamehaft  laut  rufende  Gebaude,  in 
denen  unten  groBe  Laden  mit  stattlichen  Schaufenstem  von 
vornherein  vorgesehen  waren.  Nach  diesem  Prinzip  sind  im 
neunzehnten   Jahrhundert,   vor   allem   in  dessen   letzten   Jahr- 

896 


zehriten,  lange  StraBenziige,  ja  ganze  Stadtteile  gebaut  worden. 
Das  Bedurfnis  wollte  dann  immer  groBere  Schaufenster. 
Darum  wurde  —  das  Bedurfnis  fordert  ja  stcts  die  Erfindung  — 
die  groBe  ungeteilte  Spiegelscheibe  erfunden;  die  Wand  ver- 
schwand,  sie  wurde  ersetzt  durch  schmale  Eisenstiitzen  und 
dariibergelegte  Eisentrager.  Eine  Folge  war,  daB  die  Fassa- 
den  der  Ladenhauser  unten  keine  Masse  haben,  daB  die  schwe- 
ren  Obergeschosse  frei  in  der  Luft  zu  hangen  scheinen.  Eine 
andre  Folge  war,  daB  die  architektonische  Einheitlichkeit  der 
StraBen  grundsatzlich  zerstort  wurde;  dean  jedes  Schaufenster, 
jedes  Ladenhaus  sollte  sich  prahlend  vom  anderen  unter- 
scheiden. 

Das  Schaufenster  ist  eine  Schopfung  des  Hochkapitalismus 
und  eines  ganz  unbehindert  individualistisch  arbeitenden  Un- 
ternehmertums.  *  Es  ist  entstanden  und  entwickelt  worden  im 
Zeichen  der  Gewerbefreiheit  und  der  schrankenlosen  Konkur- 
renz;  es  dient  der  gewaltsamen  Anlockung  von  Kaufern  und 
ist  das  typische  Gebilde  einer  Epoche,  die  dem  schauerlichen 
Begriff  des  t,Existenzminimums"  ein  Existenzmaximum  des  Be- 
sitzes  enigegengestellt  hat.  Ein  Schaufenster  soil  nicht  nur 
zeigen:  hier  kannst  du  ein  Kaufbediirfnis  befriedigen,  sondern 
es  soil  die  Besitzinstinkte  anstacheln,  soil  neue  Bediirfnisse 
kiinstlich  schaffen,  soil  zum  Kauf  des  Uberfliissigen  reizen  und 
durch  Farbe,  Licht,  Prunk  und  OberfluB  betauben.  Darum  sind 
auch  Halbkiinstler  zu  Hilfe  gerufen  worden.  Die  Schaufenster- 
dekoration  wurde  ein  Beruf,  man  hat  Wettbewerbe  ausge- 
schrieben,  das  Reklamebediirfnis  hat  immer  neue  schlagende 
Wirkungen  aufgespiirt,  Wenn  auf  den  Markten  die  Verkau- 
f  er  ihre  Waren  mit  Worten  anpreisen,  so  schreien  die  Schau- 
fenster mit  Effekten  des  Arrangements  die  Vorubergehen- 
den  an. 

Das  Ladenhaus  zeugte  dann  das  Warenhaus.  Das  ein- 
zelne  Fenster  geniigte  nicht  mehr;  es  muBte  ein  komplettes 
Haus  aus  Glas  und  Eisen  sein,  ein  Haus,  das  ganz  Laden  und 
ganz  Schaufenster  ist.  Hier  aber  iiberschlug  sich  die  Ent- 
wicklung.  In  der  Obertreibung  lag  —  es  ist  im  modernen  Le- 
ben  an  vielen  Stellen  so  —  eine  Korrektur,  eine  Ankiindigung 
von  etwas  Neuem  und  grundsatzlich  anders  Geartetem,  Das 
Warenhaus  war  gedacht  als  eine  Zwingburg  des  ubermaBig  ge- 
wordenen  Kapitalismus.  Ungewollt  entstand  den  Unterneh- 
mern  aber  ein  Gebilde,  dem  latent  eine  neue  soziale  Bestim- 
mung  innewohnt  und  das  —  beides  geht  immer  Hand  in 
Hand  —  auch  eine  neue  Entwicklungsphase  der  Architektur 
ankiindigte.  Zuerst  kam  es  zu  einem  Kampf  der  Spezial- 
geschafte  gegen  das  Universal-Warenhaus.  Dieser  Kampf  ist 
gut  dargestellt  in  dem  seiner  Zeit  benihmten,  immer  noch 
lesenswerten  Roman  Zolas  „Zum  Paradies  der  Damen".  Was 
nicht  gleich  gesehen  wurde,  war  der  Umstand,  daB  das  merk- 
wiirdige  Gebilde  des  Warenhauses,  das  eine  standige  Markt- 
halle  fiir  alle  Waren  ist,  eine  neue  Art  von  Bazar,  in  dem 
unendlich  viele  Laden  zusammengeschlossen  worden  sind,  nur 
aus  der  Hand  des  einen  Besitzers  in  die  Hande  der  Kommune 
oder  'des  Staates  uberzugehen  braucht,  um  seine  neue  soziale 
Funktion  schlagend  zu  offenbaren.    Der  Kapitalismus  hat  hier 

897 


sein  Ende  oder  doch  seine  revolutionare  oder  evolutionare 
Umwandlung,  die  einem  Gesetz  der  Zeit  folgt,  intuitiv  vor- 
geahnt  und  vorweggenommen,  Er  hat  eine  Form  geschaffen, 
die  ihre  wahre  Bestimmung  erst  in  einer  neuen  Staatsform,  in 
einer  neuen  Gesellschaft  erweisen  wird. 

Wie  dies  geschehen  kann,  dariiber  geben  Berichte  aus 
RuBland,  das  zur  Zeit  fur  ganz  Europa  experimenliert,  Auf- 
schluB.  Dort  ist  das  Schaufenster  schon  wieder  iiberflussig 
geworden.  Man  stellt  dort  im  wesentlichen  Biisten  von  Lenin 
und  Stalin  hinein,  drapiert  mit  vielem  Rot,  und  benutzt  iiber- 
fliissigen  Raum  fiir  politische  Propaganda-  Die  Ware  aber 
verschwindet  aus  den  Auslagen.  Nicht  nur  weil  sie  knapp  ist, 
sondern  weil  der  neue  Mensch,  der  in  einer  sich  konsequent 
sozialisierenden  Zeit  lebt,  nicht  mehr  zum  Kauf  des  Uberfliis- 
sigen  angeregt  und  verftihrt  sein  will.  Die  Bediirfnisse  aller 
konnen  im  staatlichen  Universalkaufhaus  befriedigt  werden; 
iiber  das  verniinftige  Bediirfnis  hinaus  aber  interessiert  die 
Luxusware  nur  noch  Einzelne.  Dem  Jahrmarkt  der  Eitelkei- 
ten,  wie  er  sich  in  den  Schaufenstern  des  Kapitalismus  aus- 
breitet,  ist  im  sozialisierten  RuBland  der  Atem  ausgegangen. 
Womit  nicht  gesagt  ist,  dafi.die  Eitelkeiten  aus  der  russischen 
Welt  verschwunden  sind;  sie  wenden  sich  aber  anderen  Inter- 
essen  zu.  Die  allgemeine  Weltarmut  tut  ein  iibriges,  um  auch 
in  den  westeuropaischen  Landern  das  russische  Geschichts- 
erlebnis  aktuell  zu  machen.  In  unsern  GroBstadten  stehen 
viele,  vor  kurzem  erst  mit  groBen  Anspriichen  ausgebaute 
Laden  leer,  liegen  machtige  neue  Schaufenster  blind  da,  nicht 
nur  weil  die  Konjunktur  schlecht  ist  sondern  weil  sich  von 
Grund  auf  etwas  andert,  weil  dem  OberfluB,  dem  Luxus  wirt- 
schaftlich  und  sozial  mehr  und  mehr  die  Grundlagen  entzogen 
werden.  Wie  sich  allgemein  mit  der  Verarmung  und  mit  dem 
daraus  resultierenden  Stil  des  Lebens  die  Wohnmode  andert 
Und  infolgedessen  die  groBen  Wohnungen  fast  fluchtartig  ver- 
lassen  werden,  so  andert  sich  die  Anschauung  (iberhaupt  vom 
Wesen  des  Bedurfnisses.  Eine  Folge  davon  wird  wahrschein- 
lich  sein,  dafi  die  groBen  hellen  Schaufenster,  eines  nach  dem 
andern,  ihre  Lichter  loschen,  daB  die  Warenhauser  dagegen  in 
einer  neuen  Weise  an  Bedeutung  zunehmen  werden,  daB  sie 
jetzt  erst  die  Spezialgeschafte  auffressen  und  —  hier  schneller, 
dort  langsamer  —  in  ihre  wahre  soziale  Funktion  hineingleiten 
werden. 

Die  Obergangszeit  ist  insofern  bitter,  als  die  Laden  und 
Schaufenster  —  ebenso  wie  die  groBen  Wohnungen,  die  keiner 
mehr  haben  will, —  nun  einmal  da  sind;  als  es  in  der  Welt 
liberall  an  Geld  und  wohlorganisierter  Staatsordnung  fehlt,  um 
einen  griindlichen  Umbau  der  Stadt,  vor  allem  der  GroBstadt 
vorzunehmen.  Dennoch  kann  ein  neues  Gesicht  der  Stadt 
schon  geahnt  werden.  Die  Stadt  der  Zukunft  wird  ganz  an- 
ders  aussehen  als  die  des  achtzehnten  Jahrhunderts;  darin 
aber  wird  sie  ihr  ahnlich  sein,  daB  ihr  Gesicht  nicht  mehr 
vom  Schaufenster  bestimmt  sein  wird,  Der  Warenverkauf 
wird  in  Zukunft  wahrscheinlich  in  staatlichen  Universalkauf- 
hausern,  in  Markthallen  und  auf  offenen  Markten  in  alien 
Stadtteilen    stattfinden,    in    LadenstraBen    an    den    Bahnhofen 

898 


oder  in  architektonisch  vorbestimmten  Verkaufszentren  in- 
ncrhalb  der  GroBsiedlungen  frei  aufgelockerter  Stadte,  Die 
Stadt  wird  wieder  in  charaktervoller  Weise  uniform  sein,  und 
das  ermoglicht  dann  architektonisch  eine  neuc  Monumentali- 
tat.  An  Stelle  der  Buntheit  tritt  neue  Einheit,  Mit  der  Verr 
kummerung  der  Laden  und  der  Schaufenster  wird  die  „Ge~ 
schaftsgegend"  an  Bedeutung  verlieren.  Und  auch  dieses  wird 
einer  Auflockerung  der  Stadte  zugute  kommen. 

Wir  haben  im  letzten  Jahrzehnt  gesehen,  wie  der  soge- 
nannte  GroBhandel  ausgeschaltet  und  zu  groBen  Teilen  ver- 
nichtet  worden  ist.  Das  Warenhaus  kauft  direkt  von  der  Fa- 
brik  und  umgeht  den  Zwischenhandel,  wo  es  kann.  In  diesem 
Sinne  wird  Zwischenhandel  iiberall  mehr  und  mehr  ausge- 
schlossen.  Das  ist  ein  organischer  Vorgang.  Damit  verschwin- 
det  aber  auch  das  Schaufenster,  Um  so  schneller,  als  sich 
die  qualitativ  stets  und  iiberall  gleichartigen  Markenwaren 
mehr  und  mehr  durchsetzen,  als  die  Kleinstadt  ebenso  belie- 
fert  werden  kann  wie  die  GroBstadt  und  als  der  Begriff  Mpro- 
vinziell"  nach  dieser  Seite  damit  seine  geringschatzige  Bedeu- 
tung verliert.  Je  mehr  die  Gesamtproduktion  des  Landes  der 
Staatsaufsicht  unterstellt  wird,  je  mehr  auch  die  groBen  Volks- 
bediirfnisse  und  die  Probleme  der  Verteilung  staatlich  geregelt 
werden,  um  so  unwesentlicher  muB  zwangslaufig  die  entner- 
vende,  unnatfirliche  Beschaftigung  des  Ladenbesitzers  werdenf 
der  bange  auf  Kundschaft  wartet,  um  so  unwichtiger  wird  das 
Schaufenster,  weil  es  andere  Mittel  und  Wege  gibt,  um  die 
Waren  in  die  Kanale  der  Nachfrage  zu  transportieren. 

Die  GroBstadt  ohne  Schaufenster!  Eine  fur  viele  noch 
unfaBliche  und  verhaBte  Vorstellung,  In  den  letzten  sieb- 
zehn  Jahren  ist  aber  manches  von  Grund  auf  zerstort  worden, 
was  ebenso  notwendig  und  unentbehrlich  schien.  Warum  soil 
dieser  ganze  zivilisatorische  StraBenzauber  nicht  so  schnellt  ja 
schneller  vergehen  konnen,  als  er  entstanden  ist?  Jahrtau- 
sende  sind  ohne  ihn  ausgekommen.  Sie  hatten  vielleicht  nicht 
eine  so  umfassende  und  reichglitzernde  Zivilisation;  dafiir  hat- 
ten  sie  etwas  anderes,  was  uns  heute  noch  Feierstunden  berei- 
tet:  Kultur. 


Theater  ohne  Buhne  von  Rudolf  Amheim 

SchluB 
Dem  Verzicht  auf  die  naturnahe  Biihiie  entspricht  eine 
immer  starkere  Betonung  des  Typischen  im  Individualvorgang 
der  Handlung.  Das  fiihrt  im  Extremfall  dazu,  daB  Spieler 
und  Vorgange  nur  noch  symbolische  Reprasentanten  sind, 
etwa:  „der"  Kapitalist,  ,,der"  Streik,  was  natiirlich  den  For- 
derungen  des  kollektivistischen  Weltbildes  sehr  entgegen- 
kommt.  Denn  zwar  ist  erzahlendel  Kunst  noch  niemals  etwas 
andres  als  Darstellung  des  Allgemeinen  durch  den  besondern 
Fall  gewesen  —  man  muB  schon  zu  so  perversen  Dingen  wie 
Schuhfetischismus  oder  speziellen  Idiosynkrasien  greifen,  um 
Beispiele  fiir  die  f,Privatgefuhle"  zu  bekommen,  von  denen 
nach    Ansicht    eingefleischter   Kunstrevolutionare    die    biirger- 

899 


liche  Kunst  voll  istl  — ,  und  zwar  laBt  sich  auch  jedes  aus  dem 
Oemeinschaftsleben  entnommene  Dramenthema  am  Schicksal 
«inzelner  Menschen  abhandeln,  aJber  es  konnte  ja  sein,  daB 
die  Heraushebung  eines  Einzelfalls,  und  sei  es  auch  nur  zum 
Zwcckc  des  Beispiels,  einem  streng  kollektivistischert  Fiihlen 
zuwiderliefe, 

Diese  Typisierung  soil  nun,  wie  man  in  den  durch  ihren 
unbedenklichen  Radikalismus  anregenden  Theorien  des  Brecht- 
Kollektivs  nachleseni  kann  (Bert  Brecht:  Versuche  1 — 12,  vier 
Hefte,  Gustav  Kiepenheuer  A.-GM  Berlin},  zugleich  eine  ge- 
fiihlsmafiige  Distanzierung  des  Zuschauers  von  der  Biihnen- 
handlung  bringen.  In  Brechts  dramaturgischen  Theorien  spielt 
eine  Zigarre  eine  wichtige  Rolle.  Es  ist  die  Zigarre,  die  der 
Zuschauer,  als  kiihler  (Begutachter  bequem  in  s einem  Parkett- 
sessel  lehnend,  raucht,  statt  sich  atemlos  und  klopfenden  Her- 
zeris  mit  den  erregenden  Schicksalen  der  Dramenfiguren  zu 
identifizieren.  So  gesellt  sich  zu  den  Feinden  des  neuen  Thea- 
ters auoh  noch  die  Feuerpolizei. 

Es  ist  nun  aber  recht  fraglich,  ob  diese  kiihle  Tempera- 
iur,  die  den  Schauspieler  wie  das  Publikum  umiachelt  und  den 
Zuschauer  dlazu  bringen  soil,  zu  urteilen  und  die  Moral  von 
der  Geschicht  zu  bedenken  statt  nur  mitzufuhlen,  nicht  die 
notwendige  Voraussetzung  fur  den  Kontakt  raubt,  der  erst 
den  Anreiz  zum  Nachdenken  gibt:  werden  die  Zigarrenwolken 
gar  zu  dicht,  so  ist  das  Theaterspiel  auf  dem  Podium  nichts 
Besseres  mehr  als  die  Musikkapelle  in  einem  Konzertcafe 
—  man  hort  nicht  mehr  zu  und  erzahlt  sich  Witze.  Brecht 
sagt  im  ,,Lesebuch  liir  Stadtebewo'hner"; 

Wenn  ich  mit  dir  rede 

Kalt  und  allgemein 

Mit  den  trockensten  Wortern 

Ohne  dich  anzublicken 

(Ich  erkenne  dich  scheinbar  nicht 

In    deiner    besondern  Artung    und    Schwierigkeit) 

So  rede  ich  doch  nur 

Wie  die  Wirklichkeit  selber 

(Die  michterne,  durch  deine  besondre  Artung 
/  -  unbestechliche 

Deiner    Schwierigkeit    uberdrussige) 

Die  du  mir  nicht  zu  erkennen  scheinst 
Aber  die  Wirklichkeit  redet  ja  grade  nicht  kalt  und  allgemein 
sondern  warm  und  speziell.  Sie  redet  zuerst  zu  den  Gefuhlen 
und  erst  danni  zum  Verstand.  Sie  bringt  Erlebnisse  und  keine 
Lehrsatze,  Sie  blickt  dich  imnxer  an.  Und  grade'  so  soil  die 
Kunst  aui  dem  Wege  uber  das  Erlebnis,  tiber  die  erregende  An- 
schauung,  deuten  und  belehren.  Dadurch  unterscheidet  sie 
sich  von  abstrakten  Ableitungen. 

Daft  Mitgefuhle  die  Erkenntnis  und  Lehrwirkung  aus- 
schlieBen,  behauptet  ein  im  Grunde  kunstfeindlicher  Puritanis- 
mus,  der  sich  in  die  Fahne  der  politischen  Aufklarung  htillt, 
urn  seine  leibliche  Diirre  zu  bedecken.  Die  beruhmte  „Trieb- 
schwache"  des  modemen  Menschen,  die  sich  ja  auch  auf  die 
Kunsttriebe  erstreckt,  findet  hier  willkommene  Entschuldi- 
gungsgriinde.  Bei  Brecht  selbst,  in  dem  zugleich  ein  ver- 
krampfter  Fanatiker  und  ein   echter,   kluger   Kiinstler  steckt, 

900 


steht  dauernd  neb  en  prachtvoll  anschauungsgesattigten  Zeilen 
von  echter,  volkstiimlicher  Schlichtheit  erschreckend  Ertiiftel- 
tes,  Erkliigeltes  —  erschwitzte  Quintessenzen.  In  der  prach- 
tigen  Lindbergh-Ballade  gelingen  ihm  Verse  wie  diese: 

Zu  der  Zeit,  wo  die  Menschheit 

Anfing  sich  zu  erkennen 

Haben  wir  Wagen  gemacht 

Aus  Holz,  Eisen  und  Glas, 

Und  sind  durch  die  Luft  geflogen, 

Und  zwar  mit  einer  Schnelligkeit,  die  den  Hurrikan 

Um  das  Doppelte  iibertraf 

Und  zwar  war  unser  Motor 

Starker  als  hundert  Pferde 

Aber  kleiner  als  ein  einziges. 

Tausend  Jahre  fiel  alles  von  oben  nach  unten 

Ausgenommen  der  VogeL 

Selbst   auf   den   altesten   Steinen 

Fanden  wir  keine  Zeichnung 

Von  irgend  einem  Menschen,  der 

Durch  die  Luft  geflogen  ist 

Aber  wir  haben  uns  erhoben. 
Das  sindi  wichtige  Anlange  jener  unexklusiven,  aber  aesthe- 
tisch  gehaltvollen  Volkskunst,  auf  die  wir  alle  hinarbeiten. 
Aber  diese  selbe  Lindbergh-Ballade,  wahrhaftig  doch  der 
Extremtyp  eines  individualistischen  Unternehmens,  ein  Helden- 
lied  alten  und  ewigen  Schlages,  wird  gewaltsam  zu  einem  Kol- 
lektiv-  und  Gesinnungsstiick  umgebogen,  indem  eine  ideolo- 
gische  Einlage  aufgepappt  und  der  Lindbergh-Part  von  einem 
Chor  (,,Die  Lindberghs"!)  gesungen  wird.  Das  sind  bedauerliche 
Kindereien.  Oder  es  finden  sich  in  den  „Lehrstucken"f  die  ja 
doch  fur  Proletarier  bestimmt  sind,  Formulierungen  von  so 
gepreBter  Konzentriertheit,  daB  sich  die  Spriiche  des  Lao-Tse 
dagegen  wie  ein  Kriminalroman  lesen.  Etwa  im  ,,Badener 
Lehrstiick": 

Dennoch  raten  wir  euch,  der  grausamen 

Wirklichkeit 

Grausamer  zu  begegnen  und 

Mit  dem  Zustand,  def  den  Anspruch  erzeugt 

Aufzugeben  den  Anspruch,    Also 

Nicht  zu  rechnen  mit  Hilfe. 
Damit  ist  gemeint:  In  einem  kollektiven  Zukunftsstaat  wird 
keine  Hilfe  mehr  notig  sein;  d'arum  verweigert  sie  schon  jetzt, 
denn  sie  hindert  die  Revolution,  Gut,  aber  wer  soil  d;as  ver- 
stehen?  Zumal,  wenn  er  es  nicht  in  Ruhe  liest  sondern  von 
der  Buhnc  herab  hort? 

Solche  Einwande  und  andre,  besonders  auch  gegen  die 
ideologisch  oft  erstaunlich  sehiefen  Fabeln  der  Stiicke,  las- 
sen  sich  gegen  die.  neuen  TheaterbestrebaiAgen  erheben.  Zu- 
mal das  Brecht-Kollektiv  macht  einem  die  Sympathie  nicht 
leicht  durch  die  kuhle  Forschheit  des  Tons,  die  unecht  wirkt, 
die  pseudowissenschaftliche  Pedanterie,  die  kindlich  ist,  und 
die  pathetische  Padagogik,  die  leider  nicht  nur  die  Sache  blu- 
tig  ernst  nimmt  sondern  auch  sich  selbst.  Und  daB  es  keine 
gefahrlichere  Eigenschaft  fiir  einen  Padagogen  gibt,  als  wenn 
er  sich  zu  ernst  nimmt  weiB  jeder,  der  einmal  Schiller  ge- 
weseh   ist, 

901 


All  das  aber  andert  nichts  an  der  Tatsache,  daB  hier  die 
notwendige  und  charaktcristische  Theaterarbeit  unsrer  Zeit 
fiir  die  Zukunft  geleistet  wird  und  nicht  in  dem  von  der  Aus- 
zehrung  gehetzten  Betrieb  der  groBen  Geschaftstheater,  in 
deren  Foyers  die  Seidenschleppen  und  die  Pleitegeier  rauschen. 
Wer  ein  Mensch  von  'heute  ist,  wirdi  fiir  das  Theater  von  ge- 
stern  wenig  Anteil  mehr  aufbringen.  Er  wird  sich  aber  im 
Innersten  angertihrt  fiihlen  etwa  von  einer  Auffiihrung,  wie  sie 
vor  vierzehn  Tagen  in  der  berliner  Volksbiihne  vom  Kinder- 
chor  des  Berliner  Volkschors  und  den  Choren  der  weltlichen 
Schule  (Letter: /Walter  Hanel,  Otto  Zimmermannt  Gustav 
Schulten)  veranstaltet  wurde.  Die  grofle  Biihne  yollgestellt 
init  Kindern  in  bunten  Alltagskleidern,  anzusehen  wie  ein  rie- 
siger  WickenstrauB,  ein  paar  Musiker  mit  ihrem  Dirigenten, 
und  im  Vordergrund  ein  Dutzend  ubermiitiger  kleiner  Schau- 
spiel-er,  stolz,  selbstbewuBt  und  kokett  wie  alle  echten  Kin- 
der. Unmarchenhafte  Spiele  von  Ozeandampfern  und  Rund- 
funksendern,  Abenteuer  aus  Neukolln  —  und  doch  ganz  kind- 
licb.  Und  hier  waren  alle  die  Theaterformen  von  morgen; 
die  Verbindung  von  Chor  und  Darsteller,  von  Dialog  und  Lied, 
das  Schauspielen  ohne  Biihne,  ohne  Dekoration  und  ohne 
Kostiime.  Wenn  man  sah,  mit  welcher  Selbstverstandlichkeit 
kindliche  Phantasie  ohne  die  auBeren  Vortauschungen  der 
iiblichen  Biihne  auskam,  wie  fiir  sie  Theater  dasselbe  Ding 
war  wie  Spiel  und  Musik,  dann  konnte  man  verstehen, 
daB  es  sich  hier  nicht  um  Neuigkeiten  verriickter  Revolutio- 
nare  handelt  sondern  um  Uraltes,  Natiirliches,  das  mit  Not- 
wendigkeit    wieder    auftritt. 


Preufiens  Abschied  von  Weimar  Bembar°d  citron 

Am    1.    Juli    1932   hat  der  Reichsprasident   auf    Grund    des 
>*  Art  48  der  Reichsverfassung  die  Reichsexekutive  iiber 

den  Freistaat  PreuBen  verhangt.  Das  Gebaude  des  PreuBi- 
schen  Landtages  sowie  die  Staatsministerien  wurden  von  der 
Reichswehr  besetzt,  Der  Bayerische  Reiohsratsbevollmach- 
tigte  hat  dem  preufiischen  Staatsministerium  wohlwollende 
Neutralitat  zugesagt." 

Ware  es  wirklich  so  gekommen?  Oder  hatte  der  Reichs- 
prasident den  Freiherrn  von  Gayl  als  preuBischen  Diktator 
eingesetzt?  Man  braucht  kein  Federalist  zu  sein  —  die  preu- 
Bischen Stellen  haben  sich  bisher  immer  zum  Einheitsstaat 
bekannt  — ,  um  ein  Reichskommissariat  fiir  PreuBen  abzuleh- 
nen.  Damit  ware  das  Gebiet  des  Freistaats  nicht  etwa  unter 
den  unmittelbaren  jEinfluB  des  Reiches  gekommen  sondern 
unter  ein  nicht  kontrollierbares  Diktatursystem.  Wichtige 
Ressorts  wie  Schutzpolizei  und  Kultus  unterliegen  der  Landes- 
gesetzgebung.  Bei  Einsetzung)  des  Reichskommissariats  wa- 
ren diese  Obliegenheiten  nicht  auf  die  ordentliche  Reichs- 
gesetzgebung  sondern  auf  den  Freiherrn  von  Gayl  als  preuBi- 
schen Vormund  iibergegangen.  Die  preuBische  Regierung  wurde 
also  mit  ErlaB  ihrer  Notverordnung  zur  Sicherung  der  Finan- 
zen  eine   Gefahr    sowohl   fiir    die  Selbstandigkeit    des  Staates 

902 


PreuBen  als  audi  fiir  die  Erhaltung  der  demokratischen  Ver- 
waltung  abgewendet  haben,  —  wenn  die  Moglichkeit  eines 
Reichskommissariats  iiberhaupt  bestanden  hatte,  Ein  so  ent- 
scheidender  Schritt  zum  Einheitsstaat  ware  aber  von  der  kon- 
servativen  Regierung  Papen  aus  Riicksicht  auf  die  foderali- 
stischen  Elemente  inner-  und  besonders  auBerhalb  PreuBens 
nicht  zu  erwarten  gewesen. 

So  hat  die  preuBische  Regierung  ihren  Gegnern,  getreu  bis 
in  den  Tod,  den  letzten  groBen  Gefallen  erwiesen,  ihnen  die 
unpopularsten  MaBnahmen  zum  Ausgleich  des  Etats  abzuneh- 
men.  Selbst  der  Chance,  die  Verantwortung  fiir  die  Notver- 
ordnung  auf  den  neuen  Kurs  im  Reich  abzuwalzen,  hat  sich 
Preufien  begeben.  Finanzminister  Klepper,  der  das  MiBfallen 
des  Reichspsasidenten  erregte,  weil  er  in  seiner  einstigen  Ei- 
genschaft  als  President  der  PreuBenkasse  nicht  vor  dem  frii- 
hern  Generalfeldmarschall  von  Mackensen  aufgestanden  ist, 
scheint  sich  durch  eine  Verbeugung  vor  dem  General  von 
Schleicher  jetzt  als  ,,Gutgesinnter"  wieder  in  Gnaden  aufneh- 
men  zu  lassen.  Nach  seinen  Erklarungen  ist  namlich  die^neue 
Reichsregierung,  die  bekanntlich  das  Siedlungsprogramm  Brii- 
ning-Braun  fiir  ein  bolschewistisches  Projekt  halt,  an  den 
Finanzschwierigkeiten  PreuBens  unschuldig.  Auch  die  friihere 
Reichsregierung  hatte  ihr  Versprechen,  dem  Freistaat  Preu- 
Ben  hundert  Millionen  Mark  fiir  die  Beteiligung  an  den  Sied- 
lungsgesellschaften  zu  zahlen,  nicht  erfullen  konnen.  Noch  nie 
hat  eine  Partei  ihrem  Gegner  freiwillig  einen  so  glanzenden 
Alibibeweis  geliefert, 

Der  preuBiache  Etat  ist  durch  die  Ersparnisse  aus  drei 
hochst  unpopularen  MaBnahmen  —  der  Beamten-Zwangsspar- 
kasse,  der  Schlachtsteuer  und  der  Herabsetzung  der  Hauszins- 
steuer-Freiheit  —  entlastet  worden.  Die  moralische  Belastung  hat 
die  scheidende  PreuBenregierung  iibernommen.  Es  ist  schwer, 
sich  bei  soviel  ,,Verantwortungsbewufitsein"  vor  den  Wahlern 
zu  verantworten.  Tragischer  konnte  die  letzte  Insel  der  De- 
mokratie  nicht  in  den  reaktionaren  Fluten  versinken  als  mit 
dieser  Notverordnung-  Die  gelasterten  Trager  des  „Wohl- 
fahrtsstaates"  haben  bei  ihrem  Abgang  durch  unsoziale  MaB- 
nahmen nur  ihren  Nachfolgern  gedient,  die  Unitarier  haben  als 
letzte  Rettung  das  Banner  des  Foderalismus  aufgepflanzt.  Nicht 
zufallig  enthalt  die  preuBische  Notverordnung  die  Einfiihrung 
des  Binnenzolls  auf  Reischwaren.  Warum  mufite  grade  die 
letzte  Koalition,  deren  Symbol  Weimar  gewesen  istf  selbst 
den  We g  ins  vormarzliche  Deutschland  weisen? 


Zu  dieser  Regierung 


Cie  miissen  nicht  glauben,  daB  man  dadurch,  daC  man  Minister  wird, 
^   sofort  wesentlich  kliiger  und  einsichtiger  wird. 

Bismarck  im  Landtag,  28.  1.  1884. 
* 
Die  vom  Adel  maBen  sich  an,    und    wollen    regieren;    aber    sie 
kfinnens  noch  verstehens   nicht . . .    Ein  schlechter  Papst  kann  besser 
regieren  denn  hundert  vom  Adel. 

Luther  in  den  Tischreden 

903 


Wenn  eena  jeborn  wird  von  Theobald  Tiger 

Allemal   fiir   Paulchen 

Wfu  liechste  da,  du  kleene  Krote! 

Siehst  aug  wie  ne  jebadte  Maus, 
Na  lafi  man,  do  —  der  olle  Joethe, 
der  sah  als  Kind  nich  schecna  aus, 

Und  hier  —  ick  bring  da  ooch  wat  mit! 
Tittittittittitt  — ! 

Die  Neese  haste  ja  von  Vatan, 
Det  Maulchen,  wo  de  dir  drin  wuhlst, 
da  sachste   denn  den  Jrang  im  Schkat   an,< 
Wolln  hoffen,  dette  bessa  spielst 
als  wie  der  Olle,  dein  Papa! 
Allallallalla  — ! 

Un  seh  mah!    Hast   ja  richtich  Haare! 
Die  hat  dir  Mutta  mitjejehm. 
Du,  Mensch,  det  is  ne  wunderbare 
un   liebe   Frau  —  nur  etwas   unbequem, 

Dein  Olla,  der  macht  yor  ihr  Kusch  . . . 
Puschpuschpuschpuschpusch  — ! 

Sieht  man  dir  durch  de  Neese  schnauhm 
un  wie  du  mit   die  Beenchen  tanzt  — : 
denn  sollte  man  det   jahnich  jlauhm, 
wie  jemeine  du  mal  wern  kannst. 
Wa  — ? 

Ach,  Menschenskind,  ick  wer  da  sahrn: 
Schlach  du  nach  VatanI    Hor  ma  an! 
'  Du  kannst   ja  ooch  nach  andre   schlahrn  . . , 

Na,   wirste   denn  als   junga  Mann 

jenau    so    dof   wie   Onkel   Fritz? 
Zizzizzizzizzizz  — ? 

Da   liechste  nu  in  deine  Wieje 

un  fangst  noch  mah  von  vorne  an, 

Na,  Mensch,  ob  ick  mah  Kinda  krieje? 

Man   jloobt    ja   imma  wieda   dran. 

Du  machst  dir  nu  die  Windeln  voll 
und  weeflt  nich,  wat  det  heifien  soil, 
wenn  eena  dir  mit  Puda  fecht, 
dir  abwischt   un   dir  trocken   lecht , , , 
Denn  loofste  rum, 
klug  oda  dumm . . . 
Un  machst  den  janzen  Lebensskandal 
alles  nochmal,   alles   nochmal   — ! 

904 


Bemerkungen 

Ein  weiser  und  gerechter  Richter 

In  eincr  kleinen  ostdeutschen 
*  Stadt  hat  sich  eine  Familien- 
tragodie  von  ungewohnlichen  Aus- 
mafien  ereignet:  ein  Mann,  der 
in  gliicklicher  Ehe  lebte,  verlor 
seine  Frau,  die  Mutter  seiner 
zwei  Sonne,  an  den  Folgen  eines 
Abtreibungsversuches.  Die  zweite 
Frau  war  die  bose  Stiefmutter 
der  alten,  grausamen,  dunklen 
Marchen.  Sie  hat  nicht  nur  die 
Kinder  schlecht  behandelt,  sie  hat 
ihnen  auch  nach  dem  Leben  ge- 
trachtet  und  hat,  anders  als  im 
Marchen,  wo  Schutzengel  fremde 
Prinzen,  Feen  oder  Geister 
der  toten  Mutter  zu  Hilfe  eilen, 
ihr  scheuBliches  Werk  vollendet. 
Es  ist  kaum  ein  Zweifel  moglich, 
dafi  die  Lehrersfrau  Ziehm  in 
{Juben  ihre  beiden  kleinen  Stief- 
sohne    ermordet    hat, 

In  solchen  Fallen  ist  es  ebenso 
sinnlos  wie  ublich,  dem  Geschick 
mit  Wenn  und  Aber  zu  Leibe  zu 
riicken.  Wenn  die  erste  FVau 
Ziehm  am  Leben  geblieben  ware, 
so  lebten  aller  Wahrscheinlich- 
keit  nach  auch  noch  ihre  un- 
schuldigen  Kinder.  Wenn  der 
Ziegelstein  gefallen  oder  nicht  ge- 
fallen  ware  —  ein  miifiiger  Zeit- 
vertreib    der    Verzweiflung. 

In  diesem  Fall  allerdings  ist 
ein  bestimmtes  Wenn  und  Aber 
sehr  naheliegend.  Wer  hat  heute 
den  Mut,  ein  drittes  Kind  in  die 
Welt  zu  setzen  ?  GewiB  nicht 
die  Frau  irgend  eines  mafiig 
bezahlten  Lehrers.  Es  kon- 
nen  noch  andre  Griinde  mit- 
gespielt  haben  —  man  braucht 
nicht  alle  Moglichkeiten  aufzu- 
zahlen.  Es  gibt  ihrer  genug,  je- 
der  kennt  sie.  Aber  es  gibt  auch 
den  Paragraphen  218.  An  ihm  ist 
Frau  Ziehm  vermutlich  gestorben. 
Kein  Arzt,  der  sich  zu  dem  „Ver- 
botenen  Eingriff"  bereit  fand  — 
also  Kurpfuscherin,  Fieber,  Tod, 
man  hat  es  tausendmal  gehort 
Wenn  die  Millionengegnerschaft 
des  §  218  so  skrupellos  ware  wie 
seine  Befurworter,  so  konnte  sie, 
ihn  aufier  mit  dem  Tod  der  Frau 
Ziehm    auch    mit    dem    ihrer    er- 


mordeten  Kinder  belasten  und 
handelte  damit  nicht  einmal  so 
ganz    skrupellos. 

Das  blieb  dem  Prozefivorsit- 
zenden  vorbehalten,  dem  Land- 
gerichtsdirektor  WeiB.  Er  bekam 
es  fertig,  in  der  Begrundung  des 
Urteils  zu  erklaren,  daB  „die  Ab- 
treibung,  an  der  die  erste  Frau 
Ziehm  gestorben,  zum  Fluch  ge- 
worden  seil"  Der  Toten  wurde 
gewissermafien  ins  Grab  hinein 
nicht  nur  die  Schuld  am  eignen 
vorzeitigen  Ende  sondern  auch 
an  dem  grauenvollen  Geschick 
ihrer  Sohne  aufgeburdet,  Sie  hat 
sich  gegen  das  heilige  Gesetz  des 
Lebens  vergangen  und  mufi  da- 
fiir  biifien  bis  ins  dritte  und 
vierte  Glied,  das  ja  nun  nicht 
mehr  zur  Welt  kommen  kann. 
Dies  alles  vermutlich  noch  einem 
verzweifelten  Vater  ins  Gesicht. 
Ist  eine  groltere  Brutalitat,  eine 
argere  Erigstirnigkeit  und  Schein- 
heiligkeit   denkbar? 

Fiir  diesen  Richter  gibt  es  kei- 
nen  Fall  Wolf-Kienle  und  keine 
Landarztkartothek,  wie  Alfred 
Grotjahn  sie  kurz  vor  seinem 
Tode  der  Offentlichkeit  uber- 
macht  hat.  Es  gibt  keine 
Volksmeinung  und  keine  Tat- 
sachen,  die  die  Theorie  dieses  Pa- 
ragraphen langst  ab  absurdum  ge- 
fiihrt  haben.  Es  gibt  nur  ihn  selbst, 
den  sinnlos  gewordenen  §  218.  und 
er  hiitet  ihn,  ein  erstarrter  Paladin 
geschriebener  Gesetze,  die,  je  al- 
ter sie  werden,  sich  mehr  und 
mehr  von  Recht  und  Gerechtig- 
keit  entfernen.  Ein  weiser,  ein 
gerechter  Richter!  Der  Staat, 
der  sich  mit  dem  eisernen  und 
eisigen  Glauben  an  die  Gottahn- 
lichkeit  seiner  von  Menschen  ge- 
machten  Gesetze  aufrecht  erhalt 
— •  der  Staat  mag  seine  Freude 
an  ihm  haben. 

Hans  Glenk 

Erik  Jan  Strafler 

Als  ich  hier  vor  etwa  einem 
Jahr  (193if  Heft  30)  einBild 
von  den  Anschauungen  der  „Re- 
volutionaren  Nationalsozialisten", 
der    Gruppe     um     Otto     StraBer, 

905 


zu  zeichnen  versuchte,  da 
hagelte  es  in  den  beiden  Erwi- 
derungen  von  StraBer  und  Her- 
bert Blank  nur  so  von  Kraftaus- 
drucken,  mit  denen  sie  meine 
Charakterisierung  ihrer  metaphy- 
sischen  Verschwommenheit  be- 
dachten.  Damals  offentlich  zu  re- 
plizieren,  haben  wir  uns  versagt, 
weil  bei  der  Verschiedenheit  der 
Sprache,  die  die  Gegner  sprechen, 
Auseinandersetzungen  tiber  solche 
Prinzipienf  ragen  kaum  j  e  zu 
einer  Klarung  ftihren  konnen.  Es 
kam  ja  auch  nicht  darauf  an, 
den  Gegner  zu  iiberzeugen,  son- 
dern  darauf,  zu  zeigen,  wohin  es 
fiihrt,  wenn  man  sich  jener  Ab- 
kehr  von  der  (iibrigens  gar  nicht 
existierenden)  Vorherrschaft  des 
Geistes  und  der  Hinwendung  zu 
der  Vorherrschaft  der  Seele  an- 
schlieBt,  namlich  unmittelbar  in 
eine  gefahrliche  Uberschatzung 
alles  Innerlichen,  —  gefahrlich, 
weil  die  Machtigen  dieser  Erde 
mit  diesem  Opium  immer  das 
beste  Geschaft  gemacht  haben. 
Damals  habe  ich  mir,  auch  von 
befreundeter  Seite,  sagen  lassen 
mtissen,  man  tate  StraBer  un- 
recht,  wenn  man  seine  Erkennt- 
nisse  ironisiere,  man  miisse  das 
„ernster"  nehmen.  Ernst  genug 
haben  wir  ja  hier  die  Gefahren 
diefier  Verachtung  alles  Geisti- 
gen  genommen,  —  wie  richtig 
aber  die  Ironisierung  war,  das 
zeigt  das  Blatt  StraBers  ,Die 
schwarze  Front'  in  einem  „ — r" 
gezeichneten,  am  29.  Mai  er- 
schienen  Artikel  iiber  Hanussen: 
,,Das  Maiprogramm  der  ,Scala' 
hat  sich  mit  Hanussen  eine  Sen- 
sation gesichert,  die  weit  iiber 
den  Rahmen  eines  iiblichen 
Varieteprogramms  hinausging. 

Das  nicht  nur  der  Form,  sondern 
vor  allem  dem  Inhalt  nach.  Es 
ist  gewifl  augenblicklich  Mode- 
sache,  daB  Hellsehen,  Astrologie, 
Chiromantie  usw.  so  hoch  im 
Kurs  stehen,  aber  dem  in  gro- 
Ben  Zusammenhangen  denkenden 
Betrachter  erscheint  all  das  doch 
mehr,  als  nur  blofier  Zufall,  Ge- 
rade  wir  konservativen  Revolu- 
tionare  haben  ein  Empfinden  da- 
fur,  dafl  in  alien  diesen  Er- 
scheinungen  —  so  unvollkommen, 
so  chaotisch,  so  problematisch  sie 

906 


im  einzelnen  sein  mogen  —  sich 
doch  jene  neue  Epoche  der  In- 
nerlichkeit  kiindet,  j  ene  Herr- 
schaft  der  Seele,  die  an  Stelle 
der  Herrschaft  des  Geistes  tritt 
wie  sie  die  liberale  Aera  aus-' 
fiillte.  Es  war  geschickt  und  wir- 
kungsvoll,  dafi  Hanussen  in  sei- 
nen  Einleitungs-  und  SchluBwo:*- 
ten  diesen  ailgemeinen  Rahmen 
absteckte  und  seine  speziellen 
Darbietungen  in  ihn  einfiigte.  Er 
hob  sie  dam  it  tiber  die  Zufallig- 
keit  hinaus,  die  ihnen  innerhalb 
dieses  Rahmens  zwangslaufig  an- 
haf ten  muBte ;  dennoch  gebietet 
es  die  Chronistenpflicht,  festzu- 
stellen,  daB  selbst  in  diesem 
Rahmen  die  Experimente  fast 
restlos  gelangen  und  eine  ge- 
radezu  verbliiffende  Leistung  dar- 
stellten.'* 

Also  dieser  Charlatan,  dem 
grade  j  etzt  die  kommunistische 
Presse  dankenswerterweise  aufs 
Fell  zu  rucken  beginnt,  indem 
sie  Fall  fiir  Fall  seiner  angfcb- 
lichen  Prophezeiungen  auf  Ent- 
stehen  und  Wahrheitsgehalt 
pruft,  —  dieser  Mann,  der  unter 
geschickter  Ausnutzung  unsrer 
trostlosen  Zustande  es  versteht, 
den  Menschen  seine  Taschenspie- 
lerkunststiicke  als  Offenbarungen 
einer  vierten  Dimension  zu  offe- 
rieren  und  ihnen  da's  Geld  aus 
der  Tasche  zu  ziehen,  —  ausge- 
rechnet  dieser  Herr  dient 
StraBer  und  seinem  Kreis  als  Be- 
weis  fiir  das  Streben  nach  Ver- 
innerlichung.  Hatten  wir  da  nicht 
recht,  wenn  wir  sagten,  daB  von 
dieser  Richtung  her  nichts  andres 
zu  erwarten  ist  als  der  ganze 
Wust  von  mittelalterlichem  Aber- 
glauben  mit  den  WeiBenbergs, 
den  Zeileis  und  den  Hanussens? 
Diese  „Revolutionare",  diese  „So- 
zialisten"  haben  noch  immer  nicht 
begriffen,  daB  die  Propagierung 
derartigen  Unfugs  nur  zu  gern  von 
jenen  Gewalten  gesehen  wird,  die 
damit  um  so  besser  im  Reich  des 
Materiellen  ihre  Herrschaft  aus- 
iiben  konnen.  Eine  kleine  Glosse, 
die  dokumentiert,  daB  hinter  der 
Phrase  „konservative  Revolutio- 
nare"  sich  nur  eine  besonders  ge- 
schickt getarnte  Reaktion  verbirgt. 

Und  noch  etwas  bestatigt  die- 
se   eigentumliche     Variet^-Kritik: 


diese  Leute  konnen  nicht  den- 
ken,  sie  verwickeln  sich  dau- 
ernd  in  Widersprtiche,  Vor 
einem  Jahr  schrieb  StraBer  in 
seiner  Antwort:  „. ,  -  wir  reihen 
den  hypertrophisch  gewordenen 
Geist  nur  wieder  richtig  ein,  in 
jene  Dreiheit  Korper-Geist-Seele, 
innerhalb  deren  es  keine  Priori- 
tat  gibt,  sondern  die  eben  eine 
Totalitat  bilden.  Hypertrophic  je- 
der  einzelnen  Kraft  wurde  glei- 
chermaBen  zur  Schadigung  der 
Totalitat  fuhren  —  das  gilt  nichtv 
nur  gegeniiber  dem  Geist!"  So 
damals,  und  heute:  „, . .  jene  Herr- 
schaft  der  Seele,  die  an  Stelle 
der  Herrschaft  des  Geistes  tritt, 
wie  sie  die  liberale  Ara  auszeich- 
nete."  Wer  hat  nun  recht? 
StraBer  oder  Herr  „ — r"?  Mir 
scheint,  sie  wissen  es  beide  nicht 
genau. 

Walther  Karsch 

Jugendschutz  und  Filmzensur 

r^er  Reichsverband  deutscher 
■^  Lichtspieltheater  hat  auf  sei- 
ner frankfurter  Generalversamm- 
lung  unter  anderm  die  Herab- 
setzung  des  Jugendschutzalters  im 
Lichtspielgesetz  von  achtzehn  auf 
vierzehn  Jahre  gefordert.  Hier- 
mit  wird  die  seit  Bestehen  des 
Lichtspielgesetzes  viel  umstrittene 
Frage  des  Jugendschutzes  erneut 
aktuell.  Wenn  eine  so  weit- 
gehende  Forderung  wie  die  Her- 
absetzung  des  Schutzalters  auf 
vierzehn  Jahre  ausgesprochen 
wird,  so  muB  man  sich  wohl  dar- 
iiber  klar  sein,  wie  weit  sie  ver- 
wirklicht  werden  kann  und  ob 
ihre  Verwirklichung  von  Nutzen 
sein  wird. 


Nach  §  3  des  Lichtspielgesetzes 
diirfen  Jugendliche  unter  achtzehn 
Jahren  nur  solche  Filme  be- 
suchen,  die  ausdriicklich  fiir  sie 
zugelassen  sind,  Diese  besondere 
Zulassung  hat  nach  dem  Gesetz 
dann  zu  unterbleiben,  wenn  der 
Film  geeignet  ist,  eine  schadliche 
Wirkung  auf  die  sittliche,  geistige 
und  gesundheitliche  Entwicklung 
der  Jugendlichen  auszuuben  und 
ihre  Phantasie  zu  verderben  oder 
zu  iiberreizen.  Das  sieht  in  der 
Praxis  so  aus: 

„Die  Darstellung  der  Geburt  eines 
Kalbes  vor  Jugendlichen"  wird  verboten, 
denn  sie  „ist  geeignet,  die  geistige  Ent- 
wicklung jugendlicher  Beschauer  zu  ge- 
fahrden."  y 

Die  Darstellung  eine/  Skeletts  mit 
Menschenkopf  ist  vor  Jugendlichen  ver- 
boten, denn  es  ist  zu  befiirchten,  dafl  sie 
„von  dem  Gesehenen  bis  in  ihre  Traume 
hinein  verfolgt  werden.  Das  bedeutet  eine 
Schadigung  ihrer  Gesundheit" 

Ein  anderer  Film  wurde  verboten,  ,,weil 
seine  Darstellung  in  Deutschland  ver- 
botener  Kinderarbeiten  in  auslandUcben 
Staaten  auf  die  deutschen  Jugendlichen 
verhetzend  wirken  und  ihre  geistige  Ent- 
wicklung gefahrdcn  wiirde." 

Ein  Reklamefilm  fiir  den  Bustenhalter 
„Hautana"  wurde  fur  zu  bedenklich  erklart, 

„Weil  ein  als  GrofiindustrieUer  sehr  be- 
kannter  alter  Mann  mit  einer  Mumie 
verglichen  wird,  mu0  die  Autoritat  des 
Alters  in  den  Kreisen  der  Jugendlichen 
EinbuBe  erleiden  und  dadurch  ebenfalls 
eine  die  sittliche  Entwicklung  der  Jugend- 
lichen gefahrdende  Wirkung  eintreten." 

Der  Film  „Im  Westen  nichts  Neues" 
wurde  auch  in  der  letzten,  die  offentlicbe 
VorfiihruDg  fur  das  ganze  Reich  ge- 
stattenden  Entscheidung  nicht  fiir  Ju- 
gendliche zugelassen. 

Aus  diesen  Entscheidungen  ist 
zu  ersehen:  die  Grenzen  der  Be- 
stimmung  sind  so  unscharf  gehal- 
ten,  daB  es  dem  freien  Ermessen 
des  Zensors  iiberlassen  bleibt,  das 
Jugendverbot  auszusprechen.  Die 
vom  Gesetz  geforderten  Voraus- 
setzungen  konnen   eben   eigentlich 


FQr  Carl   von  Ossietzky ! 

Dicser  Nummer  liegt  eine  Sammelliste  bei  fiir  die  von 
der  Liga  fiir  Menschenrechte  und  dem  PEN-Club 
(Deutsche  Gruppe)  veranstaltete  Petition  fiir  Carl  von 
Ossietzky.  Den  besonders  von  den  Betrieben  ausgehen- 
den  Anforderungen  nach  ihren  groBern  Sammellisten 
kann  die  Liga  nicht  mehr  nachkommen,  da  ihre  Exem- 
plare  vergriffen  sind.  Es  wird  deshaib  vorgeschlagen,  im 
Bedarfsfall  eigne  Sammellisten  mit  am  Kopf  aufgekleb-, 
tern  Petitionstext   herzustellen. 


907 


fast   immer    als   erftillt    angesehen 
werden. 

Das  Gesetz  selbst  bezweckt 
zweifellos,  die  Jugendlichen  zu 
ertiichtigen  und  lebensfahige 
Menschen  aus  ihnen  zu  machen. 
1st  es  nun  aber  fur  ihre  Entwick- 
lung  wirklich  giinstiger,  alles 
HaBliche  und  Schlechte  zu  ver- 
schweigen,  sie  in  Watte  zu  betten 
und  ihnen  das  Leben  rosenrot 
auszumalen?  1st  nicht  grade  im 
Gegenteil  die  spatere  Enttau- 
schung  schadigender? 

Nun  kommt  der  neue  Antrag 
auf  Herabsetzung  der  Altersgrenze 
auf  vierzehn  Jahre.  Es  fragt  sich, 
ob  diese  Neuerung  der  Jugend 
niitzen  wurde.  Was  wurde  erfol- 
gen,  wenn  wirklich  eine  Herab- 
setzung auf  vierzehn  Jahre  — 
oder  auch  nur  auf  sechzehn  Jahre 
—  erreicht  wiirde?  Dann  wtirden 
die  Priifstellen  ganz  automatisch 
ein  neues,  strengeres  MaB  bei  der 
Prufung  anlegen  und  glaiiben,  die 
mutmaBliche  Reife  der  Jugend- 
lichen  zwischen  vierzehn  und 
achtzehn  Jahren  mit  beriicksichti- 
gen  zu  miissen,  Das  wiirde  ohne 
Frage  auch  eine  ganz  bedeutende 
Verscharfung  der  allgemeinen  Zen- 
sur  zur  Folge  haben  und  die  ge- 
maB  §  1,  2  des  Lichtspielgesetzes 
nur  fur  Erwachsene  zugelassenen 
Filme  auf  ein  unertragliches,  je- 
des  freie  kiinstlerische  Schaffen 
aufs  gefahrlichste  hemmendes  Ni- 
veau bringen.  Es  ware  daher  viel- 
leicht  besser  zu  fordern,  daB  viel 
mehr  Filme  ganz  allgemein  auch 
fiir  Jugendliche  zugelassen  werden 
und  daB  der  fiir  die  Zulassung  vor 
Jugendlichen  angelegte  MaBstab 
etwas  gemildert  wird.  Eine  solche 
Forderung  ware  sicherlich  durch- 
zusetzen. 

Herbert  Veit  Simon 


Al  Capones  Marchenerzahler 

Wenn  ein  wirklich  smarter 
Junge  nach  Amerika  geht, 
dann  wird  er  heutzutage  Leib- 
gardist  bei  Al  Capone,  Kehrt  er 
dann  heim,  ist  es  ebenso  selbst- 
verstandlich,  daB  er  Memoiren 
schreibt,  in  denen  die  Fetzen 
fliegen,  das  Tack-Tack  der  Ma- 
schinengewehre  dauernd  das 
Trommelfell  peitscht  und  ein 
Menschenleben  nicht  mehr  gilt 
als  eine  Fliege.  Mit  der  Fest- 
stellung,  daB  schriftstellerische 
Begabung  und  Gestaltungskraft 
des  Unterweltlers  aus  Chikago 
sehr  mafiig  sind,  dafi  der  Leser 
bei  Wallace  viel  besser  bedient 
wird  als  hier,  ware  der  Fall  er- 
ledigt,  schliche  sich  nicht  unser 
Jack  Bilbo  in  Kreise  ein,  wo  er 
nichts  zu  suchen  hat,  Er  taucht 
namlich  auf  einmal  als  Reporter 
mit  einer  serios  sozialen  uad 
klassenkampferischen  Note  auf, 
wobei  er  seine  Sensationsartikel 
iiber  die  Kneipen  und  Bordelle 
Europas  gern  mit  kleinen  Rand- 
bemerkungen  durchflicht,  wie 
zum  Beispiel:  „Verzweifelt  griff 
ich  nach  Karl  Marx'  Satz,  daB 
der  Mensch  ein  Produkt  seiner 
Verhaltnisse    sei," 

Es  mag  vielleicht  stimmen,  daB 
Jack  Bilbo  verzweifelt  zu  irgend- 
welchen  Satzen  von  Marx  greift, 
daB  es  aber  mit  der  exakten  Be- 
obachtung  wirklicher  Erlebnisse 
in  seinen  Artikeln  nicht  stimmt, 
dafiir  ein  gutes  Beispiel.  Bilbo 
berichtet  von  Genua  und  baut  in 
seine  Reportage  iiber  diese  italie- 
nische  Hafenstadt  auch  eine  Epi- 
sode ein,  die  er  von  einer  ganz 
andern  Stadt  erzahlen  gehort  hat- 
Bilbo  will  in  Genua  ein  Risto- 
rante  kennen  gelernt  haben;  in 
dem    die    Stammgaste    ihre    Ser- 


Es  lafit  sich  nicht  vermeiden,  das  viele  Menschen,  fur  die  un- 
sere  AnkOndigungen  wichtig  wfiren,  nicht,  oder  doch  nur 
allzu  spat  davon  erreicht  werden.  Wir  miissen  darauf  bauen, 
dafi  jeder,  dem  die  Bo  Yin  Ra-Bflcher  zum  unersetzlichen  Lebens- 
besitz  wurden,  durch  die  Kraft  seiner  LebensfGhrung  andere  auf- 
merksam  werden  lafit  auf  das,  was  ihn  zu  erreichen  wufite.  Nur 
auf  diese  Weise  wurde  es  auch  bis  heute  moglich,  dafi  Bo  Yin 
Ra,  J.  Schneiderfranken,  Unzahligen  in  aller  Welt  zum  BegrQnder 
ihres  Lebensglttckes  werden  konnte.  Wir  empfehlen  Ihnen  sein 
neuestes  Buch  „Der  Weg  meiner  SchQler",  das  fiber  dieEigen- 
ait  seiner  Mitteilungen  Auskunft  gibt.  Preis  gebunden  RM.  6.—. 
Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 


908 


vietten  mittels  eines  kunstvoll 
geschlungenen  Knotens  kenntlich 
machen,  ehe  sie  die  Tiicher  auf 
ein  an  der  Wand  umlaufendes 
Paneelbrett  legen.  Jeder  Stamm- 
gast  hat  seinen  Spezialknoten,  an 
dem  er  seine  Serviette  erkennt, 
Die  Kiiche  in  dem  Restaurant 
sei  bemerkenswert  gut  gewesen, 
so  erzahlt  Bilbo,  aber  noch  be- 
merkenswerter  ware  der  Kellner, 
der  namlich  fiir  jeden  Stammgast 
seinen  Spezialknoten  erfand, 
„Seine  Lebensphilosophie  be- 
stand  aus  Knoten",  JheiBt  es  in 
Bilbos  Bericht,  „stolz  erklarte  er 
mir,  dafi  er  seit  26  Jahren  hier 
die  Gaste  bediene  und  alle  Kno- 
ten  entwerfe.  Er  kenne  etwa 
180  verschiedene  Arten." 

Hier"  hat  sich  Al  Capones 
Marchenerzahler  in  seinem  eignen 
Knoten  gefangen.  Ein  eisgrauer, 
seebefahrener,  von  Wind  und 
Wetter  gebraunter  und  von  der 
Salzluft  ausgedorrter  Segel- 
schiffsmatrose,  der  alle  Arten 
Knoten  zu  binden  kennt,  die  es 
auf  der  Welt  gibt,  vermag  26  bis 
30  verschiedene  zu  kniipfen. 
Mehr  geben  namlich  die  Tau- 
enden  nicht  her.  Und  alle  diese 
Verschlingungen  entwickeln  sich 
aus  ftinf  Grundformen.  Uberdies, 
und  das  ist  viel  entscheidender 
als  die  wilde  Knoten-Phantasie, 
steht  jenes  Restaurant,  wo  die 
Stammgaste  ihre  Serviette  durch 
einen  Knoten  kenntlich  machen. 
nicht  in  Genua.  Es  wachst  auf 
andrer  Erde,  namlich  tm  spar- 
samen  Siidfrankreich,  in  der 
tfleichen  Stadt  Aries,  wo  van 
Go<?h  gelebt  hat.  Aries  war  ein- 
mal  ein  Hafen.  Dort  gibt  es  eine 
kleine  Kneipe,  in  der  ehemalige 
Seebaren    verkehren.    Sie    beherr- 


schen  noch  selbst  die  Technik 
des  Knotenbindens  —  die  braucht 
ihnen  kein  Kellner  zu  erklaren  — 
und  ersparen  damit  ihrem  Stamm- 
wirt  die  Anschaffung  von  Ser- 
viettenringen. 

Warum  wir  diese  an  sich  sehr 
belanglose  Episode  erwahnen? 
Die  kommunistischen  Tageszei- 
tungen  sollten  sich  ihre  Leute  an- 
sehen,  ehe  sie  den  Lesern  solchen 
Unsinn  vorsetzen.  UberlaBt  doch 
der  biirgerlichen  Presse  diese  Sen- 
sationsberichte,  fiir  eure  Arbeiter- 
leser  miifite  euch  das  zu  schade 
sein.  Es  sollte  doch  nicht  einer 
bei  euch  im  Feuilleton  schwin- 
deln  diirfen,  was  er  will,  wenn 
die  Schilderung  nur  dadurch  ihre 
Sanktion  erhalt,  daB  die  klassen- 
kampferische  Note  nicht  zu  kurz 
kommt;  was  in  unserm  Fall  durch 
die  Erzahlung  geschieht,  wie  in 
dem  gleichen  Hafen  ein  Boots- 
mann  dem  Reisenden  die  Ein- 
ladung  zu  einer  illegalen  anti- 
fascistischen  Versammlung  von 
Arbeitern  in  die  Hand  druckt. 
Hein  Miick 
Nackttanz  in  Essen 

A  Is  das  entartete  Judenmadchen 
*^  Salome  vor  Konig  Herodes 
um  den  Kopf  Johannes  des  Tau- 
fers  tanzte,  lieB  sie  in  wohl- 
erwogener  Berechnung  einen 
nach  dem  andern  ihrer  sieben 
Schleier  fallen-  In  dem  Tanze, 
den  der  Gemeinniitzige  Bauver- 
ein  seit  Jahren  auf  der  Nase  sei- 
ner eignen  Genossen,  der  Stadt- 
verwaltungen  und  aller  rechtlich 
denkenden  Menschen  aufgefiihrt 
hat,  ist  gleichfalls  eine  Hiille 
nach  der  andern  gesunken. 
tNationalzeitung'  (NSDAP), 
Essen,  2.  6.  32 


der  neueste  sammelband  von  kurt 

TUCHOLSKY  •  PETER  PANTER  •  THEOBALD 
TIGER  •  IGNAZ  WROBEL  •  KASPAR  HAUSER 

Lerne  lachen  ohne  zu  weinen 


15.  TAUSEND  •   NEUE   VERBILLIGTE  PREISE 
KARTONN1ERT  4.80  •   LEINENBAND  6.50 

ROWOHLT    VERLAG    BERLIN    W   50 

909 


Ins  Deutsche  tibersetzt  Besonders 

P  s    kommt    zuweilcn    vor,    daB  C  s    waren   mir    doch    inzwischen 

*-•    der   Name   eines   Mamies   be-  *--  Bedenken      aufgestiegen,      ob 

zeichnend  fiir  den  Charakter  des-  der   Besucher   geistig    gesund    ge- 

selben    ist.      Ins    Deutsche    uber-  wesen    sei   oder   nicht,    besonders 

setzt,     lautete     derjenige     meines  weil    er  nach    der   Wohnung     des 

Besuches       Aeschylus      Hannibal  Reichsprasidenten    gefragt     hatte. 
Schleicher,       Das    war    gar   nicht 
empfehlend.  ,8-Uhr-Abendbtatt ,  7.   6.  32 

Karl  May,  ,Rio   de  la  Plata' 

Rabatt  von  oben  Liebe  WeltbMine! 

F\er     Hefti-Verlag       in       Zurich  V%  ie  beiden  Manner,  die  sich  am 

*-^   schreibt  an  den  Verleger  von  *^    tiefsten  hassen,    sind    Musso- 

Essad  Beys  „Verschw6rung  gegen  lini       und       d'Annunzio,        Aber 

die  Welt   (GPU.)":  d'Annunzio    ist    italienischer    Na- 

,,Sie   haben   mit   Ihrer   Ausgabe  tionalheiliger.  Darum        tele- 

der  GPU.   den  grofiten  Dienst  an  graphierte    ihm     der    Duce    zum 

der    Menschheit    getan,     und     ich  Jahresta^e    des    Eintritts   Italiens 

hoffe  nur*   dafl   aufier   Gottes   Se-  in  den  Krieg:  ,,Dir,  der  Du  Seele 

gen    auch    der    materielle    Segen  und   Flamme  der  Kriegserklarung 

Sie  begleiten   wird .  , .   Teilen   Sie  warst    und    Dich    alsbald    an    die 

uns    j  edenf alls    mit,    wie    Sie    das  Spitze      der     Inf anterie     stelltest, 

Buch    berechnen,     wenn     wir    pro  sende        ich       den       BruderkuB." 

hundert  Stuck  beziehen."  Prompt     lief    die     Antwort     vom 

Buchhdndlerborsenblatt,  Gardasee  ein:  „Ich  sende  Dir  den 

9.  5.  1932  KuB    zurtick." 

Hinweise  der  Redaktion 

Berlin 

Iudividualpsychologische  Gruppe.     Montag  20.00.    Klubhaus  am  Knie,    Berliner  Str.  27: 

Die  Wirkungen  der  Arbeiterbewegung  auf  die  EinzelpersonlichUeiti  Gebrg  Stolz,  — 

Montag.  (20.6.):   Der  orgiastische  Mensch,  Maximilian  Beck. 
Kamera,  Unter  den  Linden  14.    3,  5,  7,  9,  Uhr.    Dienstag  und  Mittwoch:  Murnau  -  Der. 

letzte  Mann.    Sonnabend  und  Sonntag:  Sternberg  —  Der  blaue  Engel.     Montag  und 

Dienstag  (20.  u.  21.):  Eisenstein   —  Potemkin  —  Turksib. 

Erfurt 

WeltbOhnenleser.    Montag  (20.6.)  20.15:  Zuaammenkunft  bei  Rohr  im  Jagdzimmer. 

Nfirnberg 

Weltbfihnenleser.  Donnerstag  20.15:  Erste  Zusammenkunft  im  Katharinenbau.  Inler- 
essenten  wollen  sich  melden  bei  Herrn  Dr.  Katz,  Ludwigstr.  1.    Tel. :  2157X 

Stuttgart 

Internationale  Arbeiterhilfe  und  Rote  Studentengruppe.  Donnerstag  20.00.  Burger- 
museum,  Lange  Str.  4B:  Kapitalistisches  und  sozialistisches  Recht,  Lotte  Barth. 

Bficher 

Irmgard  Keun:  Das  kunstseidene  Madchen.    Universitas  Verlags-A.-G.,  Berlin. 

Else  Lasker-Schuler:  Koozert.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Propheten  in  deutscher  Krise.    Herausgegeben  von  Rudolf  Olden.    Ernst  Rowohlt,  Berlin. 

Jules  Romains:  Jemand  stirbt.    Insel-Verlag,  Berlin. 

Antiquariatskatalog:  Sozialismus  und  Arbeiterbewegung.    Ipa,  Hamburg  36. 

Rundfunk 

Dienstag1.  Hamburg  1410:  Jgor  Strawmskij,  Schallplatten.  —  Mittwoch.  Mtthlacker 
22.00:  „Die  Hand"  von  Maupassant.  —  Donnerstag.  Leipzig  14.C0:  Kunst  h inter 
Kerkermauera,  Hermann  Noll.  —  Miihlacker  18.50:  Wirtschaftsverfassung  und 
Wirtschaltslage  der  Volker  Sitdamerikas,  Alfons  Goldschmidt.  —  Berlin  19.35: 
Heinrich  George  liest.  —  Hamburg  21.00:  Die  BottcherstraUe  in  Bremen,  —  Miihl- 
acker 21.00:  Michael  Reinhold  Lenz.  —  Freitajf-  Konigswusterhausen  18.30:  Das 
Reparationsproblem  vom  Standpunkt  der  internationalen  Arbeiterbewegung,  Theodor 
Leipart.  —  Leipzig  19.00:  Zum  50.  Geburtstag  Strawinskijs.  —  22.10:  Igor  Strawinskij. 
—  Sonnabend.  Berlin  18.00:  Die  Erzahlung  der  Woche,  Karl  Otten.  —  Sonntag. 
Berlin  12.10;  Helmut  Flieg  (Melchior  Douglas)  liest. 

910 


Antworten 

Freiherr  von  Gayl.  Sie  haben  im  Reichsrat  erklart,  dafi  Sie  die 
Monarchic  fur  die  Deutschland  angemessenste  Staatsform  halten. 
Trotzdem  bezeichnen  Sic  „das  Gerede  von  einer  geplanten  Anderung 
dcr  Verfassung  in  der  Richtung  der  Wicderaufrichtung  der  Monarchic" 
als  „torichtes  und  darum  schadliches  Geschwatz".  Wenn  Sie  die 
Monarchic  fur  „angemessen"f  die  Republik  also  fur  unangemesscn 
halten,  haben  Sie  doch  eigentlich  die  Pflicht,  alles  zu  tun,  urn  die 
unangemessene  Form  durch  die  angemessene  zu  versetzen,  Wenn 
Sie  das  nicbt  tun,  konnen  Sie  kein  starker  Logiker  sein.  Logisch  ware 
es  gewesen,  den  Ihnen  angebotenen  Posten  als  Verfassungsminister 
abzulehnen.  Um  den  Gewissenkonflikt  zwischen  Ihrer  Privatseele 
und  Ihrer  Ministerseele  beneiden  wir  Sie  jedenfalls  nicht, 

Kommunist.  Deine  Presse  freut  sich,  daB  es  gelungen  ist,  im 
Rechtsausschufi  des  Landtages  weitgehende  Amnestieantrage  durchzu- 
driicken,  Noch  ist  zwar  nicht  entschieden,  wie  sich  der  Landtag  dazu 
stellen  wird,  doch  gestatte,  daB  wir  schon  jetztj  einen  kleinen  kriti- 
schen  Zwischenruf  machen.  Wer  fallt  unter  diese  Amnestie,  die  ja 
nur  von  preuBischen  Gerichten  gefallte  Urteile  umfaBt?  Alle  Die, 
die  sich  ihrer  Oberzeugung  wegen  Diensstrafen  zugezogen  haben.  Gut* 
Wer  noch?  Der  Hochverrater  Scheringer?  Keine  Spur.  Der  angebliche 
Landesverrater  Carl  v.  Ossietzky?  Nicht  daran  zu  denken.  Sie  wurden  ja 
vom  Reichsgericht  abgeurteilt.  Dafiir  aber  all  die  Krawallmacher  und 
Totschlager.  Deine  Partei  ist  gegen  den  individuellen  Terror;  wir 
wissen  natiirlich  ebenso  gut  wie  sie,  auf  v.essen  Konto  die  meisten 
politischen  Mordtaten  kommen.  Aber  grade  weil  durch  diese  Am- 
nestie  die  Unmasse  der  nationalsozialistischen  Morder  und  Radau- 
bruder  freikommt,  wahrend  die  wirklichen  politischen  „Verbrecher" 
weitersitzen  miissen,  die  keiner  Fliege  ein  Haar  gekriimmt  haben,  die 
ihre  Oberzeugung  in  offener  Rede  und  Schrift  vertreten  haben  und 
nicht  mit  der  Revolverkugel  oder  gar  aus  dem  Hinterhalt,  eben  des- 
halb  halten  wir  diese  Amnestie  fiir  verderblich.  Die  Tatsache,  daB 
eine  ganze  Anzahl  deiner  Leute  freikommen,  die  wegen  politischer 
Morde  und  ahnlicher  blutiger  Delikte  hinter  Kerkermauern  geraten 
sind,  sollten  deine  Parteifreunde  wirklich  nicht  veranlassen,  dem 
nationalsozialistischen  Mob  zur  Freiheit  zu  verhelfen,  Politischer 
Mord  bleibt  politischer  Mord,  auch  Deiner  Oberzeugung  nach  ist  die 
Kugel  kein  Argument.  GewiB,  manch  einer  ist  unschuldig,  und  man 
kann  ihm  nur  wiinschen,  daB  er  freikommt.  Dafiir  gibt  es  aber  andre 
Wege  als  eine  Amnestie.  Ist  es  in  Deinem  Sinne,  dafi  die  Terroristen 
freikommen,v  wahrend  die  andern,  die  mit  dem  Wort  fochten,  weiter 
in  Gefangnissen,  in  Zuchthausern  bleiben  miissen;  darunter  die  besten 
Leute  Deiner  Partei?  Siehst  Du,  weil  das  ein  peinliches  MiBverhaltnis 
ist,  darum  konnen  wir  uns  tiber  diese  Amnestie  nicht  freuen^  Erst 
recht  nicht,  seitdem  bei  der  zweiten  Kommissionslesung  die  in  der 
ersten  angenommene  Amnestie  fiir  Delikte  aus  sozialer  Not  wieder 
beseitigt  worden  ist.  Ihr  helft  den  Nazis,  ihre  Morder  freizubekom- 
men,  die  Nazis  aber  stimmen  gegen  Eure  Arbeitslosen! 

Gustav  Kiepenheuer-Verlag,  Dieser  Tage  sind  die  ersten  bei- 
den  Bande  Ihrer  billigen  Ausgaben  von  Werken  wissenschaftlichen 
Charakters  erschienen.  2,85  RM.  kostet  der  vollstandige,  durch  Karl 
Korsch  besorgte,  erste  Teil  des  Kapitals  von  Marx  und  ebensoviel 
Weiningers  ,,Geschlecht  und  Charakter".  Wenn  man  in  Betracht  zieht, 
daB  sich  diese  Biicher  bisher,  wollte  man  sie  vollstandig  haben,  sehr 
teuer  stellten  und  daB  andrerseits  billigere  Ausgaben  nur  eine  meist 
wenig  befriedigende  Auswahl  darboten,  so  bleibt  nur  librig,  Sie  zu 
Ihrem  Vorgehen  zu  begluckwiinschen.  Wobei  nicht  vergessen  werden 
soil,  daB  die  Bande  sehr  anstandig  ausgestattet  sind. 

911 


Radikaldemokraten  in  Darmstadt.  Es  ist  sehr  verntinftig,  daB 
Ihr  fiir  Eure  Landtagswahlen  eine  Listenverbindung  mit  der  SPD 
eingegangen  seid.  Kleine  Parteien,  die  ohne  Listenverbindung  mit 
einer  groflen  in  irgend  einen  Wahlkampf  Ziehen,  muten  ihren  Wah- 
lern   politischen   Selbstmord  zu. 

Obotrit  in  Neustrelitz.  Eure  deutschnational-nationalsozialistische 
Mehrheit  hat  beschlossen,  das  mecklenburg-strelitzsche  Parlament 
und  damit  sich  selbst  aus  dem  fruhern  groBherzoglichen  Schlofi  zu 
exmittieren,  „  damit  es  in  Zukunft  nicht  mehr  durch  marxistische 
Reden  entweiht  werde".  Bravo!  Da  wird  in  dem  SchloB  wenigstens 
wieder  die  Weihestimmung  hergestellt,  womit  vor  dem  Kriege  die 
seligen  Liebesstunden  der  beiden  Prinzessinnen  mit  den  Lakaien  es 
erfullt  hatten, 

Unorientierter,  Ihnen  und  vielen  andern  Briefs chreibern  ist  noch 
manches  an  den  Vorgangen  unklar,  die  Carl  v.  Ossietzky  fiir  achtzehn 
Monate  ins  Gefangnis  gebracht  haben.  Leider  konnen  wir  hier  den 
Fall  nicht  noch  einmal  in  aller  Ausfuhrlichkeit  aufrollen  und  miissen 
Sie  daher  immer  wieder  auf  die  in  unserm  Verlag  erschienene,  64  Sei- 
ten  starke  Broschure  hinweisen,  in  der  die  Eingabe  von  Rechtsanwalt 
Doktor  Apfel  an  den  Reichsprasidenten,  das  Schreiben  Professor  Als- 
bergs  an  Justizminister  Joel ,  Aufierungen  her vorr agender  Ver tr eter 
der  deutschen  Offentlichkeit  und  wichtige  Stimmen  der  Weltpresse 
zum  Weltbuhnenprozefi  veroffentlicht  sind,  Carl  v.  Ossietzky  selbst 
hat  in  drei  Nummern  der  ,Weltbuhne*  —  1931  Heft  48  „Der  Welt- 
buhnenprozefi", Heft  49  „Offener  Brief  an  Reichswehrminister  Groe- 
ner"  und  1932  Heft  19  „Rechenschaft"  —  zu  dem  Prozefi,  zu  seiner 
Verurteilung  und  zu  seiner  Inhaftierung  Stellung  genommen;  soweit 
das  bei  einem  geheim  durchgefiihrten  Verfahren  moglich  war,  Solange 
noch  Exemplare  vorhanden  sind,  konnen  Sie  die  Broschure  gegen 
E  ins  en  dung  von  30  Pfennig  en,  die  drei  Hefte  fur  den  Gesamtpreis  von 
einer  Mark  in  Briefmarken  vom  Verlag  der  tWeltbuhne\  Berlin-Char- 
lottenburg  2,  Kantstrafie  152,  beziehen. 

Liga  fur  Menschenrechte.  Du  wiinschest,  dafi  dem  Rechtsblock 
bei  den  Wahlen  ein  Linksblock  entgegengestellt  werde.  Da  Du 
aber  die  Scheidundj  der  burgerlich-republikanischen  und  proletarisch- 
republikanischen  Gruppen  als  Tatsache  anerkennen  mufit,  laBt  Du 
Deinen  Appell  also  ausklingen:  „Darum  richten  wir  einerseits  an 
alle  burgerlich-republikanischen  Parteien,  andrerseits  an .  alle  sozia- 
listisch-republikanischen  Parteien  die  dringende  Mahnung,  durch 
das  Mittel  der  Listenverbindung  jede  Stimme  fiir  die  Republik  zu 
retten," 

Ungeduldiger.  Ernst  Tollers  Spanien-Serie  setzen  wir  im  nach- 
sten  Heft  fort. 

Dieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fiir  die  Abonnenten  bei,  auf 
der  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fiir  das  III.  Vierteljahr  1932 

einzuzahlen,   da  am   10.   Juli   1932  die  Einziehung   durch   Nachnahme 
beginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht. 


Manuikripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhne,  Charlottenburg,  Kantstr.  152,  zu 
richten ;  ea  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Rucksendung  erfolgen  kann. 
Das  Auf  f  uhrungsrecht,  die  Verwertung  von  Titeln  u.  Text  im  Rahtnen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahraen  von  Radiovortr&gen 
bleiben  fiir   alle  in  der  Weltbuhne  erscheinenden  Beit r age  ausdrttcklicH  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wrrd  von  Carl  v.  Ossietzky 
unter  Mitwirkung    von   Kurt  TuchoUky   geleitet.    —    VerantwortHch:    Walth*  r  Karsch,    Berlin. 

Verlag  cer  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Ttlep,  on:  CI,  Steinplatz  7757,   —    Postscheckkonto:  Berlin  11958. 
Bankkonto;  Dresdner  Bank.     Depositenkasse  Charlottenburg,  Kantstr.  1L2, 


XXV11I.  Jahrgang  21.  Juni  1932  Nnmmer  25 

HindenburgS  HoIZWeg  von  Hellmut  v.  Gerlach 

Jcder  Offizier  der  Vorkriegsarmee  PreuBens  pflegte  sich  zu 
dem  Grundsatz  zu  bekennen:  Befehle  diirfen  niemals  wider- 
rufcn  werden,  wcil  sonst  die  Autoritat  des  Vorgesetzten  unter- 
graben  wird,  Es  kommt  vor,  daB  ein  falscher  Befehl  gegeben 
wird.  Abcr  besscr,  an  ihm  mit  all  seinen  schadlichen  Folgen 
festzuhalten,  als  ihn  zu  korrigieren.  Der  Schade  ware  noch 
groBer. 

Herr  von  Hindenburg  ist  ein  Hort  des  AltpreuBentums  und 
der  altpreuBischen  Offizierstradition.  Aber  das  vor  wenigen 
Monaten  von  ihm  erlassene  Verbot  der  SA.  hat  er  soeben  auf- 
gehoben.    Raus  aus  den  Kartoffeln!    Rein  in  die  Kartoffeln! 

Seine  Ratgeber  neudecker  Pragung  miissen  ihn  mit  sehr 
gewichtigen  Argumenten  bearbeitet  haben,  urn  ihn  zu  ver- 
anlassen,  Hitlers  Parteiarmee,  die  er  nach  sicherlich  sehr 
grundlichen  Erwagungen  als  staatsgefahrlich  verboten  hatte, 
nunmehr  wieder  zuzulassen  und  damit  sich  selbst  zu  des- 
avouieren. 

Ganz  wohl  scheint  ihm  bei  seiner  neuesten  Entscheidung 
nicht  zumute  gewesen  zu  sein,  sonst  hatte  er  seine  neue  poli- 
tische  Verordnung  kaum  mit  einem  Begleitbrief  versehen,  worin 
er  dem  Vertrauen  Ausdruck  gibt,  ,,daB  der  politische  Mei- 
nungskampf  in  Deutschland  sich  kiinftig  in  ruhigerer  Form  ab- 
spielen  werde.  und  daB  Gewalttatigkeiten  unterbleiben,"  Darf 
man  das  Vertrauen  hegen,  daB  die  Rose  nicht  mehr  duften  und 
der  Nazi  nicht  mehr  mit  Stinkbomben  arbeiten  werde? 

Am  16.  Juni  wurde  das  Uniformverbot  mit  Giiltigkeit  ab 
17.  Juni  aulgehoben.  Aber  schon  am  Nachmittag  des  16.  Juni 
sah  man  ein  braunes  Zwillingsparchen  nach  dem  andern  den 
Kurfurstendamm  hinunterziehen,  in  voller  Kriegsbemalung, 
strahlend,  siegestrunken.  Jeder  deutsche  Akademiker  dachte 
an  die  Zeilen,  die  er  einst  auf  der  Kneipe  gesungen: 

Die  vom  Breiten  Stein 

nicht   wankten  und   nicht  wichen, 

und  die  in  ihrem  Stolz' 

den  Herren  der  Erde  glichen, 

Offenbar  schwelgten  diese  Herren  der  Erde  oder  wenig^- 
stens  des  Asphalts  im  Nachgefiihl  der  Triumphe,  die  sie  auf 
dem  Kurfurstendamm  am  jiidischen  Neujahrsfest  iiber  Semiten 
und  dunkelhaarige  Indogermanen  davongetragen  hatten,  und  im 
Vorgefiihl . . .' 

Herr  von  Hindenburg  hat  vielleicht  recht  mit  seiner  An- 
nahme,  daB  auch  nach  Freigabe  der  SA.  Gewalttatigkeiten 
unterbleiben  werden.  Unter  einer  Voraussetzung  namlich;  daB 
die  Gegner  der  Nationalsozialisten  diesen  die  Herrschaft  auf 
der  StraBe  und  im  offentlichen  Leben  widerstandslos  iiber- 
lassen. 

Heute  ist  Hitler  Sieger  auf  der  ganzen  Linie.  Hindenburgs 
Regierung  hat  Hitlers  Wiinsche  vollstreckt.  Sie  ist  Hitlers 
Gefangene. 

1  913 


Als  am  14.  Juni  die  erstc  Notverordnung  erging,  die  der 
breitcn  Masse  erhohte  Not  verordnete,  die  politische  Notver- 
ordnung unerwarteterweise  aber  noch  nicht  erschien,  drohte 
Goebbels  in  seinem  .Angriff  in  dickster  Balkenuberschrift  uber 
die  ganze  erste  Seite  hinweg: 

,,Wir  warnen  die  Reichsregierung!  Wo  bleiben  ihre  an- 
gekimdigten  Taten?" 

Prompt  stellten  sich  auf  diese  Drohungen  die  Taten  ein: 
schon  am  16.  Juni  erschien  die  zweite  Notverordnung,  die  die 
Linkspresse  mit  Kautschukbestimmungen  bedrohte  und  Hitlers 
Privatarmee  freigab. 

Die  Regierung  Papen-Schleicher  handelte,  wie  sie  handeln 
muBte. 

Sie  selbst  ist  nazirein  geblieben.  Warum  das  ^igentlich 
geschehen  ist,  wird  der  AuBenstehende  kaum  verstehen,  Wenn 
man  schon  eine  Regierung  fur  die  Nationalsozialisten  machen 
wollte,  warum  nicht  eine  mit  ihnen?  Sicher  geschah  das  haupt- 
sachlich  nicht  aus  politischen,  sondern  aus  gesellschaftlichen 
Griinden.  Das  Kabinett  ist  gesellschaftlich  vollig  homogen, 
reine  Herrenklasse,  Nationalsozialisten  hatten  eine  gesell- 
schaftliche  Disharmonie  hineingebracht.  Ihr  Symbol  ist  eben 
das  braune,  nicht  das  Frackhemd. 

F.  W.  Foerster  hat  seit  vielen  Jahren  geschrieben,  die 
wahre  Gefahr  fiir  die  deutsche  Republik  und  fur  die  ganze 
Welt  sei  PreuBen,  weil  in  PreuBen  der  herrschende  Macht- 
faiktor,  trotz  alledem  und  alledem,  das  ostelbische  Junkertum 
geblieben  sei.  Foerster  schien  sich  im  Irrtum  zu  befinden. 
War  nicht  die  Regierung  Braun-Severing  der  wahre  Hort  der 
deutschen  Republik? 

Heute  haben  wir  eine  Regierung,  die  als  Inkarnation  des 
preuBischen  Junkertums  erscheint.  Entsetzt  erheben  sich  nicht 
nur  die  Arbeiter  ganz  Deutschlands,  sondern  sogar  die  Regie- 
rungen  Siiddeutschlands  gegen  diese  Renaissance  eines,  wie 
man  geglaubt  hatte,  seit  1918  endgultig  erledigten  Zustandes. 

Nur  in  einem,  allerdings  wesentlichen,  Punkt  haben  sich 
die  Verhaltnisse  gegen  friiher  geandert.  Fruher  herrschten 
die  Junker  kraft  eigner  Macht  (Dreiklassehwahl,  Herrenhaus, 
Gutsbezirk,  Militarkabinett,  Gesindeordnung  etcetera).  Seit 
1918  braucht  man  freiwillige  Hilfstruppen.  Die  Demokratie 
kann   nur   durch   Scheindemokratie   uberwunden   werden, 

Darum  das  Biindnis  der  Barone  mit  der  ..Arbeiteipartei" 
Hitlers.  Darum  muBte  der  von  Hitler  prasentierte  Wechsel 
unterzeichnet  werden.  Darum  konnte  Goebbels  mit  sofortigem 
Erfolge  drohen:  „Wir  warnen  die  Reichsregierung!" 

Auf  der  Spitze  der  Pyramide  thronen  die  Barone.  Die 
Basis  der  Pyramide  bilden  die  Millionen  Hitlers.  Schiitteln  sie, 
so   fallen   die   Barone  herunter. 

Hindenburg  ist  in  eine  Lage  gekommen,  deren  Peinlich- 
keit  ihm  selbst  aufzugehen  scheint,  wie  sein  Brief  an  Freiherrn 
von  Gayl  beweist.  Die  Regierung,  die  er  an  die  Stelle  seines 
getreuesten  Wahlmachers  Bruning  setzte,  wiirde  heute  nicht 
hundert  Stimmen  auf  sich  vereinigen,  wenn  der  alte  Reichstag 
noch  einmal  zusammentreten  diirfte.  Seine  Wahler  aus  der 
Lintken  und  der  Mitte   hat  er  bis  auf  den  letzten  vor  den  Kopf 

914 


gestoBen.  Die  Wahler  seines  Gegenkandidaten  Hiller  stiitzen 
ihn  nur  so  lange,  als  er  ihre  Forderungen  erfiillt.  Seine  Autori- 
tat  ist  nur  noch  eine  labile  GroBe. 

Niemand  zweifelt,  dafi  er  das  Beste  will,  wie  er  es  auf- 
faBt.  Die  Frage  ist  nur,  ob  er  die  richtige  Erkenntnis  des 
Besten  oder  auch  nur  des  Guten  besessen  hat. 

SchloB  Neudeck  wird  in  der  Geschichte  des  republikani- 
schen  Deutschland  die  Rolle  spielen,  die  im  Deutschland  Wil- 
helms  II.  SchloB  Liebenberg  gespielt  hat. 

Worauf  kann  Hindenburg  noch  rechnen? 

GewiB,  Herr  von  Schleicher  wird  ihm  sagen;  „Auf  die 
Reichswehr!" 

Aber  Rechtsanwalt  Frank,  der  juristische  Vertrauensmann 
Hitlers,  hat  doch  eben  erklart,  die  Reichswehr  sei  eine  einzige 
Nazizelle.  Er  mag  iibertrieben  haben,  Nationalsozialisten 
iibertreiben  immer.  Trotzdem,  raochte  Herr  von  Schleicher 
eine  geheime  Abstimmung  in  der  Reichswehr  fur  oder  gegen 
Hitler  vorn-ehmen? 

Die  Reichswehr  ist,  was  sie  immer  war,  ein  politischer 
Unsicherheitsfaktor.  Ein  unbedingter  Sicherheitsfaktor  fur 
Hitler  aber  ist  seine  nunmehr  fiir  legal  erklarte  Privatarmee. 
In  Parenthese:  wird  nachtraglich  auch  die  Mobilisierung  dieser 
Privatarmee  zum  13.  Marz  fiir  den  Marsch  auf  Berlin  fiir  legal 
erklart  werden?  Wie  Hitlers  Soldaten  ihre  Aufgabe  auffassen, 
geht  aus  dem  Befehl  vom  10.  Juni  hervor,  den  die  Untefgruppe 
Mittelfranken  der  SA,  erlieB: 

Das  SA.-Verbot  ist  gef alien!  Kameraden,  die  Zeit  ist  todernst. 
Kampfe  stehen  vor  uns;  das  ersehnte  Ziel  unserer  jahrelangen  Ar- 
beit —  das  Handeln.  Von.  heute  an  sind  wir  Soldaten  des  Dritten 
Reiches.  Ich  muB  bis  zum  Einsatz  das  AuBerste  von  euch  verlan- 
gen,  und  beim  Einsatz  vielleicht  noch  mehr.  Der  Stein  ist  im  Rollen, 
wir  konnen  nicht  mehr  zurtick.  Mit  sofortiger  Wirkung  gelten  fol- 
gende  Anordnungen:  Vom  Tage  der  Aufhebung  des  SA.-Verbotes  an 
hat  die  SA.  jeden  Abend  und  jeden  Sonntag  Dienst.  Die  Ausbil- 
dung  ist  mit  Hochdruck  zu  betreiben.  Die  uberaus  ernste  Lage  ver- 
langt,  daB  jeder  SA.-Fiahrer  von  jetzt  an  Tag  und  Nacht  bereit  ist. 

Zur  Zeit  ist  Herr  von  Hindenburg  noch  der  President  der 
ersten  deutschen  Republik.  Die  von  ihm  vor  zwei  Monaten 
fiir  illegal  und  heute  fiir  legal  erklarten  SA.-Leute  bezeichnen 
sich  als  Soldaten  des  Dritten  Reiches.  Sie  haben  jeden  Abend 
und  jeden  Sonntag  Dienst.  Sie  sprechen  von  bevorstehenden 
Kampfen,   vom   rollenden  Stein, 

Apfelchen,  wohin  rollst  du? 

Freiherr  von  Gayl  hat  erklart,  die  Regierung  stiitze  sich 
auf  keine  Partei,  nur  auf  den  Reichsprasidenten. 

Auf  wen  kann  sich  der  Reichsprasident  stiitzen,  auBer  auf 
die  Verfassung? 

Aber  Verlassungsfragen  sind  Machtfragen,  wie  Lassalle 
festgestellt  hat. 

Hitler  glaubt,  die.Klinke  zum  Tor  der  Macht  in  der  Hand 
zu  haben. 

Noch  ruht  die  Macht  in  der  Hand  der  Wahler.  Will  die 
Mehrheit  der  Deutschen  Hitler,  trotz  der  von  Hitler  tolerierten 

915 


Junkerregierung  und  ihren  Notverordnungen,  so  kann  sie  nichts 
daran   hindern. 

Will  sie  wirklich? 

Traut  sic  den  Sirenentonen,  mit  dem  der  glanzende  De- 
magoge  Gregor  StraBer  im  Rundfunk  seine  Horer  einzulullen 
gewuBt  hat?  Hat  sie  jene  Reichstagssitzung  vom  18.  Oktober 
1930  vergessen,  als  derselbe  Gregor  StraBer  an  den  Bruch 
seines  Ehrenwortes  erinnert  werden  muBte?  Herr  StraBer  er- 
widerte  damals  laut  Reichstagsstenogramm:  „Diesem  System 
gegenuber  kenne  ich  kein  Ehrenwort."  Und  er  fuhr  fort,  zu 
betonen,  daB  er  bereit  sei,  noch  zehn  Mai,  noch  hundert  Mai 
sein  Ehrenwort  zu  brechen,  weil  ihm  ,,der  Bruch  des  Ehren- 
wortes ein  politisches  Mittel  sei." 

Herr  von  Hindenburg  ist  alter  OfHzier.  Im  Offizierkorps 
gait  der  Bruch  des  Ehrenwortes  als  Todstinde. 

Die  neue  Verordnung  Hindenburgs  gibt  der  Privatarmee 
Hitler-StraBer  den  Weg  frei  zur  moralischen  Erneuerung  des 
deutschen  Volkes, 


Die  Opfer  mfissen  opfern  von  Bernard  citron 

In  einem  geordneten  Staatswesen  werden  die  widerstrebenden 
Interessen  des  Fiskus  und  der  Gesellschaftsklassen  geban- 
digt  durch  das  Walten  einer  objektiven  und  gerechten  Staats- 
hoheit.  Von  diesem  demokratischen  Ideal  unterscheidet  sich 
die  gegenwartige  Regierung,  die  ihren  Kurs  mit  der  ersten 
finanziellen  Notverordnung  deutlich  zu  erkennen  gibt,  durch 
ein  MiBverhaltnis  der  im  Staat  wirkenden  Krafte.  Die  aus- 
gleichende  Gerechtigkeit  ist  den  fiskalischen  Wiinschen  und 
den  Klasseninteressen  kleiner  Gruppen  des  Volkes  untergeord- 
net  worden,  Angstlich  bemiiht  sich  die  Notverordnung  um 
eine  Balanzierung  des  Etats  und  biirdet  alle  Lasten  den  Ar- 
beitenden,  den  Arbeitslosen,  den  Invaliden  und  Kriegsopfern 
sowie  den  kleinen  Gewerbetreibenden  auf.  Diese  Praxis  er- 
klart  sich  erstens  aus  der  antisozialen  Grundhaltung  des  Ka- 
binetts,  zweitens  aber  aus  einer  fiskalisch-bureaukratischen 
Denkweise.  Arbeitnehmer  sind  gute  oSteuerobjekte",  und 
Ausgaben  fiir  soziale  Zwecke  sind  leichter  abzubauen  als  Sach- 
ausgaben  der  einzelnen  Ressorts.  Vielleicht  war  sogar  dieser 
Bureaukratenstandpunkt  ftir  die  gegenwartige  Regierung  aus- 
schlaggebender  als  das  Interesse  jener  ihr  nahestehenden  Inter- 
essentengruppen.  So  erklart  es  sich  auch,  daB  man  iiber  alle 
etatstechnischen  Rechenkunststiicke  die  positiven  Mittel  zur 
t^berwindung  der  Krise  fast  vollig  vergessen  hat,  Es  ist  be- 
zeichnend  fiir  den  Geist  der  Notverordnung,  daB  lediglich  in 
einem  nichtssagenden  Nachsatz  die  Erlosung  von  der  nGeiBel 
der  Arbeitslosigkeit"  als  Zukunftsaufgabe  gepriesen  wird,  daB 
sich  aber  weder  in  dieser  Praambel  noch  in  dem  Text  der  Ver- 
ordnung der  Wille  zur  Beschaffung  von  Arbeit  fiir  die  breiten 
Massen  des  Volkes  findet.  Statt  dessen  enthalt  der  Aufruf 
eine  versteckte  Anklage  gegen  das  friihere  System,  dessen 
Bilanz  die  Regierung  vorgefunden  habe.     Oberhaupt  ist  es  eine 

916 


bcsonderc  Eigentumlichkeit  der  neucn  Regierung,  in  erster 
Lime  die  Verantwortlichkeit  ihrer  Vorganger  festzustellen. 
Die  friihern  republikanischen  Regierungen  haben  sich  in  dieser 
Beziehung,  taktvoller,  aber  weniger  taktisch  verhalten,  wenn 
sie  allzu  generos  die  schwere  Schuld  des  kaiserlichen  Deutsch- 
land  an  den  Ereignissen  der  Nachkriegszeit  verschwiegen,  Um 
nicht  in  die  peinliche  Lage  ■  versetzt  zu  werden,  irgend  etwas 
an  den  sozialen  Errungenschaf ten  der  Republik  zu  loben,  wird 
lediglich  die  Vaterschaft  Bismarcks  fiir  die  soziale  Gesetz- 
gebung  reklamiert,  Zwischen  den  Zeilen  kann  man  deutlioh 
lesen:  ,,Und  so  hat  die  Republik  Bismarcks  soziale  Fiirsorge 
zerstort".  Auch  diese  Entstellung  der  historischen  Entwick- 
lung  mag  von  einem  groBen  Teil  des  Volkes  hingenommen 
werden,  jedoch  bedarf  es  keiner  tiefgriindigen  Kenntnis  finanz- 
wirtschaftlicher  Fragen,  um  den  Widerspruch  zwischen  den 
gewaltigen  Steuererhohumgen  der  Notverordnung  und  folgen- 
dem  Satz  festzustellen;  „. , .  die  Erfahrungen  der  letzten  Mo- 
nate  haben  gezeigt,  daB  Steuererhohungen  nicht  mehr  zu  einer 
Verbesserung  sondern  nur  noch  zu  einer  Verschlechterung  der 
Einnahmen  fiihren.'*  Zu  einer  solchen  Verschlechterung  fiihrt 
also  nach  dem  eignen  Zeugnis  der  Reichsregierung  der  Weg, 
den   sie   eingeschlagen  hat. 

Die  Notverordnung  uberschreibt  ihre  MaBnahmen  auf  so- 
zialem  Gebiet  folgendermaBen:  „MaBnahmen  zur  Erhaltung  der 
Arbeitslosenhilfe,  der  Sozialversicherung  und  der  Reichsver- 
sorgung".  Das  Wort  Arbeitslosenhilfe  kennzeichnet  die  grund- 
satzliche  Haltung  der  Reichsregierung,  An  Stelle  der  Ver- 
sicherung,  auf  die  der  Arbeitslose  infolge  seiner  friihern  Pra- 
mienzahlungen  einen  rechtlichen  Anspruch  hat,  tritt  das  staat- 
liche  Almosen.  Die  Kurzung  der  Unterstiitzungssatze  bedeutet 
fiir  die  Erwerbslosen  eine  schwere  materielle  Schadigung,  die 
Beschrankung  der  Arbeitslosenversicherung  auf  sechs  Wochen 
dariiber  hinaus  eine  soziale  Degradation,  Der  Arbeitslose,  der 
sich  bisher  um  eine  Betatigung  in  seinem  friihern  Berufszweige 
umsehen  konnte,  wird  nach  kurzer  Frist  sofort  zum  Wohl- 
fahrtserwerbslosen  gestempelt;  ihm  bleibt  daher  im  allgemeinen 
kaum  etwas  andres  iibrig  als  sich  fiir  den  Arbeitsdienst  zu 
verdingen.  Hierin  aber  liegt  zweifellos  ein  wesentlicher  Zweck 
der  MaBnahmen. 

Auch  bei  den  Kiirzungen  der  Sozialversicherung  ist  nicht 
all  ein  die  Tatsache  der  erheblichen  Abziige  von  einschneiden- 
der  Bedeutung  sondern  auch  die  Erschwerung  des  Rechts- 
weges  vor  den  Versicherungsbehorden,  Wahrscheinlich  fiirchtet 
man,  daB  die  groBen  Harten,  die  sich  in  vielen  Einzelfallen 
herausgestellt  haben,  zahllose  Proteste  von  Versicherten  her- 
vorrufen  werden,  Nach  den  schlimmsten  Methoden  des  poli- 
tischen  Absolutismus  verstopfen  sich  die  neuen  Machthaber 
die  Ohren,  indem  sie  anordnen;  „Wer  sich  beschwert,  muB 
erst  zahlen." 

Bei  der  Finanzierung  der  so  stark  gekiirzten  Arbeitslosen- 
hilfe durch  das  Reich  miissen  vierhundert  Millionen  Mark  auf 
besonderem  Wege  beschafft  werden.  Die  Moglichkeit,  diesen 
Betrag  teilweise  wenigstens  aus   der  Besteuerung   hoher  Ein- 

2  917 


kommen,  aus  einer  Kapitalabgabe  oder  andern  die  MWirt- 
schaft"  belastenden  Steiiern  beizutreiben,  wird  von  vornherein 
abgelehnt.  Man  greift  wiederum  auf  die  Festbesoldeten  zu- 
riick,  unter  denen  iibrigens  die  hohen  Gehaltsstufen  der  Be- 
amtenschaft  wesentlich  besser  abschneiden  als  die  entsprechen- 
den  freien  Gehalter. 

Zu  den  begeistertsten  Anhangern  des  Nationalsozialismus, 
der  bei  der  neuen  Regierung  Pate  gestanden  hat,  zahlen  grade 
die  kleinen  Gewerbetreibenden.  Eine  der  vielen  politischen 
Ungeschicklichkeiten  des  neuen  Regimes  ist  es,  eben  diese 
Leute  mit  der  Ausdehnung  der  Umsatzsteuer  auf  Betrage  unter 
fiinftausend  Mark  zu  schadigen,  Auch  die  Unbequemlichkeit, 
die  sich  aus  dieser  Steuer  fur 'den  Einzelnen  ergibt,  wird  nicht 
grade  die  Beliebtheit  der  Regierung  erhohen.  Nicht  weniger 
unpsychologisch  ist  die  Salzsteuer.  Man  konnte  kaum  eine 
andre  Steuerart  finden,  die  aufreizender  wirkt  als  diese.  Der 
fiskalische  Nutzen  stent  in  beiden  Fallen  in  gar  keinem  Ver- 
haltnis  zu  dem  schweren  Schaden,  den  das  Prestige  der  Re- 
gierung auf  diese  Weise  erleidet.  Wiirden  nicht  die  breiten 
Massen  des  Volkes  diese  grausame  Rechnung  bezahlen  miis- 
sen,  so  brauchte  man  iiber  derartige  Fehler  nicht  betriibt 
zu  sein. 

Die  Besitz-  und  /Verkehrssteuern  sollen  im  Jahre  1932 
4,8  Milliarden  Mark  (1931  5  Milliarden  Mark)  erbringen,  wah- 
rend  Zolle  und  Verbrauchssteuern  mit  2,7  Milliarden  (1931 
2,78  Milliarden)  etatisiert  werden.  Aus  dieser  Gegeniiberstel- 
lung  ersieht  man  aber  nicht,  wie  die  tatsachlichen  Lasten 
zwischen  Kapital  und  Konsum  in  Deutschland  verteilt  werden, 
Zu  den  Besitz-  und  Verkehrssteuern  ist  auch  die  Umsatzsteuer 
zu  rechnen,  die  sich  in  diesem  Jahre  auf  1820  Millionen  Mark 
—  das  sind  825  Millionen  Mark  mehr  als  im  Vor jahre  — 
stellen  soil, 

Tatsachlich  erbringen  die  Besitz-  und  Verkehrssteuern 
nach  Eliminierung  der  Umsatzsteuer  nicht  zweihundert  son- 
dern  neunhundert  Millionen  Mark  weniger  als  im  Vorjahre  (die 
Krisensteuer  ist  aus  den  Reichseinnahmen  herausgenommen 
worden).  So  ist  deutlich  erkennbar,  daB  nicht  die  Gesamtheit 
der  wirtschaftenden  Krafte  des  Volkes  sondern  nur  die  Kon- 
sumenten  und  Arbeitnehmer  fur  die  Balanzierung  des  Etats  zu 
sorgen  haben. 

Gewifi  haben  sich  die  Oberschiisse  in  der  Industrie  aufier- 
ordentlich  stark  reduziert  und  Zusammenbriiche  angesehener 
Unternehmungen  stehen  auf  der  Tagesordnung.  Derartige 
Schwierigkeiten  mogen  in  vielen  Fallen  genau  so  unverschuldet 
sein  wie  die  Arbeitslosigkeit  yon  fiinf  Millionen  Menschen. 
Aber  es  ist  nicht  unsre  Aufgabe,  im  einzelnen  iiber  Schuld 
und  Schicksal  zu  rechten,  wir-konnen  lediglich  feststellen,  da8 
die  breiten  Massen  unter  das  Existenzminimum  gedriickt  wor- 
den sind,  wahrend  beim  Unternehmertum  hiervon  noch  nicht 
gesprochen  werden  kann.  Diese  Feststellung  mag  etwas  primi- 
tiv  klingen,  sie  soil  aber  gar  nicht  an  das  Gefuhl  sondern  an 
die  niichterne  wirtschaftliche  Oberlegung  appellieren.  Die  ge- 
schwachte  Konsumkraft  der  Bevolkerung  legt   die   Funktionen 

918 


des  Wirtschaftskorpers  ebenso  brach  wie  cine  iibermaBige  Be- 
steuerung  der  „Wirtschaft",  Der  Unterschied  zwischen  dem 
Besitzenden  und  dem  Besitzlosen  beruht  aber  darauf,  daB  der 
eine  neben  seiner  Rente  Kapital  besitzt,  wahrend  der  andre 
lediglich  iiber  die  „Rente"  in  Gestalt  eines  Arbeits-  oder 
Wohlfahrtseinkommens  verfiigen  *kann.  Die  Wirtschaftsfiihrer 
erklaren  immer  wieder,  daB  ihre  Rente  dazu  dienen  muB,  das 
Kapital  zu  erhalten.  Wiirde  man  der  Wirtschaft  diese  Sorge 
durch  Einfiigung  eines  Sozialisierungssektors  in  die  Privatwirt- 
schaft  etwas  abnehmen,  so  diente  man  damit  nur  der  steuer- 
lichen  Gerechtigkeit.  Wenn  die  Rente  des  Unternehmertums 
vor  Steuererhohungen  geschutzt  sein  soil,  so  braucht  doch  der 
Besitz  selbst  nicht  unangetastet  zu  bleiben.  Obwohl  nach  dem 
Zeugnis  Gregor  Straflers  in  Deutschland  neunzig  Prozent  der 
Bevolkerung  sozialistisch  ist,  hatte  sich  auch  die  ,,bolsche» 
wistische"  Regierung  Briining  nicht  zu  derartigen  MaBnahmen 
aufgeschwungen.  Ihr  ,,Staatssozialismus"  bestand  lediglich 
darin,  bei  allzu  iippigen  Subventionen  der  offentlichen  Hand 
dem  Staat  einen  gewissen  EinfluB  zu  sichern.  Nach  diesem 
Prinzip  handelte  man  bei  der  Bankensanierung,  und 
ebenso  sollte  beim  GroBgrundbesitz  verfahren  werden.  Nun 
aber  sind  an  Stelle  eines  groBangelegten  Siedlungsgedankens, 
der  vielleicht  die  einzige  konstruktive  Idee  der  letzten  Jahre 
war,  fur  Siedlungszwecke  lediglich  auf  fiskalischem  Wege 
funfzig  Millionen  Mark  eingestellt  worden  und  sechzig  Millionen 
fiir  Stiitzung  des  landwirtschaftlichen  Marktes.  Man  konnte 
diese  neue  agrarische  Subvention  sparen,  wenn  man  plan- 
maBig  siedelte.  Als  besondere  Attraktion  werden  zwanzig 
Millionen  Mark  fur  den  Arbeitsdienst  ausgeworfen.  Weitere 
zwanzig  Millionen  diirften  noch  auf  andre  Weise  fiir  diesen 
Zweck  beschafft  werden. 

Wahrhaft  stiefmiitterlich  wird  dagegen  die  wirkliche  Ar- 
beitsbeschaffung  behandelt.  In  der  Notverordnung  hat  man 
ihr  iiberhaupt  keinen  Platz  eingeraumt.  Es  verlautet  jetzt, 
daB  durch  Wechselkredit  der  Reichsbank  135  Millionen  Mark 
bereitgestellt  werden  sollen.  Weit  groBere  Summen  hatten  be- 
schafft werden  konnen,  wenn  ,die  Regierung  von  der  Anleihe- 
ermachtigung,  die  Briining  sich  erteSen  HeB,  Gebrauch  ge- 
macht  hatte.  Die  Reichsregierung  ist  durchaus  falsch  orientiert, 
wenn  sie  behauptet,  daB  keine  Anleihe  zu  plazieren  sei.  Eirie 
Pramienanleihe  mit  groBen  Sicherungen  fiir  den  Erwerber,  mit 
ansehnlichen ,  Gewinnaussichten"  und  einer  maBigen  Verzinsung 
ware  zweifellos  ein  Erfolg  geworden.  Man  hat  auf  die  Pra- 
.  mienanleihe  verzichtet,  weil  es  diesem  Kabinett  iiberhaupt 
an  einem  planvoiien,  aufbauenden  Programm  fehlt.  Der  ein- 
zige Gedanke,  der  die  Notverordnung  beherrscht,  ist  der 
Wunsch,  unter  Schonung  des  Besitzes  den  Etat  des  Reiches- 
und  der  Gemeinden  notdiirftig  zu  sichern.  An  den  tiefern 
Griinden  der  Wirtschaftskrise  geht  diese  Regierung  voruber. 
General  von  Schleicher  hat  die  Lebensdauer  des  Kabinetts  auf 
vier  Jahre  geschatzt,  aber  in  vier  Wochen  wird  sich  bereits 
zeigenf  daB  mit  dieser  hartesten  aller  Notverordnungen  weder 
den  Kassenschwierigkeiten  noch  der  Wirtschaftsnot  zu 
steuern   ist. 

919 


Ostpreilfien-„Hilfe"?  von  Rudolf  Olden 

|m  Jahre  1928  entschlosscn  sich  ostpreuBische  Landwirte,  ,,auf 
die  StraBe  zu  gehen".  1929  hieB  es  in  eincr  Resolution,  die 
in  ihrem  Kreis  gefaBt  wurde:  „Wir  sind  bereit  zu  kampfen, 
wenn  man  uns  von  unsrer  Scholle  vertreiben  sollte  . .  /'  Mit 
dem  revolutionaren  Proletariat,  dessen  Methoden  man  nach- 
ahmte,  wollte  man  allerdings  nicht  verglichen  werden:  ,,Wir 
werden  aller  Welt  zeigen,  daB  der  Bauer  auf  der  StraBe,  die 
er  nicht  liebt,  etwas  andres  ist,  als  der  radaulustige  Mob!" 
1930  gab  es  schon  ,,Streikbrecherlisten,  Schwarze  Listen  der 
Verrater  in  eigenen  Kreisen,  der  Geschaftsleute,  die  nicht  mit- 
machen..."-  Das  Ganze  hieB  jetzt  Bauernnotbewegung  und 
schwur  zur  Schwarzen  Fahne,  1  Meter  mal  1,60  Meter  an  wei- 
Ber,  3  Meter  langer  Stange.  Die  Bauern  folgten  anfangs  nur 
zogernd,  Fiihrer  waren  Rittergutsbesitzer.  Der  Kampf  sollte 
,,dem  nach  bolschewistischem  Muster  afusgeklugelten  System" 
gelten,  also  der  von  Hindenburg  und  Schiele  gefuhrten  Land- 
wirtschaftspolitik. 

Bald  wurde  das  Ziel  konkreter:  ,,Bei  Zwangsversteigerun- 
gen  den  Glatibigern  eine*  geschlossene  Phalanx  entgegenzuset- 
-zen".  Das  ging  so  vor  sich,  daB  sich  die  Revolutionary  oft 
von  weither  kommend,  bei  den  Terminen  einfianden.  Sie  ka- 
men  in  groBen  Autos  und  trugen  knorrige  Stocke  in  der  Hand. 
Ihre  Meinung  taten  sie  deutlich  kund:  ,,Schweinehund  istj  wer 
hier  bietet  . .  /',  „Gemeinheit!  Wer  bietet  da!'1  ,,Wer  wagt. 
es,  ein  Gebot  abzugeben .  . ."  „Wir  wollen  uns  bloB  mal  die 
Herren  ansehen,  die  da  bieten  . ,  /'  ,,Juden  raus!"  ttDer  Jude 
muB  Priigel  bekommen ..."  Einmal  wurde  aui  eine  natiirliche 
Art  derselbe  Erfolg  herbeigefuhrt,  den  degenerierte  Stadter 
durch  das  Werfen  von  Stinkbomben  erreichen.  Den  Vorkamp- 
ief  der  guten  Sache,  der  diese  neue  Waffe  in  den  politischen 
Kampf  einfiihrte,  wird  die  Nachwelt  nicht  feiern  konnen,  sein 
Name  blieb  unbekannt.  Auch  das  Absingen  der  Nationalhymne 
und  andrer  patriotischer  Lieder  war  nicht  als  Forderung  der 
Lizitationen  gedacht. 

Diese  Methoden  brachten  es  mit  sich,  daB  haufig  Ver- 
gleiche  abgeschlossen  wurden,  die  den  Glaubigern  nicht  grade 
giinstig  waren.  Aber  es  konnte  bei  solcher  Milde  nicht  blei- 
ben.  Endlich  drohte  man  of  fen  mit  Gewalt  und  wandte 
Gewalt  an,  Als  Schupo  zum  Schutz  der  Zwangsvollstreckung 
auftrat,  wurde  in  der  „Schlacht  von  Pillkallen"  die  Staats- 
macht  nicht  nur  aufs  Haupt  geschlagen  sondern  auch  mit  Fau- 
sten  bearbeitet,  mit  FiiBen  getreten,  gewiirgt  und  in  vielfacher 
Weise  beschimpft.  Die  Gerichte  zeigten  das  weitestgehende 
Verstandnis  fur  „den  Kampf  um  die  Scholle".  Die  Notlage 
der  Landwirtschaft,  die  einst  „Stolz  und  Grundpfeiler  der  Pro- 
vinz"  gewesen  sei,  legten  sie  den  Reparationen  omd  der  Welt- 
krise  zur  Last  und  fanden,  die  Anfiihrer  hatten  nicht  aus  Eigen- 
nutz  sondern  aus  Hilfsbereitschaft  und  Heimatliebe  gehandelt. 

Man  kann  auch  andrer  Meinung  sein.  Was  besonders  den 
GroBgrundbesitz  angeht,  so  ist  er  offenbar  nicht  nur  infolge 
der  Kriegslasten  weniger  gewinnbringend  als  er  friiher  —  auch 
nicht  war,  aber  —  zu  sein  schien.     Friedrich  Engels  hat  nach 

920 


einer  eingehenden  okonomischen  Untersuchung  von  der  Jun- 
kerschaft  gesagt,  es  sei  „kein  Wunder,  daB  sic  seit  reichlich 
hundert  Jahren  nur  durch  Staatshilfe  aller  Art  vom  Untergang 
gerettct  worden  ist  und  in  Wirklichkeit  nur  durch  Staatshilfe 
fortbesteht.  Diesc  nur  kiinstlich  erhaltenc  Klasse  ist  dem  Un- 
tergang geweiht,  keine  Staatshilfe  kann  sie  auf  die  Dauer  am 
Leben  erhalten".  Eduard  Lasker  hat  ,,im  BewuBtsein  herz- 
licher  Teilnahme  fiir  die  Interessen  der  Landwirtschaft  und 
die  Geschicke  eines  hochwichtigen  und  hochachtbaren  Stan- 
des"  dahin  geurteilt:  ,,daB  die  gegenwartige  wirtschaftliclte 
Lage  unsrer  Nation  einen  so  umfangreichen  GroBgrundbesitz, 
als  einzelne  Teile  Deutschlands  und  besonders  die  Ostprovin- 
zen  PreuBens  aufweisen,  nicht  gestattet . . .,  denn  der  grofie 
Grundbesitz  kann  nur  lohnend  gemacht  werden  mit  Hilfe  weit- 
laufiger  Herrenrechte,  deren  Periode  Deutschland  fiir  immer 
iiberwunden  hat".  Endlich  Max  Weber  hat  von  den  Junkern 
kurzweg  gesagt:  ,,Sie  haben  ihre  Arbeit  geleistet  und  liegen 
heute  im  okonomischen  Todeskampf,  aus  dem  keine  Wirt- 
schaftspolitik  des  Staats  sie  zu  ihrem  alten  sozialen  Charakter 
zuruckfuhren  konnte."  Und  obwohl  grade  dieser  sehr  biir- 
gerliche  Soziologe  voll  Anerkennung  fiir  die  historischen  Ver- 
dienste  der  ostelbischen  Grundbesitzer  war,  so  hatte  er  sich 
aus  nationalen  Griinden  nie  bereitgefunden,  sie,  wie  die  ost- 
preuBischen  Gerichte  es  taten,  den  Stolz  einer  Provinz  zu  nen- 
nen.  Denn  er  stellte  fest,  daB  sie  das  Land  entvolkerten  und 
entdeutschten  durch  ihre  riickstandige  und  brutale  Wirt- 
schaftsfiihrung. 

Immerhin  aber,  da  die  Gerichte  besetzt  waren  mit  Man- 
nern  von  Rechtsbewufitsein  und  von  staatserhaltender  Gesin- 
nung,  so  konnten  sie  nicht  umhin,  den  Radelsfiihrern  einige 
Monate  Gefangnis  zuzudiktieren,  Man  tut  niemandem  Unrecht, 
wenn  man  ausspricht,  daB  Arbeiter  oft  in  ahnlichen  Fallen  zu 
langjahrigen  Freiheitsstrafen  verurteilt  worden  sind.  Von  dem 
Notstand,  den  die  Angeklagten  fiir  sich  in  Anspruch  nahmen, 
meinten  die  Richter  kurzweg,  gegeniiber  Staatsakten  konne 
es  ihn  nicht  geben. 

Das  war  naiv.  Das  Reichsgericht  hat  die  samtlichen  An- 
geklagten freigesprochen  mit  der  Begriindung,  sie  hatten  in 
iibergesetzlichem  Notstand  gehandelt.  Selbst  die  ,Schwarze 
Fahne',  die  Zeitung,  der  Agrarrevolutionare,  rutschte  aus  den 
Pantinen,  als  sie  es  erfuhr.  In  einem  Atem,  das  heiBt  in  ein  und 
demselben  Leitartikel,  versicherte  sie,  der  Freispruch  sei  fiir  sie 
,,von  Anfang  an  selbstverstandlich"  gewesen,  und  nannte  sie  ihn 
den  ,tuberraschenden  Spruch  des  leipziger  Reichsgerichts".  „Von 
ganzem  Herzen1'  stimmte  sie  dem  zu,  was  die  /Deutsche  Zei- 
tung' als  Kommentar  lieferte:  ,,-. . .  richtige  Erkenntnis,  daB  in 
Notzeit  Nbtrecht  gilt.  Zu  spat  fiir  die  Feme-Richter,  die  einem 
blutleeren  Paragraphenwahn  zum  Opfer  fielen .  *  .'* 

Ich  traf  im  Suden  der  Provinz  einen  Amtsrichter,  der  die 
kurz  vorher  ergangene  hochstrichterliche  Entscheidung  noch 
nicht  kannte.  Was  ich  ihm  erzahlte,  wollte  er  kaum  glauben, 
Man  denke,  ein  Richter,  ein  Beamter,  dessen  Autoritat  davon 
abhangt,  daB  die  obern  Instanzen  ihn  schiitzen,  Es  war  gegen 
den  schuldigen  Respekt,  wie  er  sich  ausdriickte.     Die  Reichs- 

921 


richter  durlen  sich  nicht  wundern:  die  Achtung,  die  ihnen  er- 
wiescn  wird,  hangt  von  der  Achtung  abt  die  sie  dem  Gesetz 
zollen. 

An  den  hohern  Stellen,  bei  denen  ich  vorsprach,  war  man 
vorsichtiger.  ,,Wir  kennen  die  Entscheidung  noch  nicht,  wir 
konnen  nicht  urteilen,  so  lange  der  Wortlaut  nicht  vorliegt." 
Juristen  sprechen  so.  DaB  aber  der  Staat  im  Grund  erschiit- 
tert  ist,  wenn  man  ihm  die  Zwangsvollstreckung  nimmt,  daB 
ohne  den  Vollzug  des  Urteils  das  Judizieren  inhaltlos  und 
sinnlos  wird,  das  verkennt  niemand.  Dabei  sind  von  den  ost-*, 
preuBischen  Richtern  neun  Zehntel,  so  sagte  mir  ein  Mann, 
der  es  beurteilen  kann,  rechts.  Das  heiBt  heute  mehr  nazi 
als  deutschnational.  Die  Tatsache  spricht  nicht  fur  die  Per- 
sonalpolitik  des  Justizministers,  sie  spricht  gegen  die  Er- 
ziehungsarbeit  des  Unterrichtsministers.  Aber  die  Meinungen, 
die  ich  horte,  lassen  Interessantes  erwarten  fur  die  KonHikte 
zwischen  den  Gerichten  und  der  kommenden  Hakenkreuzregie- 
rung.  So  radikal  die  Richter  empfinden,  bis  zur  Aufhebung 
der  eignen  Autoritat  —  wohin  das  Reichsgericht  voreilig  ge- 
langt  ist  —    werden  sie  dem  „Fuhrer"  nicht  iolgen. 

Die  ,Schwarze  Fahne*  schrieb,  es  sei  seither  gelungen, 
„die  VorstoBe  der  kampferischen  ostlichen  Bauernfront  durch 
neue  Opiumpillen",  besonders  durch  das  Sicherungsverfahren, 
ttgeschickt  abzuiangen".  Tatsachlich  hat  nicht  nur  das  Reichs- 
gericht nachtraglich  die  Rebellen  gerechtfertigt.  Sondern  der 
Reichsprasident  hat  durch  seine  Notverordnung  die  Zwangs- 
versteigerungen,  gegen  die  sich  <der  Auiruhr  richtete,  vorlau- 
fig  unmoglich  gemacht,  Ich  war  erst  einen  Tag  in  OstpreuBen, 
als  ich  mit  ein  em  Kauimann  zusammensaB,  der  die  Folgen  die- 
ser  f,OstpreuBenhilfe"  am  eignen  Leibe  zu  spiiren  hat.  Ich  sah 
seinen  Laden,  ein  groBes,  mit  allerlei  landwirtschaftlichen  Ge- 
raten  wohlausgestattetes  Gewolbe,  er  erzahlte  mir  von  seinem 
Geschaft,  manches  Jahr  hat  er  einen  Umsatz  von  mehr  als 
einer  Million  gemacht,  Er  hat  immer  reichlich  Kredit  gewahrt, 
und  seine  Schuldner  haben  immer  bezahlt,  wenn  es  auch  lang 
dauerte.  Nun  aber.  als  die  Notverordnung  kam,  zahlten  sie 
nicht  mehr,  auch  die  nicht,  die  zahlen  konnten,  Der  Kauf- 
mann  ist  mit  einer  Viertelmillion  Wechselbiirgschaften  hangen 
geblieben. .  Ein  Opfer,  mehr  der  Moralerschiitterung,  die  die 
Notverordnung  brachte,  als  der  Notlage.  Einem  Handwerker 
ging  es  ahnlich,  und  es  geht  ihm  weiter  so.  Soil'  er  die  Auf- 
trage  ablehnen,  die  ihm  von  den  Gutsbesitzern  zukommen? 
Dann  hat  er  nichts  zu  tun.  Soil  er  Barzahlung  verlangen? 
Dann  wird  er  boykottiert.  Er  dankt  fiir  die  Bestellung,  er 
liefert,  aber  er  wird  nicht  bezahlt.  Der  ostpreuBische  Mai- 
trank  loste  die  Zungen,  und  als  einen  Fetzen  aus  dem  allge- 
meinen  Gesprach  fing  ich  die  Worte  auf:  „Da  ist  der  Lump 
in  Sicherungsschutz  gegangen  (  . «."  So  wird  gesprochen  unter 
Menschen,  die  keine  Feinde  des  Agrarier turns  sind  sondern 
yon  altersher  seine  Freunde  und  Verbundeten.  Die  Agrar- 
subvention  ist  ein  todlicher  Hieb  gegen  die  andern  Stande. 

Der  Oberprasident  Siehr  sagte  mir,  er  habe  vorausgesehen, 
wie  es  kommen  muBte,  daB  der  Kredit  durch  solche  Staats- 
eingriffe    den    argsten    StoB    bekam.      Er   habe    vergeblich    ge- 

922 


warnt,  Man  habe  auch  nicht  auf  die  Warnungen  der  preuBi- 
schen  Regierung  gehort,  Er  verwies  mich  auf  einen  Artikel,- 
den  er  vorher  in  der  Hartung'schen  Zeitung  veroffentlichte.  In 
ihm  heiBt  es:  ,,Erst  kommt  die  Selbsthilfe  aus  der  eignen  Kraft 
und  Tiichtigkeit,  dann  erst  die  OstpreuBens  besondere  Not- 
stande  berticksichtigende  Staatshilfe."  Man  ist  ihm  nicht  ge- 
foigt. 

Die  Urteile  der  ostpreuBischen  Gerichte  werden  auf- 
gehoben,  die  Mahnungen  der  ostpreuBischen  VerwaLtung  in  den 
Wind  geschlagen.  Es  ist  nicht  schwer  zu  sagen,  wie  das  aus- 
gehen  muB:  mit  dem  Bankrott,  den  die  Nationalokonomen 
einem  {iberalterten  Produktionssystem  seit  hundert  Jahren 
voraussagen.  Kein  Regime  ist  denkbar,  das  ihn  verhindert. 
Und  dann?  Wohin  werden  die  Stiicke  springen,  wenn  der 
Kessel  platzt? 

Zwei  Tage  habe  ich  darauf  verwendet,  um  in  Instkaten, 
in  den  Behausungen  der  Landarbeiter,  der  Scharwerker  und 
Hofganger  herumzustobern.  Ich  werde,  so  wie  andre  vor  mir, 
dem  Vorwurf  der  Spionage  nicht  entgehen.  Man  pflegt,  wenn 
ostelbische  Arbeiterwohnungen  mit  dem  Entsetzen,  das  ihnen 
zukommt,  geschildert  werden,  in  den  agrarischen  Zeitungen. 
beleidigt  zu  erwidern,  es  gebe  in  Berlin  auch  Elendslocher. 
Wahrhaftig,  der  Vorwurf  triift-  Trotzdem  bleibt  erschiitternd, 
was  man  sieht.  Hier  das  Herrenhaus  oder  SchloB,  daneben 
die  Reihe  der  erbarmlichen  Hiitten,  da  fallt  das  Stroh  durch, 
dort  fehlen  Steine  im  Ofen,  hier  ist  ein  Zimmer,  voll  von  Kin- 
dern  und  Enkeln,  aber  keine  Mobel,  nur  Lumpen.  In  der 
GroBstadt  ist  man  auf  Enge  gefaBt.  Hier  scheint  so  viel  Raum 
zu  sein,  und  die  Statistik  sagtt  wie  diinnbevolkert  die  Provinz 
ist:  59  Bewohner  auf  den  Quadratkilometer  landwirtschaftlich 
benutzte  Flache,  wo  in  Baden  152  sich  nahren  —  aber  in  den 
dumpfen,  stinkenden  Katen  ist  es  so  eng  und  enger  als  in 
Berlin  N  oder  O.  Das  Seltsame  ist,  aber  es  ist  tmehr  charak- 
teristisch  als  seltsam,  daB  das  Sicherungsverfahren  bis  hier- 
her  reicht.  Obwohl  es  nach  dem  Wortlaut  der  Verordnung 
natiirlich  nicht  bis  hierher  reichen  sollte*  Aber  der  Geist  Ost- 
preuBens  bewirkt  die  Verlangerung.  ,,Der  Herr  kann.  selbst 
nicht  zahlen,"  sagen  die  Unerlosten  entschuldigend.  Der  Re- 
spekt  hat  nicht  gelitten. 

Unter  den  Kampfern  von  Pillkallein  war  der  Ritterguts- 
besitzer  Otto  von  WeiB,  von  dem  sich  in  der  Verhanidlung  her- 
ausstellte,  daB  er  nicht  lange  vor  der  Schlacht  einen  tiefen 
Zug  aus  der  Osthilfe  getan  hatte.  HundertunddreiBigtausend 
Mark  waren  es,  erinnere  ich  mich  der  Zahl  richtig,  die  der 
bolschewistische  Staat  ihm  a  fond  perdu  (und  natiirlich.  ver- 
loren)  zur  Entschuldung  gegeben  hatte.  Trotzdem  girig  er  bald 
danach  aus,  den  Staat  zu  bedrbhen,  zu  prxigeln  und  zu  notigen, 
die  Justiz  zu  vergewaltigen,  die  ihm  jetzt  den  Freispruch,  die 
..Rechtfertigung",  sagt  die  .Schwarze  Fahne\  ins  Haus  ge- 
schickt  hat.  Das  ist,  sagt  man  mir,  niohts  Besonderes  sondern 
das  Allgemeine.  Je  schlechter  ein  Landwirt  wirtschaftet,  desto 
mehr  agitiert  er,  und  je  mehr  er  agitiert,  desto  schlechter  wirt- 
schaftet er.  Es  gibt  noch  viele,  die  zu  Hause  sitzen,  sich  ab- 
rackern  und  sich  durchbringen.   '  Aber  die  einmal   angefangen 

923 


haben,  den  Staat  zu  schropfen,  die  hassen  ihn.  Ob  hier  das 
UnbewuBte  spricht?  Ob  sie  sich  rachen  dafiir,  daB  man  ihn  en 
die  wirtschaftliche  Moral  nimmt?  Es  ist  gewiB  das  historisch 
und  psychologisch  Folgeriehtige,  daB  die  von  der  offentlichen 
Hand  Beschenkten  das  MaB  verlieren.  Und  hier  war  die 
offentliche  Hand  immer  die  offeneHand.  Die  Tradition  ist  alt 
und  fest  begriindet,  und  neuerdings  biegt  ihre  Kurve  ins  Him- 
melblaue.  ,,Dankbarkeit  macht  rachsiichtig"  ist  ein  altes 
Sprichwort. 

Hier  ist  es  also,  wo  seit  einiger  Zeit  die  Gesetze,  nicht  nur 
fur  die  OstpreuBen,  gemacht  werden,  Ich  stand  auf  der  StraBe 
zwischen  Freystadt  und  Deutsch-Eylau  und  blickte  auf  das 
stattliche,  in  schonem  EbenmaB  erbaute  rotliche  Herrenhaus 
hinauf,  das  seit  ein  paar  Jahren  das  Rittergut  Neudeck  ziert. 
Zu  der  Gewichtsverteilung  in  Deutschland  wtirde  es  vielleicht 
besser  passen,  daB  sein  Oberhaupt  Aktien  der  exportierenden 
Veredlungsindustrie  besaBe.  Aber  das  historische  Schicksal 
hat  es  gewollt,  daB  der  Staatschef  hier  zu  Hause  ist,  und  so 
baute  die  dankbare  Nation  ihm  seine  verlorene  Heimat  neu 
auf,  Eine  Schar  junger  Auslandsdeutscher,  die  an  deutschen 
Universitaten  studierent  in  kurzen  grauen  Hosen  und  offenen 
grauen  Hemden  marschierte  in  Dreierreihen  hinauf  zu  ihm. 
,, Nazis",  flusterte  mir  ein  alter  Arbeiter  zu,  der,  die  Pfeife  im 
Mund,  neben  mir  den  Aufzug  betrachtete,  Sie  kamen  von  der 
Ta^ung  des  VDA  und  fuhren  weiter  zum  Tannenbergdenkmal. 
Aui  der  breiten  Terrasse  leuchtete,  von  der  Sonne  hell  be- 
schienen,  das  weiBe  Haar  des  Prasidenten  auf.  Sie  sollten, 
sagte  er,  auch  in  der  Feme  nie  vergessen,  daB  sie  Deutsche 
seien.  Der  tiefe,  wuchtige  Ernst  seines  machtigen  Haupts  lieB 
die  Junglinge  erschauern,  Ob  sie  seine  Wahler  gewesen 
waren,  wenn  sie  das  deutsche  Wahlrecht  besessen  hatten? 
Schwerlich.  Aus  dem  Auto,  das  sie  fortfiihrte,  ragten  die 
Arme,  zum  FascistengruB  erhoben. 

Hier  entstand  der  Konflikt  zwischen  Herrn  von  Hinden- 
burg  und  der  Reichsregierung,  weil  die  neue  Notverordnung 
„nach  bolschewistischem  Muster"  gegen  die  GroBgrundbesitzer 
verfahre.  So  sprachen  die  Anfiihrer  der  ,Schwarzen  Fahne'. 
So  sprechen  wdhl  auch  die  Gutsnachbarn  des  Rittergutsbesit- 
zers  von  Neudeck.  Herr  Elard  von  Oldenburg-Januschau,  die 
Grafen  Finck  von  Finckenstein,  von  Eulenburg-Prassen  und 
von  Eulenlburg-Gallingen,  erzahlt  man  mir,  seien  am  haufig- 
sten  seine  Gaste.,  Man  mag  MeiBners  EinfluB  hoch  oder  nicht 
hoch,  giinstig  oder  ungiinstig  einschatzen  —  jedenfalls,  so  ist 
anzunehmen,  ist  das  Altgewohnte,  Traditionelle  starker. 

Der  Wald,  duftende  Tannen  und  Kiefern,  prangende  Lin- 
den und  Buchen,  umwallt  das  rotliche  SchioB.  Jenseits  der 
StraBe  dehnt  sich  endlos  der  Roggen.  Auf  leuchtend'en  Wie- 
sen  weiden  edle,  warmbliitige  Pferde  und  schwarzweifie  Kuhet 
das  Herrenvieh  streng  getrennt  von  dem  der  Instleute.  Ab- 
seits  lauft  die  gepflasterte  StraBe  mit  Wirtschaftsgebauden 
und  Arbeiterhausern,  Es  ist,  asthetisch  genommen,  nicht  ganz 
stilrein,  daB  sie  nicht  mit  dem  Herrenhaus  erneuert  wurden, 
grauweiB-diirftig  erinnern  sie  an  die  altere  Zeit.  Historisch  be- 
trachtet  aber  ist  es  wohl  richtig.     Die  Pfingstsonne  vergoldet 

924 


alles,  spiegelt  ein  heiteires  Bild  vor,  den  Reichtum,  dea  zwei- 
hundert  Jahre  Staatshilfe  jeder  Art,  eine  endlose  Reihe  der 
Subventionen  i miner  wieder  kiinstlich  erzeugt  hat,  Aber  die 
Decke  iiber  dem  Abgrund  ist  zu  diinn  geworden,  bald  brioht 
sie  zusammen.  Es  wird,  tauschen  wir  uns  nicht,  viel  Krach 
und  Rauch  dabei  geben. 


Wehe  den  Gerichteten!  von  Erich  Muhsam 

friren  ist  menschlich;  noch  menschlicher  ist,  sich  auf  seine  Irr- 
tiimer  versteifen,  sich  um  der  Verteidigung  eines  Irrtums 
willen  dutzendfach  nachtraglich  irren.  In  wichtigen  Dingen 
des  Irrtums  liberf  lihrt  zu  werden,  mindert  namlich  die  Autoritat 
und  bringt  die  innere  Sicherheit  ins  Schwanken.  Der  beschei- 
denste  Burger  wird  in  der  Familie  zum  finsteren  Rechthaber, 
wenn  er  etwa  das  Sohnchen  einer  Luge  wegen  verpriigelt  hat 
und  der  Bengel  kommt  nachher  mit  dem  Beweise  an,  daB  er 
die  Wahrheit  gesagt  hatte. 

Vater  Staat  ist  erst  recht  besor^t,  daB  seine  Autoritat 
nicht  dadurch  Schaden  leide,  daB  ein  gepriigelter  Sohn  nach- 
her sein  Recht,  also  das  Unrecht  des  Staates  beweist,  Darum 
hat  er  seine  Richter  mit  einem  nahezu  kugelsicheren  Panzer 
gegen  die  Gefahr  geschiitzt,  ein  rechtskraftiges  Strafprozefi- 
Urteil  als  unrichtig  anerkennen  zu  miissen.  Die  Paragraphen 
399  bis  413  der  StrafprozeBordnung  setzen  fest,  wann  die  Wie- 
deraufnahme  eines  abgeschlossenen  Verfahrens  stattzufinden 
hat.  Sie  sind  so  gef aBt,  daB  die  ipaar  Falle,  welche  im  Lauf e 
von  Jahrzehnten  zu  einem  Nachverfahren  zugelassen  werden, 
im  Verhaltnis  zu  den  Fehlurteilen,  die  nicht  berichtigt  wer- 
den,  verschwindende   Tausendteilchen  sind. 

Nun  gibt,  es  tatsachlich  kein  Strafurteil,  das  auf  objektiv 
zutreffenden  Feststellungen  beruhte.  .  Aus  widersprechenden 
Zeugenaussagen,  dem  Verhalteri  des  Angeklagten,  subjektiven 
Eihdrucken,  der  Temperamentsanlage  von  Richtern  und  Ge- 
schworenen,  der  Geschicklichkeit  von  Staatsanwalt  und  Ver- 
teidiger  entsteht  eine  Konstruktion,  die  niemals  der  Wirklich- 
keit  entspricht  sondern  das  nach  der  Ermessensfreiheit  des 
Richters  Angenommene  als  wahr  flfeststellt".  Der  Verurteilte 
ist  der  Einzige,  der  den  Sachverhalt  genau  kennt,  und  es  gibt 
keinen  Verurteilten,  der  nicht  die  Empfindung  hatte,  dafi!  ihm 
Unrecht  geschieht,  weil  es  ja  anders  war  als  die  Entschei-. 
dungsgriinde  als  erwiesen  betrachten.  Da  aber  eine  zuverlas- 
sige  Rekonstruktion,  des  Tatbestandes  unmoglich  ist,  hat  das 
Gesetz  Vorsorge  getroffen,  die  hinter  den  Urteilen  brutende 
Staatsautoritat  sicherer  vor  nachtraglicher  Anzweiflung  zu 
schutzen  als  sie  je  imstande  ist,  ihre  Gesetze  gegen  Verletzung 
zu  sichern.  Die  Inszenierung  eines  Nachverfahrens  ist  daher 
auBerst  schwierig,  und  wer  das  Ungliick  hat,  einer  Tat  schul- 
dig  gesprochen  zu  sein,  an  der  er  iiberhaupt  nicht  beteiligt 
war,  hat  genau  so  wenig  Aussicht,  seine  Unschuld  nachzuwei- 
sen,  wie  einer,  der  Unrecht  zu  leiden  glaubt,  weil  das  Gericht 
diese  oder  jene  Eihzelheit  falsch  dargestellt  hat, 

3  925 


Es  ware  jedoch^ganz  verfehlt  anzunehmen,  daB  Falle  wie 
diejeriigen,  welche  die.  Offentlichkeit  bewegt  haben,  weil  eine 
Unzahl  neuer  Tatsachen  uiad  Beweismittct  beigebracht  wurden,. 
ohne  die  Gerichte  zur  Wiederaufnahme  zu  veranlassen  —  ich 
erinnere  an  Max  Hpelz  und,  Walter  Bullerjahn,  — ,  daB  solche 
Falle  selten  waren.  Einer  der  bekanntesten  deutschen  Ver- 
teidiger  hat  mir  vor  nicht  langer  Zeit  erklart,  daB  er  allein 
mindestens  ein  Dutzend  lebenslanglich  Verurteilter  in  den 
Zuchthausern  kenrit,  denen  ihre  Straftat  nicht  nachgewiesen 
ist  und  die  er  fiir  unschuldig  halt  DaB  dieser  krasse  Zustand 
moglich  ist,  ja,  daB  es  gar  nicht  anders  sein  kann,  iiegt  an  der 
Fassung  der  genannten  StrafprozeBordnungsbestimmungen,  die 
'die  Verwerfung  des  Wiederaufnahmeantrags  ohne  mtindliche 
Verhandlung'  fast  in  alien  Fallen  ermoglicht;  —  liegt  besonders 
am  Paragraphen  107  StPO.,  der  da  lautet:  „Uber  die  Zulas- 
sung  des  Antrags  auf  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  ent- 
scheidet  das  Gericht,  dessen  Urteil  mit  dem  Antrag  angefoch- 
ten  wird.  Wird  ein  in  der  Revisionsinstanz  erlassenes  Urteil 
aus  andern  Griinden  als  auf  Grund  des  §  399  Nr.  3  oder  des 
§  402  Nr.  3  (Amtspflichtverletzung  beteiligter  Richter)  an- 
gefochten,  so  entscheidet  das  Gericht,  gegen  dessen  Urteil  die 
Revision  eingelegt  war.  Die  Entscheidung  erfolgt  ohne  mtind- 
liche Verhandlung/'  Die  Richter,  die  zur  Urteilsfindung  in 
erster  Instanz  monatelang  Akten  gewaLzt  haben,  die  die  Ein- 
driicke,  aus  denen  ihr  Votum  erwuchs,  aus  stunden-  oder  tage- 
langer  Beobachtung  des  Angeklagten,  aus  der  subjektiven 
Stimmung  geschopft  haben,  di^  sie  bei  den  Vernehmungen,  in 
den  Verhaadlungspausen,  bei  der  ausgiebigeni  mundlichen  Be- 
ratung  sammelten,  sollen  also  nur  aus  nachher  vorgelegten  Ak- 
ten einsehen,  daB  sie  falsch  geurteilt  haben.  Wenn  sie  nicht 
friiher  schon  voreingenommen  waren,  dann  miissen  sie  es  jetzt 
werden,  Sie  sollen  zugeben;  ich  verlange  die  Aufhebung  mei- 
nes  Urteils,  ich  habe  einen  Fehlspruch  begangen,  ich 
habe  einen  Mitmenschen  ins  Gefangnis  gebracht,  der  nicht 
hineingehort,  nicht  er,  —  ich  bin  schuldig,  bringt  ihnnoch  einmal 
vbr  mich,  daB  ich  ihn  freisprechen  kann!  Erst  wenn  sich  die- 
ser Richter  findet,  so  verlangt  es  die  deutsche  StrafprozeB- 
ordnung,  darf  ein  Justizmord  ungeschehen  gemacht  werden. 
Mato  sollte  einmal  in  den  Fallen,  wo  ein  Wiederaufnahmever- 
fahren  stattgefunden  hat,  prufen,  ob  auch  nur  ein  einziges  Mai 
dieselben  Richter  noch  bei  dem  Gerichtshof  tatig  waren,  der 
das  erste  Urteil  fallte.  Gewohrilich  haben  aber  die  Richter 
eine  zahere  Gesundheit  als  die  Zuchthausler,  und  nur  selten 
wird  ein  Gef angener  im  Kerker  eine  ganze  Straf kammer  iiber- 
lefcen. 

Lion  Fetichtwanger  hat  in  seinem  Roman  ,,Erfolg"  grade 
auf  die  Bestimmung  des  §  407  kraf  tig -hhngewiesen.  Es  sei  mir 
erlaubt,  vorerst  nur  zwei  Falle  aus  meiner  Helf erpraxis  vor- 
zufiihren,  die  die  Tatsache  beleuchten  mogen,  daB  ein  Gerich- 
teter,  auch  wo  er  offensichtlich  das  Opfer  eines  Irrtums  ist, 
gerichtet  bleibt, 

Im  Zuchthaus  zu  Brandenburg  sitzt  ein  Mann  namens 
Josef  Thiemann,  verurteilt  zu  lebensl^lngUcher  Zuchthausstrafe. 
wegen  Brandstiftung   in  Tateinheit  niit  Tptschlag.      Thiemann 

926 


safi  friiher  einmal  im  Gefangnis,  erkrankte  dort  am  Auge, 
muBte  ins  Lazarett  gelegt  werden,  wo  ihm  das  Auge  herausr 
genommen  wurde.  In  der  Zeit,  als  ihm  cin  Glasauge  in  $ie 
leere  Hohle  eingesetzt  werden  sollte,  gelang  es  ihm,  mit  den 
Papieren  eines  Lazarettkameraden  zu  entkommen.  Auf  der 
Flucht  kam  der  entsetzlich  entstellte  Mann  in  einen  Ort,  wo 
grade  ein  Feuer  ein  Haus  zerstort  hatte,  erne  Frau 
war  verbrannt,  die  offenbar  bei  einem  Einbruch  er- 
schlagen  worden  war  und  deren  Leichnam .  durch  die 
Brandlegung  beseitigt  werden  sollte.  Der  Fremde  mit 
der  frischen  grafilichen  Wunde  im  Gesicht  war  natiirlich 
gesehen  worden,  man  verdachtigte  Urn  der  Tat,  er  wurde  ver- 
haftet  und  wies  sich  mit  den  Papieren  des  andern  aus.  Da 
ihm  nicht  das  geringste  bewiesen  werden  konnte,  wurde  er 
nach  wenigen  Tagen  wieder  entlassen,  Thiemann  war  nun 
ganz  ohne  Mittel,  fliichtig,  mit  der  leeren  Augenhohle  von 
graueneinf  lofiendem  Aussehen;  er  stahl  einige  Lebensmittel, 
wurde  ergriffen,  und  im,  Gefangnis  stellte  man  seine  Identitat 
fest.  Weil  er  sich  an  dem  Ort,  wo  er  als  Brandstifter  verhaftet 
worden  war,  falsch  ausgewiesen  hatte,  wurde  er  neuerdings 
mit  dem  Schwerverbrechen  in  Verbindung  gebracht  und  tat- 
sachlich  verurteilt.  Die  Schwurgerichtsverhandlung  wies  eine 
so  ungeheure  Fulle  krasser  VerstoBe  gegen  die  StrafprozeB- 
ordnung  auf,  daB  das  Reichsgericht  die  Revision  nur  mit  der 
Begrundung  verwarJ,  auch  der  Verteidiger  habe  alle  Formen 
beim  Revisionsantrag  verletzt.  Trotzdem  verband  das 
Reichsgericht  mit  dieser  Entscheidung  ein  so  vernichtendes 
Urteil  liber  die  Fuhrung  der  Verhandlung  gegen  Thiemann,  wie 
es  selten  vorgekommen  sein  mag.  Thiemann  ist  verurteilt 
worden,  weil  das  Gericht  den  vorbestraften  Mann  ohne  wei- 
teres  fur  schuldig  hielt,  und  weil  er,  das  steht  im  Urteil  drin, 
einen  „unsympathischen'1  Eindruck  machte;  kein  Wunder:  er 
safi  namlich  noch  ohne  Ersatzauge  auf  der  Anklagebank,  Als 
sich  vor  etwa  drei  Jahren  Thiemann  an  mich  wandte,  ging  ich 
der  Sache  nach  und  kam  zu  der  Uberzeugung,  daB  er  von  der 
Straftat,  fur  die  er  lebenslang  im  Zuchthaus  sitzen  muB,  uber- 
haupt  erst  erfahren  hat,  als  map.  ihn  damit  in  Verbindung 
brachte.  Ich  ubergab  den  Fall  Herrn  Justizrat  Viktor  Fraenkl 
mit  der  Bitte,  sich  seiner  anzunehmen.  Der  bekannte  Vertei- 
diger iibernahm  es  ex  amore,  setzt  nun  seit  Jahr  und  Tag 
Himmel  und  Holle  in  Bewegung,  urn.  den  seit  tiber  zehn  Jahr 
ren  unschuldig  Eingekerkerten  zu  ret  ten.  Vergeblich.  Die  Ge* 
richte  versagen.  Der  preuBische  Justizminister  versagt.  Nie- 
mand  will  an  den  gesetzlichen  Bestimmungen  rutteln.  I>ie 
aber  sind  so  gehalten,  daB  Unrecht  Unrecht  bleiben  muB. 

Der  Pole  Michael  Wittkowski  gehorte  einer  Einbrecher- 
kolonne  an.  Mit  seinem  Bruder  und  zwei  Kameraden  wurde 
in  der  Nahe  Berlins  eine  Aktion  unternommen.  Als  die  vier 
Manner  in  dem '  betref fenden  Ort  eintrafen,  wurden  sie  von 
Feidjagern  schon  am  JBahnhof  mit  dem  Ruf  „Hande  hoch!" 
empfangen.  Es  entspann  sich  ein  Pistolenkampf,  bei  dem  der 
Bruder  Wittkowskis  und  ein  andrer  der  Einbrecher  sowie 
zwei  Beamtc  Helen.  ,  Wittkowski  erhiclt  einen  SchuB  in  deji 
innern   Teil   des  rechten   Oberarms,    ein  Beweis,    daB  er    die 

927 


Hande  hochgehalten,  also  nicht  geschossen  hatte.  Gleichwohl 
wurdc  er  wegen  Mordes  zum  Todc  verurteilt,  spater  zu  lebens- 
langlicher  Zuchthausstrafe  begnadigt.  Dieses  Urteil  war  bis 
jetzt  nicht  zu  beseitigen  oder  zu  mildern.  In  einem  Ablehnungs- 
bescheid  hiefi  es;  Wittkowski  habe  ja  moglicherweise  die  Hande 
erst  hochgehalten,  nachdem  er  bereits  den  Feldjager  erschos- 
sen  hatte.  Eine  an  den  Haaren  herbeigezogene  Konstruktion, 
auf  die  das  verurteilende  Gericht  noch  gar  nicht  verfallen  war, 
muB  also  begriinden,  dafi  „moglicherweise"  doch  kein  Fehl- 
urteii  voriiege  (vorsatzlicher  Mord  kame  iibrigens  auch  nicht 
in  Frage,  wenn  die  verwegene  Annahme  stimmte).  Das  an- 
gebliche  Fehlen  einer  vollkoiiimenen  GewiBheit  des  Justiz- 
mordes  geniigt,  um  jede  Aussicht  zu  verbauen,  den  zu  99  Pro- 
zent  gewissen  Justizmord  wieder  gutzumachen.  In  der  Tat 
hatte  das  Gericht  wahrscheinlich  niemals  ein  derartiges  fiirch- 
terliches  Urteil  gesprochen,  wenn  Wittkowski  kein  Landsmann 
Jakubowskis  ware.  Fur  die  Ablehnung  jeder  Nachpriifung 
maBgebend  aber  ist,  ebenso  wie  im  Falle  Thiemann,  das  Vor- 
strafenregister,  das  besonders  jeden  Appell  an  die  Gnaden- 
instanzen  vergeblich  macht.  Mag  der  Mann  unschuldig  bis  an 
sein  Lebensende  im  Zuchthaus  sitzen;  er  hat  ja  friiher  schon 
cinmal  mit  Recht  drin  gesessen,  da  lohnt  sichs  nicht,  der 
Wahrheit  nachzugehen  oder  geschehenes  Unrecht  auszu- 
gleichen.  Diese  Rechtsverweigerung  verstoBt  gegen  den  Grund- 
satz  ,,Ne  bis  in  idem"  und  lauft  auf  schnode  Ressentiment- 
Justiz   hinaus. 

Ich  blattere  in  meinen  Akten.  Wo  ich  sie  aufschlage, 
finde  ich  Material  zu  dem  Thema:  Unrecht  muB  Unrecht  blei- 
ben.  Jeder  einzebie  Fall  ist  ein  Beweis  daftir,  daB  der  Staat 
die  Rettung  seiner  Autoritat  tausendmal  wichtiger  nimmt  als 
die  Rettung  unschuldiger  Menschen  aus  den  Fangen  der  Justiz. 
Ich  behaupte:  In  den  deutschen  Strafanstalten  verkommen 
Hunderte  von  Menschen,  die  bei  unvoreingenommener  Recht- 
sprechung  selbst  nach  den  stockreaktionaren  Paragraphen  des 
Deutschen  Reichsstrafgesetzbuches  nicht  hatten  verurteilt  wer- 
d'en  diirien,  viele,  die  mit  der  Straftat,  fiir  die  sie  sitzen,  iiber- 
haupt  nicht s  zu  tun  haben  und  die  nie  in  ihre  schreckliche 
Lage  geraten  waren,  wenn  die  Gericht e  in  alien  Fallen  fiir 
den  EntschluB,  einen  Menschen  schuldig  zu  sprechen,  halb 
so  viel  Sorgfalt  aufgewendet  hatten  wie  sie  aufwenden,  um 
die  nachtragliche  Rechtfertigung  des  von  ihnen  Verurteilten 
zu  verhiiten.  Rettung  fiir  die  Opfer  leichtfertiger  Justiz  wird 
es  solange  nicht  geben,  wie  die  Mitmenschen  in  ihrem  Respekt 
vor  der  Obrigkeit  nicht  irre  werden  und  nicht  soviel  Phantasie 
aufbringen,  sich  selbst  in  die  Lage  eines  fiir  Lebenszeit  schuld- 
los  Eingekerkerten  zu  versetzen.  DaB  jeder  in  Gefahr  sei,  sel- 
ber  einmal  dahin  zu  geraten,  wie  man  aus  manchen  Ur- 
teilstexten,  die  sich  nur  auf  zweifelhaften  Indizien  -aufbauen, 
schlieBen  konnte,  soil  freilich  nicht  behauptet  werden.  Mir 
wenigsteris  ist  bis  jetzt  kein  Fall  bekannt  geworden,  wo  ein 
Mitglied  wohlhabender  oder  gesellschaftlich  bevorzugter  Kreise 
ohne  hinlangliche  Beweise  verurteilt  oder  an  der  Berichtigung 
eines  an  ihm  begangenen  Urirechts  behindert  warden  ware. 

928 


DaS  neue  Spanien  von  Ernst  Toller 

V 
Spanische  Miniaturen 

\J^ie  ich  den  Glockcnturm  der  Kathedrale  zu  Toledo  hinauf- 

steige  urid,  weit  oben,  an  der  Wohnung  des  Pfortners 
ausruhe,  erschrecke  ich:  im  Ziminer  sitzt  regungslos  eiite  alte, 
weiflhaarige  Frau  auf  eihem  hochlehnigen  Kirchenstuhl,  ihre 
schwarzen  Aug  en  blicken  starr  gradeaus,  der  Blick  haftet  nicht, 
kein  BiLd  scheint  aui  der  Netzhaut  sich  zu  spiegeln,  aus  der 
Leere  dringt  das  Auge  und  saugt  sich  ins  Leere. 

Das  Unheimliche  der  Erscheinung  nimmt  mir  den  Atem, 
da  sagt  neben  mir  die  Stimme  des  Turmwarts; 

„Sie  ist  gelahmt  seit  dreiBig  Jahren,  sitzt  seit  dreiBig  Jah- 
ren  auf  diesem  Stuhl,  Tag  und  Nacht". 

Ich  steige  langsam  zum  Glockenfirst.  Unter  mir  das  zau- 
berhafte  Gewirr  der  gewinkelten  und  gebogenen  fensterlosen 
StraBen  und  Gassen,  deren  maurische  Architektur  neunhun- 
dert  Jahre  nicht  zerstoren  konnten. 

Es  dammert.  Violette  Schatten  dunsten  aus  den  Montes 
de  Toledo,  die  rote  Wiiste  Kastiliens  verfarbt  sich  lila,  den 
Himmel  umrandet  ein  blasses  geibliches  Band. 

Ich  war  in  Klostern  und  Kirchen  gewesen,  von  denen  einet 
die  schonste,  den  Juden  bis  zu  ihrer  Vertreibung  als  Tempel 
diente,  'hatte  vor  wundertatigen  Madonmen  glestanden,  die  mit 
kiinstlichen  Augenforauen  und  echten  Spitzenkleidern  ge- 
schmiickt  waren,  hatte  das  Greco-Museum  besucht  und  llange 
das  Bild  Philipps  II.  betrachtet,  war  in  Weinschenken  ge- 
sessen  und  hatte  roten  Rioja  getrunken. 

Ich  steige  vom  Turm. 

Wieder  gehe  ich  vorbei  an  der  unbeweglichen  Alten,  die 
in  dem  in  graue  Finsternis  getauchten  Raum  unhorbar  atmet, 
deren  Ohr  den  Stundenschlag  der  Glocke  nicht  mehr  ver- 
nimmt,  noch  das  Jahresgelaut  der  Silvesternacht,  ich  schlieBe 
die  Tiir  hinter  mir  und  stehe  auf  der  StraBe. 

Mein  Blick  fallt  auf  ein  Schild  gegeniiber  der  Katfoedralen- 
mauer: 

,,Calle  Carlos  Marx",     StraBe  Karl  Marx. 

Der  Motor  unsres  Autos  wollte  nicht  anspringen;.  Wir 
muBten  es  hundert  Meter  schieben,  endlich  kam  es  in  Gang. 
Was  war  es  auch  fur  ein  Auto.  Ein  Model!  aus  dem  Jahre 
1910,  das  Schaltbrett  war  mit  Bindfaden  angeb<unden,  die  Hupe 
hupte  nicht,  der  Kiihler  leckte.  Es  kam  gradewegs  aus  dem 
Cafe  der  Bo  he  me  Granja  El  Henar,  einer  der  jungen  Advo- 
katen  mit  sohwarzumranderter  Visitenkarte  hatte  es  uns  ge- 
lichen. 

Wenn  wir  nur  erst  in  Madrid  waren. 

„Licht!",   ruft  uns   ein  entgegenkommender   Chauffeur  zu, 

Ich  schiebe  den  Lichthebel  hin  und  her,  die  Batterie  ist 
leer. 

Wir  fahren  in  den  immer  schwarzer  werden&en  Abend 
vorsichtig  zum  nachsten  Dorf, 

929 


Ja,  es  gibt  einen  Mechaniker,  aber  der  f  eiert  grade 
Hochzeit. 

Bauern,  Madchen,  Jungen  versammeln  sich,  diskutieren, 
scherzen,  Laden  tins  zum  Wein  ein,  Wir  wart  en  eine  Stunde, 
zwei  Stunden.  Endlich  kommt  ein' Lastauto,  wir  halten  es  an. 
Der  Chauffeur  ibesieht  sich  unser  Vehikel,  schiittelt  den  Kopf 
und  versubht,  den  Schaden  zu  reparieren.  Als  ich  ihn  fiir  die 
lange,  muhsame  Arbeit  entlohnen  will,  lehnt  er  lachend  ab; 

„Ich  habe  Ihnen  nur  geholfen." 

Mein  Granja-Advokat  erwartet  mich  schon  in  Madrid.  Ich 
hatte  ihm  vorgeschlagen,  an  diesemTag  statt  seines  Autos  ein 
Taxi  zu  nehmen,  die  Kosten  wollte  ich  tragen,  fiir  funf  Peseten 
kann  man  in  Madrid  stundenlang  spazierenfahren. 

Wir  gehen  in  eine  kleine  Schenke  und  essen.  Die  Ge- 
schichte  unsrer  Schrecken  iiberhort  er*  Plotzlich  zieht  er  ein 
Convert  aus  der  Tasche*  schuttet  weiBes  Pulver  auf  seine 
flache  Hand  und  sagt  leise; 

„Das  ist  Dynamit." 

„Machen  Sie  keine  Dummheiten," 

„Ich  bin  Terrorist.    Ich  bin  zu  all  em  fahig." 

Und  ehe  ich  es  verhindern  kann,  zundet  er  ein  Streichholz 
an,  halt  es  ans  Pulver,  das  flammend  aufzischt. 

Wir  leben  noch.  Dynamit  ist  es  also  nicht  gewesen. 
Wahrscheinlich  Schwarzpulver. 

Ist  der  Mann  bei  Sinnen? 

Da  sagt  er  niit  der  gleichen  leidenden  Stimme  wie  eben: 

,Jch  bekomme  von  Ihnen  funfzig  Pesetas.  So  viel  hat  das 
Taxi  gekostet." 

M  Escorial,  das  Mausoleum  der  konige 

Baedecker  schreibt,  daB  Philipp  II.  wahrend  der  Belagerung 
von  St.  Quentin  dem  heiligen  Laurenthin  ein  Kloster  ge- 
lobt  habe,  weil  seine  Artillerie  des  Heiligen  Kirche  in  Grund 
und  Boden  schoB.  Er  hatte  schon  begonnen,  da  anderte  er 
den  Plan,  am  Ende  stand  ein  Palast  da. 

Ja,  mit  seiner  michternen,  brutalen  Fassade  erinnert  El 
Escorial  an  eine  Artilleriekaserne.  Nackt  und  grau  tiirmt  sich 
dieser  SteinkoloB,  kein  Park  umgriint  ihn,  in  den  Hofen  wach- 
sen  nicht  Baume  noch  Straucher.  Auf  Treppen  und  Gangen 
steht  die  Luft  eisig  und  harsch,  die  aufgestapelten  Kunst- 
schatze  der  Sale  machen  die  Raume  nicht  warmer  und  wohn- 
licher. 

Nur  ein  verbitterter,  die  Welt  hassender  Mann  konnte 
d|ese  Feste  zur  Residenz  bestimmen.  Hier  vergrub  sich  der 
kranke,  frommelnde  Philipp  II.,  Herrscher  eines  Weltreichs, 
dessen  Schlafzimmer  einer  lichtlosen  Zelle  gleicht  Eine 
schmaie,  niedre  Tiir  fiihrt  zu  der  eingebauten  Kapelle,  in  der 
die  Monche,  wahrend  er  dahinsiechte,  laut  psalmodierend  die 
Sterbegebete  lasen.  Diese  Kapelle  ist  €^€  einzige  kalte  Mar- 
morpracht,  raaBlos  und  trotz;  ihrer  GroBe  ohne  Weite. 

Im  Arbeitszimmer,  neben  dem  Stuhi,  der  so  gebaut  ist, 
daB  Philipps  krankes  Bein  darauf  ruhen^  konnte,  steht  ein 
Globus,  Auf  ihm  verfolgte  Philipp  diet  rFahrien  der  stolzen 
Armada  und  die  Flotte  Elisabeths.     Und  wenn  er  miide  war, 

930 


liefi  er  sich  die  Kasten  mit  toten,-  aufgesjpieBten  Riesenschmet- 
terlingen  reichen,   die  die  Wande  schmiicken. 

Mit  Totengriiften  ist  der  Palast  unterkettert, 

Ein  Gewirr  von  weiBen,  marmornen  Salen.  Da  liegen  die 
Mumien  fruh  verstorbener  Kinder,  dort  ruhen  Don  Carlos  und 
Elisabeth,  dort  stehen  die  Sarkophage  der  drei  ersten  Frauen 
Ferdinands  VIL,  in  jenem  Saal  die  der  Prinzen  und  Prinzes- 
sinnen. 

Denkmale  ohne  GroBe,  ohne  Schoriheit. 

Im  achteckigen  Pantheos  de  los  Reyes  stapeln  sich  an  den 
Wanden,  vierfach  iibereinander,  die  vergoldeten,  graumar- 
mornen  Sarge  mit  den  spanischen  Konigen,  ohemisch  konser- 
vierte  Spuren  grerizenloser  Macht  und  grenzenlosen  Verfalls. 

Der  Diener,  der  uns  fiihrt,  weist  auf  einen  Sarg: 

„Vacante",  sagt  en 

f,Fur  wen?" 

„Fur  Alphons  Xffl." 

Und  er  erzahlt,  wie  der  Konig,  ehe  er  Spanien  verlieB,  im 
Auto  hierher  fuhr  und  Abschied  nahm  von  den  Sargen  seiner 
Ahnen  und  von  dem,  der  ihm,  bestimmt  war,  und  in  dem  er 
nioht   ruhen  wird. 

Jerez,  das  Mausoleum  der  Kogndks 

Die  Welt  hat  1914  bis  1918  fur  Demokratie  und  ewigen 
Volkerfrieden  gestritten.  Die  Generale  zogen  schweren  Her- 
zens  den  Degen  zum  letzten  Mai  aus  der  Soheide  und  wo  11  ten 
ihn  nach  Gebrauch  fiir  alle  Zeiten  verrosten  lassen.  Das  war 
nur  bildlich  gemeint,  gezogene  Generalsdegen  hat  noch  nie- 
mand  auBer  bei  Paraden  gesehn.  Aber  da  wir  im  Frieden 
lebten,   war  ein  Krieg  notig,  damit  wieder  Friede  sei. 

'  Die  Generale  waren  die  wirklichen  Kriegsverlierer,  sie 
gruben  sich,  wahre  Helden,  sehenden  Auges  das  Wasser  ab, 
das  ihren  Lebensacker  befruchtet.  So  sagten  sie  zwar  nicitt, 
aber  wir  giaubten  ihnen. 

Kriegsgewinner  waren  zum  Beispiel  die  franzosischen 
Kognakfabrikanten.  Als  die  Kirchenglocken  den  Frieden  ein- 
lauteten,  den  die  Vertrage  von  Versailles,  St,  Germain  and 
Trianon  meinten,  befahl  ein  Paragraph  den  deutschen  Kogtiak- 
f abrikanten,  ihr  Produkt  von  nun  an  „Weinbrand"  zu  taufen. 

Wir  konnen  an  diesem  Beispiel  lernen,  daB  ein  giiter 
Friede  die  Konkurrenz  einschrankt  und  den  Profit  gerecht 
verteilt. 

Spanien  hat  nicht  fiir  den  ewigen  Frieden  gekampft,  diarum 
darf  es  seinen  Kognak  —  Kognak  nenneni, 

Die  Sonne  Andalusiens  gliiht  in  ihm,  und  er  riecht  nach 
der  braunen  Erde  von  El  Majuelo. 

Gebrawnt  wird  er  in  Jerez  de  la  Frontera,  omgebrannt 
irinken  ihn.  diet  Englander  als  Sherry. 

Die  Stadt  verda^ikt  ihren  Ruhm  den  Herren  Pedro  Do- 
meqti,  Gonzalez,  Byass  '&  Co,,  nicht  dem  letzten  Diktator 
Primo  de  Rivera,  del*  hier  geboren  ist,  und  von  dem  ein  Denk- 
mal  noch  heutfe  riinmt,;  tdafi  er  personlich  guten  Willens  war 
amd  dem  Land  Frieden  und  Brot  geschenkt  habe,  Gemeint  ist 

931 


wohl  der  Friede  der  toten  Soldatcn  in  Marokko  und  das  Brot, 
das,  nach  Goethe,  rait  Tranen  gegessen  wird. 

Bei  Gonzalez,  By  ass  &  Co.  zieren  die  Wande  des  Emp- 
fangsrauins  eingerahmte  Briefe:  da  bestellt  King  George  ein 
Flaschchen  Sherry  aus  dem  Jahre  93,  und  der  Hofmarschall 
erkundigt  sicli,  diamit  man  auch  ihn  nicht  vergesse,  mit  sanftem 
Wink  nach  der  lieben  Gattin.  Alphons  XIII.  bedankt  sich  fiir 
die*  letzte  Sendung  Insuperable,  in  einem  Brief  lesen  wir,  daB 
der  verstorbene  Zar  gern  ein  Glaschen  Solera  trank, 

Der  Konige  Sorgen  sinid  nicht  unsre  Sorgen,  ihre  freuden 
inanchm&L  auch  die  unsem, 

Nicht  Herr  Gonzalez,  Konsul  zahlreich  gestiirzter  Throne, 
macht  den  Fxihrer  durch  die  riesigen  Bodegas,  er  ist  den  Weg 
alles  Irdischen  gegangen,  die  Englander  haben  seine  Fabrik 
aufgekauit  Ein  gelangweilter  Gentleman  zeigt  uns  die  Kelle- 
reien,  laBt  die  ordinaren  Weine  kosten  und  die  erlesenen  im 
FaB  bewundern. 

Jetzt  weiB  ich  endlich,  wo  die  GroBen  der  Erde  ihre 
Visitenkarten  abzugeben  pflegen,  wen  sie  als  hochstgeboren 
anerkennen,  und  wem  sie  Autogramme  schenken. 

Auf  d-en  Fassern  wimmelt  es  von  landesfarbigen,  bron- 
zierten  Kaiser-,  Konigs-,  Herzogs-,  Infanten-,  Infantinnen- 
kronen   und  den  Kreideautogrammen  ihrer  Trager. 

Zui  Weihnachten  werden  FaBchen  an  die  europaischen 
Hofe  gesandt,  gratis  und  franko,  dafiir  darf  danu  Herr  Gon- 
zalez den  Namen  der  hohen  Paten  auis  Flaschenetikett  setzen. 
Fiir  Zahnpasta  und  Mundwasser  Reklame  zu  miachen,  iiber- 
lassen  die  Konige  den  Filmstars. 

Mit  einer  Stimme,  die  bei  jedem  Komma  die  Hacken  zu- 
sammenschlagt,  berichtet  unser  Fiihrer  von  den  festlichen 
Taufen  der  Jerez,  Solera,  Monzanilla,  Amontillado,  Tres  cepas, 
Soberano,  Insuperable. 

„Deni  hat  der  hochselige  Herr  Vater  Seiner  Majestat  be- 
vorzugt,  und  dieses  FaB  haben  wir  dem  Geburtstag  der  In- 
fantin  Isabel, geweiht." 

„Hier,  meine  Herrschiaften,  lagern  die  Passer  .Christus 
und  die  zwolf  Apostel',  hier  der  ,Methusalem',  dort  ,So- 
berano',  der  Konig  der  Kognaks,  der  ,Fundador  von  Gon- 
zalez', und  da  in  der  Ecke  .Insuperable',  der  kognakliche  Ur- 
groBvater,  den  Napoleon  vor  der  verlorenen  Schlacht  bei 
Ballen  trank". 

An  wen  erinnert  mich  dieses  Mausoleum;  der  Weinfasser? 

Der  Gruft  im  Escorial  ist  es  nachgebildet,  auch  hier  wer- 
den die  koniglichen  Spuren  konserviert  und  fiir  Trinkgeld  ge- 
zeigt. 

,,Nun,  meine  Herrschaften,  kommen  wir  in  die  Concha, 
die  Kuferei,  Diesen  Raum  beehrte  die  konigliche  Familie  vor 
kaum  zwei  Jahren  mit.  der  Einnahme  des  landesublichen 
Friihstaicks.  An  einfachen  Holztischen  safien  die  Infanten  und 
Infantinnen,  auch  das  hohe  Konigspaar  machte  keine  Aus- 
nahme.  Sie  konncn  auf  dem  groBen  FaB  in  der  Mitte  die  Ge* 
schichte  dieses  Vormittags  lesen,  Konig,  Alphons  hat  sie  eigen- 
handig  signiert". 
932 


Ich  hatte  genug  von  Konigen  und  Lakaien  und  ging  zu  den 
Arbeitern.  Sie  erzahlten,  daB  sie  bis  zur  Revolution  fur  dret 
Pesetas  Tageslohn  arbeiten  muBten,  daB  sie  immer  mehr  durch 
Frauen  ersetzt  werden,  weil  die  fur  die  Halite  schaffen,  und 
daB  die  republikanischen  Hoflieferanten  sie  am  laufenden  Band 
lehren,  was  Gott  mit  dem  Arbeitsfluch  gemeint  hat. 

Beim  Absohied  findet  unser  Fiihrer  in  die  irdischen 
Spharen  zuriick,  er  iiberreicht  uns  einen  Katalog,  wir  fanden 
darin  die  gezeigtem  Weine,  bei  zehn  Flaschen  bekamen  wir  die 
Ware  zuzuglich  Spesen  und  Verpackung  frei  ins  Haus, 


Ich  bill  Pazifist  von  Joachim  Joesten 

Cagen  Sie  das  einmal,  laut,  in  Gesellschait  oder  in  oHentlicher 

*^   Versammlung.     Sie  werden  dann; 

bei  den  Nazis  verpriigelt  und  hinausgeworfen, 

bei  den  Kommunisten  ausgelacht, 

bei  der  biirgeriichen  Rechten  geschnitten, 

beim  Zentrum  sehr  streng  gemustert, 

bei  der  biirgeriichen  Linken  gemieden, 

bei  der  SPD  riickt  alles  horbar  von  Ihnen  ab. 

Wenn  Sie  Gliick  haben,  werden  Sie  nicht  sofort  verhaitet. 

Das  ist  Deutschland,  Anno  1932,  Dasselbe  Deutschlandt 
das  so  riihrend  erst  aunt  und  gekrankt  sein  kann,  weil  Frank- 
reich  nicht  abriistet  sondern  miBtraut,  die  andern  Nachbarn 
sich  iiber  Handelsflugzeuge,  Schutzpolizei  und  chemische  La- 
boratorien  dumme  Gedanken  machen  und  Auslandsgeld  durch 
jedes  wahrnehmbare  Lpchlein  abrinnt.  Dasselbe  Deutschland, 
dessen  Kirchen  beten:  ,,Der  Friede  sei  mit  dir",  und  dessen 
Verfassung  bestimmt,  daB  in  alien  Schulen  im  Geiste  der  Vol- 
kerversohnung  zu  wirken  sei. 

Immerhin,  es  kann  vorkommen,  daB  sogar  in  diesem 
Deutschland  der  iibergenialen  Scheidung  zwischen  Theorie  und 
Praxis  ein  Mann,  der  zwar  nicht  laut,  aber  doch  leise  sein  pa- 
zifistisches  Credo  bekennt,  bis  zu  Statten  akademischer  Lehre 
vordringt,  um  dort  im  Sinne  der  Reichsverfassung  zu  wirken, 

Dann  aber  geschieht  etwas  ganz  GroBes.  Was  keinem 
Luther  und  keinem  Bismarck  gelang,  das  erreicht  er,  der 
Arme.  Er  stellt  eine  vollkommene  deutsche  Einigkeit  her: 
gegen  sich, 

Nicht  dieser  Mann  oder  sein  Fall  interessieren;  auch  nicht 
die  von  ewigen  Naturgesetzen  bestimmte  Stellungnahme  der 
Nationalen.  Was  aber  wirklich  einige  Beachtung  verdient/das 
ist  die  Haltung  des  republikanischen  Deutschlands  in  solcher 
Lage,  Eine  Haltung,  die  in  klassischer  Schonheit  in  einer  Re- 
solution des  sogenannten  „Deutschen  Studentenverbandes'* 
(Weimarer  Koalition)  zum  Fall  Dehn  zum  Ausdruck  kam.  Die- 
ser Protest  gegen  die  Nationalisten  begann  ungefahr  so: 

„Der  unterzeichnete  Verband  lehnt  es  nachdriicklichst  abt 
mit  der  politischen  Haltung  Professor  Dehns  identifiziert  zu 
werden..." 

Das  ist  es:  Sie  lehnen  ab,  nachdriicklich  und  geschlossen 
lehnen  sie  ab,     Es  ist  heute  zu  gefahrlich. 

933 


Hitler  hat  es  nicht  schwer  gehabt,  aus  solchem  Material 
eine  Bewegung  zu  schaffen,  die  den  furor  teutonicus,  besser 
die  dementia  teutonica,  zum  Selbstzweck  erhebt.  Die  Motten- 
kiste  stand  da,  er  brauchte  nur  hineinzugreifen.  Drill  und  De- 
filieren  kpmmen  nie  atis  der  Mode,  beim  ersten  Trommelwir- 
bel  schwenken  zwei  Drittel  des  Volkes  von  selber  ein.  Was 
aber  macht  man  mit  dem  letzten  Drittel,  das  aus  irgendeinem 
Grunde  noch  bockbeinig  bleibt?  Hitler  weiB  Rat,  er  kennt 
seine  Pappenheimer.  Auch  ein  rosarotes  Herz  schlagt  hoher, 
wenn.  in  die  zugehorigen  Weichteile  erst  der  richtige  Stiefei 
tritt.  Wen  die  Trompete  nicht  weckt,  der  erwacht  doch  ga- 
rantiert,  sobald  die  Kapelle  die  schone  Weise  spielt;  „Hangen, 
Kopfen,  ,  ErschieBen . . .",  „Aufbliihen  der  Hanfindustrie  . .  .", 
„. . ,  fahle  Knochen  an  Laternenpfahlen , . .",  t1SA.  steht  bereit, 
Ihren  Kopf  abzuholen ,  •  /'  und  was  dergleichen  schone  deutsche 
Volkslieder  sind.  Das  pragt  sich  ein,  das  wirkt.  Durch  das 
erwachende  Deutschland  lauft  ein  einziges  Zittern.  Schlotternd 
und  zahneklappernd  reiht  sich  das  letzte  Drittel  ein,  zum  Auf- 
bruch  der  Nation.  Wem  der  Parademarsch  nicht  in  die 
Knochen  fuhr,  der  versteht  doch  den  zarten  Wink  mit  dem 
HenkersbeiL 

,,Steh  ich  auch  auf  der  Liste?  Kommt  die  SA.?.  -  .'*  Vor 
solchen  Fragen  treten  alle  andern  zurtick.  Ein  grofies  Winseln 
hebt  an.  Pazifismus  und  Syphilis  sind  bei  uns  synonym  ge- 
worden.  Pazifist,  Waschlappen,  mieser  Jude,  Feigling  des- 
gleichen.  Das  hat  mit  ihrem  Singen ... 

Warum  steht  nicht  endlich  einmal  irgend  ein  Mann  von 
Rang  und  Namen  auf,  Arier,  1,90  Meter  groB,  halben  Meter 
breit,  Sportsmann  (am  besten  Boxer),  Vollblut-Germane,  und 
schreit  es  der  ganzen  Meute  ins  Gesicht:  Ich  bin  Pazifist! 
Kommt  her,  wenn  ihr  was  wolltJ   Ich  bin  und  bleibe  Pazifist! 

Weil  alles  zu  feige  ist,  Weil  mit  der  Demokratie  jeder 
Schimmer  wahren  Mutes  aus  dem  Lande  entwichen  ist.  Hitler, 
zur  Macht  gelangt,  wird  iiber  ein  Reich  von  Jammergestalten 
gebieten. 

Was  hat  es  denn  mit  Mut  und  Tapterkeit  zu  tun,  wenn  ein 
Haufe  zwangsweise  eingezogener  Burger  die  fahlen  Knochen 
in  eine  Uniform  prefit,  urn  sich  irgendwo  vor  Verdun  oder 
Koln  vom  besser  gerusteten  Feind  in  den  Dreck  kartatschen 
zu  lassen?  Urn  in  Kellerlochern  wie  Ratten  am  ausgestreuten 
Gift  zu  bersten,  unter  Fliegerbomben  zerquetscht,  von  Flam- 
men  versengt,  durch  die  Allmacht  der  Technik  zermalmt  zu 
werden. 

Nichts  hat  es  mit  Tapferkeit  zu  tun! 

Die  einzigen  wahren  Helden  unsrer  Zeit  sind  konsequente 
Kriegsdienstverweigerer.  Mut  gehort  dazu,  als  personlich 
wehrhafter,  kraftvoller  Mensch,  der  M.eute  zum  Trotz,  vom 
Wahnsinn  umbrandet,  „Nein '  zu  sagen,  wenn  der  nachste  Mo- 
Ijilmachungsbefehl  an  den  Anschlagsaulen  erscheint.  Trotz 
^Reichsgericht  und  Hanfindustrie, 

Diesen  wahren  Mannesmut  gibt  es  von  der  Etsch  bis  an 
den  Belt  nicht  mehr.   Alle  Achtung,  Herr  Hitler! 

*>34 


Die  neue  Inquisition  von  ueroert  inering 

VfT  er  von  Inquisition  und  Hexenverfolgungen  las,  glaubte 
noch  vor  wenigen  Jahren,  daB  diese  Zeiten  endgiiltig 
voriiber  seien.  Man  nahm  an,  daB  der  Gcisteszustand  „Mittel- 
alter"  mit  der  Zivilisierung  und  Technisicrung  der  Welt  ver- 
nichtet  sei.  Wie  aber  in  denselben  Jahren,  in  denen  Entfer- 
nungen  zusammengeschmolzen  sind  und  Radio  und  Flugzeug1 
die  Grenzen  iiberwunden  haben,  die  politische  AbschlieBung 
der  Volker  gegeneinander  nur  noch  bosartiger  geworden  ist, 
so  ist  auch  der  geistige  Zustand  des  Teufelsglaubens  und  der 
Hexenverbrennung  wiedergekehrt.  BeeLzebub  —  das  ist  heute 
t, Marxist".  Satan  —  das  ist  nJude".  Dann  kommen  die 
kleinen  Teufel  des  ,,Kulturbolschewismus".  Aber  auch  der 
1(Fascist"  hat  auf  der  andern  Seite  seine  Schuldigkeit  getan. 
Wenn  es  ein  Kampi  der  Machtgruppen  und  Parteien  ware! 
Aber  diese  Parolen  haben  sich  langst  selbstandig  gemacht  und 
wirken  wie  Giftgas,  das  abgeblasen  wird  und  alles  totet,  was 
zufallig  in  seinen  Bereich  gerat.  Geistiger  Kampf  ist  unmog- 
lich  geworden.  An  die  Stelle  des  Arguments  tritt  die  Ver- 
dachtigung.  An  die  Stelle  der  Begriindung  die  Denunziation. 
Am  verheerendsten  ist  die  Wirkung  da,  wo  der  Beruf  heraus- 
gehobene  Leistungen  verlangt,  also  im  geistigen  und  kunstle- 
rischen  Bezirk.  Jeder  Stumper  kann  heute  dem  Begabten  die 
Arbeit  unmoglich  machen,  wenn  er  ihm  eins  der  Schlagworte 
anhangt.  Jeder  schlechte  Schauspieler  kann  den  bessern  be- 
seitigen,  wenn  er  ihn  verdachtigt,  daB  er  nicht  national  sei. 
Jeder  Kapellmeister  kann  mit  der  Bemakelung  „Kulturbolsche- 
wist"  aus  seiner  Stellung  gedrangt  werden.  Uberall  haben  die 
MittelmaBigen  die  Walfen  in  die  Hand  bekommen,  um  die  Be- 
gabten um  die  Ecke  zu  bringen.  Neid  und  MiBgunst  erhalten 
ihre  ethische  Beglaubigung. 

Schauspiel  und  Oper,  Kunstakademien  und  Orchester 
stehen  unter  dem  Zeichen  der  Inquisition-  Alle  jene  Schlag- 
worte wenden  sich  an  primitive  Instinkte.  Das  ist  ihre  Wirk- 
samkeit.  Unter  ihnen  kann  man  sich  nichts  und  alles  denken. 
Das  ist  ihre  Gefahrlichkeit.  Oberall  bilden  sich  Zellen,  die  die 
Kiinstler  iiberwachen,  die  ihre  Ausdriicke  kolportieren,  die 
nach  Rasse  und  Art  schniiffeln  und  den  „Judenfreund"  ebenso 
verdachtigen  wie  den  Juden  selbst.  Wer  die  Theateratmosphare 
kennt,  wer  weiB,  wie  in  der  Garderobe,  hinter  der  Biihne  leicht 
ein  Wort  gesagt  wird,  das  der  Schauspieler  schon  im  nachsten 
Moment  vergessen  hat,  kann  sich  ausmalen,  wie  zermiirbend 
das  MiBtrauen  und  die  Angst  vor  der  Bespitzelung  wirken 
miissen.  In  dem  Moment,  in  dem  den  meisten  Theatern  und  be- 
sonders  den  Opernhausern  die  materielle  Basis  weggezogen 
worden  ist,  in  dem  jeder  Schauspieler,  Sanger,  Chorist  und 
Orchestermusiker  fur  die  nackte  Existenz  in  der  Krise  zittern 
muB,  in  demselben  Moment  wird  der  seelische  Druck  durch 
Gesinnungs-  und  Rassensfchnuffelei  bis  ins  Unertragliche  ge- 
steigert, 

Man  wird  es  nicht  leugneri  wollen,  daB  auch  auf  der  lin- 
ken  Seite  verhSngnisvolle  Fehler  gemacht  worden  sind.  Auch 
dort  geniigte  oft  ein  Wort,  um  den  geistigen  Partner  zu  dis- 

935 


kreditieren  und  ihn  als  „Kulturfascisten '  zu  erledigen.  Was 
heutc  geschieht,  ist  schlimmer.  Da  es  klare  Losungen  nicht 
gibt,  so  kann  jeder  dem  Banne  verfallen,  wenn  er  scincm  Geg- 
ner  unbequem  geworden  ist,  Nicht  die  offene  Feindschaft, 
nicht  der  klare  Kampf,  nicht  cinmal  brutale  Gewaltanwendung 
zerriitten  die  Theater,  sondern  die  Unsicherheit  iiber  die  Me- 
thoden  und  Ziele  der  Reaktion.  Natiirlich  ware  es  Hysterie, 
anzunehmen,  daB  die  Nationalsozialisten  etwa  beabsichtigten, 
jede  moderne  Kunst  wegzurasieren.  Die  Mittet  aber,  die  den 
kuitureilen  Unterfiihrern  an  die  Hand  gegeben  sind,  die  Zellen- 
organisationen,  die  sick  heute  schon  durch  alle  Kunstinstitute 
ziehen,  die  Machtlosigkeit  der  Zentrale  gegen  alle  willkiirlichen 
Interpretationen  und  selbstherrlichen  Obergriffe,  die  Unklarheit 
des  Kulturprogramms,  die  Personenunkenntnis,  die  mangel- 
hafte  Beherrschung  des  Materials  —  alles  das  genugt,  um  die 
lahmende  Wirkung  zu  erklaren. 

Die  alte  Fuhrerschicht  unter  den  Theaterdirektoren,  be- 
sonders  unter  den  berlinern,  ist  mit  Recht  erledigt.  Aber 
grade  besann  man  sich,  nicht  zuletzt  unter  den  Schauspie- 
lerri,  auf  das  Werk,  auf  gemeinsame,  auf  kollektivistische  Zu- 
sammenarbeit.  In  diesen  Augenblick  fallen  die  Hexenprozesse 
gegen  die  ,,KulturboLschewisten",  die  Inquisition  gegen  eine 
Kunst,  die  internationale  Gultigkeit  hat.  Es  ware  eine  bil- 
lige  Methode,  die  Schlagworte  gegen  ihre  eignen  Urheber  zu 
kehren.  Eine  billige  Methode,  weil  sie  spottleicht  ist.  Denn 
die  Werkarbeit  wird  von  denen  zersetzt,  die  den  Kampf  ge- 
gen, die  ,,Zersetzung"  zu  ihrem  Programm  erhoben  haben.  Die 
MittelmaBigkeit  wird  von  denen  gefordert,  die  die  ,,Ftihrer- 
auslese"  propagieren.  Andres  ist  notwendig.  Abriistung  der 
Phrase,  Abriistung  der  ziellosen  Schlagworte,  Abriistung  des 
Giftgaskarrapfes.  Aufriistung  der  geistigen  Waffen.  Denn  der 
Auseinandersetzung  und  der  Entscheidung  wird  niemand  aus- 
weichen  wollen. 


Die  gute,  alte  Zeit 


YVTegen  Bcleidigung  des  Vorstandeg  des  Deutschen  Wehrvereins, 
■"  Ortsgruppe  Koln,  des  Generalleutnants  Exzellenz  Bauer,  und  des 
dritten  Vorsitzenden  des  genannten  Ausschusses,  Dr.  Hofweifier,  hatte 
sich  der  Kaufmann  Jos.  Hansmann  von  hier  vor  dem  kolner  Schoffen- 
gericht  zu  verantworten.  Er  hatte  einen  Aufruf  des  genannten  Vereins 
zum  Beitritt  als  Mitglied  erhalten  und  mit  der  Bemerkung:  er  bitte, 
verniinftige  Menschen  mit  derartigen  Eseleien  zu  verschonen,  zuriick- 
gehen  lassen.  Der  Verteidiger  des  Angeklagten  bemerkte,  dafi  seinem 
Klienten  als  Angehorigen  der  Abriistungsideen  durch  den  Aufruf  zum 
Beitritt  in  jenen  Verein  eine  Charakterlosigkeit  zugemutet  worden  sei. 
Zudem  enthalte  der  Aufruf  eine  schwere  Beleidigung  unsrer  groBen 
Nachbarnation  Frankreich,  welche  nach  dem  Wortlaut  des  Aufrufs 
das  Deutsche  Reich  uberfallen  wolle.  Das  Urteil  lautete  auf  Frei- 
sprechung,  da  der  Angeklagte  in  Wahrung  berechtigter  Iuteressen  ge- 
handelt  habe.  Er  habe  als  Anhanger  der  allgemeinen  Friedensbestre- 
bungen  die  ihm  durch  den  Aufruf  gestellten  Zumutungen  mit  ent- 
sprechenden  Bemerkungen  zuriickweisen  durfen.  Aus  den  Umstanden 
gene  die  Absicht.  einer  Beleidigung  nicht  hervbr,  Er  habe  nur  die  Be- 
strebungen  des  Wehrvereins  in  seiner  Weise  charakterisieren  wollen. 
,General'Anzeiger  fur  Elberfeld-Barmeri,  25.  Juli  1912 

936 


SchllipSel  von  Peter  Panter 


F\ie  Psychologie,  wie  wir  sic  in  den  meisten,  also  schlechten  Filmen 
*-^  sehn,  ist  durchaus  nicht  so  weltfremd,  wie  man  denken  sollte. 
Sie  kehrt  in  vielen  Urteilsbegriindungen  der  Strafkammern  wieder. 

* 

Jeder  historische  Roman  vermittelt  eih  ausgezeichnetes  Bild  von 
der  Epoche  des  Verfassers. 

*v 

Wenn  ich  so  die  unentwegten  Marxisten  lese,  dann  frage  ich 
mich  immer:  Wird  eigentlich  in  Rufiland  auch  gestorben?  Und  was 
ist  der  Tod  bei  denen?  Ein  Betriebsunfall?  Ein  kleinbiirgerliches 
Vorurteil? 

Die  Leute  blicken  immer  so  verachtlich  auf  vergangene  Zeiten, 
weil  die  dies  und  jenes  „noch"  nicht  besafien,  was  wir  heute  besitzen, 
Aber  dabei  setzen  sie  stillschweigend  voraus,  dafi  die  neuere  Epoche 
alles  das  habe,  was  man  friiher  gehabt  hat,  plus  dem  Neuen.  Das  ist 
ein  Denkfehler. 

Es  ist  nicht  nur  vieles  hinzugekommen.  Es  ist  auch  vieles  ver- 
loren  gegangen,  im  guten  und  im  bosen.  Die  von  damals  hatten  vieles 
noch  nicht.     Aber  wir  haben  vieles  nicht  mehr. 

Jede  Glorifizierung  eines  Menschen,  der  im  Kriege  getotet  worden 
ist,  bedeutet  drei  .Tote  im  nachsten  Krieg. 

Was  die  Leute  nur  immer  mit  der  Unsterblichkeit  und  mit  der 
Nachwelt  haben!  Wer  in  Breslau  wohnt,  kauft  sich  seine  Stiefel  nicht 
in  Klondyke  —  Breslau  hat  selber  Schuhgeschafte,  Jede  Zeit  deckt 
ihren  Alltagsbedarf  bei  sich  und  nicht  bei  vergangenen  Epochen.  Das 
Jahr  2114  wird  seine  Kiinstler,  Schwindler,  Schuster  und  Politiker 
haben  —  es  braucht  die  unsern  nicht.  Es  wird  auf  manche  zuriick- 
greifen,  aber  nur  auf  wenige,  und  auch  die  werden  nicht  allein  nach 
ihrer  Grofle  ausgewahlt,  sondern  nach  den  Bedurfnissen  der  Zeit. 
Wie  machen  wir  es  denn?    Wir  machen  es  genau  so. 

* 

,  Bitter,   wenn   sie  einen  Liebhaber  gehabt   hat,  der   mit  Vornamen 
so  heiflt  wie  du, 

* 

Wenn  sich  im  Jahre  1890  eine  alte  Jungfer  beim  Arzt  einer 
grofien  Untersuchung  unterziehen  mufite  und  wenn  der  Arzt,  als  ob 
das  gar  nichts  ware,  sie  aufforderte,  sich  auszuziehen,  dann  konnte 
es  wohl  geschehn,  daB  die  Dame  mit  einem  Augenaufschlag  errotend 
fliisterte:   „Darauf   bin   ich   nicht   eingerichtet!" 

Der  Widerstand  gegen  die  Psychoanalyse  ist  nichts  andres. 

* 

Kennzeichen  eines  zweitrangigen  Schriftstellers:  „. . .  entgegnete  er 
sachlich."  Das  Wort  bedeutet  uberhaupt  nichts.  mehr,  man  kann  es 
fortlassen,  ohne  dafi  sich  der  Sinn  andert,  und  es  zeigt  nichts  an  als 
die  Unfahigkeit  eines  Gehirns,  sich  gegen  das  Gewasch  der  Mode- 
worter  zur  Wehr  zu  setzen. 

Da  erzahlen  sich  die  Leute  immer  so  viel  von  Organisation  (sprich 
vor  lauter  Eile:  „Orrnisation ').  Ich  finde  das  gar  nicht  so  wunder- 
herrlich  mit  der  Orrnisation. 

Mir  erscheint  vielmehr  fur  dieses  Gemache  bezeichnend,  dafi  die 
meisten  Menschen  stets  zweierlei  Dinge  zu  gleicher  Zeit  tun.  Wenn 
einer  mit  einem  spricht,  unterschreibt  er  dabei  Briefe.  Wenn  er 
Briefe  unterschreibt,  telephoniert  er.     Wahrend  er  telephoniert,   diri- 

937 


giert-  er  mit  dem  linken  Fufl  einen  Sprit-Konzern  (anders  sind  diese 
Direktiven  auch  nicht  zu  erklaren).  Jeder  hat  vierundfunfzig  Amt€n 
„Sie ,  glauben  nicht,  was  ich  alles  zu  tun  habe!"  —  Ich  glaubs  auch 
nicht-  Weil  das*  was  sie  da  formell  verrichten,  kein  Mcnsch  wirk- 
lich  tun  kann.  Es  ist  alles  Fassade  und  dummes  Zeug  und  eine  Art 
Lebensspiel,  so  wie  Kinder  Kaufmannsladen  spielen,  Sie  baden  in 
den  Formen  der  Technik,  es  macht  ihnen  einen  HeidenspaB,  das  alles 
zu  sagen;  zu  bedeuten  hat  es  wenig,  Sie  lassen  das  Wort  „betriebs- 
technisch"  auf  der  Zunge  zergehn,  wie  ihre  GroBeltern. ..  das  Wort 
„Nachtigall".  Die  paar  verniinftigen  Leute,  die  in  Ruhe  eine  Sache 
nach  der  andern  eriedigen,  immer  nur  eine  zu  gleicher  Zeit,  haben 
viel  Erfolg,  Wie  ich  gelesen  habef  wird  das  vor  allem  in  Amerika  so 
gemacht.  Bei  uns  haben  sie  einen  neuen  Typus  erfunden;  den  zappeln- 
den  Nichtstuer, 


Das  rote  Schwanzchen  von  Rndoit  Arnneim 

Der  JcommunisiiscJien  Presse  in  Freundschaft 
VV7ir  zeigen  unsern  Lesern  heute  in  gelungener  GroBauf- 
M  >  nahmc  die  Beine  der  Schauspiclerin  Marlene  Dietrich  — 
wohlgeformte,  seidenurnflorte  Instrumente  des  Klassenkampfes, 
den  das  internationale  Filmunternehmertum  unter  Ausbeutung 
hungernder  Statisten  fuhrt,  um  die  Gehirne  der  werktatigen 
Massen  zu  umnebeln/1 

„Wahrend  die  letzten  Strahlen  der  untergehenden  Sonne 
schrag  durch  die .  bunten  Scheiben  in  das  dammernde  Re- 
fektorium  einfielen,  fragte  inn  der  Prior  mit  einem  liisternen 
Grinsen  auf  seinem  fetten  Gesicht,  ob  er  sich  an  seinem  Mit- 
bruder  Antonius  widernattirlich  und^gegen  Gottes  Gebot  vef- 
gangen  habe.  Eine  Huchtige  Rote  tiberflog  die  Ziige  des  Be- 
fragten.  Das  abgeharmte  Gesicht  und  die  flackernden  Augen 
redeten  nur  allzu  deutlich  von  den  verschiedenartigeri  Aus- 
schweifungen,  zu  denen  ihn  die  Entbehrung  natiirlicher  Liebes- 
befriedigung  gefiihrt  hatte,  zu  der  ihn  die  heuchlerischen  Zoli- 
batsvorschriften  des  Papsttums  zwangen.  Nicht  genug  mit 
dieser  Erniedrigung,  forderte  ihn  der  Prior,  indem  er  einen 
Leuchter  hochhielt,  auf,  die  Verf  ehlungen,  die  er  begangen,  hier 
vor  semen  Augen  zu  wiederholen.  Widerstrebend  loste  Bruder 
Melchior  den  Strick  von  seiner  Kutte,  (Fortsetzung  folgt,)" 
^  „Unser  Bild  zeigt  Manfred  von  Brauchitsch,  dem  es  gelang, 
Carraciola  im  Endspurt  zu  iiberrunden.  Wir  geben  den  er- 
tegenden  Augenblick  der  Oberrundung  in  einer  Momentauf- 
nanme  wieder.  Natiirlich  ist  es  wieder  ein  Adliger,  der  zur 
Aufkitzelung  des  miidegeschlemmten  Gaumens  der  Bourgeoisie 
hier  unter  Lebensgefahr  den  Sieg  erringen  darf.  Wann  wird 
der  Tag  kommen,  wo  der  Prolet  iiber  die  von  den  eklen  An- 
reifierpiakaten  der  Benzolindustrie  gereinigte  Avus  rait  zwei- 
hundert  Kilometern  dahinbraust!" 

,, Einen  grausigen  Eindruck  macht  die  kaltbliitige  Art,  wie 
der  Morder  seine  Schreckenstat  schildert.  Mit  alien  Einzel- 
heiten  geben  wir  im  folgenden  seine  Sichilderung  wieder,  welche 
die  dem  System  horigen  Boulevardblatter  der  schwarzrotgold- 
nen  Internationale  mit  Riicksicht  auf  die  Neryen  ihrer  Leser 
denselben  vorenthalten  zu  diirfen  glauben.  Stemke  beschreibt, 
wie  er  durch  den  Anblick  des  an  einem  voruberpatrouillieren- 

938 


den  Schutzpolizisten  herabhangenden  Gummikniippels  in  tfinen 
formlichen  Mordrausch  versetzt  worden  sei.  Er  wiirgtc  die 
sich  ihm  widersetzende  Frida  Babitzke  darauf,  bis  das  WeiBe 
in  den  Augen  der  sich  \j7idersetzenden  griinlich  schimmerte, 
und  verletzte  sie  durch  sieben  wohlgezielte  Messerstiche  in 
den  untersten  LendenwirbeL  Die  nunmehr  reichlich  heraus- 
quellenden  Eingeweide ...".'  i 

„In  der  viefzehnten  Runde  kommt  es  dann  zum  k.  oM  in- 
dem  der  muskelbepackte  Argentinier  nach  zefmiirbendef  Nah- 
arbeit  einen  kurzen  Rechten  landet,  welcher  Johnsons  Auge 
otfnet  und  Blutstrome  bis  ins  Publikum  sickern  laBt,  in  dessen 
erster  Reihe  der  auf  Hochstborsen  gierige  Manager  als  Ex- 
ponent jener  monopolkapitalistischen,  in  der  Sowjetunion 
nicht  mehr  moglichen  Menschenschinderei,  welche  nach  kaum 
dreijahrigem  Glanz  zu  Siechtum  und  Eheuntauglichkeit  fiihrt, 
'  sich  mit  einer  protzigen  Zigarre  im  Mundwinkel  niedergelassen 
hat.  Johnson  geht  schwer  in  die  Seile,  der  SchweiB  bricht  aus 
dem  miihsam  atmenden  Leib  .  •  /' 

,,SchlieBlich  setze  man  dem  Gemisch  bei  kleinem  Feuer 
eine  Mehlschwitze  hinzu  und.  bediene  sich  einer  Messerspitze1 
Gurkensalat,  welch  er  durch  die  volksgefahrdende  Zollpolitik 
der  Ackerbarone  zu  schwindelnder  Hohe  herautgeschraubt 
worden  ist." 

„Zu  den  aufreizenden  Klangen  der  Gamelangmusik  setzte 
sie  die  schmiegsamen  Schenkel  sowie  die  in  der  dunkelroten 
Hitze  des  teppichbelegten  Raumes  leise  vibrierenden  Briiste 
in  schaukelnde  Bewegung,  Die  zitternden  Reflexe  des  Kamin- 
feuers  auf  dem  jungfraulich  gerundeten  Leib  betrachtete  der 
ihr  horige  GroBindustrielle  mit  herausquellenden  Augen.  Seine 
fetten  Hande  tasteten  wollustig  nach  ,  den  Tausendmark- 
scheirien,  welch  letztere  er  aus  dem  SchweiB  des  klassenbe- 
wuBten  Proletariats  gesogen  hatte.  Die  Muskeln  der  Tanzerin 
strafften  sich  in  letzter  Anstrengung,  nun  loste  sich  leise  der 
Schleier  —  was  kiimmerten  ihn  die  sechs  Millionen  Arbeits- 
losen,  welche  materialistisch  betrachtet  erst  die  Voraussetzung 
fiir  seine  Ausschweifungen  bildeten!  In  der  Feme  machte  sich 
nunmehr  das  dumpfe  Grollen  einer  roten  Fahne  bemerkbar. 
Der  Generaldirektor  erbleichte/' 

Front  gegen  den  Arbeitsdienst  k.  l.  oTrstorft 

T^ie  Bestrebungen,  von  einem  freiwilligen  Arbeitsdienst  der 
*^  Jugend  zu  einer  ailgemeinen  Arbeitsdienstpflicht  zu  kom- 
men,  verdichten  sich  immer  mehr,  Der  freiwillige  Arbeitsdienst 
war  bisher  volkswirtschaftlich  ohne  groBere  Wirkung,  Ob  man 
60000  Jugendliche,  meist  nicht  sehr  planmaBig,  beschaftigte, 
spielte  keine  erhebliche  Rolle.  Durchaus  anders  wird  die  Sach- 
lage,  wenn  man  den  Arbeitsdienst  mit  groBern  Mitteln  auf- 
ziehen  will  Was  sind  die  Folgen?  In  einem  Punkt  besteht 
ziemliche  Einmiitfgkeit:  im  kommenden  Jahr  kann  der  deutsche 
Kapitalismus  nicht  mit  irgend  einer  Ankurbelung  der  Pro- 
duction rechnenjim  Gegenteil:  die  Krise  wird  sich  noch  mehr 
vertiefen,  die  Ar^eitslosigk.eit  weiter  zunehmen.  Was  bedeutet 
unter  dieser  selbstverstandlichen  Voraussetzung  die  Durchfiih- 

939 


rung  von  groBern  Arbeiten  mit  Hilfe  der  Arbeitsdienstpflicht? 
Durch  die  Arbeitsdienstpflicht  konnen  nicht  mehr  volkswirt- 
schaftliche  Werte  erzeugt  wcrden  als  ohnc  sie,  durch  die  Ar- 
beitsdienstpflicht konnen  nicht  mehr  Waren  direkt  oder  in- 
direkt  abgesetzt  werden  als  ohne  sie.  Wenn  also  groBere  Ar- 
beiten durch  die  Arbeitsdienstpflicht  ausgefiihrt  werden,  so 
werden  zwangslaufig  an  andrer  Stelle  des  Produktionsprozesses 
neue  Arbeitslose  geschaffen. 

t  Wie  schon  betont,  hatte  der  freiwillige  Arbeitsdienst  bis- 
ner  Keine  grSfiere  voiKSwirtschaftliche  vC  irkung.  Aber  selbsi 
durch  ihn,  der  sich  im  allgemeinen  mit  Wegebau,  Meliorationen 
etcetera  beschaftigte,  wurde  eine  bestimmte  Arbeiterkategorie 
bereits  nicht  unbetrachtlich  getroffen:  die  Bauarbeiter,  Es  ist 
also  kein  Zulall,  daB  der  Vorsitzende  des  Baiigewerksbundes, 
Bernhard,  in  dem  Organ  des  Bundes  scharfstens  gegen  den  Ar- 
beitsdienst vorgeht.     Er  schreibt  dort: 

Die  Befiirworter  sehen  die  Entwicklung  bereits  heute  so:  Jede  Arbeit 
—  nicht  nur  die  Bauarbeit  —  die  nur  einer  gewissen  Ubung,  eines 
bescheidenen  Anlernens  bedarf,  wird  im  „freiwilligenM  Arbeitsdienst 
ausgefiihrt.  Mit  Lohnsenkung  Mr  Arbeit  im  ordentlichen  Arbeits- 
verhaltnis  kann  dann  so  weit  nachgeholfen  werden,  dafi  der  Unter- 
schied  nicht  mehr  ins  Gewicht  fallt.  Herr  Treviranus  schreibt;  „Eine 
groBe  Sorge  war  ja  bisher  die  Beschrankung  in  der  Auslegung  der 
,Zusatzlichkeit*  und  .Gemeinnutzigkeit*  der  fur  den  Arbeitsdienst 
in  Frage  kommenden  Aufgaben.  Ich  habe  nie  die  Gefahr  eines  MiB- 
brauchs  gesehen,  wenn  man  die  Bodenkulturen,  von  der  Siedlung  an- 
gefangen  iiber  die  verminftige  Regelung  der  Wasserwirtschaft  bis  zu 
Wegebauten,  als  den  gegehenen  Arbeitsraum  ansieht."  So  etwasi  ist 
einfach  unerhort.  Das  bedeutet  eine  ebenso  unverbliimte  wie  sinnlose 
Fprderung  der  Arbeitslosigkeit  der  Bauarbeiter,  deren  Verdammung 
zur  Dauerarbeitslosigkeit  und  —  da  Arbeitsdienst  Arbeit  ohne  Recht 
ist  —  glatten  Hinauswurf   der  Bauarbeiter  aus  dem  Arbeitsrecht. 

Das  ist  absolut  richtig.  Wenn  man  den  Arbeitsdienst  mit 
groBern  Summen  ausgestalten,  wenn  man;  die  Jugend  groBere 
Arbeiten  verrichten  lassen  will,  so  ist  es  selbstverstandlich,  daB 
die  alt  em  Arbeiter  erwerbslbs  werden, 

Es  gibt  —  theoretisch  gesprochen  —  nur  eine  einzige  Mog- 
lichkeit,  durch  den  Arbeitsdienst  keine  neue  Arbeitslosigkeit 
zu  schaffen:  man  laBt  die  jugendliehen  Menschen  im  Arbeits- 
dienst Arbeiten  ausfuhren,  die  so  unproduktiv  sind,  daB  sie  im 
Rahmen  des  kapitalistischen  Systems  heute  sonst  nicht  ausge- 
fiihrt wiirden.  Diese  Moglichkeit  hat  aber  keinerlei  praktische 
Bedeutung;  denn  sie  wurde  einen  solchen  Reichtum  des  deut- 
schen  Kapitalismus  voraussetzeri,  daB  er  Hunderte  von  Mil- 
lionen  fiir  voilig  unproduktive  Arbeiten  ausgeben  konnte.  An- 
gesichts  der  neuen  Notverordnung  mit  dem  radikalsten  Abbau 
der  Sozialpolitik,  den  wir  jemals  erlebt  haben,  braucht  nicht 
wetter  auseinandergesetzt  zu  werden,  daB  die  Annahme,  man 
konne  groBere  Summen  fiir  unproduktive  Arbeiten  ausgeben, 
eine    vollige    Utopie    ist. 

Es  bleibt  also  dabei,  daB  jede  Arbeit,  die  im  Arbeitsdienst 
ausgefiihrt  wird,  neue  Arbeitslose  schafft  Jan  Bargenhusen 
schreibt  nun  in  der  letzten  Nummer  der  ,Weltbuhne'; 

Mag  auch  okonomisch  fiir  die  Behebung  der  Arbeitslosigkeit  oder 
gar  fiir  die  Belebung  der  Wirtschaft  von  dem  freiwilligen  Arbeitsdienst 

940 


nichts  zu  erhoffen  sein:  psychologisch  und  politisch  gesehen  ist  er  ge- 
wiB  besser  als  das  erzwungene  Nichtstun,  aus  dem  nur  gar  zu  leicht 
der  Weg  zur  Betatigung  in  irgendwclchcn  reaktionaren  Sturmtrupps 
ftihrt, 

Hier  hat  Bargenhusen  eins  ubersehen:  GewiB  ist  psycho- 
logisch fur  die  Jugend  der  Arbeitsdicnst  besser  als  efzwungenes 
Nichtstun.  Aber  haben  wir  nur  Jugend  in  Deutschland?  Haben 
wir  nicht  auch  Vater,  und  zwar  beschaftigte  Vater  in  Deutsch- 
land? Der  Vorsitzende  des  deutschen  Baugewerksbimdes  hat 
in  seinem  Aufsatz  Bargenhusen  eigentlich  schon  geantwortet: 

GewiB  ist  es  schlimm  bestellt  um  die  Lehrlinge  und  noch  schlimmer 
um  die  Ausgelernten.  Aber  ist  die  Lage  der  Alteren,  der  Verheirate- 
ten  nicht  noch  schlimmer?  Sie  sind  die  Sorgenden  um  die  Existenz 
der  ganzen  Familie,  in  den  meisten  Fallen  auch  fiir  die  jugendlichea 
Arbeitslosen.  Kann  man  dem  Jungen  Arbeit  geben  und  den  Vater 
als  Zuschauer  hinstellen?  Die  Jugend  hat  ein  Recht  auf  Arbeit,  ja- 
wohl,  aber  die  Alteren,  die  Ernahrer  der  Kinder  und  deren;  Mutter, 
haben  ein  doppeltes,  ein  vielf aches  Recht  auf  Arbeit, 

Es  kann  nicht  scharf  und  haufig  genug  betont  werden,  daB 
sich  die  Arbeitslosigkeit  bei  einer  starken  Ausdehnung  des  Ar- 
beitsdienstes  unbedingt  steigert,  Und  zwar  kann  es  darum 
nicht  scharf  genug  betont  werden,  weil  ganz  fraglos  unter  den 
Jugendlichen,  und  besonders  unter  denen,  die  nie  im  Pro- 
duktionsprozeB  gestanden  haben  und  gewerkschaftlich  nicht 
geschult  sind,  eine  starke  wachsende  Bereitwilligkeit  fiir  den 
Arbeitsdienst  vorhanden  ist.  Das  ist  ja  leicht  zu  erklaren, 
Wenn  die  Unterstiitzungssatze  fiir  jugendliche  Arbeitslose 
immer  starker  herabgesetzt  werden  und  in  Hunderttausenden 
von  Fallen  sogar  der  jugendliche  Arbeitslose  keinen  Pfennig 
Unterstiitzung  bekommt,  wenn  ihm  weiter,  wie  es  viel- 
fach  geschieht,  die  Arbeitslosigkeit  zu  Hause  als  mora- 
lische  Schuld  angekreidet  wird,  dann  ist  es  ganz  klar,  daB 
bei  ihm  derGedanke  immer  drangender  wird:  Weg  von  Haus, 
mogen  die  Bedingungen  drauBen  so  schlecht  sein  wie  auch 
immer,  Arbeit,  und  wenn  auch  zu  einem  Tagessatz  von  fiinfzig 
Pfennig,  ist  immer  noch  besser,  als  zu  Hause  sitzen,  Vorwiirfe 
einstecken  zu  miissen  und  gar  nichts  zu  bekommen.  DaB  unter 
den  Jugendlichen  diese  Stimmungen  da  sind,  ist  sicher.  Und  es 
ist  ein  sehr  geschickter  Schachzug  der  fascistischen  Reaktion 
und  all  derer,  die  in  ihrem  Schlepptau  sind,  diese  Stimmung 
der  Jugendlichen,  die  unbedingt  in  irgend  einer  Form  in  den 
ProduktionsprozeB  wollen,  fiir  fascistische,  nationalistische  und 
reaktionare  Zwecke  auszunutzen. 

Es  wurde  eingangs  gesagt,  daB  jede  Arbeit  im  Arbeits- 
dienst auf  einer  andern  Stelle  Arbeitslosigkeit  schafft.  Doch 
das,  ist  noch  nicht  einmal  das  Ausschlaggebende.  Noch  wich- 
tiger  ist,  daB  jede  Arbeit  im  Arbeitsdienst  eine  Unterhohlung 
des  Tarifrechts  bedeutet,  einen  neuen  Angriff  auf  die  Gestal- 
tung  des  Lebensstandards  der  deutschen  Arbeiterklasse,  auf 
ihre  sozialpolitischen  und  sonstigen  Rechte,  Denn  das  ist  ja 
klar;  werden  erst  einmal  groBere  billige  Arbeiten  auf  dem 
Wege  des  Arbeitsdienstes  ausgefuhrt,  werden  die  Unternehmer 
immer  mehr  auf  den  Geschmaok  kommen,  werden  sie  den  Ar- 
beitern  drohen,  wenn  sie  sich  nicht  mit  Lohnkurzungen  frei- 
willig   einverstanden  erklaren,   die   Arbeiten   im   Arbeitsdienst 

941 


ausfiihren  zu  lassen.  Und  an  sich  kann  das  Feid  dcs  Arbeits- 
dienstes  ein  auBerordentlich  groBes  seiri.  In  alien  groBem  Be- 
trieben  gibt  cs,  wenn  man  cinen  kleinen  Stab  qualifizierter  Ar- 
beiter  hat,  geniigend  Arbciten,  die  von  vollig  unqualifizicrten, 
also  aiich  von  jugendlichen  Kraften  im  Arbcitsdienst  ausgefiihrt 
wcrden  konnen.  ,  Die  Macht  der  ArbeiterschaH  und  der  freien 
Gewerkschaften  ist  heute  noch  eine  so  groBe,  daB  man  es  nicht 
offen  wagt,  aus  den  Arbeitslosen  direkte  Streikbrechergarden 
zu  organisieren,  das  Tarifrecht  zu  zerschlagen,  um  den  Lohn 
so  herabzudrucken,  wie  es  die  reaktionaren  rnonopolkapitalisti- 
schen  Kreise  verlangen.  Da  man  es  nicht  direkt  wagt,  ver- 
sucht  man  es  auf  indirektem  Wege.  Man  benutzt  die  aus  der 
augenblicklichen  Lage  sich  notwendig  ergebenden  Stromungen 
der  Jugend,  um  tiber  den  Arbeitsdienst  eine  Truppe  zu  or- 
ganisieren, die  man,  sobald  die  Verhaltnisse  einmal  groBeres 
Format  annehmen,  als  Streikbrechergarde  gegen  die  beschaf- 
tigten  altern  Arbeiter  einsetzen  kann,  Daher  kann  nicht  scharf 
genug  gegen  den  Arbeitsdienst  Stellung  genommen  werden. 

Es  ist  immer  das  Bestreben  der  herrschenden  Klassen  ge- 
wesen,  dadurch  zu  herrschen,.  daB  man  die  Beherrschten  gegen- 
einander  ausspielt.  Das  Monopolkapital  hat  in  der  Gestalt 
der  nationalsozialistischen  Bewegung  die  proletarisierten  Mit- 
telschichten  gegen  die  Arbeiterschaft  ausgespielt.  Jetzt  geht  es 
daran,  soweit  das  moglich  ist,  auch  Arbeiterschichten  gegen- 
einander  auszuspielen.  Und  so  berechtigt  der  Wunsch  der  Ju- 
gend  nach  Arbeit  ist,  so  nachdriicklich  muB  dem  jugendlichen 
Arbeiter  klar  gemacht  werden,  daB  er  sich  nicht  miBbrauchen 
lassen  dart  als  Streik-  und  Tarifbrecher  gegen  seinen  Vater, 
gegen  den  altern  Arbeiter. 

So  liegen  die  Dinge  von  der  volkswirtschaHlichen,  von  der 
sozialen  Seite  her.  Wenn  es  noch  eines  Beweises  fur  den  ab- 
solut  reaktionaren  Charakter  des  Arbeitsdienstes  bedurft  hatte, 
so  ist  es  die  Stellung  der  Nazis.  Sie  sind  vollkommen  eindeutig 
fur  den  Arbeitsdienst.  Sie  haben  eine  Vorlage  ausgearbeitet, 
in  der  unter  anderm  verlangt  wird: 

Wer  einen  Arbeitsdienstpflichtigen  aufreizt,  der  Einberufungi  zum 
Arbeitsdienst  nicht  Folge  zu  leisten  oder  wer  eihen  Angehorigen  des 
Arbeitsdienstes  aufreizt,  eine  Widersetzlichkeit,  Gehorsamsverweige- 
rung,  Meuterei,  Werkschadigung  oder  Sabotage  zu  hegehen,  wird  mit 
Zuchthaus  bestraft .  . .  Faulheit  und  Widersetzlichkeit  sind  mit  alien 
vorschriftsmafiigen  Mitteln  riicksichtslos  zu  brechen. 

Das  ist  deutlich  genug;  wobei  hinzukommt,  daB  diese  Ge- 
dankengange  nicht  nur  die  Nazis  beherrschen,  sondern  auch 
jene,  denen  man  die  Leitung  der  einzelnen  Arbeiten  anver- 
trauen  wird.  Daher  ist  es  vollig  verfehlt,  wenn  einzelne  sozia- 
listische  Jugendgruppen  trotz  alien  prinzipiellen  ^edenken  doch 
in  irgend  einer  Form  beim  Arbeitsdienst  mittun  wollen,  mit  der 
Begriindung,  sie  wollten  sich  dort  die  Fuhrung  erobern.  Die 
Konterrevolution,  die  im  Anmarsch  ist,  wird  auch  dort  die  Fiih- 
rung  behalten;  unabhangig  davon  werden  die  harten  wirtschaf t- 
lichen  Tatbestande  wohl  hoffentlich  bald  den  sozialistischen 
Jugendlichen  klar  machen,  daB  sie  die  Geschafte  der  Reaktion 
besorgen,  wenn  sie  sich  als  Tarif-  und  Streikbrecher  gegen  die , 
Betriebsarbeiter  ausspielen  lassen. 

942        . 


BilanZ  per  Zllfall  von  Erich  Kastner 

pr  hatte  Geld.     Er  trank  und  aB 
in  dem  Hotel,  in  dem  er  saB, 
vom  Teuersten,  und  Besten, 
Er  war  vergnugt  unxl  trank  und  aB 
und  winkte  mit  erhobnem  Glas 
den  Kellnern  und  den  Gasten. 

Der  Blumenfrau,   die  bei  ihm  stand, 
nahm  er  die  Blumen  aus  der  Hand 
und  zahlte  mit  zwei  Scheinen, 
Die  Rosen  waren  rot  und  kuhl. 
Er  gab  ihr  dreiBig  Mark  zuviel. 
Da  fing  sie  an  zu  weinen. 

Die  Hauskapelle,  sechs  Mann  stark, 
erhielt  von  ihm  zwethundert  Mark. 
Sie  konnte  kaum  noch  spiel  en. 
Er  gab  den  Boys  und  Pikkolos, 
den  Frauleins  und  den.  Gigolos, 
Er  gab,  ohne  zu  zielen. 

Die  Rechnung  sah  er  gar  nicht  an. 
Er  warf  paar   Scheine  hin,  und   dann 
verlieB  er  jene  Halle. 
Bewundernd  gingen,  Schritt  urn  Schritt, 
die  Tanzer,  Boys  und  Kellner  mit. 
So  liebten  sie  ihn  alle! 

Er  freute  sich,   und  sprach:   „Schon  gut,'J 
und  nahm  den  Mantel  und  den  Hut. 
Da  rief  die  Garderobierei 
nIch  kriege  dreifiig  Pfennig  fiir 
die  Kleider-Aufbewahrung  hier! 
Nicht  zahlen,  wie?    Das  ware!" 

Da  blieb  er  stehn.    Da  lachte  er 

und  suchte   Geld   und   fand   keins   mehr 

und  konnte  ihr  nichts  geben. 

Die  Blumenfrau,  die  Gigolos, 

die  Kellner,  Boys  und  Pikkolos, 

die  standen  fremd  daneben. 

Er  blickte  sich,  fast  bittend,  um. 

Die  Andern  standen  steif  und  stumm, 

als  sei  er  nicht  mehr  da. 

Da  zog  er  schnell  den  Mantel  aus, 

gab  ihn  der  Frau,  trat  aus  dem  Haus 

und  dachte  nur:   Na  ja, 

943 


Bemerkungen 

Dingeldeys  Fufiball-Elf 

Der  selige  Strcsemann  wiirde 
sich  im  Grabe  umdrehen, 
wenn  er  horen  konnte,  was  seine 
politischen  Erben,  die  abgesplit- 
terten  und  die  noch  vorhandenen 
Fiihrer  der  Deutschen  Volkspar- 
tei,  in  offentlicher  Verhandlung 
vor  dem  Arbeitsgericht  einander 
vorzuwerfen  haben;  wie  sie  Par- 
teischulden  behandeln  und  rait 
kleinen  Geschaftsleuten  umgehen, 
denen  die  zusammengebrochene 
berliner  Parteiorganisation  sie- 
bentausend  Mark  schuldig  geblie- 
ben  ist, 

Vor  dem  groBen  Parteikrach 
gab  es  den  „Landesverband  Ber- 
lin der  Deutschen  Volkspartei"; 
dort  arbeitete  als  Parteibeamter 
der  General sekretar  Werdelmann, 
der  sich  dem  Abmarsch  zu  Hu- 
genberg  angeschlossen  hat.  Als 
Werdelmann  am  1 .  Marz  sein 
Amt  niederlegte,  schuldete  ihm 
die  Partei  noch  etwa  tausend 
Mark  riickstandiges  Gehalt.  Din- 
geldey  besah  sich  den  Trummer- 
haufen,  den  zusammengeschmoi- 
zenen  Mitgliederbestand,  die  leere 
Parteikasse  und  verspiirte  offen- 
bar  keine  Lust,  den  Rest  der  or- 
ganisierten  Wahler  mit  der  per- 
sonlichen  Haftung  fur  die  alten 
Schulden  der  berliner  Parteiorga- 
nisation  zu  belasten.  Die  Rechts- 
lage  war  relativ  einfach;  Wenn 
der  Landesverband  aufhorte  zu 
existieren,  so  miifiten  sich  die 
Glaubiger  eben  an  die  sparlichen 
Vermogensreste  der  Organisation 
halten;  sie  konnten  dann  zu- 
sehn,  wie  sie  aus  ein  paar  Bureau- 
maschinen  und  Mobeln  sieben- 
tausend  Mark  her  ausbek  amen. 
Wenn  dann  die  Organisation  kei- 
nen  Rechtsnachfolger  bekame,  so 
konnten  eventuell  noch  die  ein- 
zelnen  Mitglieder  haftbar  gemacht 
werden;  auch  die  Ungetreuen,  die 
nicht  mehr  mitspielen  wollten. 

Dingeldey  dekretierte,  dafi  es 
keinen  MLandesverband  Berlin  der 
Deutschen  Volkspartei"  mehr 
gabe,  und  liefi  das  „Verm6gen'1 
in  den  Handen  des  friihern 
Schatzmeisters  Doktor  Faltz,  der 
auch   zu  Hugenberg  ubergegangen 

944 


war;  der  konnte  sich  mit  den  un- 
geduldigen  Glaubigern  amiisieren. 
Nun  konnte  man  aber  ohne  Orga- 
nisation keine  Propaganda  fur 
die  bevorstehenden  PreuBenwah- 
len  aufziehen  und  keine  berliner 
Parteimitglieder  mehr  in  den 
Reichsparteivorstand  delegieren, 
Auch  fiir  dies©  Frage  iand  Din- 
geldey die  Patentlosung:  Ein 
Hauflein  von  elf  Ftihrerperson- 
lichkeiten  war  noch  iibrig  geblie- 
ben.  Diese  komplette  FuBball- 
mannschaft  griindete  einen  Ver- 
ein  und  lieB  hinter  den  alten  Na- 
men  der  Parteiorganisation  das 
schiitzende  „E.  V."  setzen.  Aus 
der  Konkursmasse  wurden  der 
friihere  Vorsitzende,  Ministerialrat 
Hillebrandt,  die  Sekretarin,  Tiir- 
schilder  und  Stempel  iibernom- 
men.  Wenn  ein  ungliicklicher 
Glaubiger  Geld  haben  wollte,  so 
erfuhr  er,  dafi  der  E.  V.  nicht 
„identisch"  mit  dem  Landesver- 
band sei  und  dafi  Doktor  Faltz 
weiterhin  das  „Verm6gen"  der 
zusammengebrochenen  Partei  ver- 
walte.  Das  ging  mit  den  kleinen 
Geschaftsleuten,  aber  nicht  mit 
dem  verflossenen  Generalsekretar 
Werdelmann.  Der  wollte  sein 
riickstandiges  Gehalt  sehen  und 
verklagte  mit  Doktor  Faltz  als 
Beistand  den  E.  V.  vor  dem  Ar- 
beitsgericht.  Doktor  Mahler  ver- 
suchte  im  Namen  des  Vereins 
dem  Gericht  klar  zu  machen,  daB 
der  E.  V.  keineswegs  als  Rechts- 
nachfolger des  Landesverbandes 
sondern  nur  als  tfAuffangstellung" 
fur  die  Gesamtpartei  anzusehen 
sei.  In  deren  Interesse  hatte  man 
von  Werdelmann  nach  seinem 
Ausscheiden  die  Mitgliederlisten, 
leider  vergeblich,  zuruckverlangt. 
Werdelmann  habe  sie  bis  nach 
den  PreuBenwahlen  behalten  und 
das  Material  fiir  Hugenberg  aus- 
gewertet.  Er  habe  noch  wahrend 
seiner  Amtszeit  alles  Wissens- 
werte  an  die  Hugenbergsche 
„Konkurrenz"  verraten  und  durch 
gedruckte  Aufrufe  den  Eindruck 
erwecken  wollen,  als  stehe  kein 
Mensch  mehr  hinter  der  Deut- 
schen Volkspartei,  Fiir  diese 
Treubriiche     werde     der     Verein 


von  Werdelmann  hunderttausend 
Mark  Schadensersatz  verlangen, 
wenn  das  Gericht  ihn  wider  Er- 
warten  zur  Zahlung  des  Gehalts 
verurteilen   sollte. 

In  dem  Geplankel  'iiber  Gesin- 
nungstreue,  zuriickgehaltene  Mit- 
gliederlisten,  unrechtmaBig  an- 
geeignete  Tiirschilder  und  Sten- 
pel  verbreitete  sich  Doktor  Faltz 
auch  iiber  den  Parteifiihrer.  „Wir 
haben  keine  Moglichkeit  gefun- 
den,  mit  Herrn  Rechtsanwalt 
Dingeldey  weiter  zusammen  zu 
bleiben;  wir  haben  in  ihm  keinen 
Fuhrer  mehr  gesehen  und  konn- 
ten  auch  aus  moralischen  Griin- 
den  nicht  mit  ihm  arbeiten,  weil 
er  Dinge  macht,  die  gesellschaft- 
lich  nicht  passen.  Unter  anderm 
griff  er  plotzlich  und  satzungs-' 
widrig  in  die  Finanzgebarung 
ein!  Als  gewissenhafte,  beteiligte 
Mitglieder  mufiten  wir  darum 
alle  Vertrage  kundigen,  damit 
die  Schulden  der  Organisation 
nicht  noch  groBer  wurden.  Die 
.Berliner.  Stimmen',  das  Partei- 
organ,  muBten  allmahlich  ein- 
gehen,  weil  Dingeldey  personlich 
ein  Konkurrenzunternehmen  ge- 
grundet  hat/' 

Nach  langer  Mtihe  gelang  es 
dem  Gericht,  die  Funktionen  des 
neuen  Vereins  zu  klaren:  Er  be- 
zieht  von  der  Reichspartei  Wahl- 
gelder  und  nominiert  die  Dele- 
gierten  fur  den  Reichsparteivor- 
stand;  er  unterhalt  ein  regulares 
Parteibureau,  obwohl  er  nur  ein- 
hundertzweiunddreifiig  Mark  im 
Jahr  aus  Mitgliedsbeitragen  ein- 
nimmt,  Auf  Grund  dieser  Fest- 
stellungen  wurde  ein  Zwischen- 
urteil  gefallt,  nach  dem  der  Ver- 
ein  fur  die  Gehaltsforderung  ge- 
gen  den  alten  Landesverband  zu 
haften  hat.  Der  Schadensersatz- 
prozeB   wird   noch  weiter  verhan- 

delt  werden. 

Hilde   Walter 


Paragraphen  und  Titel 

P\er  wahnsinnige  Morder  Lud- 
*^  wig  Schoefi,  der  seiner  Mut- 
ter die  Hande  abhackte  und 
diese  grausigen  Leichenteile  auf 
die  franzosische  Botschaft  trug, 
ist  von  der  Polizei  vernommen 
worden;  aber  es  war  erne  ge- 
spenstische  Vernehmung,  die  von- 
statten  ging.  Der  auBere  Hergang 
der  Tat  war  von  den  Beamten 
bald  geklart,  aber  die  Motive  der 
Tat  waren  nicht  fafi-  und  proto- 
kollierbar,  denn  sie  waren  nicht 
von  dieser  Welt,  wo  Hunger  und 
Not,  Liebe  und  Hafl  einige  der 
Triebkrafte  sind,  die  die  Men- 
schen  zum  Auftergewohnlichen 
verfuhren,  sondern  hausten  in  je- 
ner  andern  Welt  des  Irrsinns, 
wo  alle  Perspektiven  verschoben 
sind* 

Trot z dem;  Auch  das  todkranke 
Gehirn  des  Ludwig  SchoeB  hat 
,  sich  nicht  einfach  zufrieden  ge- 
geben  mit  der  Untat  sondern  sie 
in  Beziehung  zu  setzen  versucht 
mit  den  Spielregeln  der  Gesell- 
schaft.  Auf  Grund  des  §  73  a 
des  Reichsgesetzbuchesf  so  hat 
er  gesagt,  sei  ihm  erlaubt  gewe- 
sen  zu  tun,  was  er  getan  habe, 
und  auf  Grund  des  §  100  habe 
.  er  sich  nicht  bei  der  Polizei  zu 
melden  brauchen.  Dieser  irrsin- 
nige  Ludwig  SchoeB  ist  von  allem 
moglichen  losgekommen,  was  ge~ 
sellschaftliche  Gultigkeit  hat:  die 
Welt  der  Paragraphen  aber  hat 
auch  in  die  Nacht  seines  Geistes 
noch  hineingeleuchtet.  Das  Ge- 
fiihl  fur  die  Grauenhaftigkeit  der 
Ermordung  der  eignen  Mutter 
war  in  ihm  ausgeloscht,  aber 
nicht  die  Erinnerung  daran,  daB 
alles  auf  der  Welt  mit  den  Vor- 
schriften  eines  wichtigen  Buches 
in  Ubereinstimmung  gebracht 
werden  musse,  das  die  Menschen  / 
niedergeschrieben  haben.  Indes- 
sen:   Die   Berufung   auf   das    Ge- 


Viel  interessanter  als  jeder  Sufiere  Vorgang  ist  das,  was  wir 
in  uns  selbst  erleben  kdnnen,  wenn  wir  uns  vor  Selbstbetmg 
und  Aberglaube  zu  beschQtzen  wissen.  Wie  man  das  sicher 
fertigbringt,  sagen  Ihnen  die  BOcher  von  B6  Yin  Ra,  J.  Schneider- 
iranken,  vor  allem  sein  zuletzt  erschienenes  Werk  „Der  Weg 


meiner  Schaier",  zum  Preise  von  RM.  6.—  vorrStig  in  jeder  guten 

Buchhandlung  sowie  beim  Verlag.   Kober'sche  Verlagsbuchhand- 

lung  (gegr.  1816)  Basel-Leipzig. 


945 


setzbuch  schlechthin,  die  hat  ihm 
nicht  geniigt,  Korrektheit  iiber 
alles !  Er  hat  einen  speziellen 
Paragraphen  genannt,  mchr  noch: 
den  speziellen  Absatz  eines  spe- 
ziellen Paragraphen.  Erst  diese 
Detaillierung  hat  ihm  das  Gefiihl 
gegeben,  nach  dem  Schema  der 
Ordnung   gehandelt  zu   haben. 

Und  noch  etwas  andres  ist  ihm 
als  tSesitz  geblieben  aus  seiner 
friihern  Verbindung  mit  der  nor- 
malen  Welt:  der  Traum  vom 
schonen  Namen.  Schoefi:  ein 
armer  und  alltaglicher  Name. 
Aber:  Baron  und  Baronin  derer 
von  Schoefi  . . . !  Das  funkelt  und 
brilliert,  das  ist  der  Name  seiner 
Sehnsucht,  und  er  ubernimmt  ihn 
in  seine  Wahnwirklichkeit  als 
den  Namen,  den  seine  Eltern  tra- 
gen.  Welchen  iiberwaltigenden 
Eindruck  mufi  diese  feudale  Titu- 
lierung  friiher  einmal  auf  ihn  ge- 
macht  haben,  daB  sie  sich  so  un- 
heimlich  festgesetzt  hat  in  ihm, 
dafi  auch  j  etzt  noch  sein  irres 
Denken  um  sie  kreistl 

Es  gibt  die  Geschichte  von  dem 
Irrenwarter,  den  seine  Pflege- 
befohlenen  in  den  Waschkessel 
werfen  und  lebendig  kochen  wol- 
len  und  der  sich  dadurch  vor 
dem  Tode  rettet,  dafi  er  dieVer- 
ruckten  bittet,  sich  doch  vorher 
umziehen  zu  diirfen,  denn  er 
trage  seinen  guten  Anzug  und  es 
sei    schade   darum. 

Die  Welt  der  Logik  und  der 
Kausalzusammenhange  ragt  mit 
einigen  Zipfeln  in  die  Welt  des 
Wahns  hinein,  Es  scheint  keine, 
sichern  Regeln  dafur  zu  geben, 
welche    Bezirke    der    Vernunft    es 


sind,  die  selbst  die  Verriickten 
anzuerkennen  bereit  sind.  Aber 
vielleicht  ist  das  national  ver- 
schieden  und  die  deutsche  Version 
des  Wahnsinns  geht  dahin,  dafi 
von  den  Herren  Irren  der  Re- 
spekt  vor  den  Paragraphen  und 
den  Titeln  als  keineswegs  unver- 
nunftwidrig   angesehen   wird. 

Hans   Bauer 

Heilige  Ordnung? 

Die  Ordnung:  Schafft  sie  Le- 
ben?  Oder  totet  sie  es  nicht 
vielmehr  langsam  ab?  Macht  sie 
stark  oder  unfruchtbar?  Ist  sie 
ein  heiliger  oder  unheiliger  Zu- 
stand? 

Das  sind  sehr  deutsche  Frage- 
stellungen,  Nur  in  dem  Lande, 
das  den  Spruch  von  der  ersten 
Burgerpflicht  erfand,  das  die 
Phrase  von  Ruhe  und  Ordnung 
zum  Schlagwort  seiner  unordent- 
lichsten  Epoche  machte,  —  nur 
da  kann  zutiefst,  kann  katego- 
risch  der  Anspruch  der  Ordnung 
auf  absoluten  Wert  angezweif elt 
werden.  Die  Sehnsucht  nach  dem 
Nichts,  das  Sichverlieren  in  der 
Natur,  Stirners  anarchische  Ver- 
einzelung,  endlich  jene  Todesver- 
trautheit  des  Deutschen,  von  der 
Clemenceau  mit  Abscheu  spricht, 
das  alles  sind  Komponenten  eben 
der  deutschen  Ordnung  in  Amts- 
zimmern,  Kasernenhoien  und  gut 
gedrillten  Seelen. 

Heilige  Ordnung?  Dies  Frage- 
zeichen  hinter  dem  Titel  seines 
(mit  dem  Goncourtpreis  gekron- 
ten,  deutsch  bei  Rowohlt  erschie- 
nen)  Romans  wiirde  der  Franzose 
Marcel  Arland  wohl  blasphemisch 


In  alien  Buchhandlungen  erhaltlich! 
JUDENHASS    UND    JUDENFRAGE    SIND    HEUTE    BRENNENDER    DENN    JE! 


..ANTISEMITISMUS" 

von   Graff  H.  Coudenhove-Kalergi 

gibt  einen  Querschnitt  der  Geschichte  des  Anti- 
semitismus  von  der  Antike  bis  zur  Gegenwart,  ge- 
sehen  mit  den  Augen  eines  tiefgrundigen  Forschers, 
dessen    nichtjudische  Abkunft  auBer   Frage   stent. 

Preis:  broschiert  M  3.90,  Ganzleinen  M  5.50 

PANEUROPA  VERLAQ   LEIPZIG-WIEN 

946 


nennen.  Er  stellt  in  seinera  Titel 
einfach  einen  ihm  selbstverstand- 
Iichen  Rang  fest.  Und  sein  be- 
deutendes  und  ergreifendes,  wenn 
auch  fur  uns  zuletzt  ticf  unbefrie- 
digendes  Buch  berichtet  lediglich 
von  einem  der  Wege,  die  zur  An- 
erkennung  dieses  Ranges  fiihren. 
Es  geht  urn  den  Konflikt  eines 
jungen  Menschen  mit  Tradition, 
Familie,  Gebundenheit,  Ein  uns 
woblvertrautes  Thema.  Ungemein 
lehrreich,  wie  vollig  anders  der 
Franzose  das  anpackt.  Fur  ihn 
ist  der  Rebell  von  vornherein  ein 
Verlorener.  Ober  ihm  —  .  und 
nicbt  tiber  der  von  ihm  angezwei- 
felten,  angegriffenen  Qrdnung 
der  Dinge  und  Menschen  — 
schwebt  der  Schatten  des  tragi- 
schen  Unterganges. 

GroBartig  der  Auftakt:  Das 
Erwachen  der  Widerstande  in 
dem  begabten  Kleinstadt  jungen 
Justin,  Selbstbeobachtung,  Selbst- 
bestrafung,  nach  dem  Muster  Ju- 
lien  Sorels  und  Fabricio  del  Don- 
gos.  Bruch  mit  dem  biirgerlich 
erfolgreichen,  altern  Bruder,  dem 
verhaBten  Vor-  und  Gegenbild. 
Paris,  Hunger,  halbrevolutionarer 
Journalismus.  Dann  kommt  Ju- 
stin, durch  einen  aggressiven  Ar- 
tikel,  ins   Gefangnis.  » 

Nun  erwarten  wir  den  Hohe- 
punkt,  das  Wesentliche,  —  die 
entschlossene  Wendung  zum  All- 
gemeinen,  zur  Politik,  Statt  des- 
sen  bricht  alles  ab.  Als  Mitarbei- 
ter  der  ,Humanite'  ist  Justin 
durch  seine  Bestrafung  unmoglich 
geworden  (was  bei  uns  unmoglich 
ware!).  Losung  und  Rettung  sucht 
er  von  nun  an  im  privaten,  im 
erotischen  Erlebnis.  Zieht  die 
Frau  des  feindlichen  Bruders  zu 
sich  heriiber;  lebt  mit  ihr,  wah- 
rend    er   ziellos   verkommt.       Der 


Schufi  eines  eifersiichtigen  Mad- 
chens  beendet  das  melancholische 
Idyll.  Die  Frau  kehrt  zum  Gat- 
ten  zuriick,  Justin  geht  in  die 
Tropen.  Nach  Jahren,  als  Schwer- 
k ranker,  findet  er  heim;  stirbt  in 
den  Armen  des  Bruders,  —  ver- 
sohnt  mit  ihm,  mit  der  Frau, 
halbversohnt  mit  der  heiligen 
Ordnung  der  Dinge,  deren  eher- 
ner  Giiltigkeit  er  sich  beugt, 

Seltsames  VerflieBen  eines. 
Schicksals,  dessen  Austragung  im 
Politischen  sehr  bedeutsam 
gewesen  ware.  Fiir  Arland  ist 
die  Politik  eine  gelegentliche 
Fortsetzung  des  Privaten  mit  an- 
dern  Mitteln.  Mit  oft  kindlichen, 
skurrilen  Mittelchen,  Politische 
Menschen  und  Fakten  sind  das 
Schwachste  in  diesem  Buch.  Son- 
derbare  kommunistische  Redak- 
teure  gibt  es  da;  und  einen  noch 
merkwiirdigeren,  reichen,  anar- 
chistischen  Freund,  der  als 
Selbstmorder  endet;  eine  Gestalt 
aus  John  Henry  Mackays  Tagen. 
Die  Zukunft,  die  Anderung  des 
Erdteils,  der  Welt?  Wird  kaum 
erwahnt. 

Die  Masse?     Kommt  nicht  vor. 

Vielleicht  war  Arland  einfach 
zu  klug.  Er  wollte  nicht  ins  Chaos 
geraten.  Deshalb  erkennt  er  es 
einzig  in  der  Seele  seines  Justin 
an.  So  wird  dieser  liebenswerte 
Junge,  anfangs  klar  und  bose  und 
unbeugsam  wie  Lucien  Leuwen, 
nachher  ein  unverbindlicher  und 
wirrer  Raisonneur. 

Doch  bleibt  dieser  Roman  ein 
auBerst  aufschluBreiches  Buch, 
weil  er  Fragestellungen,  Kampfe, 
Irrwege  zeigt,  die  uns  aus  der 
franzosischen  Literatur  und  aus 
Berichten,  wie  dem  von  Sieburg 
bislang  fast  unbekannt  waren^ 
Axel  Eggebrecht 


smirkoff  TAGEBUCH  ::::c^ 
des  SfUoHs  tdwatd  Had ":::  1^ 

IKTERNATIONALER-ARBEITER-VERLAG  /  BERLIN 


oeben 
erxchienen 

KqpK     2.85  Mk. 
Lein.      3.75  Mk. 


947 


Lex  Colin 

\T or  wenigen  Tagen  starb  in 
*  Gastcin,  vierundsechzig  Jahrc 
alt,  ein  berliner  Kritiker  namens 
Ludwig  Renner.  Die  Zeitungen 
notierten,  er  habe  uns  aufier  sei- 
nen  Theaterkritiken  auch  das 
Lied  vom  „kleinen  Cohn"  be- 
schert,  wahrend  nach  wie  vor  die 
packende  Musik  in  dea  Nebel 
der  Namenlosigkeit  gehiillt  blieb. 
Nun  —  wir  nahmen  es  zur 
Kenntriis.  „Kein  andrer"  als 
Ludwig  Renner  also  wurde  von 
der  Muse  in  einer  stillen  Stunde 
solange  gekiifit,  bis  er  mil  dem 
kleinen  Cohri  niederkam.  Friede 
seiner  Asche,  Aber  zwei  Tage 
nur  dauerte  unsre  Gewifiheit  und 
Ruhe,  Da  meldete  sicb  ein  Herr 
Emil  Rosendorff  und  „teilte  mit, 
dafi  er  und  nicht  Ludwig  Renner 
der  Verfasser  von  Hab'n  Sie 
nicht  den  kleinen  Cohn  gesehn? 
seit  von  Renner  sei  nur  die  Re- 
frainidee".  (Hier  sei  kurz  ein- 
gewendet:   Wieso   Idee?) 

So  aber  ist  der  Ruhm:  Herr 
Rosendorff  hat  einmal  in  seinem 
Leben  das  Gliick  genossen,  die 
„Idee"  eines  andern  dichterisch 
verwerten  zu  diirfen,  in  stifie- 
ster  Minute,  der  Seligkeit  einer 
grofien  Konzeption  teilhaftig  zu 
werden;  und  nun  vernichten  drei 
Zeilen  eines  Nekrologes  seinen 
einzigen  Stolz.  Erfinder-  und  Ent- 
deckerschicksal  I  Wie  wenige  diir- 
fen  die  Fruchte  ihres  groBen 
Wurfes  geniefien,  und  war  es 
ihnen,  wie  Emil,  vergonnt,  so 
wurden  sie  nach  wenigen  Jahren 
vergessen;  man  schrieb  dem,  der 
die  Idee  hatte,  auch  noch  die 
Ausfiihrung  zu. 

Dem  Schlagerdichter  flicht  die 
Nachwelt  keine  Kranze,  Wir  wer- 
den es  erleben,  dafi  man  um  1955 
nicht  mehr  wissen  wird,  wer  die 
nach    Lodz    fahrende    Rosa    ver- 


fafit,  wem  das  Puppchen  mit  dem 
Augenstern  gelungen,  j  a  selbst 
wer  die  ausgerechneten  Bananen 
und  den  ruhrenden  kleinen 
Gardeoffizier  der  Welt  geschenkt 
hat.  Das  mufi  vermieden  wer- 
den. Emil  Rosendorffs  Schick- 
sal  soil  sich  nicht  wiederholen : 
man  grunde  ein  Schlagerarchiv, 
in  dem  die  Namen  unsrer  wah- 
ren  Volkslieddichter  und  -Sanger 
aufgezeichnet  werden, 

Paul  Elbogen 


Alte  Frau  wird  ins  Krankenhaus 
gebracht 

Tn  ihren  Augen  lag  jetzt  alter  Schmerz, 

*■     den  Menachen  lei  den  miissen, 

eh  sie  sterben.     Als  sie  die  Trage 

in  das  Zimmer  stellten, 

nahmen  sie  ihr  das  Tuch  dann  vom 

Gesicht: 

Der  Mittag  war  sehr  hell   —  wnd  Sonne 

flofl 
grell  in  den  kahlen  Raum.    Marzsonne  .  . 
Ein  junger  Arzt  kam  —  weiB  mit  einem 
guten  Kinderkopf  —  schrieb  und  sagte 

kurz: 
C.  H.  2  —  und  ging.    (Es  gab  so  viele 

Kranke.) 

Sie  nahmen  dann  erst  ihre  Personalien  auf, 
derweil  sie  jammer t  und  der  Krebs 
an  ihrem  Leibe  frifit  und  wtthlt. 
Die  Schwester  sagt  sehr  trocken: 
Hier  muB  man  still  sein! 

Sie  wimmert  dann  nur  leise  vor  sich  hin 
und  betet  irr  —  das  Fieber  steigt  — 
sie  muB  bald  sterben  —  jeder  weiB  es  — 
deshalb  laBt  man  sie  gev/Shren 
und  hort  nur  flUchtig  hin. 

Nur  tragt  man  spater   sie  in  einen  groBen 

Saal, 
wo  schon  der  Tod  auf  weiBen  Kissen  bluht. 
Der  Ordnung  halber  wird  sie  numeriert: 
Kein  Mensch,  so  heiBt  es,  soil  hier  uber- 
sehen  werden. 
Zuletzt  haben  sie  ihr  noch  eine  Spritze 
gegeben. 

Alfred  Prugel 


FQr  Carl   von  Ossietzky! 

Dieser  Nummer  liegt  eine  Sammelliste  bel  fur  die 
von  der  Liga  fur  Menschenrechte  und  dem  Pen- 
Club   CDeutsche   Gruppe)   veranstaltete    Petition 
fUr  Carl  von  Ossietzky  I 


948 


Antworten 


Vitus  Heller.  Ihr  in  Wiirzburg  erscheinendes  Organ  ,Das  Neue 
Volk'  ist  in  den  letzten  Wochen  mehrfach  polizeilichen  Verfolgungen 
ausgesetzt  gewesen.  Uns  wird  die  Verbotsbegrundung  ubermittelt,  mit 
der  die  Nummer  vom  21.  Mai  beschlagnahmt  worden  ist.  Das  ge- 
schah,  weil  in  einem  Artikel  verlangt  wurde,  die  Banken  sollteh  ver- 
staatlicht,  die  Fabriken,  die  Bergwerke  den  Arbeitern  gegeben,  der 
Grofigrundbesitz  enteignet  werden.  Die  Polizeidirektion  erblickt  eine 
Gefahrdung  der  Sicherheit  schon  darin,  daB  „die  im  Volke  bestehenden 
sittlich-sozialen  Anschauungen  iiber  Eigentum  verwirrt  und  erschiit- 
tert"  werden.  Die  Polizei  diirfte  iiber  die  sittlichen-sozialen  An- 
schauungen des  Volkes  nur  sehr  schlecht  orientiert  sein,  Diese  Be- 
griindungen  sind  keine.  Ob  das  nun,  wie  meist  in  Berlin,  mit  einer 
Argumentation  geschieht,  die  an  Gehlrnakrobatik  grenzt,  oder,  wie 
in  Ihrem  Fall,  mit  der  amtlichen  Verkiindung  solchen  Unsinns  wie: 
die  Empfehlung  der  Sozialisierung  nach  russischem  Muster  sei  „als 
Aufforderung  zum  Hochverrat  zu  bewerten",  bleibt  sich  gleich,  der 
Unterschied  Hegt  nur  im  intellektuellen  Niveau  der  verbietenden  Be- 
horde.  Mit  Protesten  kann  man  hier  nichts  mehr  erreichen,  dariiber 
sind  wir  uns  schon  lange  klar.  Warum  aber  grade  Ihr  Blatt  wegen 
AuBerungen  verfolgt  wird,  die  sonst  meist  uberall  unbehindert  pas- 
sieren  konnen,  und  warum  Ihnen  das  Reden  untersagt  wird  mit  der 
Begriindung,  Ihre  Partei  habe  „sich  die  Ideen  der  kommunistischen  Be- 
wegung  in  weitem  MaBe  zu  eigen,  gemacht",  das  diirfte  sich  aus  der 
besonderen  Eigenart  Ihrer  Ansichten  erklaren.  Sie  sind  kriegsgegne- 
risch,  sozialistisch  und  treten  fur  RuBland  ein,  und  das  alles  als 
Katholik.  Ihre  sich  aus  diesen  Ansichten  ergebende  scharfe  Stellung 
gegen  den  Klerus  und  die  mit  ihm  verbiindeten  politischen  Machte 
lenken  den  HaB  dieser  Machte  auf  Sie,  und  dieser  auBert  sich  eben 
in  solchen  und  ahnlichen  MaBnahmen,  Mit  Recht  hat  das  nichts 
zu  tun. 

Nationalsozialistische  PreuBenfraktion.  Ihr  habt,  wie  Euer  ,An- 
griff  meldet,  einen  Ahtrag  eingebracht,  wonach  „MaBnahmen  ge- 
troffen  werden  sollen,  um  ein  Ersaufen  der  stillgelegten  Wenzeslaus- 
grube  in  Hermsdorf  bei  Neurode  (Harz)  zu  verhindern,"  Wie  ware 
es,  wenn  Ihr  zunachst  einmal  einen  Kursus  fiir  deutsche  Geographie 
in   Eurer  Fraktion  einrichtetet? 

Reichsbote.  Als  Organ  der  protestantischen  Pastoren  orthodoxe- 
ster  Richtung  schreibst  du  zu  einem  Artikel  Hellmut  von  Gerlachs, 
der  den  Naziterror  in  Danzig  beleuchtet  hatte:  „Wir  mochten  tibri- 
gens  Herrn  von  Gerlach  empfehlen,  einen  seiner  schamlosen  Hetz- 
artikel  gegen  das  Ostdeutschtum  einmal  an  Ort  und  Stelle  personlich 
zu  verlesen-  Er  wiirde  bei  dieser  Gelegenheit  bestimmt  einen  An- 
schauungsunterricht  erhalten^  der  ihm  vielleicht  die  Lust  zu  weiteren 
derartigen  DolchstoBen  vertreiben  wiirde/'  Was  deine  Freunde  unter 
„Anschauungsunterricht"  verstehen,  haben  wir  kiirzlich  im  Reichstag 
und  Landtag  gesehen.  Oder  geniigt  dir  das  Gerlach  gegeniiber  noch 
nicht  und  ziehst  du  die  von  Martin  Luther  gegen  die  Bauern  ge- 
schriebenen  Rezepte  vor? 

Rundfunkhorer.  GroBe  Ereignisse  werfen  ihre  Schatten  voraus; 
manchmal  schon  sehr  fruh.  Am  vergangenen  Dienstag  sprach  Gregor 
Strafier  im  Rundfunk;  wer  die  Rundfunkprogramme  der  .  letzten 
Wochen  verfolgt  hat,  wer  gehort  hat,  was  gegeben  wurde,  noch  besser, 
was  nicht  gegeben  wurde,  wird)  gemerkt  haben,  dafi  sich  der  Rund- 
funk allenthalben  schon  ganz  heimlich  auf  den  neuen  Kurs  umgestellt 
hat.  Noch  sind  die  Worte  des  Herrn  Gayl,  er  werde  den  Rundfunk 
von  allem  f,Undeutschen"  reinigen,  nur  eine  Ankiindigung,  aber  lange 
vorher  schon  ist  bei  vielen  Sendern  das  unterdriickt  worden,  was  die 
Rechte   so   als    „undeutsch"    bezeichnet,   was   ihr,   klarer   ausgedruckt, 

949 


nicht  in  den  Krara  paBt.  Ein  kleines  Beispiel,  in  dessen  Entwick- 
lungsgang  wir  Einblick  nehmen  konnten:  Doktor  Fritz  Sternberg  bat 
seit  einigen  Jahren  im  Westdeutschen  Rundfunk  Vortrage  okonomisch- 
politischen  Inhalts  gehalten.  Ein  mit  ibm  vereinbartes  Referat  tiber 
die  „Kapitalshintergrunde  im  japanisch-chinesischen  Konflikt"  wurde 
ihm  plotzlich  zuriickgereicht  mit  der  merkwiirdigen  Behauptung,  es 
gabe  S  tell  en,  ()die  durch  ihre  ungenaue  und  oberflachliche  Formulie- 
rung  dem  Horer  kein  klares  Bild  der  Zusammenhange  vermitteln'V 
AuBerdem  befriedige  die  Abhandlung  t,sprachlich  und  textlich  in 
keiner  Weise".  Dies,  nachdem  zwolf  Vortrage  obne  Beanstandung  ge- 
halten worden  waren,  Sie  werden  sagen,  das  hindere  nicht,  dafi  beim 
dreizehnten  Mai  eben  wirklich  solche  Einwande  zu  erheben  sind.  Sie 
konnten  recht  haben,  wenn  nicht  die  Leitung  des  Westdeutschen 
Rundfunks  auf  jedes  der  zahlreichen  Ansuchen  Doktor  Sternbergs, 
ihm  doch  die  betreffenden  Stellen  zu  nennen,  ausweichend  geant- 
wortet  hatte.  Der  ganze  Briefwechsel,  der  uns  vorliegt  und  dessen 
vorlaufigen  AbschluB  ein  Schreiben  des  Intendanten  Ernst  Hardt 
bildet,  zeigt,  ohne  es  auch  nur  ein  eihziges  Mai  auszusprechen,  daB 
viele  Rundf unkleitungen  schon  heute  bemuht  sind,  der  Regierung  den 
in  so  schonem  Deutsch  angekundigten  Kampf  gegen  „die  Zersetzung 
marxistisch-atheistischen  Denkens"   zu  erleichtern. 

Deutsche  Burschenschalt.  Es  tut  wohl,  in  diesen  Zeiten  der  Ver- 
elendung  der  Studentenschaft  von .  Studentenverbindungen  zu  horen, 
deren  Mitglieder  offenbar  noch  nicht  auf  das  Existenzminimum  be- 
schrankt  sind.  Ihr  habt  vier  eigne  Flugzeuge  auf  dem  Flugplatz 
Boblingen,  bildet  Piloten  und  Beobachter  zu  „wehrsportlichenM  Zwek- 
ken  aus  und  habt  ein  eignes  W. A,  { Wehr-Amt) .  Die  Finanzierung 
geschieht  mittels  des  Wehrpfennigs,  den  jedes  Mitglied  einer  bur- 
schenschaftlichen  Verbindung  monatlich  zu  entrichten  hat.  Ein  Flug- 
zeugkursus  zur  Erlangung  des  Fuhrerscheins  fur  leichte  Sportflug- 
zeuge  kostet  250  RM,  Man  kann  wirklich  nicht  sagen,  daB  es  bei 
euch  wie  bei  armen  Leuten  zugeht.  Fiir  Wehrspielerei  habt  ihr 
immer  noch  etwas  iibrig.  Ware  aber  euer  uberfliissiges  Geld  nicht 
eigentlich  noch  besser  angewandt,  wenn  ihr  es  denTausenden  eurer 
hungernden  Mitstudenten  zugute  kommen  lieBet? 

Hans  Hartmann.  Nattirlich  ware  es  sehr  erfreulich,  wenn  in 
Deutschland  die  Reformfreimaurerei  die  alte,  verkalkte,  nationalistisch 
gewordene  Freimaurerei,  die  GroBe  Landesloge,  mattsetzen  konnte, 
Das  Ungliick  ist  wieder  nur  die  beriihmte  deutsche  Eigenbrotelei. 
Da  haben  wir  gleich  zwei  konkurrierende  Reformbewegungen:  die  der 
Liga  zur  aufgehenden  Sonne  und  die  der  Symbolischen  Liga.  Wer 
eine  deutsche  Freimaurerei  von  dem  starken  und  ntitzlichen  Einflufi 
der  franzosischen  wunscht,  sollte  sich  in  erster  Linie  um  die  Ver- 
einheitlichung    der    Reformmaurerei    bemiihen, 

Deutsche  Welle.  Ihr  seid  doch  so  stolz  darauf,  dafi  ihr  mit  alien 
euren  Rednern  Mikrophonproben  abhaltet.  Wenn  ihr  also  schon  an 
Stelle  von  Leipart  plotzlich  den  Vorsteher  der  deutschnationalen 
Handlungsgehilfen  iiber  „Reparationen  und'  Arbeiterschaft"  sprechen 
lafit,  dann  sagt  ihm  wenigstens  vorher,  daB  Lausanne  nicht  von  Laus 
kommt  und  daB  Versailles  sich  nicht  Wersaach  spricht.  Paukt  also 
mit  euren  Rednern,  und  seien  sie  von  noch  so  deutscher  Art,  die 
Fremdworter.    Sie  werden  sich  keine  Verzierung  dabei  abbrechen. 

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  Weltbuhnc,  Charlottenburg*  Kantstr.  152,  zu 
ricfaten ;  es  wird  gebeten,  ibnen  Rudcporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Ruduendung  erfolgen  kann. ' 
Das  Auff  Uhrungsrecht,  die  Verwertung  vonTiteln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  Radiovortragen 
bleiben   fttr  alio  in  der  WeltbUhne  erscheinenden  Beitr&ge  ausdrucklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begruodet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
uoter  Mitwirkung    von   Kurt  Tucbolsky  geleitet  —  VerantwortHch:    Walther  Karsch,    Berlin. 

Verlag  dw  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  CI,  Steinplatz  7757.  —  Postscheckkonto:  Berlin  11958. 
Bankkonto:  Dresdner  Bank.    Depositenkasse  Charlottenburg,  Kantstr.  1X2. 


XXVIII.  Jahrgang  28.  Jnni  1932  Nummer  26 

Deutschland  am  1.  August  von  Helmut  v.  oeriacn 

Dechte  Hand,  linke  Hand,  alles  vcrtauscht.  Wer  bisher  die 
Gewohnheit  hatte,  Bayerns  politische  Leistungen  in  um- 
gekehrte  Proportion  zum  BiergenuB  des  Landes  zu  bringen,  wird 
sich  aufs  Umlernen  einstellen  mtissen.  Die  ehrenvolle  innerpoli- 
tische  Stellung,  die  Bayern  vor  dem  Kriege  einnahm,  beginnt 
es   zurtickzuerobern. 

Sprachen  in  alten  Zeiten  die  preuBischen  Junker  von 
Bayern,  so  erledigten  sie  es  mit  zwei  Worten:  demokratische 
Knochenerweichung!  Diese  siiddeutschen  Bundesbriider,  die 
die  besten  wahrhaftig  nicht  waren,  kannten  ja  nicht  einmal 
die  Dreiklassen-Wahl.  Grofl.gr  undbesitz  gab  es  fast  nicht. 
Der  Adel  spielte  keine  Rolle.  Die  Kinder  der  t,h6hern" 
Schichten  wurden  nicht  als  Sonderwesen  behandelt,  sondern 
der  Sohn  des  Ministers  muBte  mit  dem  des  StraBenkehrers 
dieselbe  Schulbank  driicken,  Der  Offizier  fuhlte  sich  nicht 
deklassiert,  wenn  er  im  Brau  an  demselben  Tisch  seine  MaB 
trank  wie  der  „Gemeine".  Presseverbrecher  kamen  vor  das 
Schwurgericht,  das  sie  freizusprechen  pflegte.  Kein  Wunder, 
daB  dies  Schandblatt,  der  ,Simplicissimus'  seine  Wohnstatte 
in  Miinchen  aufgeschlagen  hatte. 

Kein  Wunder  auch,  daB  die  Republik  in  Miinchen  ein 
paar  Tage  friiher  ausgerufen  wurde  als  in  Berlin,  obwohl  die 
Wittelsbacher  unendlioh  viel  volkstiimlicher  waren  als  die 
Hohenzollern. 

Dann  aber  kam  im  Sommer  1919  der  groBe  Umschlag. 
Die  paar  Wochen,  dieder.Bolschewismus  regiert  hatte,  geniigten 
vollstandig,  urn  auf  Jahre  hinaus  Bayerns  Burger  und  Bauern 
fast  in  ihrer  Totalitat  der  scharfsten  Reaktion  in  die  Arme 
zu  werfen.  Der  rechteste  Rechtser  ist  der  sicherste  Schiit- 
zer  gegen  eine  Wiederkehr  des  Bolschewismus!  Das  wurde 
zur  fixen  Idee.  Weit  offnete  man  die  Arme  den  verbreche- 
rischen  Rechtsrebellen  aus  dem  Norden  und  stattete  sie,  wenn 
es  not  tat,  mit  falschen  Passen  aus.  Bayern  wurde  die  Un- 
ordnungszelle,  die  der  Auslander  wie  jeder  gesittete  Deutsche 
floh. 

Bis  der  blutige  Hitlerputsch  von  1923  plotzlich  die  Mas- 
sen  des  bayrischen  Volkes  wieder  zur  Vernunft  brachte.  Das 
hatte  man  nicht  gewolltl  Keinem  ordentlichen  Bayern  fiel 
es  im  Traume  ein,  den  gewaltsamen  Umsturz  von  links  durch 
gewaltsamen  Umsturz  von  rechts  ersetzen  zu  wollen.  Man 
kehrte  zur  altbewahrten  Demokratie  zuriick. 

Der  Bayer  will  nicht  nur  sein  Bier  trinkenr  sondern  er 
will  es  in  Ruhe  trinken.  Als  Hitler  das  Biirgerbrau  durch 
semen  historischen  PistolenschuB  entweihte,  hatte  er  bei  dem 
besten  Teil  des  bayrischen  Volkes   ausgespielt. 

Und  da  kommen  jetzt  diese  preuBischen  Barone  und  wol- 
len die  Bayern  zwingen,  Hitlers  Armee,  deren  Gefahrlichkeit 
man  1923  in  Miinchen  zur  Geniige  kennen  gelernt  hat,  nicht 
nur  wieder  zuzulassen,  sondern  sie  zur  Erhohung  ihrer  Bedenk- 

1  951 


lichkeit  noch  dazu  in  Uniform  zu  steckenl  Nein,  da  legt 
Bayern  scin  Veto  ein.  Wiirttemberg  und  Baden  stellen  sich 
mit  ihm  in  eine  Reihe,  weil  auch  sie  gut  deutsch  sind,  aber 
mit  dem  ostelbischen  Junkertum  keine  Wesensgemeinschaft 
fiihlen,  Wenn  inan*droben  im  Norden  den  Braunhemden  die 
Macht  in  die  Hand  geben  will  —  im  Stiden  macht  man  nicht 
mit. 

Die  norddeutschen  Demokraten  waren  immer  mehr  oder 
weniger  Unitarier.  Sie  haben  darauf  verzichtet,  ihr  staats- 
rechtliches  Ideal  gewaltsam  zu  verwirklichen,  weil  ihnen  die 
Schonung  der  suddeutschen  Gefiihle  im  Interesse  Gesamt- 
deutschlands  noch  wesentlicher  schien.  Sie  wollten  nicht 
kunstliche  Vereinheitlichung  auf  Kosten  der  Einigkeit  be- 
treiben. 

Die  Regierung  Papen-Schleicher  nimmt  so  zarte  Riick- 
sichten  nicht.  Kann  sie  nicht  nehmen.  Sie  ist  <ja  nicht  Herr 
ihrer  Handlungen.  Sie  handelt  unter  dem  Druck  ihrer  Herren. 
Pacta  sunt  servanda!  brtillt  ihr  Hitler  ins  Ohr.  Er  will  seine 
braunen  Uniformen  iiberall  die  StraBen  terrorisieren  sehen, 

Seit  die  SA,  freigegeben  ist,  verzeichnet  die  Presse 
taglich  zwei  bis  sechs  Todesopfer  und  einige  Hundert  Ver- 
wundete.  Trotzdem  soil  man  nicht  iibertreiben.  Wir  befin- 
den  uns  noch  nicht  im  Biirgerkriege.  Aber  die  taglichen  blu- 
tigen  ZusammenstoBe  gehen  iiber  bloBe  Grenzzwischenfalle 
schon  erheblich  hinaus.  Eine  gewisse  Systematik  liegt  ihnen 
offenbar  zugrunde.  Wobei  vermerkt  werden  muB,  daB  die  Kom- 
munist'en  ihren  Todfeinden  Triimpfe  in  die  Hand  spielen, 
wenn  sie  selbst  zum  Gegenangriff  iiberge,hen,  was  leider  oft 
der  Fall  ist. 

Die  berliner  Presse  ist  schon  aus  Raumgriinden  ganz 
auBerstande,  von  den  Hunderten  von  taglichen  Zusammen- 
stoBen  im  Reich  Notiz  zu  nehmen,  Man  muB  neben  ihr  die 
Provinzpresse  lesen,  um  einen  Oberblick  iiber  die  Grauen- 
haftigkeit  des  Zustandes  zu  gewinnen. 

Herr  von  Hindenburg  hat  die  Aufhebung  des  SA.-Verbots 
mit  einem  Brief  an  Freiherrn  von  Gayl  begleitet,  in  dem  er  die 
Erwartung  aussprach,  ,,daB  der  politische  Meinungskampf  in 
Deutschland  sich  kiinftig  in  ruhigerer  Form  abspielen  werde, 
und   daB  Gewalttatigkeiten  unterbleiben". 

Wir  mochten  Herrn  von  Hindenburg  empfehlen,  sich  ein- 
mal  den  ,Dbrtmunder  Generalanzeiger*  vom  21,  Juni  anzu- 
sehen,  Dort  sind  unter  der  Uberschrift  MKatastrophale  Fol- 
gen  der  Aufhebung  des  SA.-Verbots"  auf  zwei  Spalten  chro- 
nikartig  die  blutigen  Gewalttaten  eines  einzigen  Tages  aus 
einem  Bezirk  registriert.  Es  werden  aufgefiihrt  opfervolle  Zu- 
sammenstoBe aus  Iserlohn,  Gladbeck,  Bottrop,  Gelsenkirchen, 
Oberhausen,  Remscheid,  Wuppertal,  Diisseldorf,  Aachen  und 
Merkstein. 

Ist  Herr  von  Hindenburg  wirklich  der  Meinung,  daB  er 
richtig  gehandelt  hat,  als  er  dieseibe  SA.  jetzt  freigab,  die  er  vor 
zweiMonaten  verbot,  um  „burgerkriegsahnliche  Zustande"  zu 
vermeiden?  Wie  nennt  er  die  Zustande,  die  heute  herrschen, 
infolge  der  Freigabe? 

952 


Dabei  fiihren  die  maBgebenden  Nationalsozialisten  in  Wort 
und  Schrift  cine  Sprache,  die  unweigerlich  zu  einer  weitern 
Verscharfung  der  burgerkriegsahnlichen  Zustande  fiihren  muB. 

Am  22.  Juni  schrieb  der  .Angriff: 

Sic  sollen  sich  nicht  zu  sicher  fuhlen  in  ihren  Parteibureaus  und 
in  ihren  Redaktionsstuben  im  Liebknecht-Haus,  in  der  Lindenstrafie, 
bei  Ull steins,  bei  Mosses  und  bei  Steinthal! 

Sie  sollen  nicht  glauben,  daB  wir  unsere  Toten,  die  sie  aul  dem 
Gewissen  haben,  jemals  vergafien.  Wir  werden  eines  Tages  Rechen- 
schaft  fordern,  gerecht,  aber  hart  und  unerbittlich, 

Und  am  23.  Juni  ist  Herr  Goebbels  im  Sportpalast  noch 
deutlicher  geworden: 

Wir  verlangen,  dafi  die  Strafie  filr  das  nationale  Deutschland 
frei  ist,  das  ist  unser  Recht,  und  wenn  uns  dieses  Recht  nicht  gegeben 
wird,  dann  werden  wir  es  uns  nehmen  und  selbst  mit  der  roten  Mord- 
pest  aufraumen ... 

Wenn  einem  unsrer .  Fuhrer  auch  nur  ein  Haar  gekriimmt  wird, 
dann -werden  wir  cine  Rache  nehmen,  wie  sie  in  der  Weltgeschichte 
noch  in  keinem  Lande  erlebt  ist.  Wir  verlangen  keinen  Pardon,  weil 
wir  auch  keinen  Pardon  geben.  Die  Manner  des  Systems  haben  so 
viel  Unheil  angerichtet,  dafi  wir  auf  das  Strafgericht  nicht  verzichten 
und  sie  hochhangen  werden! 

Kann  die  Regierung  Papen-Schleicher  erwarten,  daB  die 
siiddeutschen  Regierungen  angesichts  solcher  Drohungen  und 
angesichts  der  bereits  im  iibrigen  Reich  herrschenden  Zustande 
auf  ihre  Polizeigewalt  verzichten?  MuB  man  nicht  ihr  Verant-  % 
wortungsgefuhl  anerkennen,  wenn  sie  sich  mit  alien  gesetz- 
lichen  Mitteln  gegen  die  Freigabe  der  StraBe  an  den  blanken 
Terror  strauben? 

Herrn  von  Schleichers  erste  Fehlrechnung  war,  daB  er 
glaubte,  durch  Papens  Ernennung  das  Zentrum  in  sein  Ge- 
folge   zu  bringen, 

Herrn  von  Schleichers  zweite  Fehlrechnung  war,  daB  er 
glaubte,  an  seinem  Drahte  die  Landerregierungen  wie  Puppen 
dirigieren  zu  konnen. 

Die  Regierung  Schleicher  hat  die  Kluft  zwischen  rechts 
und  links  noch  vertieft. 

Die  Regierung  Schleicher  hat  dazu  eine  zweite  Kluft  zwi- 
schen Norden  und  Suden  aufgetan. 

Zur  alten  Zerrissenheit   ist  neue  hinzugetan  worden. 

Aber  die  Regierung  kann  nicht  zuriick.  Wie  der  ungetibte 
Bergsteiger  machtlos  am  Seil  des  Fiihrers,  hangt  sie  am  Seil 
Hitlers.  Durchschneidet  er  das  Seil,  purzelt  sie  in  den  Ab- 
grund. 

Die  Entscheidung  bringt  der  31.  Juli.  Dann  ziehen  die 
Nationalsozialisten  mit  zweihundert  oder  noch  ein  paar  Man- 
daten  mehr  in  den  Reichstag,  in  den  zugleich  Zentram,  SPD. 
und  KPD,  ungebrochen  einziehen  werden.  Die  Mitte  ist  so 
zerrieben  daB  selbst  die  funfundzwanzig  Mandate  Hugenbergs 
und  das  Dutzend  der  Splitterparteien  keine  Mehrheitsbildung 
fur  die  Rechte  ermoglichen,  Und  dann  erhebt  sich  die  groBe 
Frage:  Wie  soil  es  weitergehen,  legal  oder  illegal? 

Am  1.  August  beginnt  der  Entscheidungskampf  zwischen 
Hitler  und  Schleicher. 

953 


Naturlich  bleibt  theoretisch  die  Moglichkeit  ciner  Koali- 
tion  Hitlers  mit   dem  Zeiitrum. 

Aber  der  Siegesrausch  vom  31.  Juli  wird  die  National- 
sozialisten  noch  weit  anspruchsvoller  machen,  als  sie  am 
15.  September  1930  waren,  wo  die  MaBlosigkeit  ihrer  An- 
spruche  den  an  sich  verhandlungsbereiten  Briining  sofort  zu- 
ruckstieB.  Sie  werden  die  tatsachliche  Alleinmacht  fordern, 
die  ihnen  weder  Zentrum  noch  Schleicher  zugestehen  kann. 

Was  also  dann,  wenn  wir  einen  Reichstag  haben,  in  dem 
es  auf  keinen  Fall  eine  parlamentarische  Mehrheit  gibt? 

Sollte  dann  nicht  wieder  zu  dem  alleinseligmachenden  Ar- 
tikel  48  im  weitesten  Umfange  gegriffen  werden? 

General  von  Seeckt  war  1923  bis  1924  ein  paar  Monate 
hindurch  legaler  Diktator  Deutschlands,  Diesmal  wiirde  es 
naturlich  General  von  Schleicher  werden.  Er  hatte  die  Reichs- 
wehr  hinter  sich,  aber  Hitler  mit  der  braunen  Armee  vor  sich. 
Und  nichts  unter  sich.  Die  antifascistischen  Massen  wollen 
von  einer  Militardiktatur  ebenso  wenig  wissen,  wie  von  einer 
fascistischen. 

Die  Perspektive  ist  furchtbar:  sie  brauchte  es  nicht  zu 
sein,  wenn  man  mit  d'er  Vernunft  der  Wahlermehrheit  rech- 
nen  diirfte. 

Aber  Vernunft  scheint  keine  marktgangige  Ware  mehr 
zu  sein.  Sie  ist  abgelost  durch  Mystik.  Und  Mystik  kann 
politisch  nur   Mist  produzieren. 


Die  VierUnddreifiigSte  von  Hanns-Erich  Karainski 

Lausanne,  23*  Juni 
TJnser  neuer  Reichskanzler  befindet  sich  nun  in  Ouchy,  um 
w  die  letzten  hundfert  Meter  zuruckzulegen,  die  Doktor 
Briining  angeblich  noch  vom  Ziel  entfernt  war.  Hier  merkt 
man  allerdings  nichts  von  dem  veranderten  Geist  und  der  ver- 
anderten  Methodef  die  jetzt  in  Deutschiand  herrschen.  Herr 
von  Papen  benimmt  sich  keineswegs  wie  ein  schneidiger  Dik- 
tator- 1(Dem  Reichskanzler  stent  der  Wortschatz  der  fran- 
zosischen  Sprache,  diese  zu  nichts  verpflichtende,  vollig  un- 
verbindliche  Liebenswiirdigkeit  der  Phrase  iiberraschend  leicht 
zur  Verfiigung.  Er  sagt,  was  man  auf  deutsch  gar  nicht  iiber- 
setzen  kann,  er  sei  .unendlich  glucklich1,  ,tief  bewegt1,  ja  so- 
gar  manchmal  ,hoch  erhoben'  ",  schreibt  Doktor  Klein  in  der 
fDAZ'.  Die  Auslander  finden  ihn  d'enn  auch  alle  sehr  nett, 
und  ein  Franzose  sagte  zu  mir,  er  sei  viel  umganglicher  als 
Briining,  der  stets  ebenso  verstopft  gewesen  sei  wie  Poincare. 
Es  ist  uberhaupt  eine  Konferenz  der  sympathischen  Leute, 
MacDonald,  der  merklich  gealtert  aussieht,  ist  mit  alien  gut 
Freund,  und  Herriot,  immer  den  Hut  im  Genick,  immer  leicht 
verschwitzt,  strahlt  Wbhlwollen  nach  alien  Seiten  aus.  Alle 
sind  zufrieden  und  optimistisch,  und  nur  die  Amerikaner,  die 
in  Genf  sitzen  und  an  der  Reparationskonferenz  nicht  teilneh- 
men,  waren  vorubergehend  verschnupftf  weil  die  Fragen  der 
Entwaffnuhgskonf erenz,  die  sie  am  meisten  interessieren,  etwas 
in  den  Hintergrund  getreten  sind.    Unbehaglich  fiihlen  sich  fer- 

954 


ner  die  Vertreter  Italiens  und  der  kleinen  Staaten,  die  sich 
unbeachtet  finden  und  abwarten  miissen. 

Die  gutc  Atmosphare  kann  jedoch  nicht  dariiber  hinweg- 
tauschen,  daB  unendlich  viel  Zcit  verloren  geht.  Die  Konfe- 
renz  hat  ausnahmsweise  mit  einem  BeschluB  begonnen,  nam- 
lich  mit  der  Verlangerung  des  Moratoriums.  Dariiber  herrschte 
im  crsten  Augenblick  uberall  erne  Art  Begeisterung.  Aber 
schon  wenige  Tage  spater  zeigte  sich,  daB  jedes  Land  diesen 
BeschluB  anders  interpretiert,  und  plotzlich  sieht  man,  daB  die 
Konferenz  eigentlich  noch  gar  nicht  angefangen  hat.     ! 

Das  kommt  daher,  daB  sie  iiberhaupt  nicht  vorbereitet 
worden  ist.  Samtliche  Regierungen  wuBten  zwar  seit  Mona- 
ten,  daB  man  versuchen  wollte,  diesmal  endgiiltig  die  Repara- 
tionsfrage  zu  losen,  trotzdem  ist  es  der  Diplomatic  nicht  ein- 
mal  gelungen,  die  Detailfragen  zu  formulieren.  Infolgedessen 
befolgt  man  in  Ouchy  zunachst  die  Methode  MacDpnalds,  die 
darin  besteht,  keine  Methode  zu  haben.  per  britische  Pre- 
mierminister  hat  eine  besondere  Vorliebe  £iir  Konferenzen,  cr 
glaubt,  man  miisse  nur  zusammenkommen  und  sich  aus- 
sprechen,  dann  wiirde  man  auch  zu  einem  alle  Teilc  zufrieden- 
stellcndcn  Ergebnis  gelangen.  So  kommt  es,  dafi  die  diplo- 
matischen  Vorarbeiten  erst  jetzt  gemacht  werden  miissen.  Man 
ist  sich  noch  nicht  einmal  einig,  ob  man  Kommissionen  fur 
die  Einzelfragen  einsetzen  oder  sofort  iiber  die  Gesamtfragen 
verhandeln  soil. 

Die  seit  Jahr  und  Tag  bestehende  Situation  ist  dabei  un- 
verandert,  und  die  verschiedenen  Anschauungen  stehen  sich 
so  schroff  wie  je  gegeniiber.  Deutschland  will  weder  jetzt 
noch  in  Zukuntt  zahlen;  Frankreich  will  seine  Anspriiche 
wenigstens  liir  die  Zukunft  aufrechterhalten;  England  will  den 
ganzen  Reparationskomplex  auf  irgendeine  Weise  zum  Ab- 
schluB  und  gleichzeitig  ein  allgemeines  Abkommen  iiber 
Zoll-  und  Wahrungsfragen  zustandebringen.  Sowohl  Frank- 
reich wie  England  wiinschen,  auch  ihre  Schulden  bei  den 
Vereinigten  Staaten  loszuwerden.  Die  Vereinigten  Staaten 
wiederum  verlangen,  ehe  sie  iiberhaupt  mit  sich  reden  lassen, 
einen  entschiedenen  Schritt  in  der  Abrustungsfrage.  Auf  der 
Abriistungskonferenz  in  Genf  aber  sind  die  Gegensatze  wo- 
moglich  noch  starker  als  in  Lausanne.  Und  auBerdem  wird 
noch  iiber  die  Sanierung  Oesterreichs  verhandelt,  wobei  so- 
fort die  Fragen  des  Anschlusses  und  der  Donaufoderation 
auftauchen. 

Alle  sprechen  also  iiber  alles,  und  wenn  es  so  weiter  geht, 
muB  die  Konferenz  viele  Monate  dauern.  Dagegen  laBt  sich 
Iediglich  einwenden,  daB  Herriot  wie  MacDonald  rasche  Er- 
folge  brauchen.  Herriots  parlamentarische  Stellung  ist  nicht 
sehr  stark,  Regierungskrisen  wahrend  internationaler  Konfe- 
renzen sind  in  Frankreich  schon  beinahe  Tradition,  und  ein 
groBer  Teil  der  Kammer,  einschlieBlich  vieler  Radikaler,  ver- 
folgt  die  uferlosen  Unterhaltungen  von  Lausanne  mit  wach- 
sender  Nervositat.  Ebenso  wenig  kann  sich  MacDonald,  der 
ja  in  seiner  eignen  Mehrheit  isoliert  ist,  einen  MiBerfolg  lei- 
sten,  und  da  er  in  wenigen  Wochen  zur  britischen  Reichskon- 
ferenz  nach  Kanada  fahren  muB,  hat  er  nicht  viel  Zeit  zu  ver- 

2  955 


liercn.  Herriot  und  MacDonald  miissen  dcmnach  nach  einem 
KompromiB  suchen,  das  sich  wahrscheinlich  als  ein  ncucs  Pro- 
visorium  darstellen  wird. 

Die  deutsche  Regierung  nun  will  kern  KompromiB  und  erst 
recht  kein  Provisorium.  Sie  kann  es  gar  nicht  wollen,  denn 
was  wiirdc  Hcrr  von  Schleicher  dazu  sagen?  Und  was  Hitler, 
fur  den  der  General  von  Epp  und  der  Oberst  Hasselbach  den 
Gang  der  Konferenz  iiberwachen?  Die  deutsche  Delegation 
handelt  daher  sehr  einf  ach.  Sie  beharrt  in  ihrer  Intransigenz 
und  wartet  im  tibrigen  ab.  Manche  Leute  halten  das  fur  eine 
sehr  kluge  Taktik.  In  Wirklichkeit  erzwingt  Deutschland  da- 
durch  etwas,  woriiber  sich  unsre  Nationalen  jahrelang  beklagt 
haben;  namlich,  daB  die  andern  sich  zunachst  untereinander 
verstandigen  und  dann  Deutschland  geschlossen  gegeniiber- 
treten,  so  daB  ihm  schlieBlich  nur  iibrig  bleibt,  nein  zu  sagen 
und  als  Storeniried  zu  gelten  oder  sich  mit  einem  neuen 
,, Diktat"  abzufinden. 

Deutschland  spielt  so  in  der  Weltpolitik  eine  ahnliche 
Rolle  wie  die  Kommunisten  in  der  deutschen  Innenpolitik.  Es 
hat  ein  radikales  Programm,  es  marschiert  nach  radikalen 
Pafolen,  a'ber  es  bleibt  damit  an  der  Peripherie,  wahrend  die 
Ereignisse  ihren  Lauf  nehmen  und  die  Entscheidungen  ohne 
sein  Zutun  fallen.  Grade  noch,  dafi  die  deutschen  Minister 
sich  von  den  Franzosen  und  Englandern  iiber  deren  Kom- 
promiBplane  unterrichten  lassen. 

In  ihren  Umrissen  lassen  sich  diese  Plane  bereits  er- 
kennen.  Von  der  volligen  Streichung  der  Reparationen,  dem 
„coup  d  eponge",  wie  man  hier  sagt,  ist  dabei  selbstverstand- 
Hch  kerne  Rede.  Herriot  ist  wohl  bereit,  vorlaufig  auf  Zah- 
lungen  Deutschlands  zu  verzichten,  aber  er  fiirchtet,  ein  sa- 
niertes  Deutschland  werde  Frankreich  wirtschaftlich  bald 
iiberfliigeln.  Deshalb  verlangt  er,  daB  Deutschland  seine 
Schulden  anerkennt.  Internationale  Sachverstandige  sollen 
dann  spater  an  Hand  eines  Wohlfahrtsindexes  bestimmen,  wann 
und  wieviel  Deutschland  zu  zahlen  hat. 

MacDonald  hingegen  wiinscht,  daB  Deutschland  nur  noch 
eine  SchluBzahlung  leistet  und  daB  damit  die  Reparationen  end- 
gxiltig  erledigt  sind.  Diese  SchluBzahlung  wiirde  seiner  Mei- 
nung  nach  am  besten  in  Bons  der  Reichsbahn  erfolgen.  Die 
Befiirworter  einer  solchen  Regelung  meinen,  wenn  die  Ver- 
einigten  Staaten  nach  der  Prasidentenwahl  in  der  Frage  der 
interalliierten  Schulden  entschluBfreudiger  seien,  konnte  man 
ihnen  diese  Bons  als  Abgeltung  dafiir  anbieten. 

Es  ist  leicht  vorauszusehen,  daB  man  die  KompromiBformel 
auf  der  Linie  zwischen  diesen  beiden  Piinkten  finden  wird, 
wenigstens  zwischen  England  und  Frankreich,  Dann  wird 
man  sie  Deutschland  vorlegen  —  und  dann  wird  die  Konferenz 
erst  rich  tig  beginnen, 

Ahnlich  liegen  die  Dinge  auf  der  Abriistungskonferenz. 
Frankreich  ist  hier  >&fereit,  seine  militarischen  Ausgaben  urn 
zehn  bis  zwanzig  Prozent  herabzusetzen,  und  auch  iiber  eine 
Begrenzung  der  sogenahnten  Angriffswaffen  wird  man  sich 
vermutlich  in  der  Weise  verstandigen,  daB  Geschiitze  nur 
noch  ein  bestimmtes  Kaliber  und  Tanks  nur  noch  ein  bestimm- 

956 


tcs  Gcwicht  habcn  diirfen.  Und  da  auch  auf  der  Abriistungs- 
konferenz  Deutschland,  diesmal  allerdings  in  Gemeinschaft 
mit  RuBland  und  Italien,  an  den  Gesprachen  der  Englander, 
Franzosen  und  Amerikaner  nicht  teilnimmt,  wird  es  auch  hier 
vor  ein  Ja  oder  Nein  gestellt  werden, 

Auf  der  Abriistungskonferenz  ist  Deutschland  immerhin 
nicht  isoliert.  Jedoch  weder  RuBland  noch  Italien  unterliegen 
den  Beschrankungen  des  Vertrages  von  Versailles.  Wenn  die 
Konferenz  auffliegt  oder  noch  jahrelang  weitertagt,,  konnen 
diese  Staaten  tun,  was  sie  wollen.  Die  Regierung  des  Herrn 
von  Papen  dagegen  iriuB  sich  dann  vom  Versailler  Vertrag  los- 
sagen  oder  ihr  Programm  preisgeben, 

Noch  viel  harter  aber  ist  diese  Alternative  auf  der  Re^ 
parationskonferenz.  Jemand  hat  ausgerechnet,  dies  sei  die 
34,  Konferenz,  die  sich  mit  der  Reparationsfrage  befaBt,  und 
sicher  ist  nur  eins:  es  wird  noch  nicht  die  letzte  sein.  Deutsch- 
land hat  allerdings  Zeit,  denn  solange  die  Konferenz  dauert, 
braucht  es  unter  keinen  Umstanden  etwas  zu  zahlen.  Aber  je 
mehr  sich  das  KompromiB  zwischen  den  einladenden  Machten 
herauskristallisiert,  desto  naher  riickt  auch  die  Krise  der 
Konferenz.  Und  dann  wird  sich  bald  zeigen,  daB  die  Verhalt- 
nisse  starker  sind  als  selbst  die  Erneuerer  unsrer  nationalen 
Moral,  denen,  der  ,-DAZ/  zufolge,  „die  zu  nichts  verpflichtende, 
vollig  unverbindliche  Liebenswiirdigkeit  der  Phrase  uber- 
raschend  leicht  zur  Verfiigung  steht". 


Sind  wir  Marxisten?  von  Kurt  miier 

jV/Tarxisten  —  dies  Wort,  wie  zahlreiche  Worter  der  philo- 
sophischen,  literarischen,  wissenschaftlichen,  politischen 
Umgangssprache,  ist  vieldeutig.  Zunachst  bedeutet  es  heute 
ein  Schimpfwort.  Ein  Schimpfwort  der  Riickwartser,  beson- 
ders  der  Nazis.  Alles,  was  sie  nicht  leiden  mogen,  bezeichnen 
sie  bose  und  mit  Ingrimm  als  ,,marxistisch"  —  so,  wie  sie 
alles,  was  sie  nicht  leiden  mogen,  ,,judisch"  nennen  oder  die 
Feineren  ,,liberalistisch".  Sie  sagen  „Marxisten"f  wie  wir 
,,Reaktionare"  sagen,  das  heifit  ohne  damit  eine  Doktria  zu 
meinen.  „Marxistisch"  ist  jede  miBliebige  physikalische, 
psychologische,  moralische,  asthetische  Theorie,  jeder  miB- 
liebige Stil,  jede  miBliebige  Haartracht,  jede  miBliebige  Stel- 
lung  zur  Strafrechtsreform  (auch  wenn  sie,  wie  etwa  die  For- 
derung;  Freigabe  der  Abtreibung,  ganz  unmarxisch  ist),  Als 
,,marxistisch"  wird  abgelehnt,  verworfen,  verachtet,  was  in  der 
^Frankfurter  Zeiung'  oder  was  bei  Anarchosyndikalisten  steht; 
zwischen  Noske,  Thalmann,  Trotzki,  Landauer  machen  sie  kei- 
nen Unterschied  —  alles  ,, Marxisten*', 

Dies  StraBendeutsch,  dieser  Radaujargon  interessiert  hier 
nicht.  Das  Schimpfwort  MMarxist",  welches  uns  alle  treffen 
soil,  trifft  uns'  auch  alle;  wenn  ein  niemals  differenzieren-des, 
Suppe,  Fleisch,  Obst,  Kase  aus  Einem  Topf  fressendes,  auf 
sein  Unterscheidungsunvermogen  und  seine  Bildungslosigjceit 
noch  pochendes  Kanaukentum  polemisch  loslegt,  dann  wiinsche 
ich,  der  ich  es  sicherlich  nur  sehr  bedingt  bin,  durchaus  und 

957 


unbedingt  , .Marxist"  zu  sein.     Hicr  gilt  nur  eines:  all-linke  So- 
lidaritat. 

Marxist  bleibt  abcr  dancben,  vcrsteht  sich,  cin  ernsthafter 
Begriff.  Sind  wir  Marxistcn?  Dcr  politische  Alltag  legt 
unsereincm  dicse  Fragc  immer  wieder  vor.  Wir  —  damit  ist 
kcin  Pmblizistcnkrcis  gemeint,  auch  keine  Sckte;  sondern  jene 
gliicklicherweise  rasch  waohsende  Zahl  aus  manchcr  geistigen 
Gegend  kommender,  politisch  bemiihter  Menschen,  die  sich  als 
Bestandteil  dcr  sozialistischen  Aktion  wissen,  aber  Teile  dcr 
iiberlieferten  (bckanntlich  kontrovcrs  iiberlieferten)  Lehrc  des 
Schriftstellers  Karl  Marx  fur  unrichtig  und  iiberlebt  halten. 

Darf  man  das  uberhaupt?  Die  marxianische  Orthodoxie 
leugnets.  Fur  sie  sind  Sozialismus  und  Marxismus  identisch. 
Wie  fiir  den  religiosen  Fanatiker  die  fremde  Religion  nicht 
Religion  sondern  Heidentum  ist,  so  streitet  der  strengglaubige 
Marxist  jedem  nichtmarxischen  Sozialismus  einfach  den  Cha- 
rakter  als  Sozialismus  ab.  Der  Lowe  Marx  hat  die  Sozialis- 
men  vor  ihm,  die  ,,utopischenM  und  ,,kleinburgerlichen"f  mit 
ein  paar  wuchtigen  Prankenhieben  erledigt;  auch  ein  nach- 
marxischer  Sozialismus,  der  abwiohet  konnte  nur  Utopie  und 
Kleinbtirgerei  sein.  Zwar  ist  die  Lehre  entwickelbar,  ihr  Ge- 
baude  sozusagen  aufstockbar  (der  Fall  Lenin);  aber  wer  an 
den  Fundamenten  ruttelt,  ist  kein  Sozialist.  Der  Logokrat 
etwa;  der  ISK-Mann  etwa. 

So  denken  sie,  und  da  kann  man  hichts  machen.  Die 
Geistesgeschichte  Tvird  an  den  Rabbis  voriibergehenr  die  Jeden 
aus  der  Ge/meinde  stoBen,  der  den  Sabbath  am  Sonntag  hei- 
ligt,  und  ihn  in  den  Hollenpruhl  verdammen,  falls  er  S  chink  en 
iBt-  Auch  die  Geschichte  der  sozialistischen  Verwirklichung 
wird  an  den  Rabbis  des  Marxismus  voriibergehen.  Wie  Moses, 
kehrte  er  wieder,  manches  seiner  Gebote  heute  aufhobe  (und 
nichit  heute  erst),  so  wiirde  wohl  Marx  heute  der  veranderten 
Lage  der  Dinge  und  des  Denkens  eine  veranderte  Theorie  an- 
passen.  Es  ist  wahrscheinlich  sehr  unmarxisch,  ein  buchsta- 
bentreuer  Marxist  zu  sein. 

Aber  so  unmarxisch  sind  die  meisten  Marxisten.  Sie  re- 
den  —  urn  nur  ein  Beispiel  zu  nennen  —  immer  noch  feste- 
weg  von  Arbeiterbewegung,  Arbeiterstandpunkt,  Arbeiter- 
front,  Arbeiterpartei,  Marx  hatte  Proletariat  fast  nur  unter 
Arbeitern  getroffen,  Heute  ist  das,  zumal  in  Deutschland,  vol- 
lig  anders.  Krieg,  Inflation,  die  ungeheure  Krise,  in  der  wir 
stehen  und  die  vielleicht  der  „Krise"  des  erhitzten  Wassers 
vor  dem  Verdampfen,  vor  dem  Obergang  in  einen  andern 
Aggregatzustand  entspricht,  schufen  neue  Klassen  von  Prole- 
tariern  neben  der  Arbeiterklasse,  Die  Arbeitslosen  des  ehe- 
maligen  Mittelstandes  sind  eine  Klasse,  der  es  (im  Durch- 
schnitt)  ungleich  schlechter  geht,  als  (im  Durchschnitt)  denVoll- 
arbeitern  der  Arbeiterklasse-  Zahlen  konnten  das  beweisen. 
Noch  schlechter  gehts  den  Arbeitslosen  der  Arbeiterklasse.  Die 
Arbeiterklasse  bleibt  der  Kern  des  Proletariats.  Aber  die 
Kirsche  besteht  nicht  nur  aus  dem  Kern. 

Wie  es  Sozialist  en  gibt,  die  dies  erkannt  haben  (die  For- 
mel  der  Bolschewiki  „Arbeiier  und  Bauern"  war  der  erste 
Schritt),  so  gibt  es  Sozialisten,  die  das  Unhaltbare  des  „mate- 

958 


rialistischen"  Theorems  erkannt  haben.  Sowohl  des  „histori- 
schen"  Materialismus,  dieser  okonomistischen,  also  einseitigen 
Deutung  des  geschichtlichen  Geschehens,  dieser  zu  engen 
Kausaltheorie,  wie  des  ,,dialektischen"  Materialismus,  dieses 
absurden,  den  Widerspruch  zum  Kardinalprinzip  erhebenden 
Denkstils,  dieser  zur  ,,,Methode",  namlich  zum  scholastischen 
Schnorkel,  ziur  gotischen  Ornamentfratze.  erstarrten  Angst  vor 
dem  Dualismus  des  Seiendcn  und  des  Seinsollenden,  derVor- 
stellung  und  des  Willens,  der  Erkenntnis  und  des  Handelns. 
In  welchem  Grade  recht  wir  antimaterialistischen  Sozialisten 
haben,  geht  mehr  noch  als  au$  unsern  Argumentationen  aus 
der  Hysterie  des  Gekreischs  hervor,  mit  dem  die  Materialisten 
sie  zu  beantworten  pflegen;  sachliches  Eingehn  auf  das  von 
uns  Vorgebrachte  gab  es  auf  der  Seite  noch  nicht. 

DaB  Marx  zu  gewissen  wiohtigen  Fragen  moderner  Kul- 
turpolitik  (Krieg!  Geburtenregelung!)  eine  fur  heutige  Begriffe 
konservative  Haltung  eingenommen  hat,  ist  gleichfalls  unab- 
streitbar. 

Auch:  die  Vordergriindigkeit  seiner  Zielsetzung.  Angenbm- 
men  namlich,  die  ausbeutungslose,  klassenlose,  krisenlose  Ge^ 
sellschaft  ist  verwirklicht  —  was  dann?  Wird  die  Mensch- 
heit  ziellos  geworden  sein,  sob  aid  das  wirtschaftliche  Organi- 
sationsziel,  das  Vernunftziel  sozialistischer  Erzeugungs-  und 
Verteilungsordnung  erreicht  ist?  GewiB,  das  sind  spatereSor- 
gen.  .■.  fiir  die  realisatorische  Praxis.  Bei  der  Theorie  meldet 
sich  keine  Sorge  zu  friih  an.  Das  Denken  denksamer  Men- 
schen  beruhigt  sich  nioht  bei  Zielsetzungen,  hinter  denen  eine 
ungeheure  Leere  gahnt,  Nur  der  Flachkopf,  der  geistig  Blinde 
sieht  diese  Leere  nicht  und  beruhigt  sich.  Ihm  geniigt  das 
Verstandige,  Eine  Theorie  nach  vorwarts  ist  flach,  ist  falsch 
ohne  Perspektive  in  die  Unendlichkeit. 

Die  Zielsetzung  in  der  marxistischeh  Theorie  ist  richtig, 
aber  sie  zielt  nicht  weit  genug.  Hinzukommt,  daB  der  Marxis- 
mus  eine  Zielsetzung  zwar  enthalt,  aber  nicht  enthalten  will. 
Sehr  zutreffend  hat  Wiili  Eichler,  in  seiner  Kritik  der  neuen 
Ausgabe  des  .Kapital'  (durch  Karl  Korsch,  bei  Kiepenheuer), 
auf  die  Schiefheit  hingewiesen,  die  darin  liegt,  daB  derselbe 
Marx,  der  im  ,Kommunistischen  Manifest'  ausruft:  „Proleta- 
rier  aller  Lander,  vereinigt  euchl*',  im  , Kapital'  behauptet, 
die  Expropriierung  der  Expropriateure  werde  „durch  den 
Mechanismus  der  kapitalistischen  Produktionsweise  selber"  be- 
wirkt  werden,  Eichler  halte  noch  krassere  Widerspriiche  zwi- 
schen  der  mechanistischen  Denkweise  des  altern  und  der  vo- 
iuntaristischen  des  jungen  Marx  aufzeigen  konnen.  Jn  die 
marxistische  Oberlieferung  (reformistischer  und  revolutionarer 
Observanz)  ist,  1  eider,  die  spatere,  die  mechanistische  Lesart 
eingegangen.  Die  Doktrin  behauptet,  Untersuchung,  Deutung, 
Erklarung,  Analyse,  Wissenschaft,  Lehre  vom  Werden  zu  sein; 
sie  weist  es  von  sich,  Willenschaft,  Lehre  vom  Sollen  zu  sein. 
Die  proletarische  Revolution  „soH"  nicht  kommen,  sie  „muB" 
kommen.  Sie  ist  naturnotwendig,  nicht  etwa  vernunftnotwen- 
dig;  „unvermeidlich"f  nicht  etwa  ethische  Aufgahe,  Der 
Klassenkampf  ist  nicht  Forderung,  sondern  Tatsache; 
die    sozialistische    Gesellschaft:    ein   Ergebnis   realer   Verlaufe, 

959 


das  wir  heute  vorausberechnen  konnen  und  morgen  feststellen 
werden;  kcin  Denkziel,  das  wir  kraft  unsrer  Vernunft  aufstel- 
lcn;  kern  Ideal,  das  wir  durch  den  Willen  in  der  raumlichen 
Welt  zu  realisieren  hatten. 

Zielsetzung,  welchen  Inhalts  auch  immer,  ist  idealistisch. 
Der  Materialismus  lehnt  sie  als  Kategorie  kategorisch  -ab. 

Eine  Tatsache,  die  nattirlich  nicht  hindert,  daB  der  Marxis- 
mus  malgre  ltd  und  objektiv  Zielsetzung  ist;  unter  anderm.  Er 
setet  die  sozialistische  Geselluagsordnung  zum  Ziel,  Wir  sagen 
Ja  zu  diesem  Ziel  —  tun  der  Gerechtigkeit,  urn  der  Wirt- 
schaft§vernunH,  urn  des  Volkerfriedens,  um  der  natiirlichen 
Auslese  der  Wertvollen  willen. 

Nun  entscheidet  in  der  Philosophie  moglicherweise  das 
Theoretisch-Prinzipielle,  das  Fundamentale,  die  Methode;  in 
der  Politik  zweifellos  die  Zielsetzung,  In  der  Philosophie 
eher  die  Ableitungsform  -einer  Tendenz;  in  der  Politik  sicher 
der  Tendenzinhalt.  Sind  wir  Marxisten?  Bitte  keinei  Pistole 
vor  die  Brust!  Hier  hilft  Unbedingtheit  am  wenigsten.  Die 
philosophischen  Irrtumern  des  Marxismus  als  System  sind  aus 
dem  Marxismus  als  politischer  Bewegung  wegdenkbar.  Als 
Philosophen  sind  wir  nicht  Marxisten;   als  Politiker  sind  wirs. 


Religion  in  USA  von  Rudolf  Hildebrand 

TUT  it  dem  Christentum  als  dogmatischer  Gottreligion  geht  es 
iV*  rapide  bergab.  Ein  Christentum  im  nur  ethischen  Sinne 
wird  es  Ireilich  immer  geben  und  hat  es  immer  gegeben.  In 
diesem  Sinne  —  also  etwa  im  Sinne  der  Bergpredigt,  aber 
unter  Ausschaltung  der  Gottidee  sind  ja  auch  die  Buddhisten 
Christen  und  ist  Jesus  ein  Buddhist. 

Wahrend  ich  dies  schrieb,  sah  es  so  aus,  als  ob  Alfred 
Smith  wieder  die  Nomination  der  Demokratischen  Partei  fur 
die  Prasidentenwahl  erhalten  wiirde.  Diese  bloBe  Moglich- 
keit  schon  hatte  einen  Triumph  der  Katholischen  Kirche  be- 
deutet.  Ich  hoffte,  dafi  Smith  nominiert  wiirde,  Denn  dann 
hatten  wir  wieder  den  GenuB  einer  groBen  offentlichen  reli- 
giosen  Kontroverse  gehabt.  Und  das  gehort  in  Amerika  zu 
dem  Drolligsten,  was  man  sich  denken  kann; 

Ich  sagte;  Triumph,  Die  amerikanischen  Katholiken  war- 
den aber  nicht  so  laut  jauchzen,  wie  sie  es  in  ihrer  Presse  tun, 
wenn  sie  ein  wenig  tiefer  und  ein  wenig  weiter  sahen.  Dann 
stimmte  sie  der  Triumph  eher  etwas  murnsch.  Denn  er  ist 
ein  biBchen  pyrrhisch.  Er  istinamlich  ein  Symptom  der  ganz 
gefahrlich  zunehraenden  theologischen  Indifferenz. 

Der  letzte  geistreiche  Vorkampfer  des  Christentums,  Kar- 
dinal  Newman,  bemerkte  mit  Freuden  die  Zunahme  des  gu- 
ten  Einvernehmens  zwischen  Katholiken  und  Protestanten.  Er 
baute  darauf  seine  Hoffnung:  „Man  sollte  er  wart  en,  daB  ent- 
weder  Abneigung  gegen  unsre  Religion  Gehassigkeit  gegen 
ihre  Anhanger  zur  Folge  haben  wiirde,  oder  aber  daB  freund- 
liohes  Einvernehmen  mit  den  Anhangern  zur  Annahme  unsrer 
Religion  fiihren  wiirde."     Die  dritte   Moglichkeit,   welche   nun 

960 


zur  Wirklichkeit  wird,  hat  Newman  auBer  acht  gelassen: 
Gleichgiiltigkeit, 

Er  hatte  sie  kaum  iibersehen,  wenn  er  im  deutschen 
oder  im  franzosischen  Kulturkrcisc  gelebt  hatte,  ja  wenn 
er  nur  der  deutschen  Sprache  machtig  gewesen  ware. 
Aber  bei  den  Angelsachsen  waren,  und  sind  auch  jetzt  noch, 
Gott  und  seine  Bibel  viel  fester  im  Gemiit  verankert  als  bei 
den  siindhafteren  Volkern.  Es  ist  wahr,  daB  die  Mehrheit  des 
amerikanischen  Volkes  keiner  organisierten  Sekte  angehort. 
Es  ist  wahr,  daB  diese  auBersektische  Mehrheit  nicht  weiB, 
was  in  der  Bibel  steht.  Aber  es  ist  auch  wahr,  daB  diese  un- 
kirchlichen  Amerikaner  durchweg  eine  heilige  Scheu  und  Ehr- 
furcht  yor  Gott  und  seiner  Bibel  haben.  Die  Bibel  als  inate- 
rielles  Objekt  —  bedrucktes  Papier  in  feierlichem  Einband, 
mit  Goldschnitt  —  ist  eine  Art  Fetisch  fiir  den  normal  emp- 
findenden  Amerikaner.  Fiir  seine  Kinder  freilich  schon  sehr 
viel  weniger.  Und  fur  die  Enkelkinder  stehe  ich  schon  gar 
nicht  mehr  ein. 

Also  diese  zwei  Puakte  beachte  der  deutsche  Leser,  wenn 
er  unsre  religiose  Lage  recht  verstehen  will:  Die  Gleichgiiltig- 
keit  gegenuber  der  Gottreligion  macht  bei  uns  gewaltige  Fort- 
schritte,  die  von  Generation  zu  Generation  deutlich  wahrnehm- 
bar  sind;  sie  ist  jedoch  noch  keineswegs  so  weit  fortgeschrit- 
ten  wie  im  kontinentalen  Europa.  Der  Protestantismus,  und 
insbesondere  die  Methodistenkirche,  ist  bei  uns  noch  eine 
groBe  politische  Maoht.  Man  denke  an  die  Prohibition.  Die 
ist  das  Werk  der  Methodisten-  und  Baptistendamen  und  ihrer 
Pastoren.  Die  meistent  unsrer  Senatoren  wiirden  es  vorziehen, 
mit  nackter  Hand  in  ein  Wespennest  zu  greifen  als  der  Geist- 
lichkeit  auf  die  hochwiirdigen  Zehen  zu  treten. 

Die  grofiere  Halfte  der  kirchlichen  Protestanten  aller  un- 
gefahr  dreihundert  Sekten  ist  immer  noch,  was  man  bei  uns 
Mfundamentalistisch"  nennt.  Das  bedeutet:  sie  halten  an  ihren 
Unterscheidungslehren  fest  —  zum  Beispiel  die  Baptisten  an 
der  Verabscheuung  der  Kindertaufe  —  und  an  den  sogenann- 
ten  Mchristlichen  Fundament  alien",  Sie  sind  noch  Protestan- 
ten wie  im  16.  Jahrhundert.  DaB  der  Walfisch  Jona  ver- 
schluckt  hat,  gehort  zu  ihren  heiligsteri  Oberzeugungen.  Sie 
wiirden  auch  ebenso  treu  und  fest  glauben,  daB  Jona  den  Wal- 
fisch verschlang,  wenn  es  in  der  Holy  Bible  stiinde. 

Kein  Wunder  denn,  daB  diese  Leute  Ansichten  iiber  die 
katholische  Kirche  hegen  wie  Calvin  oder  Cromwell,  Das  eben 
machte  die  Kontroverse  vor  vier  Jahren  gelegentlich  der  Pra- 
sidentschafts-Kandidatur  eines  Katholiken  so  genuBreich.  Da 
drehte  sich  die  Polemik  in  allem  Ernst  um  die  Frage,  ob  Alfred 
Smith  die  Vereinigten  Staaten  unter  die  weltliche  Herrschaft 
des  Papstes  bringen  wiirde,  und  ob  der  Papst  die  apoikalyp- 
tische  Baibylonische  Hure  sei,  und  ob  die  heilige  Messe  ein 
abscheulicher  Gotzendienst  ware,  und  ob  die  Kloster  Statten 
der  Unzucht  und  des  Kindesmordes  waren,  die  geheimen  Ge- 
wolbe  unter  Klostern  und  Kirchen  Arsenate  fiir  den  vom  Papst 
und  seinem  Alfred  Smith  geplanten  Unterjochungskrieg,  und 
so  weiter. 

961 


Nun,  derlei  Polemik,  ernstlich  betrieben  in  der  ernst  zu 
nehmenden  Presse  bis  hinauf  ins  Forum  und  Atlantic  Monthly, 
ist  nattirlich  Wasser  auf  die  Miihlen  der  heiligen  Katholischen 
Kirche.  Und  der  erwahnte  letzte  groBe  Kardinal  ist  doch  nicht 
durchaus  ein  falscher  Prophet  gewesen:  fur  ein  halbes  Jahr- 
hundert  —  vielleicht  fur  ein  ganzes  —  hat  er  die  Entwickhmg 
richtig  vorausgesehen;  weiter  freilich  nicht.  In  Amerika  —  und 
soviel  ich  weiB,  auch  in  England  —  gewinnt  die  Katholische 
Kirche  auf  Kosten  des  Protestantismus.  Sie  wird,  glaube  ich 
wenigstens,  alle  andern  bestehenden  und  noch  zu  griindenden 
christlichen  Organisationen  uberleben. 

Die  alte  Kirche  gewinnt  auf  Kosten  der  Sekten;  aber  sie 
gewinnt  nur  auf  Kosten  der  Sekten;  „Heiden"  —  Nicht-Gott- 
und  Bibelglaubige  —  bekehrt  sie  nicht  .mehr.  Es  kommt  mehf 
und  mehr  dahin,  daB  sie  nur  noch  durch  den  Protestantismus 
lebt.  Denn  vom  Protestantismus  wird  sie  ernst  genommen. 
Bei  Nichtchristen  begegnet  sie  der  groBen  eisigen,  totenden 
Indifferenz.  Die  Kirche  wird  alle  Sekten  uberleben  —  aber 
nicht  um  viele  Jahrhunderte. 

Wie  groBgeistig  und  weitherzig  erscheint  die  historische, 
traditionelle  Kirche  im  Vergleich  mit  den  stupiden,  engherzigen 
Sekten,  die  sie  anklaffen!  Das  Geklaff  ist  Musik  in  den 
Ohren  des  Priesters.  Aber  wenn  ein  Heide  sagt:  ,, Lassen  Sie 
mich  mit  Ihrem  Gott  in  Ruh,  ich  mag  Ihren  Gott  nicht  leiden'*, 
das  ist  ein  haBliches  Gerausch  in  den  Ohren  des  Priesters.  Da 
stent  er  ratios.  Doch  was  fur  ein  gebildeter  Mann,  humaner 
Mann,  gentleman  ist  der  katholische  Priester  gegeniiber  den 
Bibelderwischen  und  Prohibitionsfanatikern! 

Freilich  ist  die  Inspiration  der  Bib  el  auch  ein  katholisches 
Dogma,  Allein  das  ist  nicht  so  schlimm.  Denn  erstens  gibt 
es  Auslegungsmoglichkeiten,  tind  zweitens  hat  die  Kirche  so 
viele  Dogmen,  daB  man  die  Aufmerksamkeit  nicht  auf  alle  zu- 
gleich:  richten  kann.  Die  Vielheit  der  Dogmen  ist  ein  wahrer 
Segen.  Selten  oder  gar  nicht  hort  man  von  einer  katholischen 
Kanzel  in  Amerika  eine  eigentliche  Erorterung  soldier  Fun- 
damentaldogmen  wie  der  leiblichen  Himmelfahrt  Christi,  der 
leiblichen  Auferstehung  aller  menschlichen  Leichen  in  numeri- 
scher  Identitat,  der  ewigen  Hollenstrafen  etcetera.  Es  gibt 
ja  so  viele  nettere  Piinkte  im  heiligen  Glauben,  woriiber  man 
predigen  kann;  die  Schonheit  und  tiefe  Bedeutung  des  MeB- 
opfers  und  der  eucharistischen  Gotteinigung,  die  Gnade  und 
der  Herzensfriede  nach  einer  aufrichtigen  Beichte,  die  christ- 
liche  Nachstenliebe  und  die  Kirchenlinanzen  etcetera. 

Im  Grunde  ist  es  um  den  Glauben  der  amerikanischen  Ka- 
tholiken  sehr  sohwach  bestellt.  Freilich,  sie  gehen  zur  Messe 
und  zum  sakramentalen  Segen,  Oh,  wie  geht  einem  franzosi- 
schen  Pfafflein  beim  Amerikabesuch  das  Herz  auf,  wenn  es 
unsre  gefullten  Kirchen  sieht,  und  zwar  zur  Halfte  mit  Man- 
nern  gefiillt!  Freilich,  unsre  Katholiken  gehen  gern  und  in 
Scharen  zur  Beichte  amd  zur  heiligen  Kommunion.  Aber  um 
die  solcher  schonen  und  trostreichen  religiosen  Praxis  zu- 
grunde  liegenden  theologischen  Theorien  machen  sie  sich  keine 
Gedanken;  ja  sie  wissen  eigentlich  nichts  davon. 

962 


AuBerlich  steht  die  Ecclesia  Americana  sehr  imposant  da, 
Sie  zahlt  an  die  fiinfundzwanzig  Millionen  Mitglieder,  das  heiBt 
mehr  als  alle  protestantischen  Sekten  zusammengenonimen. 
Ihre  Glaubigen  stehen  bei  ihr  und  geizen  nicht  mit  Kirchen- 
beitragen,  Stiftungen  und  MeBstipendien.  Der  esprit  de  corps 
ist  stark  und  lebendig,  manchmal  bis  zum  Obermut.  Die  katho- 
lische  Presse  schlagt  oft  sehr  hochfahrende  Tone  an.  Die 
nichtkatholische  ist  vorsichtig;  denn  die  Knights  of  Columbus 
sind  machtig  und  leicht  bereit,  zum  Kadi  zu  laufen.  Man  hutet 
sich  im  allgemeinen,  bei  Beschuldigungen  so  spezifisch  zu  wer- 
den,  daB  man  gesetzlich  gefafit  werden  konnte. 

Noch  ist  der  Protest  ant  ismus  politisch  und  sozial  weitaus 
die  groBere  Macht.  Die  Fiihrung  hat'  dabei  die  Methodisten- 
kirche.  Sie  ist  mit  ihren  sieben  Millionen  Mitgliedern  die 
grofite  der  Sekten.  Nur  sieben  Millionen  Menschen,  aber  mehr 
als  sieben  Millionen  Dollar!  Diese  Methodisten  bestimmen 
in  alien  grundlegenden  Fragen,  besonders  auch  wo  es  sich  urn 
BeeinHussung  der  weltlichen  Gesetzgebung  und  Regierung  han- 
delt,  die  Haltung  des  ubrigen  organisierten  Protestantismus. 
Der  ganze  kirchliche  Protestantismus  aber  beeinfluBt  entschei- 
dend  das  moralisch-religiose  Sentiment  der  sechzig  Prozent 
des  amerikanischen  Volkes,  welche  keiner  Kirche  als  Mitglie- 
der angehoren.  Die  Bibel  ist  cin  sakrosankter  Fetisch.  Beim 
Trinken  ist  man  sich  seiner  Siindhaftigkeit  wohlbewuBt;  denn 
die  Heilige  Bibel  verbietet  den  AlkoholgenuB,  wie  die  Pradi- 
kanten  sagen.  Unsre  unmoralischsten  Seeleute  sind  potentielle 
BiiBer.  Sie  werden  zu  aktuellen  BiiBern  in  reuiger  Zerknir- 
schung  auf  der  Bufibank,  wenn  sie  einmal  auf  ir^endeine  Weise 
in  ein  methodistisches  revival  oder  camp  meeting  geraten,  Einer 
direkten  Bedrohung  mit  der  Heiligen  Bibel  in  hocherhobener 
Hand  eines  Derwisches  voll  des  Heiligen  Geistes  kann  der 
zaheste  amerikanische  Sunder  nicht  widerstehen.  Er  beflennt 
und  bekennt  seine  Schuld  und  gelobt  der  Heiligen  Bibel,  kei- 
nen  Schnaps,  keine  Zigaretten  und  keine  Huren  mehr  anzu- 
rtthren.  i 

r 

Wenn  Hitler  lesen  konnte 

\7on  Mr.  Blythe  (Englander)  lebt  mir  ein  andres  Wort  in  der  Seele 
*  fort,  ein  noch  viel  wahreres.  Einer  von  den  vielen  Deutschen,  die 
zugegen  waren,  stritt  sich  mit  Blythe  in  sehr  rechthaberischer  Weise 
fiber  die  Aussprache  eines  englischen  Wortes  und  wurde  dabei  immer 
heftiger.  Zuletzt  sagte  Blythe:  „Wenn  ich  Sie  so  streiten  sehe,  be- 
statigt  sich  mir  der  oft  gehorte  Satz,  daB  die  Deutschen  das  eingebil- 
deteste  Volk  sind.  The  Germans  are  the  most  conceited  people  of 
the  world."  Ich  halte  diesen  Satz  fur  richtig  und  stelle  die^  kleine 
Geschichte  nur  deshalb  Hierher,  weil  die  Deutschen  das  nie  glauben. 
Sie  halten  sich  ganz  aufrichtig  fiir  kolossal  bescheiden.  Dies  ist  aber 
grundfalsch.  Die  Bescheidensten,  ja  lacherlicherweise  die  einzig  Be- 
scheicjenen,  sind  die  Englander.  Sie  haben  freilich  einen  ungeheuren 
nationalen  Dunkel;  aber  in  dem,  was  sie  personlich  leisten,  ordnen  sie 
sich  gem  unter.  Bei  den  Deutschen  ist  es  umgekehrt,  war  wenigstens 
so,  eh  man  MDeutschland,  Deutschland  uberalles"  sang.  Und  seit 
man  es  singt,  ist  es  in  dieser  Beziehung  wohl  nicht  viel  besser  ge- 
worden. 

Theodor  Fontane 

3  963 


LlChtenberg  von  Peter  Panter 

Ein  Werk  in  die  Universitatskirche  begraben. 
G.  Chr.  Lichtehberg 
pjcr  Verlag  Alfred  Kroner  in  Leipzig  hat  in  der  Sammlung 
*"^  seiner  Taschenausgaben  einen  Lichtenberg  herausgebracht: 
,,Aphorismen  und  SchriHen"  (Band  93  der  Taschenausgaben). 
Hiibsch  gedruckt,  sauber  ausgestattet;  fur  ein  Buch,  das 
honorarfrei  ist,  scheint  mir  der  Preis  von  3,75  etwas  hoch, 
denn  wir  wollen  doch  nicht  hoff en,  daB  der  philologische  Segen 
des  Herausgebers  den  Preis  erhoht  hat. 

Dieser  Herausgeber,  Ernst  Vincent,  hat  die  Freundlichkeit, 
einige  Satze  von  mir  im  Vorwort  zu  zitieren,  namlich:  ,,In 
Deutschland  erscheinen  alljahrlich  dreiBigtausend  Biicher.  Wo 
ist  Lichtenberg  — ?  Wo  ist  Lichtenberg  — ?  Wo  ist  Lichten- 
berg — ?"    Hier  ist  er,  sagt  der  Herausgeber.    Hm. 

* 

Die  Philologie  hat  an  Lichtenberg  ein  gutes  Werk  getan; 
sie  hat  die  alten,  nicht  sehr  textsichern  und  vergriffenen  Aus- 
gaben  in  Ordnung  gebracht,  und  zu  Beginn  unsres  Jahrhunderts 
hat  Albert  Leitzmann  die  Aphorismen  zum  Teil  aus  der  Hand- 
schrift  herausgegeben,  Der  deutsche  Verlagsbuchhandel  hat  an 
Lichtenberg  ein  sehr  schlechtes  Werk  getan  —  das  Kuddel- 
muddel  ist  unbeschreiblich.  Das  Wertvollste  ist  vergriffen,  es 
gibt  Auswahlbande  der  Aphorismen,  Auswahlchen,  willkiirlich 
zusammengewiirfeltes  Zeug,  ohne  Sinn  und  Verstand  anein- 
andergebacken,  und  eine  auch  nur  einigermaBen  vollstandige 
und  brauchbare  Auswahl  der  gesammelten  SchriHen  gibt  es 
iiberhaupt  nicht.  „Jede  Auswahl",  sagt  Vincent,  „tragt  den 
Stempel  der  Zeit,  in  der  sie  entsteht,  und  des  Geistes  des  Her- 
ausgebers/'    Das  ist  richtig. 

Diese  Ausgabe  tragt  den  Stempel  des  germanistischen 
Seminars, 

Soweit  ich  das  beurteilen  kann,  ist  die  philologische  Arbeit 
einwandfrei,  die  Kommentare  und  Erklarungen  musterhaft, 
auch  in  schwierigen  Fallen  durchaus  verlaBlich,  das  alpha- 
betische  Sachregister  konnte  besser  sein  —  zum  Beispiel: 

„In   Hannover   logierte   ich   einmal   so,    daB  mein   Fenster  auf 

eine  enge  StraBe  ging,  wodurch  die  Kommunikation  zwischen  zwei 

groBen  erhalten  wurde<     Es  war  sehr  angenehm  zu  sehen,  wie  die 

Leute  ihre   Gesichter  veranderten,   wenn   sie  in  die  kleine  StraBe 

kamen,  wo  sie  weniger  gesehen  zu  sein  glaubten;  so  wie  einer  hier 

piBte,   der  andre  sich  dort  die  Striimpfe  band;  so  lachte  der  eine 

heimlich   und    schiittelte   der    andre  den   Kopf.     Madchen   dachten 

mit  einem  Lacheln  an  die  vorige  Nacht  und  legten  ihre  Bander  zu 

Eroberungen  auf  der  nachsten  groBen  StraBe  zurecht  — " 

Also  worunter  finde  ich  das  im  Index?   Unter  „Hannover", 

wahrend  es*doch  das  nebensachlichste  der  Welt  ist,  in  welcher 

Stadt  das  spielt;  ich  hatte  naturlich  unter  StraBe,  HauptstraBe, 

kleine  StraBe    und    dergleichen    gesucht.    Aber    das    sind   nur 

Einzelheiten. 

Ich  las  und  las . . ,  Gehoren  diese  Aphorismen,  dachte  ich, 
zu  jenen  Elaboraten  der  Literatur,  die  in  der  Erinnerung 
schoner  sind  als  bei  der  Lektiire?    Denn  das  gibts.    Ich  ver- 

964 


stand  den  ganzen  Lichtenberg  nicht  mehr.  Wo  war  er?  Das  da 
war  er  doch  nicht? 

Was  wir  hier  vorgesetzt  bekommen,  ist  ein  geistvbller, 
matt  witziger,  kluger  und  gebildeter  Professor,  ein  Stuben- 
hocker,  der  einiges  von  der  Welt  weiB,  und  so  geht  das  hun- 
dert  und  hundertfiinfzig  Seiten,  bis  die  Briefe  tiber  den  eng- 
lischen  Schauspieler  Garrick  dem,  ders  noch  nicht  gewuBt  hat, 
verraten;  dieser  Lichtenberg  ist  ein  herrlicher  Prosa-Schrift- 
steller  gewesen,  ein  bewundernswerter  Beobachter,  und  noch 
viel,  viel  mehr.     Wo  ist  Lichtenberg  — ? 

Das  Ratsel  ist  rasch  gelost.  In  der  Vorrede,  sicher  ein 
Prunkstiick  fur  jedes  Seminar,  mit  eingekapselten  Zitaten,  so 
das  Werk  vorausnehmend1,  das  erst  erklart  werden  soil,  sieht 
Vincent  den  Schwerpunkt  des  kleinen  verbuckelten  Mannes 
aus  Gottihgen  nicht  in  seinem  Buckel,  sondern  in  ganz  etwas 
anderm.  Lichtenberg:  „Die  Leute  konnen  nicht  begreifen,  wie 
es  Menschen  geben  konne,  die  das  sogenannte  Weben  des  Ge- 
nies  in  den  Wolken,  wo  ein  gluhender  Kopf  halbgare  Ideen  aus- 
wirkt,  ftir  Possen  halten  konnen,  ja  wie  man  so  grausam  sein 
konne  und  ganze  Kapitel  voll  schoner  Ausdriicke  nicht  so  hoch 
achtet  als  ein  Senfkorn  von  Sache."  Und  Vincent  fiigt  hinzu: 
MHatten  wir  von  Lichtenberg  nichts  anders  als  diesen  einen 
Satz,  er  gehorte  fur  uns  auf  immer  zu  den  Verkiindern  des 
Notwendigen."  Zu  denen  er  nie  gehort  hat. 

Lichtenberg  hat,  woran  grade  Vincent  sich  erinnern  sollte, 
die  Periode  der  Sturm-  und  Drang-Genies  mitgemacht,  und  das 
Wort  „Genie"  hatte  in  seiner  Zeit  einen  ganz  andern  Klang  als 
heutzutage,  namlich,  nachdem  jene  Mode  voriibergerauscht  war, 
einen  fast  herabsetzenden  Klang.  „Das  btirgerliche  Moment  in 
Lichtenberg,  dieser  saubere,  niichterne  Sinn  ftir  Arbeit,  Dienst, 
Ordnung,  Unterordnung . . .",  den  der  Herausgeber  so  heraus- 
streicht,  hatte  allein  nie  und  nimmer  das  hervorgebracht,  was 
uns  an  Lichtenberg  wert  und  teuer  ist.  Das  btirgerliche  Mo- 
ment war  da,  aber  als  Gegengewicht  gegen  das  andre. 

Wogegen  — ?  Vincent  bringt  Lichtenberg  auf  eine  FormeL 
Er  nennt  ihn  ,,den  Menschen  am  Fenster".  Du  lieber  Gott! 
Das  war  der  Mann  auch  - —  aber  das  ist  eine  Seminarformel, 
wie  ja  nirgends  so  schwache  Feuilletons  produziert  werden  wie 
in  wissenschaftlichen  Konventikeln.  Lichtenberg  ist  viel,  viel 
mehr  gewesen. 

Ein  Kobold  mit  einer  Biendlaterne.  Ein  Romeo,  der  feixen 
konnte,  und  der  am  allerheftigsten  dann  grinste,  wenn  er 
Furcht  vor  seinem  Gefuhl  hatte.  Satyr  auf  Eis;  Gnom  im 
Gletscher;  friedlicher  Spazierganger  durch  bunte  Wiesen,  ein 
Blick:  und  die  ganze  Landschaft  war  verzerrt,  und  „ein  schlecht 
geblasener  halber  Mond"  hing  daruber;  ein  Physiker  der  Liebe 
und  ein  Mathematikprofessor  der  Gefiihle.  ,,Da  wird  es  deut- 
lich",  sagt  Vincent,  „daB  dieser  Mensch  kein  Baumeister  ist. 
Um  ihn  herum  liegen  Teile  und  Brocken . .  ."  So  hoi  sie  doch 
der  Henker  alle  miteinander,  diese  Pauker!  Nein,  er  war  kein 
Baumeister!  Und  Goethe  war  kein  Radfahrer!  Und  Schiller 
exzellierte  nicht  in  breiten  Romanen.  Und  Dante  verstand 
nichts  vom  Theater.  Warum  —  o  Seminar!  —  sollte  Lichten- 
berg   ein    Baumeister     grofier    Werke     gewesen    sein?     Mit 

965 


manchem  ,,irgendwie"  und  manchem  „Wissen  um . , ."  wird  dar- 
getan,  daB  es  bei  ihm  sozusagen  nicht  gcrcicht  habe.  Uns 
langts. 

Uns  geniigt  ein  Geist,  dcr  Aphorismen  geschaffen  hat,  wie 
sie  dann  ein  Jahrhundert  lang  nicht  mehr  wiedergekommcn 
sind.  Da  gibt  es  Satze,  die  reiBen  ganze  Lander  auf.  MDer 
Franzos  ist  ein  sehr  angenehmer  Mann  um  die  Zeit,  wo  er  zum 
zweitenmal  anfangt,  an  Gott  zu  glauben."  Die  franzosische 
Ruckkehr  zum  Klassischen,  die  beinah  bei  jedem  bedeutenden 
Franzosen  um  die  Mitte  der  Vierziger  zu  finden  ist,  uns  mit 
buttergelbem  Neid  erfiillend,  d=enn  die  haben  wenigstens  etwas, 
wohin  sie  zuruckkehren  konnen:  diese  Ruckkehr  ist  hier  so 
scharf  begriffen,  als  habe  Lichtenberg  jahrelang  in  Frankreich 
gelebt.  Er  liebte  die  Franzosen  nicht  sehr  und  vergotterte 
die  Englander.  Und  was  er  iiber  England  geschrieben  hat,  ist 
eine  Pracht. 

Er  erschlich  sich  sozusagen  die  Wahrheit,  und  er  hatte  die 
schriftstellerischen  Tricks  im  Handgelenk.  Dieser  kleine  Mann, 
der  als  Kind  einmal  einen  Fragezettel  auf  den  Hausboden  ge- 
legt  hat:  „Was  ist  das  Nordlicht?"  im  Glauben,  die  Engel 
wiirden  das  nachts  beantworten,  hat  spater  auf  viele  Fragen 
von  sich  selber  viele  Antworten  bekommen.  Zu  viele  —  doch 
notierte  er  sie  alle  auf.  Seine  nSudelbucher'1,  wie  er  das  ge- 
nannt  hat,  sind  eine  Fundgrube. 

In  Vincents  Auswahl  findet  man  vieles  und  vermiBt  noch 
mehr.  Das  Bunte  fehlt,  das  Freche  fehlt,  das  Oberkugelte,  das 
Drollige,  der  Duft  der  Zeit  und  der  hollische  Schnaps  dieser 
Klugheit.  Politisch  ist  die  Sache  vollig  in  Ordnung  —  Vincent 
hat  an  keiner  Stelle  tendenzios  ausgewahlt.  Aber  er  hat  aus 
dem  Kobold  einen  harmlosen  Gartenzwerg  gemacht,  und  das 
war  der  Mann  nicht. 

Im  nachfolgenden  eine  kleine  Kostprobe  von  der  unend- 
lich  reichen  Schiissel  —  davon  steht  bei  Vincent  so  gut  wie 
nichts, 

Frage;  Wo  ist  Lichtenberg  — ?  Wo  ist  Lichtenberg  — ? 
Wo  ist  Lichtenberg  — ? 

* 

AphoriStneii  von  Georg  Christoph  Lichtenberg 

F^ie  Esel  haben  die  traurige  Situation,  worin  sie  jezo  in  der  Welt 
^  leben,  villeicht  bios  dem  wizigen  Einfall  eines  losen  Menschen  zu 
dancken,  dieser  ist  Schuld,  daB  sie  zum  verachtlichsten  Thier  auf 
immer  geworden  sind  und  es  auch  bleiben  werden,  denn  viele  Esels- 
treiber  gehen  deswegen  mit  ihren  eleven  so  fiirchterlich  um,  weil  es 
Esel,  nicht,  weil  es  trage  und  langsame  Thiere  sind. 

In  dem  Haus,  wo  ich  wohnte,  hatte  ich  den  Klang  und  die  Stim- 
mung  jeder  Stufe  einer  alten  holtzernen  Treppe  gelernt,  und  zugleich 
den  Tackt,  in  welchem  sie  jeder  meiner  Freunde,  der  zu  mir  wollte, 
schlug,  und  ich  muB  gestehen,  ich  bebte  allemal,  wenn  sie  von  einem 
paar  FiiBen  in  einem  mir  unbekannten  Ton  heraufgespielt  wurde. 

Ihr  Unterrock  war  roth  und  blau  sehr  breit  gestreifft  und  sah 
aus,  als  wenn  er  aus  einem  Theater- Vorhang  gemacht  ware.  Ich  hatte 
fur  den  ersten  Platz  viel  gegeben,  aber  es  wurde  nicht  gespielt. 


966 


Die  Eine  Schwester  ergrif  den  Schleyer  und  die  andere  den 
Hosen  Schlitz, 

Es  giebt  eine  Art  Vogelchen,  die  in  die  dicksten  hohlen  Baume 
Locher  hacken,  sie  trauen  ihren  Schnabeln  so  viel  Krafft  zu,  daB  sie 
allemal  nach  jedem  Hieb  auf  die  entgegengesetzte  Seite  des  Baumes 
gehen  sollen  urn  zu  sehen,  ob  der  Streich  nicht  durch  und  durch  ge- 
gangen  sey. 

* 

Dieses  haben  unsre  Vorfahren  aus  gutem  Grunde  so  geordnet, 
und  wir  stellen  es  aus  gutem  Grunde  nun  wieder  ab. 

* 
Wenn  ich  sage,  halte  deine  Zahne  rein  und  spiihle  den  Mund  alle 
Morgen   aus,    das  wird   nicht   so   leicht   gehalten,   als   wenn   ich   sage, 
nehme  die  beyden  Mittelfinger  dazu,  und  zwar  iiber  das  Creutz.    Des 
Menschen  Hang  zum  mystischen,     Man  nutze  ihn. 

* 
Alle  Thiere,  die  etwas  mit  den  Pfoten  fassen  konnen,  konnen  es 
auch  mit  dem  Kopf,  Affen,  Papageyen,  Biber. 

* 

Die  Bewegungs  Grunde,  woraus  man  etwas  thut,  konten  so  wie 
die  32  Winde  geordnet  werden,  und  die  Nahmen  auf  ahnliche  Art 
formirt   werden.     Brod  Brod  Ruhm  oder  Ruhm  Ruhm  Brod. 

Die  beyden  Frauenzimmer  umarmten  sich  aus  Grimasse,  und  hien- 
gen  zusammen  wie  2  Vipern  in  coitu. 
»  * 

Da  sie  sahen,  daB  sie  ihm  keinen  Catholischen  Kopf  aufsetzen 
konten,  so  schlugen  sie  ihm  wenigstens  seinen  protestantischen  ab. 

* 

Er  war  sonst  ein  Mensch  wie  wir,  nur  muste  er  starcker  gedriickt 
werden  um  zu  schreyen.  Er  muste  zweymal  sehen  was  er  bemercken, 
zweymal  horen  was  er  behalten  solte,  und  was  andere  nach  einer 
eintzigen  Ohrfeige  unterlassen,  unterlieB  er  erst  nach  der  zwoten, 

* 
Der  Mann  hatte  so  eine  gesezte  Umstandlichkeit  in  allem  was  er 
sagte  und  eine  solche  Frachtbriefmafiige  Art  sich  auszudrucken,  dafl 
es  gar  kein  lebendiger  Mensch  bey  ihm  ausdauren  konte. 

* 
Viele    Menschen  stehn    schon    gantzlich    stille,    denn    fahren   und 
reiten  und  getragen  werden  hat  mit  ihnen  nichts  zu  thun.  Die  Toden 
selbst  reisen  des  Jahrs  einmal  um  die  Sonne. 

* 

Ein    sonderbares    Gerausch,   als    wenn   ein    gantzes   Regiment   auf 

einmal  niesete, 

* 

In  einem  Stadtgen  wo  sich  immer  ein  Gesicht  aufs  andere  reimt. 

Das  war,  wie  die  Zeit  noch  keinen  Bart  hatte. 

* 

Sie  haben  genieset,  gezischt,  gehustet  und  noch  2  Arten  von  Larm 
gemacht,  wozu  wir  im  Deutschen  keine  Worter  haben. 

* 

Was  sie  Hertz  nennen  liegt  weit  niedriger  als  der  4te  Westen- 
knopf. 

A 

Der  Verleger  hat  ihn  in  effigie  vor  sein  Werck  aufhangen  lassen. 

* 

967 


Es  gibt  eine  Art  von  transcedenter  Ventriloquentz  wodurch  Men- 
schen  konnen  glauben  gemacht  werden,  etwas  was  auf  Erden  gesagt 
ist  kame  vom  HimmeL 

* 

Die  Menschen  nehmen  nicht  gern  das  Los  No.  1  in  einer  Lotterie. 
Nimms,  ruft  die  Vernunfft  laut,  es  kan  so  gut  die  12  000  Thaler  ge- 
winnen  als  irgend  ein  andres;  nimms  urn  aller  Welt  willen  nicht, 
wispert  ein  Je  ne  scai  quoi,  man  hat  kein  Exempel  daft  solche  kleine 
Zahlen   vor   groften   Ge  wins  ten    stehen,   und   es   wird   auch  nicht   ge- 


Wenn  man  einmal  weiB,  daft  einer  blind  ist,  so  meint  man  man 
konte  es  ihm  auch  von  hinten  ansehen. 

* 

Es  wird  gewiss  in  England  des  Jahres  noch  einmal  so  viel  Port- 
wein  getruncken,   als  in  Portugal  wachst. 

Das  Buch  muft  erst  ausgedroschen  werden. 

* 

Die  gemeinen  Leute  unter  den  Catholicken  beten  lieber  einen 
Heiligen  an,  oder  richten  ihr  Gebet  an  ihn,  als  an  den .  lieben  Gott, 
so  wie  sich  die  Bauern  immer  lieber  an  die  Bedienten  halten.  Gleich 
und  gleich  gesellt  sich  gern. 

In  England  wurde  bey  einem  politischen  Frauenzimmer  Club  fest- 
gesezt,  daft  bey  wichtigen  Vorfallen  aufter  der  Prasidentin  nur  noch 
zwey  Personen  zu  gleicher  Zeit  reden  solten. 

* 

Die  Worter-Welt. 

* 

Der  Papagey  sprach  bios  noch  seine  Muttersprache, 

* 

Ich  glaube,  so  wie  die  Anhanger  des  Herrn  Kant  ihren  Gegnern 
immer  vorwerfen,  sie  verstunden  ihn  nicht,  so  glauben  auch  manche, 
Herr  Kant  habe  recht  weil  sie  ihn  verstehen.  Seine  Vorstellungs  Art 
ist  neu,  und  weicht  von  dem  gewohnlichen  sehr  ab,  und  wenn  man  nun 
auf  einmal  Einsicht  in  dieselbe  erlarigt,  so  ist  man  auch  sehr  geneigt 
sie  fur  wahr  zu  halten,  zumal,  da  er  so  viele  eifrige  Anhanger  hat, 
man  solte  aber  dabey  immer  bedencken,  daft  dieses  Verstehen  noch 
kein  Grund  ist,  es  selbst  fur  wahr  zu  halten.  Ich  glaube,  daft  die 
meisten  uber  der  Freude  ein  sehr  abstractes  und  dunckel  abgefafttes 
System   zu  verstehn  zugleich  geglaubt  haben  es  sey   demon strirt, 

* 

Er  hatte  ein  Paar  Stiickchen  auf  der  Metaphysic  spielen  gelernt. 

* 

Sperlinge  und  Juden:  selbst  die  Liebe  zu  ihren  Jungen  auftert 
sich  mit  einer  Art  von  Hefftigkeit,  daft  man  glaubt  die  Kinder  seyen 
eine  Waare  und  die  Liebe  gegen  sie  eine  Speculation. 

* 

Mancher  Schriftsteller  so  bald  er  ein  Bischen  Beyfall  erhalt 
glaubt  alles  von  ihm  interessiere  die  Welt.  Der  Schauspiel  Schmierer 
Kotzebue  "halt  sich  sogar  berechtigt  dem  Publiko  zu  sagen«  daft  er 
seiner  sterbenden  Frau  ein  Clystier  gesezt  habe. 

* 

A.  Der  Mann  hat  viele  Kinder.  B.  ja,  aber  ich  glaube,  von  den 
meisten  hat   er   bloft  die   Correcktur  besorgt. 

* 

Die  Allmacht  Gottes  im  Donnerwetter  wird  nur  bewundert  ent- 
weder  zur  Zeit  da  keines  ist,  oder  hinten  drein  beym  Abzuge. 

ft 

968 


Es  ist  viel  anonymisches  Blut  vergossen  worden. 

* 

Sie   fuhlen   den  Druck    der   Regierung   so   wenig   als    den   Druck 

der  Lufft, 

* 

Ich  hatte  mich  auf  Kfs  Anrathen   damals  entsezlich  dartiber  ge- 

argert. 

* 

Bey  den  meisten  Menschen  grundet  sich   der  Unglaube  in  einer 
Sache  auf  blindem  Glauben  in  einer  andern. 


Spezialisierung  des  Rundfunks  von  Ema  Michel 

t>  udolfc  Arnheim  streift  in  seinem  Aufsatz  iiber  „Funklitera- 
1X  tur"  (in  Nummer  22)  die  Bestrebungen  gewisser  Kreise, 
die  dahingehen,  Spezialsender  fur  verschiedene  Horerschichten 
einzurichten,  Arnheim  vertritt  die  Ansicht,  daB  solche  Bestre- 
bungen  von  vornherein  und  energisch  zu  bekampfen  seien. 
Seine  Griinde  sind  vor  allem  die,  daB  grade  der  Rundfunk 
eine  wichtige  Kulturaufgabe  zu  erfiillen  habe:  die  Durch- 
brechung  der  Mauernt  die  alle  moglichen  Schichten  der  tBevol- 
kerung  heute  voneinander  fast  hermetisch  abschlieBen,  Der 
Rundfunk,  ineint  Arnheim,  tlschaff.t  eine  technische  Voraus- 
setzung  fur  den  klassenlosen  Staat  von  morgen,  eine  Verein- 
heitlichung  des  Kulturbestandest  des  kulturellen  Schaffens." 
Ware  dem  so,  so  ware  kein  Wort  gegen  Arnheims  Formulie- 
rungen  einzuwenden,  Leider  aber  ist  dem  keineswegs  so. 
Der  Rundfunk  ist  in  der  Form,  in  der  er  sich  heute  prasentiert, 
ein  Unikum,  era  Monstrum,  ein  kombinierter  Beiehrungs-,  Un- 
terhaltungs-,  Bildungs-  und  Informationsapparat,  der  nach  dem 
Motto  arbeitet:  „Wer  vieles  bringt,  wird  manchem  etwas  brin- 
gen1'  und  der  schliefilich  niemandem  etwas  Rechtes  bietet.  Das 
kann  kein  Vorwurf  sein.  Eine  Institution,  die  eingesetzt  wurde, 
um  alien  gerecht  zu  werden,  kann  niemandem  gerecht  werden. 
Und  reiBt  denn  der  Rundfunk  die  Mauern  ein,  die  sich  zwischen 
den  Menschen  und  die  die  Menschen  zwischen  sich  aufgerich- 
tet  haben  und  die  da  heiBen:  soziale  Stufungen,  berufliche  Ein- 
kapselung  und  unterschiedliches  Bildungsniveau?  Das  anzu- 
nehmen,  erscheint  wie  ein  Selbstbetrug.  Jeder  Horer  dreht, 
sowie  ihn  das  Programm  nichts  angeht  oder  nicht  interessiert, 
riicksichtslos  ab.  Wer  Unterhaltungsmusik  haben  will,  hort 
lieber  gar  nichts  als  eine  Staatsopern-Obertragung,  und  der 
Verehrer  der  „Bunten  Stunde"  wird  durchaus  nicht  zu  bewe- 
gen  sein,  sich  ein  paar  Lieder  von  Frank  Wedekind  ernsthaft 
anzuhoren, 

Der  klassenlose  Staat  von  morgen  oder  ubermorgen,  den 
wir  alle  genau  so  heiB  ersehnen  wie  Arnheim,  laBt  sich  durch 
den  Rundfunk  weder  einfiihren  noch  vorbereiten.  Dafiir  sind 
andre  Institutionen  besser  geeignet,  am  besten  wohl  die  Ein- 
heitsschule,  die  erst  die  Voraussetzung  fiir  den  klassenlosen 
Staat  und  damit  fiir  den  Einheitsrundfunk  bilden  wurde.  Die 
Idee  der  konsequent  durchgefuhrten  Einheitsschule  ist  heute 
lange  nicht  mehr  so  entfernt  vom  Ziel  der  Verwirklichung  wie 
vor  etwa  zwei  Jahrzehntea  (DaB  eine  Einheitsschule  nicht  ohne 
weiteres  in  unser  System  paBt  sondern  auch  soziale  und  andre 

969 


Veranderungen  bedingt,  soil  an  diescr  Stelle  nur  in  Klammern 
vcrmerkt  werden.)  Zur  Zeit  also  liegt  die  Situation  so,  daB 
wir  cine  denkbar  verschiedenartig  geschichtete  Bevolkerung 
haben,  fur  die  es  nur  einen  einzigen  Rundfunksender  gibt,  der 
nun  nicht  etwa  die  Verschiedenartigkeit  der  Horer  aufhebt 
oder  ausgleicht  sonderm  der  sich  selbst,  da  er  standig  bereit 
ist,  fiir  alle  da  zu  sein,  uberfliissig  und  unbeliebt  macht.  Am- 
heim  zeigt  einen  Weg  zur  Reformierung  des  Rundfunk- 
programms.    Er  stellt  die  These  auf,  daB  das  Belehrende  unter- 


coin        mitCCO 


w;c 


relativ  solche  Forderungen  sind,  kann  an  einem  naheliegenden , 
Beispiel  gezeigt  werden.  Diei  Schriften  eines  Weltbiihnenmit- 
arbeiters  etwa  finden  wir  auBerordentlich  belehrend,  und  ihr 
Stil  erscheint  uns,  den  Weltbiihnenlesern,  amiisant  und  unter- 
haltsam.  Wiirde  man  diese  Aufsatze  aber  einem  Abonnenten 
der  .Hausfrau'  oder  des  ,Daheim'  geben,  so  wiirde  dieser  sie 
desinteressiert  beiseite  legen.  Der  Rundfunk  aber  steht  heute 
vor  der  unlosbaren  Aufgabe,  sowohl  fiir  die  Weltbiihnenleser 
wie  fiir  die  Daheim-Abonnenten  da  zu  sein.  Erziehung  des 
Horers?  Wie  denn?  Was  fiir  die  eine  Horerschicht  Er- 
ziehung bedeutet,  ist  fiir  die  andre  etwas  Uberholtes.  AuBer- 
dem  lassen  sich  erwachsene  Menschen  nicht  erziehen.  Das 
ist  ein  Vorurteil  theoretisierender  Theaterkritiker.  Man  kann 
die  Mitwelt  beeinflussen,  begeistern,  bluffen  —  erziehen  kann 
man  sie  wohl  nie. 

Die  Rundfunkintendanten  sind  heute  nicht  zu  beneiden, 
Beschwerdebriefe  haufen  sich  auf  dem  Schreibtisch^  Kiindi- 
gungszettel  flattern  ins  Haus,  Sie  miissen  —  je  nach  Tempe- 
rament —  dickfallig  oder  nervos  werden.  Sie  miissen  jonglie- 
ren,  denn  die  zwei  Mark  des  anspruchslosen  Horers  sind  genau 
so  viel  wert  wie  die -des  anspruchsvollen.  So  ist  das  nichts! 
Da  der  Rundfunk  in  seiner  heutigen  Form  fiir  uns  kaum  M6g- 
Hchkeiten  bietet  und  da  dieser  Nachteil  auch  nicht  durch  seine 
Auswirkung  auf  die  Zukunft  wettgemacht  wird,  so  erscheint 
die  Ford'erung  nach  der  Spezialisierung  des  Rundfunks  durch- 
aus  nicht  mehr  indiskutabeL  Warum  soil  es  denn  nicht  mog- 
lich  sein,  daB  an  die  Stelle  des  jetzigen,  einheitlichen  Senders 
zwei  oder  drei  treten,  die  sich  in  ein  festumrissenes  Pro- 
gramm  einfiigen.  Die  Teilung  kann  natiirlich  nicht  nach  dem 
Prinzip:  hier  Kunst  und  Kultur  —  hier  Unterhaltung  und 
Schund  vorgenommen  werden,  Aber  man  konnte  die  Sender 
(dieser  Vergleich  ist  cum  grano  salis  zu  verstehen  und  wird 
nur  gewahlt,  weil  er  in  diesem  Zusammenhang  nun  schon  ver- 
traut  ist)  . . ,  man  konnte  die  Sender  spezialisieren  in:  Sen- 
der fiir  Weltbiihnenleser  und  Sender  fiir  Daheim-Abonnenten, 
Auf  diese  Weise  lieBe  sich  denken,  daB  fahige  Leiter  ein  inter- 
essantes  und  fiir  den  jeweiligen  Horer  wichtiges  und  frucht- 
bares  Programm  zusammenstellten.  Auch  konntenf  innerhalb 
der  einzelnen  Gruppen,  Erziehungs-  und  Belehrungs-Experi- 
mente  gewagt  werden.  Spezialisierung  des  Rundfunks  bedeu- 
tet:  Erweiterung  des  Rundfunkprogramms.  Es  bedeutet  aber 
auch;  Verminderung  der  heute  am  Rundfunk  nicht  mehr  inter- 
essierten  Kreise  und  somit:  Hebung  des  Wertes  und  des  An- 
sehens  des  Rundfunks, 

970 


Kurze  Sittengeschichte  I  von  Radon  Arnneim 

pjas  Liebesleben  der  Vorkriegszeit  war  von  Erich  von  Stro- 
heim  inszeniert.  Bctrachten  wir  ein  Klassenbild  aus  cincr 
Madchenschule  der  neuriziger  Jahre,  so  bietet  sich,  in  vier 
Reihen  angeordnet,  cine  Gruppe  verkriippelter  Greisinncn  dar. 
Blcichgcsichtcr  mit  groBen,  schattigcn  Augen,  erwiirgte  Kor- 
pcr,  miBhandelte  Haarstrahnen,  Diese  Schreckgebilde,  bei 
deren  Anblick  wir  heute  nach  dem  Tierschutzvcrein  rufen. 
waren  die  ersehnten  Ideale  naBgekammter  junger  Manner,  die, 
mit  steifen  Kragen,  Wollunterhosen  und  einigen  Spezialkennt- 
nissen  aus  dem  Konservationslexikon  ausgestattet,  in  uuappe- 
titlichen  Witzen  und  dito  Bordellbesuchen  abreagierten,  was 
ro'buste  BalLmiitter  ihnen  voreirthielten.  Bezeichnend  fiir  die 
Denkweise  dieser  Menschen  war  die  Trennung  von  Geschlecht- 
lichkeit  und  Liebe,  Liebe  war  die  voreheliche  Friihlingszeit, 
von  Schiller  bedichtet,  nach  dem  ersten  KuB  abgeblendet  — 
eine  Art  amor  interruptus,  wie  er  noch  heute  in  den  Kino- 
operetten  geiibt  wird.  Ehe  war:  Einheirat  eines  Sozius  zwecks 
gemeinsamer  Bekampfung  der  Dascinsnote;  Gegenstand  des 
Unternehmens  die  Beschaffung  von  Wirtschaftsgeld,  Reinhal- 
tung  der  Wohnung,  Erzeugung  von  Kindern,  nebst  dreiwochi- 
ger  Ausspannung  alljahrlich  in  Heringsdorf .  Kein  Fleck  aul  der 
Ehr,  kein  Loch  in  den  Striimpfen,  und  im  Alter  Amusement 
und  Monatsbeihilfe  seitens  der  herangewachsenen  Kinder.  Die 
Moral,  am  Tage  HeiBig  geiibt,  erlosch  ruckartig,  wenn  die 
StraBenlaternen  aufflammten.  In  diesen  fiir  die  Befriedigung 
der  niederen  Triebe  reseryierten  Spezialstunden  regierten  Ge- 
meinheit  und  schlechter  Geschmack,  Hierfiir  gab  es  keinert 
Anstand  und  keine  guten  Sitten,  hier  war  man  ja  sowieso  im 
Illegalen.  Hier  lebte  der  akademisch  gebildete  Jiingling  in 
peinlicher  Weise  auf,  hier  durfte  der  Ehemann  seine  Frau  durch 
Ungeschick  verletzen,  durch  Unbegabtheit  verbittern,  durch 
Roheit  und  Unkultur  um  alle  Freude  bringen.  Das  Patienten- 
material  fiir  die  Psychoanalytiker  wuchs  heran,  die  Leser  fiir 
Hanns  Heinz  Ewers,  die  Stammgaste  fiir  die  Nachtlokale  der 
Friedrichstadt,  In  den  Schreibtischfachern  fand  man  nach  Ab- 
leben  des  Familienvorstandes  die  Aktphotos  erstaunlich  voll- 
busiger  Damen,  und  ein  junges  Madchen  holte  sich  lieber  einen 
Blasenkatarrh,  als  daB  sie  in  Gegenwart  von  Mannern  aus 
dem  Zimmer  verschwand.  Der  Referent  weiB  von  der  Gattin 
eines  als  fortschrittlich  bekannten  Universitatsdozenten,  die 
noch  nach  jahrzehntelanger,  kinderreicher  Ehe  ihren  Mann 
niemals  nackt  gesehen  hatte,  und  von  einer  Oberlehrersfrau, 
die  ihrem  Dienstmadchen  verbot,  beim  Bettenmachen  die 
Nachthemden  zusammenzufalten,  damit  hicht  der  unreinliche 
Unterteil  mit  dem  Oberteil  in  Beriihrung  komme.  Diese  Tren- 
nung von  Oberteil  und  Unterteil,  von  Tagesansicht  und  Nacht- 
ansicht,   war  die  Kulturschande   der  Vorkriegszeit. 

Der  Krieg  ging  zu  Ende,  und  die  GroBvater  und  GroB- 
t  ant  en  erlernten  das  Staunen  und  fuhlteh  sich  um  ihre  Jug  end 
betrogen.  Was  man  den  Jungen  jahrelang  an  Festlichkeiten 
vorenthalten  hatte,  wurde  in  wilder  Hast  nachgeholt.  Kurz 
die  Rocke,  die  Ha  are,  die  Badehosen,  lang  die  Nachte.     Auf 

971 


den  Kostiimfesten  der  Kunstschulen,  dcren  Sale  so  voll- 
gepfropft  waren,  dafi  kcin  Apfel,  geschweige  ein  Madchen 
fallen  konnte,  drangten  sich  Mann,  Weib  und  Zwischenstufe 
zu  den  Klangen  der  frisch  importierten  Jazzmusik  aneinander 
vorbei;  morgens  urn  Drei  bevolkerten  sich  dann  die  Stein- 
treppen,  und  wer  einen  ungestorten  Ort  fur  ein  kurzes  Bei- 
einander  suchte,  schreckte  selbst  vor  der  ehrwiirdigen  Staub- 
schicht  auf  den  breiten  Schranken,  in  denen  die  Zeichenuten- 
silien  der  Kunstschuler  aufbewahrt  waren,  nicht  zuriick  und 
bettete  sich  mit  der  Freundin  eilig  zur  ersten  und  letzten  Ruhe, 
Auf  den  Kindergesellschaften  in  gutburgerlichen  Hausern 
knipste  man,  nachdem  die  Eltern  energisch  ins  Bett  geschickt 
worden  waren,  das  Licht  aus  und  verteilte  sich  auf  die  Brokat- 
sofas  zu  mehr  aufreizenden  als  Erfullung  bringenden  Vergnii- 
gungen,  Junge  Madchen  im  Abendkleid  erzahlten  ihrem  Tisch- 
herrn  zwischen  Braten  und  SiiBspeise,  daB  sie  noch  Jungfrau 
seien,  Unbescholtene  Sekundanerinnen  ubernachteten  im  Zelt, 
und  an  den  markischen  Seen  entstanden  die  Siedlungen  der 
Nacktklubs,  die  in  Deutschland  selbst  zwar  wenig  Aufsehen 
erregten,  daftir  aber  im  iibrigen  Europa1  zumal  bei  den  alten 
Englanderinnen,  eine  wilde  Beruhmtheit  erlangten, 

Aber  grade  hatten  sich  die  GroBvater  und  die  GroBtanten 
zu  der  tlberzeugung  durchgerungen,  daB  nun  Zucht  und  Sitte 
endgiiltig  verworfen  und  das  hohe  Gut  der  Keuschheit  ein 
Opfer  bolschewistischer  Planwirtschaft  geworden  sei,  da  be- 
obachtete  man  im  Leben  der  Jungen  seltsame  Zeichen  und 
Wunder.  Junge  Madchen,  die  sich  in  zynischen  Ausdriicken 
tiber  Liebe  und  Treue  auszulassen  pflegten,  erschienen  mit 
rotgeweinten  Augen  am  Friihstiickstisch,  weil  ihr  Freund  mit 
einer  Andern  paddeln  gegangen  wai;.  Vorurteilslose  jun,ge 
Manner  erfiillten  den  nachtlichen  Tiergarten  mit  Zornesreden 
und  Selbstmordandrohungen^  weil  die  Freundin  auf  dem 
Kostiimfest  einen  Andern  gekiiBt  hatte.  Unter  den  StraBen 
der  Weltstadt  flitzten  schwarmerische  Rohrpostbriefe  durch 
die  verschwiegenen  Luftdruckrohre,  wahrend  man  oben  im 
Licht  sittenlose  Gesprache  iiber  van  de  Velde  fiihrte<  Der 
Freund  schenkte  englische  Schallplatten  mit  zart  schmachtenden 
Liebesliedern,  die  Freundin  brachte  Bliiten  vom  Ausflug  heim. 

Die  Alten  beobachteten  dies  mit  scharfen  Augen  und  lieBen 
sich  triumphierend  vernehmen,  die  gekunstelte  neue  Moral, sei, 
wie  nicht  anders  zu  erwarten  gewesen,  gescheitert  und  die 
neue  Jugend  sei  sentimentaler  und  sittenstrenger  als  je  eine 
fruhere.  In  der  Tat  ist  in  letzter  Zeit  bei  den  Jungen  eine 
fast  puritanische  Moralauffassung  entstanden,  die  nun  ihrer- 
seits  wieder  alle  Dbertreibungen  einer  Modelaune  zeigt.  Und 
zwar  nicht  nur  bei  der  nationalistischen  Jugendj  die  in  hefti- 
ger  Auflehnung  gegen  die  fremdstammig-kommunistischenSit- 
ten  der  Inflationsjahre  wieder  auf  Blondzopf  und  Volkstamz 
hinarbeitet  sondern  auch  bei  den  Bacchanten  von  vorgestern 
selbst.  Die  jungen  Manner  singen  das  Hohelied  der  Treue  und 
heiraten  von  auswarts  zugezogene,  schiichterne  Madchen,  die 
den  Lippenstift  verabscheuen  und  auf  Haushalt  aus  sind.  In 
den  Zweizimmerwohnungen  der  Neubaublocks  haust  ein  jun- 
ges  Paar   neberi  dem   andern.     Die  Wahl  zwischen  Kleinauto 

972 


und  Kleinkind  wird  immer  mehr  zur  Gewissensfrage,  Auf- 
geklarte  junge  Madehen,  deren  sich  noch  vor  ein  paar  Jahf en 
ein  alleinstehender  tjunger  Mann  nur  dadurch  erwehren  konntc, 
daB  er  sein  Schlafzimmer  abschloB,  auBern  errotend,  es  miissc 
an  der  Jungiraulichkeit  doch  etwas  scin,  und  schwarmen  von 
Myrtcn  und  schwarzgekleideten  Standesbeamten, 

Kommt  das  Alte(  so  heftig  BekampHe  wieder?  Kehrt  die 
Jugend  nach  einem  Ausflug  in  die  Orgic  zu  den  guten  Sitten 
heim?  Wer  den  Grundsatz  der  dialektischen  Entwicklung 
verstanden  hat,  wird  sich  niemals  dafiir  interessieren,  ob  eine 
Bewegung  „Auswiichse"  hat,  Er  weiB,  daB  alles  Neue  notwen- 
dig  zum  Extrem  fiihrt  und  daB  einzig  der  ausgleichende  Kampf 
der  gegensatzlichen  Richtungen  wichtig  ist.  Er  kummert  sich 
also  wenig  urn  den  radikalistischen  MiBbrauch  der  Psycho- 
analyse oder  des  Nationalisms,  der  Neuen  Sachlichkeit  oder 
der  Rassentheorie  sondern  fragt  nurt  wohin  diese  Bewegungen 
im  Kern  zielen  und  vor  allem,  ob  sie  fortschrittlich  sind  oder 
nicht.  Wer  so  denkt,  wird  weder  von  den  petting  parties 
der  Inflationsjugend  noch  von  den  Brautschleiern  der  neuen 
Puritanerinnen  viel  Aufhebens  machen  sondern  so  sagen:  Die 
Nachkriegsjahre  brachten  einen  notwendigen  Gegenschlag.  Es 
muBte  erst  einmal  alles  erlaubtf  sein,  damit  man  wieder  ver- 
bieten  konnte.  Der  Sexualhunger  einer  unbefriedigten  Mucker- 
zeit  muBte  einmal  gestillt  werden.  Es  muBte  einmal  erprobt 
werden,  daB  da,  wo  man  Geheimnisse  und  wilde  Rausche  ver- 
muteter  nicht  gar  so  viel  Erhebenderes  und  Unalltaglicheres 
zu  erleben  war  als  im  iibrigen  Leben  auch.  Es  war  gut,  ein- 
mal; ein  paar  lockere,  abwechslungsreiche  Jahre  hindurch  Er- 
fahrung  zu  sammeln  und  auch  den  groBen  Katzenjammer  zu 
erleben. 

Man  hat  gelernt  —  und  das  wird  nicht  wieder  verloren 
gehen  — ,  nackt  zu  sein  und  offen  zu  sein;  man  hat  gelernt, 
Moralvorschriften  nur  dann  zu  achten,  wenn  sie  sich  als  na- 
turgegeben  erweisen.  Der  alte  Sittenkodex  ist  verbrannt,  und 
die  unter  seiner  Herrschaft  verkummerten  Moralinstinkte  kon- 
nen  wieder  gepflegt  werden.  Da  nichts  mehr  verboten  ist, 
muB  man  sein  Gefiihl  fragen,  was  sich  schickt,  was  niitzlich 
und  bekommlich  ist.  Und  dies  Gefiihl  zeigt  sich  widerwillig 
gegen  die  Ausschweifung,  weil  auch  sie  die  Liebe  von  der  Ge- 
schlechtlichkeit  trennt  —  es  ist  ja  ebenso  schlecht,  ob  alles 
erlaubt  ist  oder  nichts!'  Man  sieht  mit  Widerwillen,  daB 
Liisternheit  und  Geilheit  sich  der  neuen  Freiheit  bemachtigen. 
Man  sieht  keinen  Fortschritt  darin,  daB  die  Witze  der  Herren- 
abende  von  gestern  heute  bei  Damentees  kursieren.  Und  man 
schatzt  es  nicht,  wenn  klimakt'erische  Hausfrauen  noch  schnell 
die  Wunschtraume  ihrer  Jugend  verwirklichen,  ehe  es  zu  spat 
ist,  und  am  Strande  mit  Lohelandschwiingen  ihren  abgebliihten 
Busen  demonstrieren,  Denn  man  wiinscht  Nacktheit  nicht  mit 
Exhibition  verwechselt  zu  sehen  und  ist  wieder  schamhaft,  weil 
das  Feigenblatt  nicht  mehr  obligatorisch  ist,  Die  Geschlecht- 
lichkeit  ist  nur  dann  schon  und  ergiebig,  wenn  si«  einer  Bin- 
dung  dient;  aber  diese  Bindung  soil  eine  wirkliche,  nicht  eine 
nur  standesamtliche  sein,  Man  nimmt  den  Ehebruch  als  einen 
Schicksalsschlag  hin,  wenn  er  unvermeidlich  ist,  oder  als  eine 

£73 


unwichtige  Spielerei,  wenn  er  nichts  besagt,  abcr  man  halt  es 
fur  roh  und  unanstandig,  durch  bloBe  Disziplinlosigkeit  ein 
Zusammenleben  zu  storen.  Man  respcktiert  die  Bindung  wie- 
der,  aber  jetzt  auch  dannt  wenn  sie  unehelich  ist.  Man  halt 
Perversionen  wieder  ftir  haBlich  und  unschon,  abcr  nicht  mehr 
fur  strafbar. 

So,  kchrt  in  einer  hohern  Windung  dcr  Spirale  das  Altc 
in  gcreinigter  Form  wieder,  Wobei  es  auf  die  Reinigung  an- 
kommt,  nicht  auf  die  Wiederkehr.  Um  diese  Idealform  herum 
tasten  die  wechselnden  Modeformen  der  Moral.  Sie  schieBen 
immer  wieder  iiber  das  Ziel  hinaus  und  kommen  ihm  dennoch 
naher.  Die  Zahl  der  Menschen,  deren  Sitten  und  Instinkte 
in  Ordnung  sind,  wird  langsam  groBer.  Vollkommen  wird  die 
Menschheit  niemals  werden.  Warum  auch?  SchlieBlich  ist 
die  Erde  keine  Musterfarm, 

Kurze  Sittengeschichte  II  Aike  EkeVT-Rothhoiz 

Vorkriegs-Spaziergang 

Sie  wandelten   gemeinsam   Lust 

Die  Voglein  dufteten  lind, 

Sie  ftihlt  keine  Liebe,     Sie   ftihlt  ihr  Korsett, 

Sie  ist;  Eiserne  Front . . .  Nachher  wird  sie  fett. 

Ein  zu  entwickeltes  Wickelkind. 
Er  denkt  an  die  Mitgift  und  ans  Hochzeitsbett 
und  quatscht  gezwungen  vom  Abendwind  . .  . 
Aus, 

Spaziergang  im  Kriege 

Kein  Mensch  wandelt  noch  gemeinsam  Lust- 
Den  Frauen  sitzt  ein  eiserne_s  Kreuz  in  der  Brust . . . 

Das   schmerzt  gemein. 
Manner  gibts  bloB  auf  Brotkarte.     Also  nicht. 
Und  die  Fraun  spazieren  mit  f eldgrauem  Gesicht  .  . , 

Promenade  allein. 
Er  hat  gleich  nach  der  Kriegstrauung  fortgemufit. 
Sie  weiB  nicht  mehr  von  ihm,  als   sie  vorher  gewuBt . .  . 

—  Ein  Schattenkufi. 

Sie  verbliiht  im  Sturmschritt,     Er  kommt  fa  nie! 
Fur  sie  ist  der  Mann  eine  Photographie ... 

—  Und  SchluB, 

Sie  gcht  mit  dem  Schattenmann  auf  und  ab . .  . 
Sie  marschiert  ins   erotische  Massengrab. 

SpazVergang  1932 

Man  sieht  sie  wieder  gemeinsara  ziehn. 
Zwischen   Lichtstromen,   Bettlern,  Verkehr. 
Sie  hat  noch  Stellung.     Er  hat  lange  nichts'  mehr. 
Ihr  Herz  ist  voll.     Sein  Herz  ist  ganz  leer . , . 

Er   ist  ein  Mann  in  Berlin. 
Sie  sieht:  seine  Augen.  Den  Mund.  Er  sieht  seine  Sorgen. 
Sie  denkt:  „KuB  mich  jetzt!"    Er  denkt:  f)Wird  Schmidt  mir 

borgen??" 

Er   mochte  fliehn 
Sie  hat  sich  fur  ihn  rote  Lippen  gemacht, 
Doch  er  sieht  es  nicht . .  .     Wegen  StraBenschlacht. 

SchlieBlich   lustwandeln  sie   in  Berlin  . . . 

Das  Resuttat: 

Dreimal  zogen  Liebespaare  dahin. 

Und  dreimal  ging  sie  ohne  ihn . , , 
974 


Ob  Jud  Oder  Christ  ...  von  Gabriele  Tergit 

Langsam  stirbt  der  SklarekprozeB.  Mani  muB  das  einmal  mit- 
gemacht  haben.  Erste  Nachricht  von  einem  Sensationsfall!  Die 
Namen  allcr  Beteiligten  werden  genannt,  auf  graden  und  ungraden 
Wegen  erworbene  Photos  veroffentlicht.  Allgemeines  Gesprachs- 
thema.  Der  eine  sagt  zum  andern:  „Und  was  sagen  Sie  dazu?"  Fette 
Oberschriften  werden  gezeiigt.  Tagliche  Telephonate.  Dann  die 
ersten  Vernehmungen.  ,,Der  bekannte  Rechtsanwalt  X  hat  die  Ver- 
teidigung  ubernommen,"  Wenn  Rechtsanwalt  X  aus  dem  Unter- 
suchungsgefangnis  kommt,  wird  er  von  Presseleuten  belagert.  Er  gibt 
Bulletins  aus.  Es  wird  schnell  an  die  Zeitungen  durchgegeben*  Wer 
keine  Telephonzelle  im  Gebaude  mehr  findet,  rast  zum  Zigarrenladen, 
zum  nachsten  Cafe.  So  acht  Tagef  vierzehn  Tage  lang,  dann  tritt 
Stille  ein,  dann  ist  Ruhe.  Monatelang,  Die  ftffentlichkeit  ist  em- 
port,  Wann  endlich  wird  Stinnes,  Barmat,  Sklarek,  Pastor 
Cremer,  zur  Verantwortung  gezogen?  Schliefilich  beginnt  so  ein  Pro- 
zeB. Karten  werden  ausgegeben.  Der  Ansturm  geht  los,  das  Rennen 
um  einen  Platz,  und  dann  beginnt  der  ProzeB,  die  Vereidigung  der 
Schoffen,  der  Aufruf  der  Zeugen,  es  beginnt  die  Aussage  der  An- 
geklagten,  acht  Tage  lang,  vierzehn  Tage  lang,  dann  werden  die  Zeu- 
gen vernommen.  Der  Zuhorerraum  leert  sich,  Nur  noch  einige  Wenige 
sitzen  auf  den  Pressebanken,  schlieBlich  leeren  sie  sich  ganz.  Der 
ProzeB  dauert  und  dauert.  Blatter  kommen  und  gehen.  Er  geht  zu 
Ende.  Journal  ist  en  gehen  uber  den  Korridor,  offnen  die  Tiir  zum 
Verhandlungszimmer,  sagen  zum  Wachtmeister:  tfIst  heute  was  los?" 
„No,  gar  nichts,  Plaidoyers*'f  sagt  der  Wachtmeister  und  dann  macht 
der  Reporter  die  Ture  zu.     „No,  nur  Plaidoyers." 

So  weit  ist  nun  auch  der  SklarekprozeB.  Der  Zuhorerraum  ist 
halb  leer.  Die  Zeugenbank  ist  ganz  leer,  echolos  und  einsam  sprechen 
die  letzten  Verteidiger.  Es  ist  alles  miide,  zu  Ende,  tot.  Die  Ge- 
fangnisturen  sind  bereits  zugef alien  hinter  den  Sklareks.  Es  inter- 
essiert  sich  niemand  mehr.  Verlassen  stehen  sie  in  der  Anklage- 
bank  wie  irgendeiner  der  vielen  armen  Schacher  in  irgendeinem  der 
vielen  armen  Sale  von  Moabit.  Aber  grade  jetzt  wird  in  den  Reden 
der  Verteidiger  iiber  das  wichtigste  juristische  Problem  dieses  Pro- 
zesses  diskutiert,  ob  namlich  die  Sklareks  iiberhaupt  Betrug  began- 
gen  haben.  In  Frage  kommt  nur  der  Betrug  an  den  Stadtbankdirek- 
toren.  Sind  die  Stadtbankdirektoren  getauscht  worden?  Wenn  ja, 
sind  sie  die  Betrogenen,  Sklareks  die  Betruger.  Offenbar  ist  das 
aber  nicht  der  Fall.  Dann  aber  haben  die  Sklareks  nur  die  Stadi- 
.  bankdirektoren  zur  Untreue  angestiftet.  Die  Stadtbankdirektoren  ha- 
ben sie  begangen.  Das  ist  die  Frage  bei  der  Findung  des  Urteils, 
das  in  acht  Tagen  gefallt  wird.    Vae  victis,  kann  man  nur  sagen. 

Sie  haben  so  entsetzlich  viel  Geld,  der  Braunkohlenkonig  Pet* 
schek  und  der  Stickstoffkonig  Caro,  daB  sie  es  ausgeben  wollen.  Und 
darum  haben  sie  ein  Wohltatigkeitsinstitut  fiir  Advokaten  aufgemacht. 
Naturlich  nur  fiir  bedeutende.  Dieser  ProzeB  ist  ganz  ohne  offent- 
liches  Interesse,  nur  als  Verfallserscheinung  chronikwert.  Wie  der 
eine  der  reichen  Leute  dem  andern  einen  Kassettendiebstahl  zutraut, 
wie  groBe  Prozesse  angestrengt  werden,  nur  um  zu  sehen,  wie  weit 
der  Gegner  geht,  um  der  Psychologie  willen,  wie  hier,  ganz  jenseits 
des  Realen,  um  eine  Quittung  gekampft  wird,  die  eine  Summe  be- 
scheinigt,  die  fiir  beide  Teile  nur  ein  Hosenknopf  ist,  das  ist  ein 
Gespensterkampf. 

* 

Aber  ganz  nebenbei,  fast  unbeobachtet,  geht  der  DevaheimprozeB 
weiter,  Dieser  ProzeB  gegen  Leute,  deren  Aufgabe  die  Ethik  ist,  die 
das  Geld  nur  bekamen,  weil  sie  wiirdiger  des  Vertrauens  schienen, 
weil   hinter   ihnen    die   Kirche    stand,    die   Tradition   von   vierhundert 

975 


Jahren.  Man  soil  nicht  vergessen,  wie  vcrfilzt  das  alles  ist.  Deva- 
heim,  inncrc  Mission,  Wohlfahrtsinstitute,  wie  vor  kurzem  noch  Leutc 
dieser  innern  Mission  mit  dcm  Purpur  schoner  Wortc  sadistische 
Roheiten  an  Kindern  in  Waldhofl  verbargen,  In  diesem  Prozefi  wird 
nur  noch  in  Einheiten  von  tausend  Mark  gerechnet.  Einer  bekam 
sechzig,  das  heiBt  dann  sechzigtausend  Mark,  einer  bekam  funfund- 
zwanzig,  das  heiBt  dann  fiinfundzwanzigtausend  Mark. 

Neulich  das  vornehme  Mitglied  eines  Corps  als  Zeuge,  der  so  ganz 
nebenbei  einhundertvierzigtausend  Mark  Schulden  nicht  bezahlt  hat. 
Jetzt  Doktor  Jeschek,  ebenfalls  alter  Corpsstudent,  als  Zeuge,  sehr 
vornehmer  Herr.  Auch  er  hat  ungeheuerliche  Einktinfte  aus  den  Er- 
sparnissen  der  kleinen  Leute  bezogen.  Das  Gut  Basdorf,  in  einer 
Zwangsversteigerung  fur  zwanzigtausend  Mark  erworben,  verkaufte  er 
an  die  Evangelische  Heimstatten-Gesellschaft  fur  zweihunderttau- 
send  Mark,  Fur  diesen  glanzenden  Einkauf  zahlte  ihm  Devaheim 
dreiBig  Prozent  Vermittlungsgebuhr,  namlich  sechzigtausend  Mark. 
Dreitausend  Mark  bekam  er  noch  extra  als  Hochzeitsgeschenk.  Und 
das  alles  warum?  Weil  er  Jeppel  einredete,  das  Gut  sei  sechshundert- 
tausend  Mark  wert.  Vom  Vorbesitzer  liefi  sich  Jeschek  auch  noch4 
Provision  zahlen,  weil   er  das  Gut  so  teuer  verkauft  habe. 

Nichts  davon  hat  er  versteuert,  gar  nichts,  Aber  diese  sechzig- 
tausend Mark,  diese  dreiBig  Prozent,  sind  auch  nur  so  ein  Ungefahr. 
Wahrscheinlich  hat  er  weit  iiber  hunderttausend  Mark  bekommen, 
„Ich  glaube",  sagt  er,  t,Jeppel  hat  mir  zirka  zweitausend  Mark  im 
Monat  gegeben/'  Aber  November  1928  allein  hat  er  sechstausend  Mark 
bekommen.  Dann  hat  er  fiinfzehntausend  Mark,  Jeppel  sagt  dreifiig- 
tausend,  fur  die  Anbahnung  von  Beziehungen  mit  der  Gemein- 
schaft  der  Briider  bekommen.  Fur  Anbahnung  von  Beziehungen!  An- 
bahnung von  Beziehungen  ist  -uberhaupt  der  einzig  lukrative  Beruf, 
scheint  mir.  Jeschek  verlangte  dann  weiter  funfundsiebzigtausend 
Mark  Provision  in  einem  Brief.  Den  Brief  hat  er  nicht  mehr.  Im 
iibrigen  erinnert  er  sich  nicht  mehr.  Das  ist  Jeschek,  Er  wird  nicht 
vereidigt.  Viele  sehr  feine  Leute  werden  nicht  vereidigt  in  diesem 
ProzeB. 

Eine  weitere  Figur  ist  ClauBen.  ClauBen,  blond,  madchenhaft, 
zart,  aus  Husum,  der  von  einem  gescheiten,  ganz  zu  Unrecht  ange- 
griffenen  Anwalt  zum  Verwalter  der  groBen  amerikanischen  Anleihe 
ftir  die  Vereinigten  Wohlfahrtsinstitute  Deutschlands  eingesetzt  wurde. 
Dieses  Jungchen  verfiigte  iiber  die  Millionen  der  Armen.  Als  der 
Konzern  zusammenbrach,  ging  er  umher  von  Redaktion  zu  Redaktion 
und  informierte,  daB  er  unschuldig  sei.  Man  erfahrt  nun,  wie  unvor- 
sichtig  das  war.  Hunderttausend  Mark  gingen  an  ein  Wohlfahrtsinsti- 
tut.  Bei  der  Bank  wurden  zu  diesem  Zweck  einhundertzehntausend 
abgehoben.  Wo  blieben  die  zehntausend?  Der  feine  ClauBen  zuckt 
die  Achseln,  Der  Bankchef  wird  vor  Gericht  zitiert:  „Auf  wen  lau- 
tete  der  Scheck?"  „Zehntausend  Mark  an  ClauBen",  liest  der  Bankier  . 
vor,  ClauBen  weiB  nichts  zu  sagen.  Aber  was  kommt  es  noch  auf 
diese  zehntausend  Mark  an  aus  dem  Geld  der  armen  Leute?  Dieser 
ClauBen  hat  fiinfzigtausend  Mark  zur  Grundung  einer  Baustoffgesell- 
schaft  bekommen  Und  kurz  darauf  siebzigtausend  Mark  als  ZuschuB. 
zur  Grundung  dieser  Baustoffgesellschaft.  Dazu  ist  er  gern  im  Flug- 
zeug  gefahren,  hat  ein  paar  hundert  Mark  Tagesspesen  gemacht. 

Dieser  ClauBen  beteiligte  sich  am  Korruptionsbetrieb  der  Deutsch- 
Evangelischen  Heimstattengesellschaft,  Er  gab  sechsundzwanzigtau- 
send  Mark  Schweigegeld  an  den  Buchhalter  Klarholz,  der  eine  halbe 
Million  Bauspargelder  unterschlagen  hatte  und,  bezeichnend  genug, 
entlassen,  aber  nicht  angezeigt  wurde.  Klarholz  wollte  namlich  ein 
Korrespondenzbureau  griinden,  dessen  einziges  Aktivum  seine  intime 
Kenntnis  der  Devaheim-Sensationen  war.  Von  ClauBen  wird  ein 
manuskr(iptahnlicher  Brief  verlesen,  der  von  den  Verfehlungen  Pastor 
Cremers  spricht,  Drohungen  mit  Enthullungen  enthalt  und  auf  Geld- 

976 


forderungen  hinauslauft:  Neues  Geld  fiir  seine  Baustoffgesellschaft, 
fiinfzehn-  bis  zwanzigtausend  Mark  fiir  ein  Magazin,  das  den  Zweck 
haben  solltc,  iible  Geruchte  tiber  Devaheim  zu  bekampfen.  Zu  diesem 
Zweck  wird  auch  der  .Taglichen  Rundschau'  Geld  zugesagt,  an  meh- 
rere  Journalisten  und  den  .Industrie-Kourier'  viele  Tausende  gegeben. 
Begegnungen  bei  Schwannecke  finden  zu  diesem  Zwecke  stati 

Die  Sklareks  haben  mit  gutem  Leben  bestochen.  Es  war  alles 
amusant  und  besprechenswert,  verwickelt  war  zwar  Jud  und  Christ, 
aber  immerhin  meistens  Marxist,  mochte  man  reimen.  Grund  genug, 
urn  einen  Hdllenpfuhl  zu  sehen. 

Hier  stehen  Corpsstudenten,  Pastoren,  feine  Leute,  bestimmt  keine 
Marxisten.  Sie  haben  keine  lauten  Feste  gegeben,  keine  Saufkum- 
paneien,  keinen  Kaviar  gegessen  und  keinen  Sekt  getrunken,  wenig- 
stens  nicht  offentlich,  keine  Rennpferde  sondern  hochstens  Autos  be- 
sessen.  Wo  die  Beamten  bei  den  Sklareks  sich  mit  einem  guten  An- 
zug  und  einem  Bettvorleger  begniigt  haben,  haben  diese  hier  Zehn- 
tausende  genommen,  was  man  jetzt  Provision  nennt.  Sie  sind  nicht 
luxurios  gewesen,  keine  lauten  Parvenus.  Sie  haben  nur  still,  fein 
und  vornehm  und  mit  viel  Ethik  das  wenige  Geld  der  vielen  kleinen 
Leute  in  vieles  Geld  der  wenigen  umgewechselt. 


Hintergriinde  des  Flick-Geschafts 

von  Bernhardt  Citron 

Am  Abend  des  20.  Juni  wurde   folgende  amtliche  Erklarung 
^^   ausgegeben: 

Zu  den  Pressemeldungen  uber  Finanztransaktionen  bei  Gelsen- 
kirchen  bzw,  den  Vereinigten  Stahlwerken  erfahren  wir  von  zustan- 
diger  Stelle,  daB  es  sich  hierbei  lediglich  um  private  Banktransaktionen 
handelt. 

Die  Behauptung,  daB  der  Verkauf  von  110  Millionen  Gel- 
senkirchen  Aktien  zum  Kurse  von  neunzig  eine  private  Trans- 
aktion  der  Dresdner  Bank  darstellt,  war  so  unsinnig,  daB  die 
gesamte  Offentlichkeit  dringend  eine  wirkliche  Aufklarung 
verlangte.  Die  Dresdner  Bank,  deren  Aktienkapital  sich  zu 
achtzig  Prozent  im  Besitz  des  Reiches  befindet,  kann,  darf 
und  will  ein  so  gewaltiges  Geschaft  nicht  ohne  ausdnickliche 
Zustimmung  des  Reiches  vornehmen,  Es  war  iiberdies  von 
vornherein  selbstverstandlich,  daB  die  Dresdner  Bank  nur  das 
ausfiihrende  Organ  der  Regierung  gewesen  sein  konnte.  Vier- 
undzwanzig  Stunden  spater  sah  man  in  der  Wilhelm-StraBe 
auch  bereits  ein,  daB  man  sich  mit  der  ersten  Erklarung  tod- 
lich  blamiert  hatte,  und  veroffentlichte  ein  zweites  Commu- 
nique folgenden  Inhalts: 

Bei  den  Transaktionen  betreffend  Gelsenkirchen  handelt  es  sich 
um  ein  Geschaft,  das  von  dem  friiheren  Reichsfinanzminister  Dietrich 
personlich  im  Laufe  dieses  Friihjahrs  vorbereitet  und  durch  einen  von 
ihm  am  31,  Mai  1932  fiir  das  Reich  unterzeichneten  Vertrag  zum  Ab- 
schlufi  gebracht  worden  ist.  Die  neue  Regierung  hat  dieses  Ab- 
kommen  vorgefunden.  Anlafi,  die  Rechtsgiiltigkeit  zu  bezweifeln.be- 
steht  nicht, 

977 


Da  am  30.  Mai  die  Gesamtdemission  des  Kabinetts  Bru- 
ning  erfolgte,  miiBte  also  nach  dem  Wortlaut  dieses  Commu- 
niques der  bereits  zuriickgetretene  Finanzminister  noch  rasch 
die  Gelsenkirchen-Transaktion  unter  Dach  und  Fach  gebracht 
haben.  Der  Vorwurf  schlimmster  Korruption  —  vergleichbar  nur 
noch  einem  ahnlichen  Vorgang  aus  dem  franzosischen  Oustric- 
Skandal  —  ist  hier  gegen  einen  friihern  Reichsminister  in  ver- 
steckter  Form  erhoben  worden.  Tatsachlich  sind  aber  die 
Verhandlungen  mit  der  Gruppe  Flick  iiber  das  Gelsenkirchen- 
Geschait  den  ordentlichen  Instanzenweg  gegangen.  Die  Unter- 
zeichnung  ist  bereits  am  6.  Mai  erfolgt,  nachdem  Reichskanzler 
Bruning  und  Reichswirtschaftsminister  Warmbold  ihre  Zu- 
stimmung  gegeben  hatten,  Wenn  aber  Professor  Warmbold 
doch  ein  grundsatzlicher  Gegner  des  Flick-Projekts  gewesen 
sein  sollte  und  sogar  deshalb  demissioniert  hatte,  weil  er  mit 
seiner  Ansicht  nicht  durchdringen  konnte,  dann  kann  von 
einem  eigenmachtigen  oder  ungesetzlichen  Verhalten  des 
ReichsHnanzministers  nicht  die  Rede  sein. 

Woher  stammt  denn  das  ominose  Datum  vom  31.  Mai? 
An  diesem  Tage  ist  als  Vertragspartner  an  Stelle  der  Dresdner 
Bank  das  Bankhaus  Hardy  &  Co.  eingesetzt  worden.  Fur  die 
Beurteilung  des  ganzen  Geschalts  ist  diese  Tatsache  belanglos, 
denn  Hardy  &  Co.  ist  eine  Kommandite  der  Dresdner  Bank, 
beide  Institute  sind  durch  die  Person  des  Herrn  Andreae  eng 
miteinander  verbunden.  Aber  die  Dresdner  Bank  hat  als 
Aktiengesellschaft  eine  weitgehende  Publikationspflicht,  wah- 
rend  Hardy  als  G.  m.  b.  H.  keine  Bilanzen  zu  veroffentlichen 
braucht,  Sollte  dies  der  Grund  fur  die  Vertragsanderung  vom 
31.  Mai  gewesen  sein?  Wir  haben  ausdrucklich  festgestellt, 
daB  Dietrich  im  Rahmen  der  bisherigen  —  und  zweifellos  auch 
der  gegenwartigen  —  Regierungspolitik  korrekt  verfahren  ist; 
daB  diese  Politik  aber  die  richtige  ist,  konnen  wir  beim  besten 
Willen  nicht  behaupten,  Wir  wollen  versuchen,  die  Motive 
aufzuzeigen,  die  dem  Gelsenkirchen-Geschaft  zugruride  lagen. 
Vor  allem  spricht  man  wieder  einmal  von  der  Wahrung  na- 
tionaler  Interessen.  Es  gibt  nationale  Interessen  der  Landwirt- 
schaft,  der  Banken  und  der  Schwerindustrie;  gibt  es  eigentlich 
auch  nationale  Interessen  der  Steuerzahler,  die  doch  die  Stiitzun- 
gen  und  Subventionen  zu  finanzieren  haben?  Die  franzosische 
Schwerindustrie  stand  im  Begriff  —  so  heiBt  es  —  die  Majori- 
ty von  Gelsenkirchen  und  damit  die  Schliisselstellung  zum 
Stahlverein  in  ihre  Hand  zu  bringen.  Die  Franzosen  sollten 
bereits  ein  festes  Angebot  gemacht  haben,  als  die  Reichsregie- 
rung  von  der  ,,Oberfremdungsgefahr"  in  Kenntnis  gesetzt 
wurde.  Das  Reich  zahlt  neunzig  Prozent  fiir  das  Paket,  die 
franzosischen  Interessenten  sollen  angeblich  noch  mehr  geboten 
haben,  obwohl  der  damalige  inoffizielle  Borsenkurs  etwa  zwan- 
zig  Prozent  betrug.  Also  die  Franzosen  waren  bereit,  den 
funffachen  Borsenwert  Kir  jenes  Aktienpaket  zu  erlegen.  Merk- 
wiirdigerweise  ist  dieses  wahrlich  groBziigige  Angebot  gemacht 
worden,  ohne  daB  die  Kaufer  eine  genaue  Priifung  der  Finanz- 
verhaltnisse  bei  Gelsenkirchen  vorgenommen  haben,  ja  ohne 
daB  iiberhaupt  direkte  Verhandlungen  zwischen  den  deutschen 
und  franzosischen  Montanindustriellen  stattfanden.     Die  Faden 

978 


liefen  (iber  Holland.  Bekanntlich  hat  der  Flick-Konzern  nahe 
Verbindungen  zu  dem  amsterdamer  Bankhause  Rhodius  Koe- 
nigs,  und  auch  eine  Firma  minderen  Rufes  dtirfte  sich  urn  die 
Transaktion  bemiiht  haben.  Aber  dicsc  Hauser  verftigen  nicht 
iiber  so  innige  Beziehungen  zur  franzosischen  Schwerindustrie, 
daB  ihre  Vcrmittlung  geniigt,  urn  das  gigantische  Geschaft  zum 
AbschluB  zu  bringen.  Etwas  andrcs  ware  es,  wenn  Doktor 
Fritz  Mannheimer,  Teilhaber  der  angesehensten  und  vielleicht 
auch  kapitalstarksten  deutschen  Bank,  die  Wege  nachFrank- 
reich  ebnete.  Da  das  Haus  Mendelssohn  an  der  groBten  fran- 
zosischen  Bank,  dem  Credit  Lyonnais,  interessiert  ist,  konnte 
man  durch  diesen  Mittelsmann  viel  erreichen.  Wenn  man  also 
erklaren  laBt,  Doktor  Mannheimer  habe  das  Geschaft  ver- 
mittelt,  so  wird  man,  tatsachlich  den  Glauben  erwecken,  daB 
die  franzosische  Schwerindustrie  zur  Obernahme  des  Gelsen- 
kirchen-Pakets  bereit  war.  Diese  Berechnung  ist  klug  erdacht, 
sie  enthalt  nur  einen  kleinen  Fehler,  namlich  den,  daB  Herr 
Mannheimer  mit  der  Angelegenheit  gar  nichts  zu  tun  hatte  und 
sich  auch  durchaus  nicht  bereit  fand,  die  unrichtige  Be- 
hauptung  ohne  Widerspruch  hinzunehmen.  Obrigens  ist  auch 
den  amtlichen  franzosischen  Stellen  die  ganze  Transaktion,  die 
zweifellos  nicht  ohne  ihr  Wissen  eingeleitet  worden  ware,  voll- 
kommen  unbekannt.  Die  angeblichen  Verhandlungen  mit  den 
Franzosen,  die  dann  zu  der  Aktion  des  Reiches  fiihrten,  sollen 
im  Februar  stattgefunden  haben,  Merkwurdigerweise  hat  aber 
bereits  im  November  1931  eine  bestimmte  Gruppe  des  Stahl- 
vereins,  die  sich  auch  bei  dem  AbschluB  des  Vertrages  mit 
dem  Reich  besonders  Jiervorgetan  hat,  die  Version  verbreiten 
lassen,  daB  die  Franzosen  sich  fiir  den  Stahlverein  inter- 
essieren.  Der  Name  Mannheimer  wurde  von  dieser  Seite  schon 
damals  genannt,  Zugegeben  sei,  daB  die  imaginaren  Franzosen 
ihre  Schuldigkeit  getan  haben;  das  Ziel  war,  auf  diesemWege 
die  Regierung  zu  kodern  —  dieses  Ziel  ist  erreicht  worden.  Es 
soil  aber  noch  ein  andres  wichtiges  nationales  Interesse  auf  dem 
Spiele  stehen,  das  ohne  Eingreifen  des  Reiches  gefahrdet  sein 
wiirde.  Diese  Dinge  werden  aber  so  geheimnisvoll  behandelt, 
daB  wir  uns  bei  Erwahnung  der  „l)berfremdungsgefahr  Num- 
mer  2"  an  das  Schweigegebot  halten  nnissen. 

Neben  den  nationalen  Interessen  diirfte  fiir  das  Kabinett 
Briining  die  Lage  der  Banken  beim  AbschluB  des  Geschaftes 
ausschlaggebend  gewesen  sein.  Als  die  Besprechungen  mit  der 
Flick-Gruppe  im  Marz  dieses  Jahres  eingeleitet  wurden,  war 
grade  die  Bankensanierung  unter  Dach  und  Fach  gebracht. 
Die  Reichsregierung  hatte  es  zuletzt  sehr  eilig  gehabt.  Ein 
GroBbankleiter  berichtete  damals,  daB  man  ihm  nur  sechs 
Tage  Zeit  fiir  die  Aufstellung  seiner  Bilanz  und  die  Anmeldung 
eines  etwaigen  Hilfgesuchs  an  das  Reich  gelassen  habe. 
Es  kam  der  Regierung  darauf  an,  den  Unruheherd,  den  die  un- 
bereihigten  Banken  bildeten,  moglichst  rasch  zu  beseitigen. 
Man  war  daher  gezwungen,  etwas  summarisch  zu  verfahren. 
Man  konnte  nicht  jeden  der  groBen  Debitoren  auf  Herz  und 
Nieren  priifen.  Dabei  muBte  das  Reich,  um  die  Bankensanie- 
rung nicht  aufs  Neue  zu  gefahrden,  auch  den  Flick-Konzern 
stiitzen.     So  erklart  es  sich,  daB  ein  Teil  des  Erloses  aus  der 

979 


Gelsenkirchen-Transaktion   fur   die   Abdeckung  von  Verpflich- 
tungen  bei  der  Dresdner  Bank  Verwendung  findet, 

Ein  andrer  Teil  der  Kaufsumme  kommt  der  Gelsenkirchen 
Bergwerks  AG,  zugute,  Vollkommen  unerfindlich  ist  es,  warum 
Fliok  genotigt  ist,  einen  Teil  seines  Erloses  dem  Unternehmen 
zu  liberlassen,  von  dem  er  sich  grade  infolge  dieser  Trans- 
aktion  trennt.  Es  gibt  hierfiir  nur  eine  Erklarung,  daB  namlich 
Flick  auch  an  Gelsenkirchen  verschuldet  ist  und  seine  dortigen 
Verpflichtungen  nunmehr  abdecken  soil.  Der  Flick-Konzern, 
der  seinen  verhaltnismaBig  gesunden  Unterbau  wahrend  der 
Inflationszeit  erhielt,  ist  in  den  letzten  Jahren  zu  schwindelnder 
Hohe  aufgestiegen,  Er  mufite  zu  diesem  Zwecke  Verpflich- 
tungen eingehen  bei  Banken,  auslandischen  Gesellschaften  und 
anscheinend  auch  bei  den  Industriegesellschaften,  die  er  kon- 
trollierte.  Wo  aber  sind  eigentlich  jene  Verbindlichkeiten,  die 
ihm  den  Konzernaufbau  ermoglichten,  verbucht?  Die  Char- 
lottenhiitte  wies  in  ihrer  Bilanz  1930  (1931  liegt  noch  nicht  vor) 
nur  17,4  Millionen  Mark  langfristige  Verpflichtungen  aus;  auch 
die  Bilanzen  der  Mitteldeutschen  Stahhverke  und  der  Maxi- 
milianshutte,  die  zum  engern  Konzern  der  Charlottenhiitte 
gehoren,  lassen  keine  weitern  Aufschliisse  zu.  Es  kann  also 
keinem  Zweifel  unterliegen,  daB  jene  groBen  Verpflichtungen, 
die  heute  die  Reorganisation  des  Konzerns  und  das  Eingreifen 
des  Reiches  erforderlich  machen,  bei  irgend  einer  Finanzie- 
rungsgesellschaft  liegen,  von  deren  Existenz  man  allenfalls  eine 
dunkle  Vorstellung  hat,  ohne  auch  nur  die  geringsten  Anhalts- 
punkte  fiir  die  Geschaftsfiihrung  zu  besitzen. 


Vor  sieben  Monaten  haben  wir  uns  bereits  bemuht,  die 
,,Risse  im  Stahlverein'1  aufzuzeigen,  von  denen  jetzt  die  ge- 
samte  Offentlichkeit  sprichi  Wir  kniipften  an  unsre  Analyse 
die  Bemerkung: 

In  dieser  Situation  hat  das  Reich  das  Recht  und  die  Pflicht,  ein- 
zugreifen  und  nicht  erst  abzuwarten,  bis  es  urn  finanzielle  Hilfe  an- 
gegangen  wird.  Wenn  die  gegenwartigen  Machthaber  des  Stahlvereins 
nicht  mehr  in  der  Lage  sein  sollten,  die  Kapazitat  bis  zu  den  pro- 
duktions-  und,  absatztechnisch  bedingten  Grenzen  durchzufiihren,  dann 
muB  noch  vor  einer  etwaigen  MSozialisierung  der  Verluste"  das  Reich 
iiber  jene  fiir  Deutschlands  Wirtschaft  unentbehrlichen  Betriebe  selbst 
die  Kontrolle  ausiiben. 

GewiB,  das  Reich  besitzt  jetzt  die  Kontrolle  uber  einen 
groBen  Teil  der  Montanindustrie  —  aber  der  Preis,  der  hierfiir 
bezahlt  wird,  ist  teurer,  als  dies  durch  den  Kurs  des  Gelsen- 
kirchen-Pakets  zum  Ausdruck  kommt.  Die  unvollendete  Ban- 
kensanierung  zwingt  das  Reich  zur  Stiitzung  der  groBen  Bank- 
schuldner,  das  Geschaft  mit  dem  Flick-Konzern  verpflichtet 
die  Regierung,  fiir  die  Konsolidierung  der  gesamten  Montan- 
industrie Sorge  zu  tragen.  So  ist  das  deutsche  Volk  heute  auf 
Gedeih  und  Verderb  verbunden  —  nicht  nur  mit  der  Wirt- 
schaft, sondern  auch  mit  den  GroBaktionaren,  denen  das  Reich 
eine  kostenlose  Ruckversicherung  bietet. 

980 


Wochenschau  des  Riickschritts 

— ;  Reichskanzler  von  Papen  sagte  von  Lausanne  aus  zu  alien 
deutschen  Rundfunkhorern,  es  sei  unmoglich,  in  dieser  Zeit  Deutsch- 
land  zu  fiihren  und  dabei  Bewegungen  gegeniiber  fremd  zu  bleiben, 
die  instinktmaBig  und  willerismaBig  den  Lebenswillen  Deutschlands 
verkorpern. 

—  Der  nationalsozialistische  Oberst  Hierl  sprach  im  Rundfunk 
auf  der  Deutschen  Welle  fur  die  Einfiihrung  der  Arbeitsdienstpflicht, 
Zu  gleicher  Zeit  wird  bekannt,  daB  er  vom  Reichsarbeitsministerium 
als  Reichskommissar  fiir  den  Arbeitsdienst  in  Aussicht  genommen  ist, 
Ein  Rundfunkvortrag  des  sozialistischen  Nationalokonomen  Professor 
August  Miiller  iiber  das  Flick-Geschaft  wurde  im  letzten  Augenblick 
verboten, 

—  Im  Reichsinnenministerium  wurden  die  republikanischen  Be- 
amten  Bredow,  Haentzschel  und  Menzel  aus  ihren  -leitenden  Stellun- 
gen  entfernt,  um  reaktionar  gesinnten  Platz  zu  machen, 

—  Wilhelm  II.  verhandelt  mit  den  Nationalsozialisten  iiber  seine 
Riickkehr  nach  Deutschland.  Der  Kaufpreis  soil  dreihunderttausend 
Mark  und  die  Abgabe  einiger  Schlosser  als  Erholungsstatten  fur  die 
SA.  betragen. 

—  Nach  der  letzten  Goebbels-Versammlung  im  berliner  Sport- 
palast  marschierten  geschlossene  Nazitrupps  bis  weit  in  die  Bannmeile 
hinein.  Ein  vom  Publikum  darauf  hingewiesener  Polizeioffizier  nahm 
keine  Notiz  davon. 

—  Infolge  der  ttberfalle  nationalsozialistischer  Studenten  auf 
kommunistische  und  sozialdemokratische  Studenten  muBte  die  Uni- 
ver'sitat   in  Frankfurt  a.   M,   zeitweise  geschlossen  werden. 

—  Die  Angeklagten  im  Peykar-Prozefi,  der  wegen  angeblicher  Be- 
leidigung  des  Perserschahs  gefiihrt  wird,  haben  die  Vorladung  zur  Be- 
rufungsverhandlung  erhalten,  obwohl  der  Richter  der  ersten  Instanz 
die  Hoffnung  ausgesprochen  hat,  daB  dieser  Unfug  nun  endgiiltig  er- 
ledigt  sein  werde. 

—  Das  Schoffengericht  Schoneberg  verurteilte  drei  wegen  un- 
befugten  Waffenbesitzes  angeklagte  Nazis  nur  wegen  „Obertretung  der 
Bestimmungen  iiber  die  Ablieferung  von  Waff  en"  zu  Geldstrafen  von 
funfzehn  bis  fiinfundfunfzig  Mark,  da  es  den  Angaben  der  Beschul- 
digten  Glauben  schenkte,  sie  hatten  die  Waffen  nur  aus  Sammler- 
ehrgeiz  zusammengetragen. 

—  Der  Oberprasident  der  Provinz  Brandenburg  hat  Zarnows  „Ge- 
fesselte  Justiz"  und  R.  Hoffmanns  „Der  Fall  Horsing-Haas"  frei- 
gegeben.  Die  Oberschrift  zu  dieser  Meldung  lautete  im  .Angriff:  „Es 
tagt  in  PreuBen".  Ebenso  ist  das  polizeilich  verbotene  „Kochbuch  fiir 
Giftgase"  von  Doktor  Hugo  Stoltzenberg  durch  Urteil  des  hamburger 
Gerichts    freigegeben   worden, 

—  Der  Biograph-Film  hat  Albert  Bassermann  fiir  die  Rolle  des 
Bliicher    in    „Marschall   Vorwarts"    verpfiichtet.      Die     Emelka     plant 

'einen  Film  mit  dem  Titel  ,,1870".  Der  erste  Hitlerfilm,  650  Meter 
lang,  ist  fertiggestellt  und  von  der  Zensur  auch  fiir  Jugendliche  von 
14  Jahren  an  auf  warts  freigegeben  worden. 

* 

Wochenschau  des  Fortschritts 

—  In  New  York  haben  die  sozialistischen  Arbeiterorganisationen 
eine  Rundfunkgesellschaft  gegriindet,  Ihr  neuer  25-Kilowattsender 
bringt  fast  ausschlieBlich  sozialistische  Sendungen  und  raumt  auch 
den  Negerarbeitern  regelmaflig  Vortragsstunden  ein. 

981 


Bemerkungen 


Bravo,  Pragl 

Mein,  die  Kulturqualitaten  eines 
*■  '  Volkes  stehen  in  gar  keinem 
Verhaltnis  zu  seiner  Grofie  und 
,seinen  sogenannten  historischen 
Taten  und  noch  weniger  zu  dem 
Aufwand  an  Reklame,  mit  dem  es 
die  Welt  glauben  machen  will, 
dafi  sie  nur  an  seinem  Wesen  ge- 
nesen  konne,  Aus  der  stillen 
Tschechoslowakei  kommt  die 
Nachricht,  dafi  ihre  Regierung  es 
unternommen  hat,  den  Abtrei- 
bungsparagraphen  mit  der  Hu- 
manitat  in  Einklang  zu  bringen. 
Der  Gesetzentwurf,  den  sie  ihrem 
Parlament  vorgelegt  hat,  erkennt 
uneingeschrankt  die  soziale  und 
die  eugenische  Indikation  als 
strafausschliefiend  an,  gleichzeitig 
setzt  er  aber  auch  fur  die  Falle, 
wo  die  Abtreibung  nach  wie  vor 
verboten  bleibt,  das  Strafmafi 
stark  herab.  Und  der  tschechische 
Justizminister  hat  auch  nicht  ver- 
gessen,  in  den  Entwurf  jenen 
Punkt  aufzunehmen,  durch  den 
das  schone  Gesetz  fur  diejenigen, 
die  es  in  erster  Linie  angehen 
soil,  fur  die  Armen  erst  prak- 
tischen  Wert  bekommt:  Wer  die 
Operation  nicht  bezahlen  kann, 
hat  ein  Recht,  sie  vom  Staat  um- 
sonst  zu  fordern! 

Der  entscheidende  Punkt  2  des 
in  seiner  Unzweideutigkeit,  Klar- 
heit  und  Gemeinverstandlichkeit 
klassischen  Entwurfes  lautet: 
„Nicht  strafbar  ist  die  Abtrei- 
bung, wenn  sie  mit  Einwilligung 
der  Schwangeren  von  einem  Arzt 
vorgenommen  wird  und  wenn  sie 
erfolgt  a)  um  von  der  Schwange- 
ren die  Gefahr  des  Todes  oder 
einer  schweren  Gesundheitsscha- 
digung  fernzuhalten;  b)  wenn  es 
sich  um  ein  Madchen  unter 
16  Jahren  handelt,  das  unter  An- 
wendung  von  Gewalt  befruchtet 
wurde;  c)  wenn  es  unzweifelhaft 
feststeht,  dafi  das  Kind  geistig 
oder  korperlich  schwer  belastet 
ware;  d)  wenn  die  Schwangere 
die  Leibesfrucht  nicht  austragen 
oder  nach  der  Geburt  die  Ernah- 
rungspflicht  gegeniiber  dem  Kinde 
nicht  erfullen  kann  ohne  Be- 
drohung  der  eignen  Existenz  oder 

982 


der  Existenz .  einer  Person,  die  sie 
nach  dem  Gesetz  zu  ernahren  hat 
und  ihr  ebenso  nahesteht  wie  das 
Kind." 

Punkt  3  lautet:  „Vermogenslose 
Schwangere  haben  einen  An- 
spruch  darauf,  dafi  in  den  im 
Punkt  2  angeftihrten  Fallen  die 
Fruchtabtreibung  an  ihnen  in 
einer  offentlichen  Heilanstalt  un- 
entgeltlich  oder  gegen  Ersatz 
eines  Teiles  der  Kosten  vorgenom- 
men werde," 

Wohlgemerkt:  Es  wird  der  An- 
spruch  der  armen  Schwangeren 
auf  die  kostenlose  Ausfiihrung  der 
Abtreibung  festgelegt,  so  als  ob 
es  sich  um  irgend  eine  Krankheit 
handelte,  die  eine  Operation  er- 
fordert,  Eine,  wie  man  in 
Deutschland  so  schon  sagt,  Mufi- 
Vorschrift,  und  nicht  eine  von 
der  Willkiir  irgend j  emandes  ab- 
hangige  Kann-Vorschrift.  Die 
Schwangere  mufi  sich  nicht  erst 
das  Geld  zusammenbetteln,  mufi 
nicht  jemand  suchen,  der  es 
„billig"  macht,  mufi  nicht  erst 
Monate  voll  Kummer  und  Angst 
vorubergehen  lassen.   ' 

Bravo,  Prag! 

Verboten  und  strafbar  bleibt 
weiter  jede  Abtreibung,  fur  die 
keiner  der  in  Punkt  2  aufgezahl- 
ten  Umstande  vorliegt.  Die  Strafe 
wurde  aber  fur  die  Schwangere 
selbst  auf  strengen  Arrest  von 
einem  bis  sechs  Monaten  und  fur 
denjenigen,  der  sie  durchgefiihrt 
oder  Beihilfe  geleistet  hat,  auf 
Kerker  von  sechs  bis  zwolf  Mo- 
naten herabgesetzt.  Auf  gewerbs- 
mafiige  Abtreiberei  stent  eine 
Strafe  von  einem  bis  zu  funf  Jah- 
ren  schweren  Kerkers. 

Das  Gesetz  wird  im  Parlament 
voraussichtlich  ohne  wesentliche 
Anderung  durchgehen.;  Es  kann 
auch  den  Kommunisten  radikal 
genug  sein.  Wichtig  wird  noch 
sein,  wie  die  Durchfuhrungsver- 
ordnung  im  einzelnen  die  Fest- 
stellung  der  .  sozialen  und  der 
eugenischen  Notwendigkeit  des 
Eingriffes  regelt<  Aber  man  darf 
annehmen,  dafi  der  Minister,  der 
den  Gesetzentwurf  spontan,  ohne 
besondern  Druck   von  unten,   vor 


das  Parlament  gebracht  hat,  fur 
die  siringemaBe  Durchfuhrung  des. 
Gesetzes  sorgen  wird.  Auch  auf 
den  humanen  und  forts  chritt  lichen 
Geist  der  Arzteschaft  in  der 
Tschechoslowakei  kann  man  sich 
verlassen. 

Der  Gesetzentwurf  ist  eine  so- 
ziale  Tat,  aber  er  ist  auch  ein 
Ausdruck  der  pazifistischen  Ge- 
sinnung  des  tschechischen  Volkes. 
Dafi  das  Yolk  moglichst  viel  Kin- 
der zeuge  und  daft  die,  die  ein- 
mal  gezeugt  sind,  auch  ausgetra- 
gen  und  zur  Welt  gebracht  wer- 
den, war  immer  eine  gemeinsame 
Forderung  des  Kapitalismus,  der 
Kirche  und  der  Generalitat.  Im 
alten  Oesterreich  sagte  man,  wenn 
erne  Frau  die  Geburt  eines  Soh- 
nes  anzeigte:  Ja,  der  Kaiser 
braucht  Soldaten  . . .  Den  Kaiser 
hat  seither  der  brave  Soldat 
Schwejk  abgesetzt,  griindlich  ab- 
gesetzt.  In  Schwej  ks  Republik 
aber  sollen  Kinder  nur  zum  Le- 
ben  und  nicht  fur  den  Schiitzen- 
graben  zur  Welt  gebracht  werden. 
Bruno  Heilig 

Ein  sozialistfsches 
Aktionsprogramm 

A  uf  dem  deutschen  Arbeits- 
**■  markt  sieht  es  ganz  katastro- 
phal  aus.  Vom  1.  bis  15.  Juni 
hat  die  Zahl  der  Arbeitslosen  nur 
noch  um  14  000  abgenommen, 
wahrend  die  Abnahme  in  der 
gleichen  Zeit  des  Vorjahres  noch 
etwa  50  000  betrug.  Von  Mitte 
Marz   bis  Mitte   Juni  stellte  sich 


die  Abnahme  in  diesem  Jahre 
auf  565  000  gegeniiber  922  000  im 
vergangenen  Jahre,  und  so  ist 
heute  schon  die  Arbeitslosigkeit 
um  mehr  als  1,5  Million  hoher  als 
1931.  Auch  international  ver- 
scharft  sich  die  Lage  auf  den  Ar- 
beitsmarkten  standig;  das  zeigen 
die  Nachrichten  aus  den  Vereinig- 
ten  Staaten,  aus  Frankreich  und 
Italien.  Die  Unfahigkeit  des  JCapi- 
talismus,  die  in  der  Industrie  zu- 
sammengeballten  Menscheninas- 
sen  auch  nur  zu  ernahren,  zeigt 
sich  in  dieser  Krise  mit  aller 
Deutlichkeit.  So  ist  es  klar,  dafi 
der  Ruf  nicht  nur  nach  Reform 
sondern  nach  einer  Umgestaltung 
der  kapitalistischen  Produktions- 
weise  immer  dringender  wird. 

Der  .Vorwarts'  veroffentlicht 
ein  Rettungsprogramm  der  Ge- 
werkschaften  unter  dem  Titel: 
„Umbau  der  Wirtschaft'Y  In  die- 
sem Programm  soil  nicht  nur  ver- 
sucht  werden,  Mafinahmen  zur 
Linderung  der  heutigen  Krise  zu 
treffen,  sondern  es  sollen  damit 
gleichzeitig  die  Voraussetzungen 
fur  den  Umbau  der  kapitalisti- 
schen Produktionsweise  uber- 
haupt  geschaffen  werden.  Daher 
fordert  das  Programm  unter 
anderm  neben  der  Starkung  der 
Massenkaufkraft,  neben  der  Ver- 
kurzung  der  Arbeitszeit,  neben 
der  Erweiterung  der  offentlichen 
Arbeiten  grade  in  der  Krise  die 
Verstaatlichung  der  Schliissel- 
industrien,  also  des  Bergbaus,  der 


Verschenken  Sie  immer  wieder: 

JCurt  fJuclvotsku 

%fifdofs  QripsMrti 

Sim  Q^mmcrd^lcnicnte 

50.TAUSEND  •  KAKTON.  2.50  •  LEINENBD.  3M> 

ROWOHLT  VERLAG  •  BERUNW50 


Eisenindustrie,  der  chemischen 
und  der  Elektrizitatswirtschaft, 

Wenn  man  das  ,Vorwarts'-Pro- 
gramm  naher  analysiert,  so  hat  es 
in  v?  slen  Punkten  eine  starke 
Ahnlichkeit  mit  den  Sozialisie- 
rungsprojekten,  die  im  unmittel- 
baren  AnschluB  an  die  Novem- 
ber-Revolution von  1918  auftauch- 
ten.  Damals  soil  —  se  non  e  vero, 
e  ben  trovato  —  ein  Telephon- 
gesprach  zwischen  Hilferding  und 
Rosa  Luxemburg  stattgefunden 
haben.  Hilferding  fragte  Rosa 
Luxemburg,  ob  sie  sich  an  den 
Debatten  der  SozialisierungskOm- 
mission  beteiligen  wolle.  Rosa 
Luxemburg  erwiderte:  „Jawohl, 
aber  erst  nach  der  Revolution/' 

Das  Sozialisierungsprogramm 
des  ,Vorwarts*  ist  gut  und  schon. 
Aber  wie  soil  es  durchgefuhrt 
werden?  Wie  soil  es  durchge- 
fiihrt  werden  in  einer  Zeit,  wo  die 
Konterrevolution  im  Vormarsch 
ist,  in  der  gleichen  Zeit,  wo  die 
,  Sozialdemokratie  und  die  Spitzen- 
fuhrung  der  Gewerkschaften  noch 
vor  kurzem  die  Notverordnung 
Brtinings  tolerierten,  weil  sie  die 
Krafte  der  Arbeiterklasse  fur  zu 
gering  hielten,  als  daB  sie  erfolg- 
reich  hatte  Sturm  laufen  konnen 
gegen  diese  Notverordnung,  Das 
Sozialisierungsprogramm  des  ,Vor~ 
warts'  ist  also  kein  Programm, 
das  direkt  verwirklicht  werden 
kann  —  und  es  ist  wahrscheinlich 
auch  von  seinen  Urhebern  nicht 
einmal  als  solches  aufgefafit  wor- 
den  —  sondern  es  sollte  wohl 
vielmehr  zeigen,  was  fur  weitere 
Ziele  die  Sozialdemokratie  und 
die  Spitzenfuhrung  der  Gewerk- 
schaften haben. 

Aber:  um  sich  auch  fur  eine 
spatere  Zeit  derartige  Ziele]  zu 
setzen,  mufi  die  Aktionskraft  der 
Arbeiterschaft  wiederhergestellt 
werden,  miissen  daher  Forderun- 
gen  aufgestellt  werden,  die  schon 
jetzt,  die  heute  verwirklicht  wer- 
den konnen;  Forderungen,  fiir  die 
die  Arbeiter  bereit  sind  zu 
kampfen. 

Das  Programm  hat  solche 
Forderungen,  wie  zum  Bei- 
spicl  die  Arbeitszeitverkiirzung. 
Aber  es  vermag  doch  an  diesem 
Punkte  nicht  zu  befriedigen. 
Warum?     Wenn   von   der  Papen- 

984 


regierung  die  Sozialpolitik  in 
solch  riesenhaftem  Umfange  abge- 
baut  wird,  wenn  von  dem  Mo- 
nopolkapital  die  gesetzlichej  Ver- 
kiirzung  der  Arbeitszeit  strikt  ab- 
gelehnt  wird,  so  wird  dies  fast 
immer  mit  der  ungeheuren  Fi- 
nanzmisere  begrundet.  In  der 
gleichen  Zeit  werden  hundert  und 
immer  neue  hundert  Millionen  fiir 
die  bankrotten  Junkerbetriebe  im 
Osten  aufgewandt,  Notwendig 
ware  es  fiir  ein  sozialistisches 
Aktionsprogramm,  auf  der  einen 
Seite  zu  zeigen,  daB  selbst  in  die- 
ser  Krise  Milliarden  vorhanden 
sind,  um  Betriebe,  die  sogar  nach 
kapitalistischeh  Gesichtspunkten 
faul  und  krank  sind,  weiter  zu 
erhalten.  Ein  sozialistisches  Ak- 
tionsprogramm muB  verlangen, 
daB  diese  Milliarden  dazu  benutzt 
werden,  um  die  Sozialpolitik,  vor 
allem  die  Arbeitslosenversiche- 
rung,  in  der  bisherigen  Hohe  wei- 
ter zu  erhalten,  um  die;  Arbeits- 
zeit bei  gleichem  Lohn  gesetzlich 
zu  verkiirzen  und  auf  diese  Weise 
eine  betrachtliche  Zahl  von  Ar- 
beitslosen  wieder  in  die  Betriebe 
zu  bringen.  Ein  derartiges  Pro- 
gramm wurde  den  groBen  Massen 
Ziele  zeigen,  fiir  die  sie  schon 
heute  bereit  sind  zu  kampfen,  Ein 
solches  Programm  wtirde  die  Ak- 
tionskraft der  Arbeiterparteien 
auch  insoweit  steigern,  als  es 
ihnen  helfen  witrde,  die  Nazis 
weit  mehr  als  bisher  zu  ent- 
larven.  Denn  die  muBten  sich  ja 
bei  ihrer  engen  Verbundenheit 
mit  der  heutigen  Regierung  fiir 
alle  Subventions  plane  gegen  die 
Verkiirzung  der  Arbeitszeit,  gegen 
die  Erhaltung  der  Sozialpolitik  er- 
klaren, 

Ein  Sozialisierungsprogramm  al- 
lein,  eine  wenn  auch  detaillierte 
Forderung  nach  dem  Umbau  der 
Wirtschaft  allein,  das  gentigt 
heute  nicht.  Fur  die  Sozialisie- 
rung  sind  die  breiten  Massen 
heute  noch  ebenso  wenig  in  den 
Kampf  zu  fiihren  wie  beispiels- 
weise  fur  die '  Diktatur  des  Pro- 
letariats, 

Aber:  sie  sind  in  den  Kampf  zu 
fuhren  fiir  ein  sozialistisches  Ak- 
tionsprogramm, das  ihnen  an  ganz 
konkreten  Dingen  zeigt,  wie  Hun- 
derte    von  Millionen,     die    ihnen 


helfen,  die  die  Not  der  Arbeits- 
losen  milderu,  Hunderttausende 
wieder  in  die  Production  einfiih- 
ren  konnten,  wie  diese  Hunderte 
von  Millionen  zur  Rettung  bank- 
rotter  kapitalistischer  Unterneh- 
mungen  verwandt  werden.  Und 
wenn  man  fur  ein  solches  sozia- 
Iistisches  Aktionsprogramm  erst 
einmal  die  Massen  in  den  Kampf 
gefiihrt  hat,  dann  werden  wesent- 
liche  Voraussetzungen  geschaffen 
sein,  daB  sie  nicht  stehen  bleiben 
sondern  weiter  kampfen  fiir  die 
Sozialisierung,  fiir  den  Umbau  der 
Wirtschaft,  den  die  freien  Ge- 
werkschaften  in  ihrem  Programm 
verlangen. 

Thomas  Tarn 


Exakter  Nachweis 

piner  englischen  Gruppe  von 
*-*  Aufklarern,  unter  wissen- 
schaftlicher  Fiihrung,  ist  es  ge- 
gliickt,  im  Versuchswege  den 
Nachweis  zu  erbringen,  dafi  es 
nicht,  wie  Zauberer  und  Aber- 
glaubige  noch  immer  behaupten, 
moglich  sei,  aus  einem  Ziegenbock 
einen  Jiingling  zu  machen.  Das 
iiberzeugende  Experiment  fand, 
unter  Beobachtung  aller  von  der 
Magie  vorgeschriebenen  Riten,  auf 
dem  Brocken  statt.  Sein  MiB- 
lingen  gelang.  Der  Ziegenbock, 
obschon  ihm  als  gezwungenem 
Teilnehmer  an  solchem  Versuch 
dies  niemand  hatteJ  verargen 
konnen,  fuhr  nicht  aus  seiner 
Haut.  Hoffentlich  sehen  wir  den 
Vorgang  in  der  Wochenschau. 

Leute,  die  auf  dem  Brocken  da- 
bei  waren  und  genau  zugeschaut 
haben,  wie  der  Bock  sicb  nicht 
verwandelte,  erzahlen,  es  sei  den 


Experimentatoren  doch  ein  wenig 
schwummerig  bei  der  Sache  ge- 
wesen,  sie  hatten  im  entscheiden- 
den  Augenblick  einige  nervose 
Furcht  verraten,  daB  das  unwis- 
sende  Tier  sich  am  Ende  doch  der 
Vernunft  widerspenstig  und  der 
Magie  spenstig  zeigen  konnte, 
und  erleichtert  aufgeatmet,  als  ihr 
Zutrauen  in  die  Naturgesetze,  per 
negationem,  recht  behielt. 

Immerhin  eroffnet  das  Brocken- 
Experiment  den  realistisch  ein- 
gestellten  Wissenschaftlern  ein 
neues,  weites  Feld.  Eine  Fiille 
lohnender  Aufgaben  winkt  ihnen, 
wenn  sie  sich  nicht  mehr  nur  mit 
dem,  was  ist,  sondern  auch  mit 
dem,  was  nicht  ist,  beschaftigen 
und  dafiir,  dafi  es  nicht  ist,  auf 
dem  Versuchswege  die  Beweise 
erbringen  werden.  Die  kuhnste 
Phantasie  kann  den  Umfang  des 
Gebiets^  das  sich  da  der  Experi- 
mentier-Lust  erschliefit,  nicht  vor- 
stellen,  denn  wenn  schon  die  Zahl 
der  Richtigkeiten,  die  sich  bewei- 
sen  lassen,  unendlich  ist,  um  wie- 
viel  unendlicher,  sozusagen,  ist 
erst  die  der  Unrichtigkeiten,  die 
sich  als  solche  auch  beweisen 
lassen,  in  welcher  erdriickenden 
Majoritat  befindet  sich  das,  was 
nicht  zutrifft,  gegenuber  dem,  was 
zutrifft.  Zwei  und  zwei  macht 
vier;  schon . . .  aber  was  ist  das 
gegen  die  grenzenlose  Mannigfal- 
tigkeit  dessen,  was  zwei  und  zwei 
alles  nicht  macht?! 

In  diesem  Zusammenhang 
mochte  ich  die  interessanten  Ver- 
suche  erwahnen, '  die  angestellt 
werden,  um  gewisse  Sprichworter 
auf  ihre  Stichhaltigkeit  hin  zu 
iiberpriifen.  So  gelang  es  kiirzlich 
einem  Forscher,  durch  fortge- 
setzte  genaue  Beobachtung  zweier 


Sollen  wir  wieder  einmal  der  Nachwelt  das  beschamende  Schau- 
spiel  bieten,  in  unserer  Gegenwart  nicht  erkannt  zu  haben, 
dafi  Worte  unter  uns  gesprochen  wurden,  die  unsere  Nachkommen 
als  heiligstes  Besitztum  verehren  werden!?  —  Soil  erst  „Lite- 
ratur"  werden,  was  uns  heute  als  ursprungliche  Verkfindung  er- 
reicht?  —  Wer  das  nicht  will,  der  ist  vor  sich  selbst  verpflichtet, 
die  B6  Yin  R&-Bucher  kennen  zu  lernen.  B6  Yin  Ra,  J.  Schneider- 
tranken,  gibt  in  diesen  BiJchern  Aufschlusse  und  Lehren,  die 
kein  Anderer  unter  uns  vermiiteln  kbnnte,  weil  kein  Anderer 
auch  nur  entfernt  iiber  ahnliche  Erfahrungen  verfflgt  Spatere 
Geschlechter  werden  die  Zeit  beneiden,  an  die  zuerst  dieser  Ruf 
erging.  Sein  neuestes  Buch  hat  den  Titel  „Der  Weg  meiner 
Schaier".  Es  ist  in  jeder  guten  Buchhandlung  erhaltlich.  Preis 
gebunde^n  RM;6.— .  Kober'sche  Verlagsbuchhandlung  (gegr.  1816) 
Basel-Leipzig. 


985 


Krahen,  auf  empirischem  Wege 
ganz  einwandfrei  festzustellen, 
dafi)  eine  Krahe  der  andern  nicht 
die  Augen  aushackt. 

Was  tibrigens  die  Verwandlung 
eines  Ziegenbocks  in  einen  Jung- 
ling  betrifft,  so  ware  zu  bemerken, 
dafi  dieser  Versuch,  umgekehrt 
gemacht,  sehr  oft  gliickt,  Ich 
selbst  war  schon  wiederholt 
Zeuge,  wie  ein  Jiingling  sich  in 
einen  Ziegenbock  verwandelte,  Es 
bedurfte  hierbei  als  Hilfsperson, 
zum  Gelingen  des  Experiments, 
nicht  einmal  einer  reinen  Jung- 
frau, 

Alfred   Polgar 

Sfifl  ists  und  ehrenvoll  •  .  . 
J7  inige  Tage  vor  Aufhebung  des 
*-*  SA-Verbots  konnten  es  ein 
paar  forscbe  Jungmannen  nicht 
mehr  aushalten  und  inszenierten 
im  Grunewald  einen  kleinen  Vor- 
und  Privatpogrom,  Die  Opfer 
waren  zwei  Herren,  die  beim  Ver- 
lassen  des  Restaurants  Wald- 
park  unter  dem  rhythmisch  vor- 
getragenen  Leitgesang  „Schlagt 
die  Juden  tot!"  teils  mit  Fausten, 
teils  mit  Fahrradern  verpriigelt 
und  verletzt  wurden.  Die  Frau 
des  einen  Uberfallenen  alarmierte 
die  Polizei,  die  denn  auch  den 
einen  der  Helden  festnehmen 
konnte ;  das  zweite  Braunhemd 
entfleuchte.  Kaum  jedoch  fest- 
gestellt,  ward  der  Tapfere  wieder 
entlassen:  beide  Opfer  hatten  „an 
einer  Strafverfolgung    kein    Inter- 


Von  recht  prominent  en  j  iidi- 
schen  Mannern  konnte  man  am 
nachsten  Tag  die  Meinung  auBern 
horen,  die  zwei  MiBhandelten 
hatten  ganz  recht  daran  getan; 
sie,  die  Prominenten,  hatten  im 
gleichen  Fall  ebenso  gehandelt. 
Immer  stieke.  Oder,  wie  dieklas- 
sische  Oper  es  ausdruckt:  Leise, 
leise,  kein  Geschrei.  Lieber  ein 
biBchen  verpriigelt,  als  beim  of fi- 
ziellen  ersten  Pogrom  aufgehangt 
werden,  Wenn  man  Jetzt  auf 
Rechtsmittel  verzichtet,  wird  sich 
doch  gewiB  der  Pogromleiter 
dankbar  erinnern.  Die  Waren- 
hauser  sollen  es  ja  so  ahnlich 
machen,  Wenn  wir  die  Nasen  in 
den  Sand  stecken,  merken  es  die 
Nazis  bestimmt  nicht,  daB  wir  Ju- 

986 


den  sind  . ,  /  So  und  ahnlich  die 
Gedankengange  der  judischenLe- 
serschaft.     Sie  sind  falsch, 

Aber :  es  sind  mitnichten  die 
Gedanken  der  Opfer.  Die  sind 
namlich  leider  gar  keine  Juden. 
Der  Eine,  Tierarzt  Doktor  Hau- 
kold,  ist  evangelisch,  der  Andre, 
Kaufmann  Risch,  ist  katholisch. 
Taufen  lassen  kann  sich  jeder, 
aber  die  Namen  —  Namensande- 
rung  ist  kostspielig  und  kommt 
erst  in  hohern  Kreisen  vor  —  die 
Namen  sind  unverdachtig  und  be- 
weiskraftig.  Vielleicht  ist  der  An- 
greifer  ein  Jude  —  er  heifit 
Bohm. 

Die  Aussichten,  die  dieser 
kleine  Vorfall  eroffnet,  sind 
erquickend  heiter.  Das  rassi- 
scheiUnterscheidungsvermogen  der 
Nordlinge  geht  ja  im  Allgemeinen 
nicht  iiber  den  augenfalligen  Un- 
terschied  WeiBer  oder  Neger  her- 
aus.  Die  gelbe  Rasse  verursacht 
bereits  Schwierigkeiten,  Juden  sei 
die  Zulegung  einer  siidromani- 
schen  oder  balkanischen  Sprache 
und  moglichst  dito  Passes  an- 
empfohlen,  Fiir  den  SA-Mann 
ist  das  alles  eins-  Leider  muB  er 
die  Auslander  ja  schonen,  um  die 
neuerdings  entdeckten  internatio- 
nalen  Belange  des  Dritten  Reiches 
nicht  zu  storen,  Es  diirfte  sich 
die  Anlegung  eines  deutlich  sicht- 
bar  zu  tragenden  Auslander- 
Schutzzeichens  empfehlen.  Sozu- 
sagen  ein  positiver  Gelber  Fleck. 

Was  aber  geschieht  mit  den 
iiberzeugungstreuen  Nationalsozia- 
listen,  die  Wotan  mit  dem  Fluch 
eines  keltischen  Types  geschla- 
gen  hat  und  die  ohne  den  Schutz 
der  Exterritoriality  dem  heiligen 
Zorn  der  blonden  Bestien  preis- 
gegeben  sind?  Nun,  das  Beispiel 
der  Herren  Haukold  und  Risch 
hat  es  gezeigt.  Bis  das  neue  Stahl- 
bad  ausbricht,  diirfen  sie  und  alle 
ihresgleichen  fur  sich  den  Ruhm 
des  stillen  Heldentums  in  An- 
spruch  nehmen.  Ftir  seine  tJber- 
zeugung  blutet  man  gerne,  und 
auch  der  kleinste  Martyrer  darf 
eines  wohlgefalligen  Blickes  aus 
blauem  — :  Verzeihung,  braunem  — 
Fiihrerauge  gewiB  sein.  SuB  ists 
und  ehrenhaft,  fur  Hitler  verprii- 
gelt zu  werden! 

Hans  Glenk 


Ein  nuchterner  Beurteiler 
P\er  Gedanke,  dafi  irgendwo, 
*^  wenn  es  auch  im  Fernen 
Osten  geschieht,  Tausende  und 
Abertausende  junge  Menschen 
wieder  ihr  Leben  lassen  oder  zu 
Kriippeln  werden  mussen,  ist  fur 
j  eden         Kulturmenschen  ein 

GreueL  Dies  vorausgeschickt, 
mussen  wir  aber  niichtern  fest- 
stellen,  daB  wir  Oesterreicher 
vollig  aufierstande  sind,  den 
Krieg  zwischen  Rufiland  und  Ja- 
pan   irgendwie    zu    verhindern  . . . 

Fur  den  niichternen  Beurteiler 
der  Lage  drangt  sich  aber  die 
Frage  auf,  ob  nicht  Oesterreich, 
zumal  es  ganz  aufierstande  ist, 
einen  Krieg  zu  verhindern,  nicht 
die  Gelegenheit  ergreifen  sollte, 
seiner  Wirtschaft  und  seinen 
Arbeitslosen  Rettung  zu  bringen. 
Japan  ist  zweifellos  in  der  Lage, 
sich  von  Frankreich,  England, 
von  den  Vereinigten  Staaten,  von 
Deutschland,  von  Italien  das 
notige  Kriegsmaterial,  Waffen 
aller  Art,  Kanonen,  Maschinen- 
gewehre,  Munition  und  Flugzeuge 
zu  verschaffen  . .  , 

Was  den  moralischen  Stand- 
punkt  aber  anbelangt,  so  ist  es, 
trotz  der  pazifistischen  Grund- 
stimmung  unserer  Bevolkerung, 
sicherlich  ein  verdienstvolles 
Werk  Oesterreichs,  mitzuhelfen, 
dafi  der  grofie  Unruheherd  im 
Osten  Europas  aus  dem  poli- 
tischen  und  Wirtschaftsleben 
unseres  Weltteils  verschwindet. 
Heute  ist  es  noch  gar  nicht  aus- 
zudenken,  welch  ungeheure  Be- 
deutung  es  fiir  die  ganze  Welt 
hatte,  wenn  es  Japan  gelingt,  die 
Sowjets  niederzuwerfen  und  Rufi- 
land  von  den  Sowj  ets  f rei  zu 
machen, 

Der  osterreichische  Staat  als 
solcher  wiirde  iiberhaupt  nicht  in 
Mitleidenschaft  gezogen  werden. 
Es  ware  lediglich  Sache  der  In- 
dustrieunternehmungen,  Aufgabe 
unsrer  Wirtschaftsfiihrer.  aus  eig- 
ner  Initiative  diesen  Weg  zur 
Rettung  Oesterreichs  zu  betreten. 
Sie  wiirden  kein  Risiko  eingehen, 
sie  konnten  sicherlich  sogar  Vor- 
ausbezahlungen  erhalten,  und  sie 
wiirden  so  Oesterreich  mit  einem 
Schlag  aus  der  tiefsten  Krise  her- 


ausfiihten.  Die  verniinftige  Ar- 
beiterschaft  Oesterreichs  wird  be- 
geistert  diese  sich  einzig  bietende 
Gelegenheit  einer  Verdienstmog- 
lichkeit   ergreifen. 

,Neues   Wiener  Journal4 
77.  5.  32 

Die  Krone  der  Referenzen 
l^er   ,Dortmunder    Generalanzei- 
ger*    berichtet     am     13.    Juni 
tiber   den  ProzeB   Schellersheim: 

„Vors.:  Frau  Schori,  gaben  Sie 
denn  j  edem  Menschen  gleich 
Tausende? 

Zeugin:  Schellersheims  zeigten 
mir  ihre  Visitenkarten  mit  dem 
Freiherrn  und  der  siebenzacki- 
gen  Krone  dariiber  und  da . . . 

Vors.:  ftihlten  Sie  sich  wohl 
sehr  geehrt." 

Wann  jubelt  der  Deutsche? 

VV7eifi  der  Kuckuck:  Je  tiefer 
die  Rader  der  Geschutze  im 
Staub  einsanken,  j  e  hoher  der 
Dreck  den  Kanonieren  um  die 
Ohren  spritzte,  desto  grofier  war 
der  Jubel  der   Zuschauer, 

flder-Zeitung,    13.    6.    1932 
„Das   frankfurter   Reiterturnier" 

Ruhe,  derK&nig  regiert! 

Ich  habe  meinem  Volke  stets  ge- 
sagtf  dafi  ich  auf  einer  holzer- 
nen  Pritsche   ebenso   gut  schlafen 
kann  wie  auf  einem  Thron, 

Exkonig   Amanullah 
in  einem  Interview 

Liebe  Weltbfihne! 

In  unsrer  Stadt  gehen  kurz  nach 
der  Aufhebung  des  SA.-Ver- 
botes  zwei  Anhanger  des  Dritten 
Reiches  stolz  in  ihren  neuen  Uni- 
formen  spazieren.  Da  sagt  ein 
kleiner  Junge  und  zeigt  auf  die 
besonders  auffallenden  breiten 
Armbinden  der  beiden:  „Duf 
Mutti,  sind  die  Manner  blind". 
Darauf  die  Mutter:  nJa,  mein 
Kind,    sogar    auf   beiden  Augen." 

987 


Antworten 


Reichsyerband  der  dcutschen  Presse.  Im  DevaheimprozeB  erklarte 
Rechtsanwalt  Herold  am  23,  Juni,  es  sei  doch  sonst  tiblich,  daB  die 
Zeitung  ihren  Mitarbeiter  bonoriere,  und  nicht  umgekehrt.  Zeuge  Re- 
dakteur  Dr.  Spicker  vom  ,Industrie-Kurier'  erwiderte:  „Da  kennen 
Sie  die  Gepflogenheiten  der  Wirtschafts-  und  Tagespresse  nicht,  Herr 
Rechtsanwalt."  Uns  scheint,  dafl  du  als  Berufsvertretung  der  deut- 
schen  Redakteure  die  Pflicht  hast,  mit  alien  Mitteln  Herrn  Spicker, 
der  im  Publikum  als  Redakteur  angesehen  wird,  die  Zunge  zu 
lockern,  damit  er  erklart,  welche  Organe  der  „Wirtschafts-  und 
Tagespresse"  er  gemeint  hat. 

Wilhelm  IL  in  Doom.  Sie  haben  Ihr  Telegramm  an  den  Waffen- 
tag  der  deutschen  Kavalleristen  in  Hannover  mit  .Jmperator  Rex" 
unterzeichnet.  Geht  Ihre  Abmachung  mit  Hitler  dahin,  daB  er  Sie  in 
seinem  Dritten  Reich  zum  Schattenkaiser  ernennen  soil?  Wir  dachten 
bisher,  Sie  batten  zugunsten  Ihres  altesten  Sohnes  abdiziert,  damit 
es  in  Deutschland  wieder  einen  Monarchen  mit  der  Parole  „M.orgen 
wieder  lustik"  gebe. 

Fiir  Carl  v.  Ossietzky.  Als  Endtermin  der  Einzeichnung  in  die 
Petitionslisten  fur  Carl  v.  Ossietzky  hat  die  Liga  fiir  Menschenrechte 
den  10.  Juli  festgesetzt.  Wir  bitten  daher,  die  Listen,  die  auch  einem 
Teil  der  Auflage  dieser  Nummer  beiliegen,  ausgefiillt  bis  zu  diesem 
Tag  an  die  Geschaftsstelle  der  Liga,  Berlin  N  24,  Monbijouplatz  10, 
einzusenden. 

Runkfunkautor.]  Langst  war  ein  ZusammenschluB  der  Rundfunk- 
mitarbeiter  fallig;  denn  der  einzelne  war  den  unberechtigten  Honorar- 
senkungen,  den  Zensurubergriffen  und  andern  MiBstanden  gegenuber 
wehrlos.  Andrerseits  wird  der  EinfluB  der,  zumeist  reaktionaren,  Ver- 
bande  immer  starker,  die  von  sich  aus  Programmvorschlage  ein- 
reichen  und  auch  gleich  die  Redner  mitbringen,  Hier  mochte  der 
neugegriindete  Verband  freier  Rundfunkautoren  (Sekretariat:  Klaus 
Neukrantz,  Reinickendorf-Ost,  Arosa-Allee  153}  eingreifen,  indem  er 
auch  seinerseits  Programmvorschlage  macht,  geeignete  Autoren  be- 
nennt  und  Wiinsche  der  Rundfunkleiter  weitergibt.  Naheres  erfahren 
Sie  in  der  am  1,  Juli,  8  Uhr,  im  Oberen  Saal  der  Stadtischen  Oper, 
BismarckstraBe,  stattfindenden  ersten  Kundgebung:  „Was  fordern  die 
Rundfunkautoren?"  Es  referieren  u.  a.:  Arnheim,  Burger,  Franck, 
Franzen,  Kuckhoff.  Da  in  alien  Sendebezirken  Ortsgruppen  ge- 
schaf fen  werden  sollen,  sind  auch  Anmeldungen  von  auswarts  be- 
sonders  erwtinscht  . 

Intourist,  Sie  veranstalten  in  diesem  Sommer  Gesellschafts- 
reisen  nach  RuBland  mit  besonderen  Besichtigungsprogrammen  fiir 
Angehorige  folgender  Berufe:  Arzte,  Padagogen,  Schriftsteller,  Jour- 
nalisten,  Arbeiter  und  Studenten.  Wer  sich  fiir  diese  Reisen  inter- 
essiert,  wende  sich  an  Ihr  berliner  Bureau:  Unter  den  Linden  62. 

Dieser  Nummer  liegt  eine  Zahlkarte  fur  die  Abonnenten  bei,  auf 
der  wir  bitten, 

den  Abonnementsbetrag  fiir  das  III.  Vierteljahr  1932 

einzuzahlen,  da  am  10,  Juli  1932  die  Einziehung  durch  Nachnahme 
beginnt  und  unnotige  Kosten  verursacht, 

Manuskripte  sind  nur  an  die  Redaktion  der  WeUbuhne.  Charlottenbur?,  Kantstr.  152,  zu 
richten;  es  wird  gebeten,  ihnen  Ruckporto  beizulegen,  da  sonst  keine  Ruduendung  crfolgen  kann. 
Das  Auf  f  tthrunesrecht,  die  Verwertung  von  Tiieln  u.  Text  im  Rahmen  des  Films,  die  musik- 
mechanische  Wiedergabe  aller  Art  und  die  Verwertung  im  Rahmen  von  RadiovortrHgen 
bleiben   fttr   alle  in  der  WeltbOhne  erschetnenden  Beitrage  ausdrucklich  vorbehalten. 

Die  Weltbuhne  wurde  begrundet  von  Siegfried  Jacobsohn  und  wird  von  Carl  v.  Ossietzky 
u titer  Mitwirkung    von   Kurt  Tucholsky  geleitet.   —   Verant worttich :    Walther  Karsch,    Berlic 

Verlag  der  Weltbuhne,  Siegfried  Jacobsohn  &  Co.,  Charlottenburg. 

Telephon:  Clf  Steinplatz  7757.   —  Postschedtkonto :  Berlin  11968. 
Bankkonto:  Dresdner  Bank,     Depositenkasse- Charlottenburg,  Kantstr.  112.